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Arne Dahl

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Das Eis kennt alle Geheimnisse. Jetzt gibt es sie preis. Ein eisiger Frühling geht zu Ende, der Sommer bricht an. Berger und Bloms Polizeikontakt Deer kämpft sich nach einem fürchterlichen Angriff zurück ins Leben. Zur Schreibtischarbeit verbannt, stößt sie auf eine Verbindung zwischen mehreren Leichen, die im Eis der Stockholmer Schären gefunden werden. Sam Berger und Molly Blom nehmen sich der rätselhaften Fälle an und entdecken: Die Toten wurden bei lebendigem Leib in Stickstoff eingefroren. Nur warum stach man auf das erste Opfer 18 Mal ein und ließ die anderen unversehrt? Wieso tauchen sie alle gerade jetzt auf? Die Ermittler dringen immer tiefer in die Abgründe des menschlichen Größenwahns vor. Bis sie bei ihrer Jagd nach den international agierenden Mördern auf alte Bekannte treffen ... Arne Dahls fulminanter Abschluss seiner erfolgreichsten Krimireihe!

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EPUB

Seitenzahl: 531

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((bei fremdsprachigem Autor:))

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

© Arne Dahl 2021

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Islossning«,

Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2021

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: likman/depositphotos

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

I

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Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

I

1

Trotz der Augenbinde kann er alles sehen. Alles, was vor sich geht. Leise. Schweigend.

Die Vorbereitungen.

Es ist beängstigend still. In der Luft liegt der Duft der Sommernacht. Sonst hört man nichts. Keine Vögel, keine Mücken, keine Eulen, kein Laut. Die Natur ist vollkommen still. Nicht das leiseste Knirschen des Sandes unter den Stuhlbeinen. Unter keinem der vielen Stuhlbeine.

Er ist noch so jung. Er hat keine Vorstellung davon, was passieren wird. Hat nur erklärt bekommen, wie es ablaufen soll. Er weiß, dass alles zu seinem Besten geschieht.

Es wird sehr wehtun.

Aber es wird es wert sein.

Das haben sie ihm gesagt: Es wird es wert sein.

Er ist noch so klein, und macht sich schon Gedanken über Verrat. Was ist Verrat? Gibt es schlimmen und weniger schlimmen Verrat? Ist das hier der größtmögliche Verrat, den man sich vorstellen kann?

Trotz Augenbinde kann er den Strand sehen. Wo sie sich sonst mit Sand bewerfen, sich ins Wasser schubsen, Hände und Knie auf dem Meeresgrund aufschürfen, auf die seifig glatten Felsen unter Wasser klettern, um von dort hinunterzurutschen, sich den Hintern zu stoßen und unterzutauchen, auf der Jagd nach bunten Steinen.

Die Sommernacht ist ungewöhnlich still.

Bis er ein schwaches Brummen hört, kaum wahrnehmbar. Ist das ein Motor? Doch das Geräusch erstirbt gleich wieder.

Es ist schon dunkel. Glaubt er zumindest. Es müsste dunkel sein. Jetzt müssten die wenigen dunklen Stunden angebrochen sein, wenn die Sonne hinter dem Horizont für kurze Zeit ins Ungewisse abtaucht. Doch er weiß es nicht.

Er weiß tatsächlich gar nichts.

Aber in ihm rührt sich etwas. Er hat keine Kontrolle darüber. Genau genommen sind es zwei Dinge.

Das eine ist Angst. Entsetzen. Panik. Er weiß, dass es nur zu seinem Besten ist, aber er will nicht, dass es wehtut. Er will nicht auf die Schmerzen warten. Er hasst, was in den nächsten Minuten dieser Julinacht passieren wird.

Das zweite entsteht in diesem Augenblick. Es ist Wut. Die Wut über den Verrat. Obwohl er noch so klein ist, weiß er genau, dass ihn dieses Gefühl nie mehr verlassen wird.

Die Wut durchdringt seine Augenbinde, brennt Löcher hinein, durch die er alles sehen kann. Er sieht die Uferkante und das Wasser des stillen Sees dahinter, er sieht die flachen Felsen, die neugierig aus dem Wasser ragen, er sieht den Waldrand, dessen Silhouette sich wie ein Sägeblatt auf der anderen Uferseite erhebt.

Alles, was er nicht sehen kann, brennt die Wut für immer in seine Erinnerung.

Plötzlich hört er ein Knirschen. Im Sand. Sehr deutlich. Und es ist, als würde ihn jemand aus einer anderen Zeit bedrängen.

2

Samstag, 4. März

Ihr Bewusstsein wurde von einem Wurmloch verschlungen, und übrig blieb nichts als Schmerz.

Um diesem irren Schmerz zu entkommen, suchte sie nach dem richtigen Wort. Worte beruhigen. Worte sollten beruhigen. Worte müssen beruhigen.

Da sich die Hände dem Wortlosen nur langsam näherten, hatte sie eine Chance, den passenden Ausdruck zu finden. Sie versuchte, ihren Synapsen weitere Assoziationen abzuringen.

Gymnastik. Akrobatik zwischen zwei horizontalen Stangen. Aber man nennt sie nicht Stangen, oder? Und wie heißt die Disziplin?

Sie wusste genau, dass sie sich damit nur ablenken wollte. Dass dies ein Ausweichmanöver war. Damit der Schmerz sie nicht überrollen konnte und die eigentliche Bewegung unmöglich machte.

Frauengymnastik? Männergymnastik? All das fühlte sich männlich an. Was gab es für gymnastische Disziplinen für Männer? Bodenturnen, natürlich. Und dann Pferd, Ringe. Sprung? Gab es die Disziplin Sprung? Aber wie hieß das Gerät mit den Stangen? Barren?

Ja, genau. Barren. So hieß das. Es war der erste schmerzfreie Moment seit unzähligen Monaten, jetzt, da sie das Wort vor sich sah.

Holme.

Die Hände, die sie bis dahin gehalten hatten, ließen sie los, als sie die Holme gepackt hatte. Die beiden Stangen erstreckten sich in die Unendlichkeit.

Zwischen ihnen tauchte ein Gesicht auf, keinen halben Meter entfernt. Die Lippen der Frau bewegten sich, als würden sie ihr etwas zurufen, sie anfeuern. Aber sie hörte kein Wort, die Frau blieb stumm. In ihr war kein Raum für Laute. Der Schmerz hatte jeden Millimeter okkupiert.

Trotzdem machte sie den ersten Schritt. Ihren ersten eigenen Schritt. Sie hing auf den Holmen und kämpfte sich vorwärts. Der Schmerz wurde übermächtig, zu mächtig für ihren Körper. Es war, als würde er durch ihre Haut dringen und sie wie eine fauchende, zischende Aura umgeben. Trotzdem machte sie einen zweiten Schritt.

Und noch einen.

Sie starrte wie besessen auf das Gesicht vor ihr, und dieses Starren schien ein Loch in die Aura zu brennen und Geräusche hineinzulassen. Sie hörte ihr eigenes Gebrüll, das sich mit ihren Tränen mischte und der Frau entgegenschlug.

Die sprang auf sie zu und packte sie am Rumpf.

»Nicht aufgeben, Desiré, Sie haben die Hälfte schon geschafft.«

Irgendwie gelang es ihr, den weiß gekleideten Körper von sich zu stoßen.

»Nennen Sie mich nie wieder Desiré«, fauchte sie.

Dann machte sie den nächsten Schritt.

*

Molly Blom ließ ihren Blick über das kurze Straßenstück schweifen, das zu der kleinen Ansammlung von roten Holzhäuschen auf der Åsögatan führte. Der Stockholmer Winter war fast überstanden, es war ein kalter, ungemütlicher Samstag im März, und in wenigen Minuten würde sich ihr Lebenswille mehr als verdoppeln. Während sie das Haus in der Ploggatan auf Södermalm betrat, fragte sie sich verblüfft, wie es so hatte kommen können. Keinen einzigen Gedanken hatte sie früher an diese Art von Leben verschwendet – und jetzt bestand ihr Leben aus nichts anderem.

Was war aus ihren Träumen geworden?

Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und während sie die Treppe hinauflief, tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder einer verlorenen Welt auf: Crossfit, Selbstverteidigung für Frauen, Blut und Schweiß und Tränen. Mit der letzten Stufe verschwanden die Bilder, und an ihre Stelle trat die Realität des Treppenhauses, die grauer und kälter war. Gleich aber würde die Sonne aufgehen.

Sie klingelte an der Tür. Der Mann, der öffnete, hatte die Sonne wohl schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vor allem sah er nicht ausgeschlafen aus. Das Kind hingegen, das vor seiner Brust in der Trage hing, schnarchte lautstark.

»Sie mag Wasser«, nuschelte der Mann.

»Das kann niemand verstehen, was du da sagst«, beschwerte sich Molly Blom.

Sam Berger streckte sich, es knackte ordentlich.

»Ich habe die ganze Nacht das Wasser laufen lassen. Es war die einzige Möglichkeit, sie zum Schlafen zu bringen. Verschwendung wäre da noch untertrieben.«

»Bei mir hat sie nie Probleme mit dem Einschlafen«, log Blom.

»Dann sollten wir vielleicht doch zusammenziehen?«, sagte Berger und pellte vorsichtig ihre knapp sechs Monate alte Tochter Myrina aus der Trage.

Blom nahm sie in den Arm und spürte augenblicklich, wie die Sonne aufging. In ihr wurde ein Licht angezündet, das alles überstrahlte.

»Hör auf, dich zu beschweren«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Gib mir Zeit, um nachzudenken.«

»Am Anfang bist du für neun Monate spurlos verschwunden, um nachzudenken«, sagte Berger. »Jetzt hast du noch mal ewig Zeit gehabt. Das ist ganz schön viel Gedenke.«

Er stopfte die Trage in eine Tasche, die an dem Kinderwagen im Flur hing. Molly bettete das schlafende Kind vorsichtig in den Wagen. Berger legte seine Hand auf ihren Arm und sah ihr tief in die Augen.

»Wir haben ein Kind zusammen, Molly, es läuft doch super zwischen uns. Wir arbeiten praktisch jeden Tag zusammen. Warum kann das nicht mehr werden?«

Ausnahmsweise hielt sie seinem Blick stand.

»Du weißt genau, was passiert ist«, sagte sie.

Berger ließ ihren Arm los. Seufzte.

»Das hatte doch nichts mit uns zu tun. Wir sollten endlich anfangen …«

»Es war ein Zeichen«, erwiderte Blom. »Ich muss das erst verarbeiten. Gib mir mehr Zeit.«

»Die Schuldigen sind weg, Molly«, sagte Berger eindringlich und griff erneut nach ihrem Arm. »Nirgends eine Spur von ihnen.«

Wütend starrte Molly ihn an, schlug seinen Arm weg.

»Wir haben Deers abgesägtes Bein in unserem Bett gefunden, als wir vögeln wollten!«, schrie sie außer sich.

Das Echo ihrer Worte vermischte sich mit Myrinas Wimmern und folgte ihnen, als sie zum Aufzug rauschte.

Sam Berger sah ihnen lange nach.

*

Die Holme sind nicht mehr so unendlich lang wie zuvor. Obwohl das Flimmern in ihrem Gesichtsfeld sie verdrehte und verbog, waren sie höchstens noch einen Meter lang. Der Schmerz ließ sich nicht mehr in Worte fassen, er entzog sich ihr. Stach blind auf sie ein, er brüllte so laut, dass ihre Trommelfelle beinahe geplatzt wären, er roch nach Schwefel, schmeckte nach Wermut und versengte ihr von innen die Augenlider. Trotzdem schaffte sie noch einen nächsten Schritt.

Sie versuchte einen weiteren, aber es war, als würde man auf zwei wunden Stumpen laufen, als würden blanke Nerven, Fleisch und Knochen direkt über den Boden scheuern und schaben.

Sie stürzte.

Sie war sich sicher, dass sie stürzen würde.

Stattdessen aber schwebte sie zwischen den Holmen.

Sofort waren die Hände da, hielten sie – sicher, fest – und hoben sie hoch, forderten sie auf, sich erneut festzuhalten. Durch die Tränen sah sie, dass sich der Mund der Frau bewegte. Wieder hörte sie nichts.

»Ich kann nicht mehr«, wimmerte sie. »Es tut so schrecklich weh.«

Die dunklen Augen sahen tief in ihre.

»Dann geben Sie doch auf, verdammt«, hörte sie eine Stimme sagen. »Und probieren Sie aus, ob es so besser wird.«

Das gab ihr neuen Antrieb. Was sie weitermachen ließ, war Wut, Hass. Das Gesicht mit dem höhnischen Grinsen war wie eine Fata Morgana: Sobald sie näherkam, wich es zurück und war von Neuem unerreichbar.

Aus dem Gesicht der Frau war das Gesicht eines Mannes geworden, mit markanten Zügen und einer Narbe in Form eines R auf der Wange. Das verlieh ihr Kraft. Er war das Ziel. Ihn wollte sie töten.

Sie kämpfte um jeden Millimeter. Wie ein Blitz schoss der Schmerz durch ihren Körper. Sie hatte das Ende der Holme fast erreicht, als die Frau wieder das Gesicht übernahm und sie anfeuerte.

»Nur noch einen Schritt. Kommen Sie, Deer, das schaffen Sie.«

3

Sonntag, 5. März

Die Dämmerung steigt auf und breitet ihr Licht über die schneebedeckten Felsen aus, die aus der Wasseroberfläche ragen, dazwischen vereinzelte Eisschollen. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich im Wasser, im Eis und fallen in unregelmäßigen Abständen durch das Panoramafenster in den dunklen Raum.

Wenn man den Zustand dieses Raumes bedenkt, hätte die Zeit längst alle Fenster zerbersten müssen. Aber sie sind noch intakt und halten die schlimmste Winterkälte zurück. Der Raum ist kalt und karg, versinkt im Staub. Es gibt kaum Mobiliar außer ein paar Hockern, die um einen länglichen Tisch herumstehen, darauf ein altes, aufgeschlagenes Notizbuch.

Draußen geht langsam die Sonne auf. Alles ist Ruhe. Alles ist Stille.

Bis die Tür aufgestoßen wird.

Der Mann, der in den Raum stolpert, ist noch ziemlich jung. Seine Kleidung ist schwarz, seine dunkelgraue Mütze hat er tief über die Ohren gezogen. Vor Kälte zitternd, wankt er zum elektrischen Heizkörper in der Mitte des Raumes und dreht ihn auf die höchste Stufe. Er geht auf und ab, schlägt sich die Arme um den Körper, um warm zu werden. Es spritzt.

Es spritzt Blut.

Der Mann tropft vor Blut.

Er wirft das Jagdmesser auf den Tisch und lässt sich auf einen der Hocker fallen. Das Licht ist noch zu schwach zum Lesen, aber schon stark genug, um die dunkelroten Flecken zu sehen, die sich auf dem blau-grün karierten Tischtuch ausbreiten – mit Abstand das Neueste in diesem Raum.

Der junge Mann würde sich gern nach hinten lehnen, sich von den nächtlichen, eiskalten Mühen erholen, aber die Hocker haben keine Lehne. Wahrscheinlich ist es auch besser, so schläft er nicht sofort ein. Er muss wach bleiben. Auf jeden Fall. Außerdem ist die Kälte so tief in seine Glieder gedrungen, dass er im Schlaf erfrieren würde.

Aber diese kurze Pause tut gut.

Es hat begonnen.

Er sieht, wie sich das Messer hebt. Als hätte er damit nichts zu tun. Als hätte es ein Eigenleben, sticht es immer und immer wieder zu. Nachdem das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist, arbeitet sich das Messer weiter voran. Zur Brust, zum Rumpf, dann ein letztes Mal zurück ins Gesicht. Das ist kein Akt der Besinnungslosigkeit, er zählt bis achtzehn. Dann hört er auf.

Seltsam, denkt er, dass es tatsächlich möglich war, den ersten Schritt zu machen. Es gibt sehr wohl ein Ende, einen logischen Abschluss, nur der Anfang hatte ihn verunsichert. Aber das ist jetzt überstanden. Jetzt wird er das hier beenden, seinen ganz eigenen Schlussstrich ziehen.

Das zähflüssige Blut tropft vom Jagdmesser auf die Tischdecke und wird gierig von den Fasern aufgesogen.

Das kranke Blut.

Ekel.

Reglos sitzt er da und sieht, wie sein Spiegelbild im Fenster langsam verblasst. Als würde er mit zunehmender Helligkeit verschwinden, aufgehen in der Natur, verschmelzen mit der Küste, sich als Individuum verabschieden und zum Schicksal selbst werden. Kurz bevor er sich auflöst, sieht er sich als seine eigene Offenbarung: jung, gesund, kraftvoll – ein Mann, der ewig leben könnte.

Wie der Schein trügen kann.

Dann senkt er seinen Blick und blättert mit blutigen Händen in dem Notizbuch. Wahllos liest er die Aufzeichnungen, die mit pedantischer Handschrift gemacht wurden:

»Es muss ohne Betäubung erfolgen. Der Schnitt ist fein, nicht tief, sauber. Die Lederbänder halten, trotz der enormen Kraft in Armen und Beinen. Die Ohrstöpsel sind das Beste, was der Markt hergibt. Wenn ich das Skalpell weglege, ist kein einziger Schrei durchgedrungen …«

Der junge Mann hebt den Kopf. Die Dämmerung hat noch mehr Licht zugelassen. Er hört das Eis, das sich bewegt, die Eisschollen, die aneinanderreiben. Es ist ein göttliches Geräusch. Und beschreibt doch seinen Zustand.

Das Eisbrechen.

Er feiert, dass er genau vor einem Jahr das Notizbuch gefunden hat. Damals hat er den Entschluss gefasst. Er feiert es auf eine ziemlich außergewöhnliche Art und Weise.

Er hat das Buch schon lange nicht mehr aufgeschlagen, kann den Inhalt aber dennoch auswendig. Die nächsten Worte erfüllen alle Erwartungen und lassen ihn an Kontakte, Kosten und diese grenzenlose Hemmungslosigkeit denken:

»Die Hand in die Eingeweide gleiten zu lassen, entlang der präzisen Schnitte durch die Haut-, Muskel- und Bindegewebsschichten, hat etwas unvergleichlich Erbauliches. Als würde man ans Unterbewusste rühren und in dem herumwühlen, was die Menschlichkeit verbergen will. Um dann das vollendete Organ in den Händen zu halten. Das ist sublim. Denn es hat mindestens siebzig Jahre garantierte, untrügliche Lebenszeit vor sich …«

Er kann die Stimme förmlich hören, das Leiernde, die Betonung der einzelnen Worte. Aber er ist sie leid, und es gelingt ihm, sie zum Verstummen zu bringen.

Der junge Mann mustert seine Hand. Wartet geduldig. Sie ist unerwartet regungslos. Als hätte die Tat sie beruhigt. Als hätte die Gewalt der Messerstiche die Irrwege seines Organismus blockiert.

Aber dann setzt es wieder ein. Es fängt wieder an. Das Zittern.

Zurück zum Bekannten. Das ist sein Leben.

Er lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Küste ist in blasses Winterlicht getaucht. Er sieht den Strand, die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche, den Wald auf der anderen Seite der Bucht. Dort ist es passiert.

Hier ist es passiert.

In der Fabrik.

Das Blut an seiner linken Hand ist noch nicht ganz getrocknet. Als das Zittern wieder einsetzt, fallen die letzten Tropfen auf den Tisch. Er zwingt die Hand, das Notizbuch zu berühren. Nur die rechten Seiten sind beschrieben, nur auf den linken hinterlässt er blutige Fingerabdrücke. Er blättert an den Anfang.

Zum Anfang von allem.

Zur Einleitung.

»Seit der Mensch sich aufgerichtet hat und auf zwei Beinen läuft, seit der Geburtsstunde des menschlichen Bewusstseins und des Abstraktionsvermögens träumen wir davon, das Leben verlängern zu können. Der Traum vom ewigen Leben hat in jede Religion, in jeden Mythos und jede Legende der Weltgeschichte Einzug gehalten. Mit der Säkularisierung ist er aus der diffusen Welt der Mythen aufgebrochen und hat auf seinem Weg das Paradies, die Hölle und das Fegefeuer hinter sich gelassen. Der Traum ist im Hier und Jetzt angekommen. In unserem Leben. Und es ist kein Traum mehr. Wir haben viel zu lange hingenommen, dass wir sterben müssen.«

Die prätentiöse Sprache lässt den jungen Mann erschaudern. Wenigstens ist die Stimme in seinem Kopf endlich verstummt.

Die linke Hand zittert unverändert. Als sie das Notizbuch zuschlägt, hinterlässt sie einen deutlichen Abdruck auf dem Umschlag.

Er greift nach dem Messer, packt es, drückt fest zu, als würde er das letzte Blut aus seinem Schaft pressen wollen. Nach einer Weile hört es auf zu zittern. Die Hand wird ruhig. Alles eine Frage des Willens.

Und er hat jetzt diese Willenskraft.

Er hat den Anfang gemacht.

Alles muss beseitigt werden.

Das Blatt muss bereinigt, muss wieder weiß werden.

Ohne aufzustehen, schiebt er den Hocker ans kurze Ende des Tisches. Hebt mit dem Messer die Ecke der Tischdecke an.

Trotz der Tischdecke ist die Glasplatte beschlagen, als würde sie etwas absondern. Behutsam wischt der junge Mann das Kondenswasser weg.

Und sieht in das Gesicht einer Frau.

Einer sehr schönen Frau.

4

Freitag, 5. Mai

Der Taxifahrer wandte sich an seinen Fahrgast und fragte: »Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«

Der Weg wurde immer schmaler, die Bäume streckten ihnen ihre zart sprießenden Zweige entgegen. Und der blasse Himmel kündigte die bevorstehende Abenddämmerung an.

Der Taxifahrer war sich unsicher, ob er diesen Fahrgast mit gutem Gewissen mitten im Nirgendwo absetzen konnte. Denn im Kofferraum befand sich ein Rollstuhl, den er dort hineingehievt hatte.

Aber die Frau mit dem braunen Pagenkopf neben ihm auf dem Beifahrersitz nickte. Ihr Blick war auf den verwunschenen Weg vor ihnen gerichtet. Sie hatte Krücken in der Hand und wirkte sehr konzentriert. Nicht beunruhigt, nur fokussiert.

Der Wald lichtete sich. Am Ende des Weges sah der Taxifahrer ein paar Fahrzeuge stehen. Dahinter war nichts als Wald. Kein Mensch weit und breit.

Er parkte neben den anderen Autos. Seine Kundin öffnete die Beifahrertür. Er ging um den Wagen herum, um ihr zu helfen. Aber sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg und stand langsam, gestützt auf ihre Krücken, auf. Es sah nicht aus, als wären sie häufig in Benutzung.

Der Fahrer streckte ihr die Hand entgegen, um seine Hilfe anzubieten, aber sie schüttelte energisch den Kopf und machte sich auf den Weg in den Wald. Langsam und wankend folgte sie einem kleinen Pfad.

»Ich warte hier«, rief ihr der Taxifahrer hinterher. »Schließlich haben Sie Hin- und Rückfahrt gebucht. Aber wollen Sie wirklich …?«

Die Frau verschwand hinter einem dicken Baumstamm, lehnte eine der Krücken gegen ihren Körper und wollte sich abstützen. Dabei berührte sie mit der Hand eine fast vollständig mit Moos bedeckte Anschlussdose, zuckte angeekelt zurück und packte ihre Krücke. Schwer atmend beugte sie sich nach vorn. Der Schmerz war ein Teil ihres Wesens geworden. So weit war sie bisher nur in der Reha gegangen – getrieben von einer Wut, die an Hass grenzte, und bei jedem Schritt von den Pflegern begleitet.

Aber sie brauchte das hier. Alles in ihr brauchte es.

Sie musste sich wieder als Polizistin fühlen.

Desiré Rosenkvist war zwar zur Kriminalhauptkommissarin befördert worden, aber ihre Aufgaben entsprachen denen einer Praktikantin. Sie war vor knapp einem Monat zurückgekehrt und hatte erfahren, dass sie vorerst im Innendienst arbeiten würde. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie ihre Tage damit verbringen musste, Unterlagen zu sortieren.

Es war lange, sehr lange her, dass sie sich wie Deer gefühlt hatte. Nicht mehr, seit ihr beide Unterschenkel abgetrennt worden waren. Bei zwei Eingriffen innerhalb eines Tages.

Beide Unterschenkel konnten in gutem Zustand geborgen werden, und beide waren erfolgreich replantiert worden, wieder mit nur wenigen Stunden Abstand zwischen den Operationen. Aber es waren komplexe Eingriffe gewesen, nicht ohne Komplikationen.

Hinter ihr lag ein halbes Jahr des Schmerzes. Und des Kampfes, der Rückschläge, neuer Operationen, missglückter Aufenthalte in der Reha, Infektionen, Wutausbrüche, Schmerzmittel, die sie entweder so high machten, dass sie den Boden unter den Füßen verlor, oder überhaupt nicht wirkten. Sie hatte Tage, die sie schreiend verbrachte. Ganze Tage.

Sie war in eine Depression gerutscht und hatte sich innerlich schon auf ein Leben als Frührentnerin vorbereitet, als ihre Physiotherapeutin Farida sie eines Tages anbrüllte: »Dann geben Sie doch auf, verdammt. Und probieren Sie aus, ob es so besser wird.«

Das hatte sie unfassbar wütend gemacht, aber es trieb sie auch an. In diesem Moment war der Mann mit der außergewöhnlichen Narbe auf der Wange vor ihrem inneren Auge aufgetaucht. Und wenn sie ihn sah, schaffte sie immer noch ein paar Meter mehr.

Sie wollte ihn töten.

Und seit etwa einem Monat ging es ihr besser. Auf Holz geklopft. Das öde Trainingsprogramm in der Reha zeigte endlich Wirkung. Nach dieser langen Phase der Isolation, die sie fast menschenscheu hatte werden lassen, wagte sie sich wieder hinaus in die Welt, unter Leute. Sie übte mit Johnny Autofahren, ihrem Mann, dem es bei ihrem Umgang mit Gas und Bremse manchmal heiß und kalt wurde, obwohl er als Rettungssanitäter ein hart gesottener Profi war. Sie fuhr mit ihrem Rollstuhl in den ICA-Supermarkt im Zentrum von Skogås und verbrachte Zeit mit echten Frührentnern. Und erkannte so, dass sie nicht dazugehörte. Noch nicht.

Ein paar Wochen lang begnügte sie sich damit, alte Ermittlungsakten in ihrer kleinen, abgelegenen Ecke in der Nationalen Operativen Abteilung, kurz NOA, zu sortieren. Erst danach begann sie, sich auch mit aktuellen Fällen zu beschäftigen.

Und genau deshalb war sie hierhergefahren.

Deshalb packte sie ihre Krücken, drückte sich hoch, rutschte mit der linken Krücke weg und verlor die Schutzkappe aus Gummi. Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich den unebenen Waldweg hinunter, während die Abenddämmerung unaufhaltsam näher kroch. Es war Anfang Mai, und sie lief Gefahr, sich in einem dunklen Wald zu verlaufen. Nur ihre Entschlossenheit und die Wut auf den Mann mit der Narbe trieben sie an, während die Zweige der Bäume ihr ins Gesicht schlugen. Der Mann mit der Narbe wies ihr in ihrem Inferno den Weg.

Langsam lichtete sich der Wald. Der unverkennbare Geruch von Meer strömte ihr entgegen. Und plötzlich offenbarte sich ihr ein ganz neuer Schauplatz.

Wasser. Die äußeren Schären. Ein blendendes Licht, das eine Art altertümlichen Opferplatz erleuchtete. Weiß gekleidete Druiden liefen mit kantigen, steifen Bewegungen über den schimmernden Sand.

Den Wald im Rücken, beobachtete sie das Geschehen in dem sanften, orangegelben Licht der untergehenden Sonne. Sie sah den Strand, die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche, den Wald auf der anderen Seite der Bucht.

Doch. Sie war richtig hier.

Erschöpft stützte sie sich auf den Krücken ab und ließ den Schmerz zu. Er war grauenvoll – gleichzeitig aber musste sie feststellen, dass sie seit einem Jahr nicht mehr so weit gelaufen war. So stand sie da, tief über die Krücken gebeugt, während der größte der Druiden auf sie zukam. Er war schon fast bei ihr, als er erkannte, wen er da vor sich hatte.

»Deer? Was zum Teufel machst du …?«

»Oh, wie ich es vermisst habe, von dir Deer genannt zu werden, Robin«, keuchte sie.

»Aber …«, stieß der Druide aus. »Bist du nicht …?«

»Doch«, antwortete Deer und hob mühsam den Kopf. »Ich habe Innendienst. Sitze am Schreibtisch. Und bin gar nicht hier.«

»Aber ich dachte, dass du …«

»Tot bist? Frührentnerin? Nein, Robin, so weit ist es noch nicht. Niemand kann mich von dir fernhalten. Erzähl mir, was ihr da gefunden habt.«

»Aber du siehst ganz …«

»Ich weiß, wie ich aussehe«, unterbrach ihn Deer mit tiefer, drohender Stimme. »Los, erzähl.«

Robin kam näher und bot ihr seinen Arm als Stütze an. Aber sie stieß ihn weg.

»Das ist ein Sandstrand, Deer«, sagte er ruhig. »Du kommst hier mit deinen Krücken nicht lang. Lass mich dir helfen.«

Erneut streckte Robin ihr seine Hand hin. Dieses Mal wurde er nicht weggestoßen. Es war das erste Mal, dass sie außerhalb der Reha fremde Hilfe annahm.

Ein Schritt nach dem nächsten, dachte sie bitter.

Der große Kriminaltechniker, einer der Topkräfte des Nationalen Zentrums für Forensik, begleitete sie auf dem Weg zum Tatort. Sie warf einen letzten Blick auf den glühenden Horizont, ehe die Dämmerung ganz über sie hereinbrach.

Vor ihnen lag die Leiche.

Sie wurde von einem Kranz aus Scheinwerfern beleuchtet und war umgeben von Weißgekleideten, die die unterschiedlichsten kriminaltechnischen Untersuchungen durchführten.

Das Opfer war ein Mann um die dreißig, mit einem unübersehbaren Schussloch in der Stirn. Deer konnte auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen feststellen. Er war blond, attraktiv, athletisch und trug Segelschuhe.

»Schuss aus nächster Nähe«, kommentierte Robin, ohne ihren Arm loszulassen. »Ein einziger Schuss, soweit wir das bisher beurteilen können.«

»Dieser Pulli da …«, sagte sie.

Robin zuckte mit den Schultern.

»Auf dem Ärmel steht die Marke. Nautica. Sonst haben wir keine weiteren Anhaltspunkte. Keine Fundstücke, keine Schuhabdrücke. Hier hat jemand sehr sorgfältig hinter sich aufgeräumt.«

»Ich erinnere mich an Nautica«, sagte Deer. »Die Snobs, die damals in den USA in den Segelclubs herumhingen, haben die Marke getragen. Gibt es die überhaupt noch?«

Robin schüttelte langsam den Kopf.

»Das kann nicht der Grund dafür sein, dass du hier vorbeikommst, Deer. Nicht wegen Nautica.«

»Nein«, gab sie zu. »Ich wollte es mit eigenen Augen sehen.«

»Was, die Leiche?«

Sie befreite sich aus seinem Griff, machte ein paar unbeholfene Schritte, aber ihre Krücken versanken im weichen Sand. Auf der anderen Seite der Bucht gingen in den ersten Häusern die Lichter an.

Robin kam ihr zu Hilfe und musste sein nicht ganz unerhebliches Körpergewicht aufbringen, um die Krücken aus dem Sand zu ziehen.

»Erzähl mir noch was über die Leiche«, bat ihn Deer.

Robin zuckte wieder mit den Schultern.

»Es gibt nicht viel zu sagen. Er wurde woanders erschossen, so viel steht fest, und dann hierhergebracht, wahrscheinlich mit einem Wagen. Es scheint kein aufgesetzter Schuss zu sein, wie die Rechtsmediziner sagen würden, es gibt keine ausgefransten Ränder am Einschussloch, aber der Schuss wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Die Haut weist Schmauchspuren auf. Vermutlich Kaliber neun Millimeter, das Austrittsloch ist deutlich größer, was bedeutet, dass wir keine Kugel im Leichnam finden werden. Aber ich habe das Gefühl, dass dich diese Leiche gar nicht so furchtbar interessiert, Deer. Liege ich da richtig?«

Ihre Blicke begegneten sich, und Deer erkannte, wie sehr sie intelligente und aufmerksame Gesprächspartner vermisst hatte.

»Du hast recht, Robin. Was mich interessiert, ist die Aussicht.«

»Die Aussicht?«, rief Robin, als hätte er das Wort noch nie in seinem Leben gehört.

Deer zeigte auf den Strand, auf die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche und den Wald auf der anderen Seite der Bucht. Doch da verlor sie den Halt und stürzte in den Sand.

Robin half ihr auf. Halb stützte er, halb trug er sie vom Strand. Er sah über ihre Schulter, wo der kleine Pfad in den mittlerweile schwarzen Wald führte.

Deer umklammerte wieder ihre Krücken. Hielt sich an ihnen fest.

»Das ist nicht das erste Mal, oder?«, fragte sie Robin, ohne den Blick von ihm zu wenden.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe jetzt häufiger mit Menschen zu tun, die wirklich nicht verstehen, was ich meine«, sagte Deer und kämpfte gegen die Schmerzen in ihren Beinen. »Aber du, Robin, gehörst nicht dazu.«

Robin zog eine Grimasse und sah erneut über ihre Schulter.

»Rein kriminaltechnisch gibt es keine Verbindung«, erklärte er.

»Aber du weißt was. Du weißt irgendwas, Robin, oder?«

»Ich weiß nur das, was ich auch wissenschaftlich beweisen kann. Das ist alles.«

Als sich sein Blick ein drittes Mal auf etwas hinter ihr richtete, hatte Deer die Nase voll. Sie ließ sich auf ihre Krücken sinken.

»Ich habe begriffen, dass sich hinter mir etwas von Bedeutung abspielt. Aber das lassen wir jetzt mal für einen kurzen Moment außer Acht. Antworte nur mit Ja oder Nein, Robin. Ist das hier der erste Mord dieser Art oder nicht?«

Robin holte tief und hörbar Luft.

»Nein.«

»Nein?«

»Nach meinem Ermessen, ohne jeglichen Beweis und ganz inoffiziell, sage ich Nein. Nein, das hier ist nicht die erste Tat des Mörders.«

»Danke«, sagte Deer und wandte sich mühsam zum Gehen.

Am dunklen Waldrand stand ein Taxifahrer mit einer Taschenlampe und einem leeren Rollstuhl. Er wartete auf sie.

Deer schloss die Augen. Obwohl sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, fanden sie ihren Weg.

5

Mittwoch, 24. Mai

Die Bucht lag weit und still in der Sonne. Von oben hatte sie die Form eines gestrandeten Hais, der in den Felsen stecken geblieben war. Bisher hatten erst wenige Bootsbesitzer ihre Lieblinge zu Wasser gelassen, und der Steg ließ die Bucht von Weitem aussehen, als wäre der Körper des Hais mit Nägeln gespickt.

Es kam zu einer Beschleunigung, das Ziel befand sich nördlich vom Ausgangspunkt, wo die Bucht ziemlich abrupt endete. Dort lag ein Schloss, das herrschaftlich in der Maisonne glänzte. Dann folgte eine Runde über den nördlichen Abschnitt des Ostseearms Edsviken. Die Perspektive wechselte, verlor an Höhenmetern und kehrte zurück zur Westküste, vorbei an einer bunten Mischung von Villen, hinter denen eine große unbebaute Grünfläche auftauchte. Am Ende dieser Fläche, unten am Wasser stand ein kleines weißes Haus. Ein Steg führte weit auf den Edsviken hinaus.

Erst jetzt sah man eine Gestalt, ein Mann stand auf dem Steg und wurde immer größer und größer. Er hatte eine Fernbedienung in der Hand, ein Laptop balancierte todesmutig auf dem Geländer daneben. Kurz darauf nahm der Mann das gesamte Bild ein. Am Ende war nur noch seine enorme Hand zu sehen.

Sam Berger fing die kleine Drohne und nickte zufrieden. Endlich hatte er herausgefunden, wie er das Gerät steuern musste. Er legte die Fernbedienung und das spinnenartige Flugobjekt auf einen Tisch, nahm den Laptop vom Geländer und ging zurück in das frisch renovierte Bootshaus.

Molly Blom war wahrscheinlich in ihrem Zimmer, aber das war wegen der wilden Bewegungen in der Tür nicht zu erkennen.

Hüpfbewegungen.

Berger hatte die Hüpfschaukel eigenhändig angebracht und wusste deshalb, dass sie ordnungsgemäß in der Tür befestigt und sicher war. Trotzdem überkam ihn jedes Mal Panik, wenn seine Tochter die schwarzen Gummibänder bis aufs Äußerste dehnte. Er hockte sich vor den hüpfenden, nicht ganz ein Jahr alten Körper. Obwohl seine Tochter einen Heidenspaß hatte, behielt sie ihr Pokerface. Der ausdruckslose, fast gelangweilte Gesichtsausdruck änderte sich erst, als er in die Trickkiste griff und seine hässlichste Grimasse zeigte. Aber ihre Konzentration war geradezu olympisch, und seine Anstrengung wurde nur mit einem winzigen Lächeln belohnt. Vorsichtig streckte er seine Hand aus, um nicht Myrinas kleine Nase zu erwischen, die sich vor ihm auf und ab bewegte. Es wurde eine eher unbeholfene Berührung.

Dann schob er sich an dem hopsenden Winzling vorbei. Blom saß tatsächlich am Schreibtisch und hackte auf die Tasten ein.

»Ich habe es jetzt im Griff«, sagte Berger und zeigte nach draußen.

Blom sah hoch und schnitt eine Grimasse.

»Faulheit und Unzucht waren der Untergang des antiken Rom. Unsere Gesellschaft hingegen ist durch das Internet und die vielen Drohnen dem Untergang geweiht.«

»Wir brauchen die Drohne am Wochenende«, erwiderte Berger. »Bist du unserem zypriotischen Freund auf die Schliche gekommen?«

Blom wackelte mit dem Kopf.

»Wie man’s nimmt«, sagte sie. »Es gibt auf jeden Fall keinen Grund zur Annahme, dass er rechtmäßige Geschäfte im Sinn hat. Panaiotis Skarparis hat ein ansehnliches Vorstrafenregister auf Zypern. Hauptsächlich Wirtschaftskriminalität. Aber auch Körperverletzung.«

»Was unter Umständen erklären könnte, warum die Ehefrau die Scheidung eingereicht hat …«

Berger und Blom musterten einander schweigend.

»Wer hätte das gedacht«, sagte Berger.

»Was hätte wer gedacht?«

»Dass ausgerechnet die schwächste Säule unseres ohnehin schon fragilen Businesskonzepts die spannendsten Herausforderungen mit sich bringen würde.«

»Aber du hast doch bitte nicht erwartet, dass Versicherungsbetrug spannender sein würde?«

Berger zuckte mit den Schultern.

»Versicherungsbetrug sichert nach wie vor das Einkommen der Bootshaus Security AG. Ich bin davon ausgegangen, dass es diese klassischen Privatdetektiv-Nummern wie Untreue überhaupt nicht mehr gibt. Das hat doch bei Scheidungen keine Relevanz mehr.«

»Nicht in unserem Teil von Europa, das stimmt«, sagte Blom und wechselte zu einem anderen Tab in ihrem Browser. »Aber auf Zypern ist es ziemlich schwer, eine Scheidung zu erwirken. Als Frau musst du den Erzbischof davon überzeugen, dass die Ehe nicht mehr zu retten ist. Und wenn der Ehemann weder impotent noch gewalttätig war – oder eben untreu –, muss man mindestens fünf Jahre warten.«

»Wenn man keine Beweise vorlegen kann«, ergänzte Berger nickend.

»Die Buchung ist bestätigt«, sagte Blom und zeigte auf den Bildschirm. »Die Luxussuite im Sjösala Spa – ›Und der Himmel ist gleich nebenan‹.«

»Genau genommen befindet er sich direkt über dem Kopf. Wenn man die elektrischen Jalousien vom Dachfenster nicht zuzieht.«

»Das ist leider einer unserer Unsicherheitsfaktoren«, sagte Blom. »Ein zweiter ist die Manövertauglichkeit dieses Dingsdas. Die unmittelbar mit deinem Fluggeschick zusammenhängt.«

»Ich habe noch ein paar Tage Zeit, um an meiner Technik zu feilen.«

Sie schwiegen erneut, gingen in Gedanken den Einsatz durch.

»Und es gibt kein verstecktes Risiko, dass wir in etwas Größeres hineingeraten?«, fragte Berger. »Ein russisch-zypriotisches Syndikat, oder so? Ich habe irgendwie die Nase voll von der Mafia.«

Blom blähte ihre Wangen auf, dann ließ sie die Luft ganz langsam entweichen und schüttelte den Kopf.

»Nichts deutet darauf hin, dass Panaiotis Skarparis mehr ist als nur ein shady businessman. Er ist zwar so wohlhabend, dass seine Frau Manolina uns ein großzügiges Honorar zahlen kann, aber ich konnte keine direkten Mafiakontakte finden. Was natürlich nicht zwangsläufig heißt, dass es keine gibt …«

»Und seine Frau selbst? Manolina Skarparis?«

Blom schüttelte den Kopf.

»Keine Vorstrafen. Keine Hinweise. Sie ist auf Facebook. Hausfrau aus Larnaka, sechsundvierzig, zwei halbwüchsige Kinder. Auf Facebook hat sie vor allem Fotos ihrer Kinder in den verschiedensten Aufzügen gepostet. Sie gibt alles, um ihren Alltag, ihre Existenz aufzuwerten, aber zwischen den Zeilen kann man deutlich Überdruss und Angst und Schrecken herauslesen. Das Ehepaar Skarparis ist auch auf ein paar Fotos zu sehen, und da springt kein Funke mehr über. Die beiden stehen so weit wie möglich auseinander.«

»Wenn Panaiotis zur Mafia gehören würde, gäbe es keine Fotos auf Facebook. Dann hätte seine Frau ganz bestimmt keinen Account da.«

Ihre Blicke begegneten sich erneut.

»Alles okay?«, fragte Blom und meinte auch sich selbst damit.

Er zuckte leicht mit den Schultern.

»Wir arbeiten in der Sicherheitsbranche«, sagte Berger. »Da gibt es immer ein Restrisiko. Aber in diesem Fall würde ich auch sagen, dass es minimal ist. Glauben wir Manolinas Version?«

Blom sah aus dem Fenster, den Hang hinauf. Über den Rasen schlängelte sich der Pfad, den sie gerade angelegt hatten, hinauf bis zum Zaun, der das Grundstück einfasste. Der Rasen war gesäumt von Pappeln, die sich in den Himmel streckten. Die Bäume bekamen Knospen, und die frischen Pappelblätter rauschten derart laut, dass man es auch im Bootshaus hören konnte.

»Ihre Geschichte ist glaubwürdig und stringent«, antwortete Blom, ohne ihren Blick abzuwenden. »Manolina Skarparis entdeckte eine SMS auf dem Handy ihres Mannes, die eine gewisse Helena geschrieben hat. Die Nachricht war auf Englisch, nüchtern gehalten, ohne verdächtige Smileys oder Emojis: ›Wie immer? Ein wunderbares Wochenende im Sjösala Spa?‹ Manolina hat ihre Schlüsse gezogen und eine Chance gesehen, ihrer schrecklichen Ehe zu entkommen und die Hälfte des Vermögens zu kassieren – und uns kontaktiert.«

»Und warum ausgerechnet uns?«

»Sie hat uns im Netz gefunden. Vermutlich, weil unsere Adresse in der Nähe vom Sjösala Spa liegt …?«

»Wie schön, dass wir uns durch unsere Verdienste auszeichnen«, brummte Berger schlecht gelaunt.

Blom hob seufzend die Hände.

»Außerdem findet sie den Buchstaben å so niedlich.«

»Ein weiterer, makelloser Beleg unserer einzigartigen Qualität.«

Myrina hüpfte unermüdlich weiter. Sie sahen zu ihr. Und auf einmal lief die Angst durch den Raum. Beide dachten an einen früheren Fall, bei dem ihre Tochter nur knapp einer Entführung entgangen war und eine Heldin für sie ihre Beine geopfert hatte.

»Wir können Myrina nicht bei uns haben, wenn wir im Bootshaus sind.«

Blom sah ihn lange an.

»Es gibt nach wie vor kein Wir.«

6

Freitag, 26. Mai

Deer saß am Ende des Flurs und starrte auf das frische Grün im Kronobergspark, als auf Höhe der Baumkronen ihre Nemesis auftauchte. Trotz des erheblichen Abstands wirkte sein Kopf breiter als hoch, und sowohl der ausladende Schnurrbart als auch die Koteletten glänzten in der Sonne.

Die Nemesis hieß Conny Landin, seines Zeichens Kriminalhauptkommissar und ihr Vorgesetzter seit ihrem ersten Arbeitstag bei der NOA. Am Anfang hatten seine Trägheit und Faulheit sie genervt – weil ein ständiges Hindernis bei der Arbeit –, aber nach der Katastrophe war alles nur noch schlimmer geworden. Seit ihrer Rückkehr behandelte er sie wie seine Praktikantin. Sie hatte schon Berge an Dokumenten sortiert.

Landin biss von einem Hotdog ab, während er langsam den Hang hinunterdackelte, der zum Polizeipräsidium führte.

Deer wusste nur wenig über ihn. Das meiste waren Gerüchte. Es hieß, er sei Ende fünfzig, einmal verheiratet gewesen, allerdings kinderlos, lebe seit seiner Geburt in Hökarängen südlich von Stockholm und verlasse den Ort seiner Kindheit grundsätzlich nie. Seine unerwartet großzügig bemessene Freizeit, berücksichtigt man seine Stellung als Hauptkommissar, widme er seinem Pitbull Terrier, der angeblich auf den Namen Noa hörte.

Aber das konnte natürlich alles nur Gerede sein.

Deer beobachtete die Gestalt, die eine Art Jeansanzug trug, und musste sofort an die Siebziger denken. Conny Landin sah aus wie der Fernsehserie Life on Mars – Gefangen in den 70ern entsprungen. Ein Reisender aus einer anderen Zeit, der nun auf der falschen Seite der Millenniumsgrenze umherzog. Wenn er allerdings denselben Idealen folgte, an die ein durchschnittlicher Bulle in den Siebzigern geglaubt hatte, dann verbarg er das gekonnt hinter seiner bürokratischen Feigheit, die ihn stets den Weg des geringsten Widerstands nehmen ließ.

Als Landin die Polhemsgatan erreichte, sah er sich um und steuerte auf einen Mülleimer zu, um die Reste seines Hotdogs zu entsorgen. Dann drehte er sich um und hielt sein Gesicht in die Sonne. Deer hatte das unangenehme Gefühl, dass er ihr direkt in die Augen sah, instinktiv wich sie zurück. Er wirkte angespannt, oder? Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, es war eine Anspannung, die sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte.

Als er schließlich seinen Weg fortsetzte, kehrte auch Deer an ihren Arbeitsplatz zurück, wo sie die Akten und Dokumente sortierte. Man hatte sie tatsächlich in die hinterste Ecke des Großraumbüros abgeschoben. Dort saß sie vor einem an ihre körperlichen Herausforderungen angepassten Schreibtisch, der sie mehr als deutlich an den äußersten Rand der Nationalen Operativen Abteilung verwies. Ein riesiges Bücherregal verdeckte sie – und damit auch ihre Sicht – zur Hälfte. Sie war nicht nur beruflich ausgestoßen worden, sondern auch räumlich. Geografisch gewissermaßen.

Manchmal rollte sie an ihrem ehemaligen Büro vorbei und sah hinein, wenn die Tür einen Spalt offen stand. Der Mann, der ihren Platz eingenommen hatte, war höchstens dreißig und sah aus, als würde er über ein bürokratisches Gemüt verfügen.

Außerdem hieß er Örjan.

Sie war sich durchaus bewusst, dass sie eine lange Auszeit genommen hatte, um ihren verwundeten Körper zu kitten, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Scharfblick nicht gelitten hatte. Dass sie Dinge durchschaute, wenn es ihr gelang, sich zu konzentrieren. Und sie sah eine Welt, die im Umbruch war. Eine Welt, in der die Bürokraten die Führung übernahmen. In der die eigentlichen Kompetenzen an den Rand gedrängt wurden, ganz gleich in welchen Bereichen, ob in der Pflege, in der Schule, bei der Polizei, im Journalismus, im Theater, im Kino oder in der Kunst. Überall übernahmen diejenigen, die der Macht den Vorzug gegenüber der Kreativität gaben.

Vielleicht irrte sie sich auch?

Deer rollte hinter ihren Schreibtisch und seufzte beim Anblick der Stapel, die sich darauf türmten. Das war ihr Tageswerk, das Sortieren alter Ermittlungsakten, damit diese digitalisiert werden konnten. Sie würde die analogen Unterlagen in Kürze nach genauer Vorgabe vernichten müssen, aber im Moment wollte sie sich damit nicht beschäftigen. Sie zog die Schreibtischschublade auf. Ihr Blick fiel auf das Foto darin, ein Porträt des Mannes mit der R-förmigen Narbe, das sie triggerte, sie antrieb. Aber der Trigger hatte in letzter Zeit nachgelassen, und sie hatte eine alternative Motivation gefunden.

Zu ihrer Rechten, an der Seite des Bücherregals, nur einen Meter entfernt, hing eine Karte von Stockholm. Ihre Kollegen konnten sie von ihren Plätzen aus nicht sehen. Und das war ihr sehr recht. Die Karte war etwas seltsam an dem Buchregal angebracht, stand ein paar Zentimeter vor, und am unteren Rand befand sich eine Schnur mit einer Schlaufe daran.

Sie lehnte sich vor, um das gesamte Großraumbüro überblicken zu können. Vereinzelt lief ein Kollege durch den Raum, ansonsten war es nur dünn besetzt.

Sie griff die Schlaufe und zog daran. Die Karte von Stockholm schnellte wie eine Rollgardine nach oben. Dahinter befand sich ihre gesamte Ermittlung in Miniaturform.

Da sie so nah davorsaß, konnte sie alles lesen. Die Angaben waren ohnehin nicht für eine zweite Person bestimmt. Auch die Fotos waren in der kleinstmöglichen Größe ausgedruckt. Es gab drei Überschriften: ›5. März‹, ›5. April‹ und ›5. Mai‹.

Unmittelbar unter den Überschriften klebten die Ansichten. Naturaufnahmen. Der Kriminaltechniker Robin hatte sie ihr höchstpersönlich vorbeigebracht, und sie sahen sich alle drei zum Verwechseln ähnlich. Ein Strandabschnitt, Felsen, die aus dem Wasser ragten, ein Waldrand auf der anderen Seite des Wassers.

Zugegeben, diese Landschaftsausschnitte waren nicht besonders aussagekräftig, Orte wie diese gab es im Großraum Stockholm Tausende. Besonders war das Datum. Und die Tatsache, dass alle drei Opfer bisher nicht identifiziert werden konnten.

Deer betrachtete die Fotos. Von den Fundplätzen – die sehr wahrscheinlich nicht die Tatorte waren – und den Obduktionen der Opfer. Der Modus Operandi unterschied sich grundlegend: mit zahlreichen Messerstichen erstochen, erwürgt, ein einziger Schuss in die Stirn. Letztere Aufnahme stammte von dem Fundort, den sie vor drei Wochen mit Robin besichtigt hatte. Nach diesem Ereignis und einer schrecklichen Strandwanderung hatte sie ihre Miniaturermittlung ins Leben gerufen.

Ein älterer Mann, eine junge Frau, ein junger Mann. Die drei Opfer verband nichts – außer der Tatsache, dass sie exakt im Abstand von einem Monat ermordet und an sehr ähnlichen Fundorten platziert worden waren.

Aber das hatte niemand vor ihr bemerkt.

Sie hörte ein lautes Räuspern und sah um die Ecke.

Conny Landin stützte sich auf ihren Schreibtisch. Es war zu spät, die Rollgardine wieder herunterzulassen. Allerdings hätte Landin sich weit über den Tisch lehnen und seinen Hals verdrehen müssen, um einen Blick auf ihre geheime Ermittlung zu erhaschen. Und dieses Ausmaß an Anstrengung war in Conny Landins Führungsstil einfach nicht vorgesehen.

»Hör mal, Desiré«, sagte er und strich sich über den Schnauzer, der sein breites, fleischiges Gesicht zierte.

»Ich höre, Conny«, erwiderte Deer.

»Ich habe deinen Bericht bekommen«, holte er umständlich aus. »Das ist der dritte in drei Wochen. Ich verstehe sehr gut, dass du dich langweilst und das Bedürfnis hast, in die aktive Polizeiarbeit zurückzukehren. Aber eine Verschwörungstheorie über einen Serienmörder ist leider vollkommen kontraproduktiv.«

»Ich behaupte lediglich, dass es Verbindungen zwischen den Morden gibt«, sagte Deer. »Du bist es, der von einem Serienmörder spricht.«

»Aber das ist doch die logische Konsequenz aus deiner Theorie, Desiré. Die Mordmethoden unterscheiden sich grundlegend, und es gibt keine Verbindung zwischen den Opfern. So verhält sich kein Serienmörder, und das weißt du auch. Außerdem haben wir gerade einen wirklich brutalen Mord auf dem Tisch. Örjan leitet die Ermittlungen und hat sich überreden lassen, dich als Assistentin mitzunehmen.«

Deers Blick wanderte automatisch den Flur hinunter zu ihrem ehemaligen Büro.

Örjan, der dreißigjährige Buchhalter.

»Meinst du den Axtmord in Tumba?«, fragte sie.

»Ganz genau. Das ist ein richtiger Fall«, rief Conny Landin begeistert. »Ein polizeilich bekannter Berufsverbrecher, Spuren, Anhaltspunkte, Verdächtige. Das sind die Fälle, die zu Ergebnissen führen.«

»Und was ist mit den drei Strandmorden?«

»Ich habe sie wieder den jeweiligen Dienststellen übergeben. Das waren nie Fälle für die NOA. Sie sind nur durch Zufall bei uns gelandet. Außerdem haben sich alle drei Fälle als Sackgassen erwiesen. Keine einzige Spur weit und breit.«

»Ich bitte dich, Conny. Das liegt daran, dass da schlampig ermittelt wurde. Und vor allem von verschiedenen Ermittlern. Hast du die Fälle im Ernst an Norrtälje, Vällingby und so weiter übergeben? Dann werden die doch niemals aufgeklärt.«

Hauptkommissar Conny Landin richtete sich auf und wackelte mit dem Kopf. Dann strich er sich erneut über den imposanten Schnäuzer. Er schien nach Worten zu suchen.

»Es kann durchaus sein, dass du nicht verstanden hast, was ich eigentlich sagen wollte, Desiré. Da du nach wie vor angeschlagen bist, hatte ich meine Worte mit Bedacht gewählt.«

Angeschlagen! Deer hätte gern ihren eigenen Gesichtsausdruck gesehen.

»Und deshalb werde ich jetzt deutlicher«, fuhr Landin fort. »Ich untersage dir hiermit ausdrücklich, dich weiter mit diesen sogenannten ›Strandmorden‹ zu beschäftigen.«

Deer schnaubte und schüttelte den Kopf.

»Die einzige Frage lautet derzeit, ob du weiterhin alte Ermittlungsakten sortieren oder Teil von Örjans Team werden willst? Aber du musst dich zusammenreißen. Und ich benötige deine Antwort jetzt.«

Sie seufzte tief und nickte dann.

»Ich will, dass du es laut sagst«, forderte Landin mit einem kleinen, hämischen Lächeln im Mundwinkel.

»Ja«, gehorchte Deer mürrisch. »Ich unterstütze Örjan sehr gern bei seiner Ermittlung zum Axtmord an einem drogenabhängigen Alkoholiker. Eine richtig professionelle Ermittlung.«

»Genau so soll es klingen!«, sagte Landin und machte auf dem Absatz kehrt.

Während Deer ihm auf seinem Weg durch die unendlichen Weiten des Großraumbüros hinterhersah, fragte sie sich, ob er die Ironie ihrer Antwort herausgehört hatte. Wahrscheinlich nicht. Zwischentöne waren nichts für seinen Intellekt.

Sie widmete sich noch einmal ihren drei Überschriften.

›5. März‹, ›5. April‹ und ›5. Mai‹.

Sie schloss die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, fühlte es sich an, als wären die drei Fälle in weite Ferne gerückt. Vielleicht hatte sie ihr Übereifer im Dienst davongerissen. Vielleicht hatte sie die Einsamkeit in der Reha etwas sonderbar werden lassen. Vielleicht war sie ein bisschen aus der Übung.

Sie ließ die Rollgardine wieder herunter und starrte auf die Karte von Stockholm. Intuitiv verweilte ihr Blick auf den Vororten im Norden.

Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit.

7

Sonntag, 28. Mai

Obwohl der Wind aus nördlicher Richtung kam, war es warm genug, um auf dem Steg vor dem Bootshaus zu sitzen. Sie hatten beide einen eigenen Tisch, auf dem ein Gerät stand. Der Abstand zwischen ihnen fühlte sich unendlich groß an. Berger justierte einen Gegenstand, der aussah wie ein riesiger Krebs. Blom war in ihren Laptop versunken.

Es herrschte eine bedächtige Ruhe, die sowohl Zusammenarbeit als auch Waffenstillstand bedeuten konnte.

Ein Windstoß hob die Drohne in die Luft, aber Berger fing sie im Flug.

»Ich bin so weit«, sagte Blom.

Berger versuchte, die Drohne zu hypnotisieren, damit sie auf dem Tisch stehen blieb, dann ging er zu Blom hinüber. Sie startete den Film.

Zuerst sah man nur das Meer, das hinter einer Düne auftauchte, auf der ein Schwarm von Möwen am Ufer herumstolzierte. Die Köpfe der Vögel drehten sich alle zeitgleich um, sie entdeckten die Drohne, hoben wie ein einzelner Körper vom Boden ab und kamen auf sie zu.

»Schlechte Recherche«, sagte Berger.

»Ja, wir hätten die andere Seite der Düne nehmen sollen«, gab Blom zu.

Einige der Möwen wichen aus, als die Drohne auf sie zukam, als würden sie das Objekt wiedererkennen, das mühelos durch die Wolken flog. Andere aber, jüngere Tiere vermutlich, kamen der Drohne so nah, dass sie sie berührten und das Kamerabild verwackelte. Dreimal passierte das, bis die Möwen das Interesse verloren und davonflogen.

»Dann schneide ich den Film, damit er erst hier anfängt«, sagte Blom.

Die Drohne erreichte das Herrenhaus und drosselte ihr Tempo. Mit minimaler Geschwindigkeit glitt sie über das gleichermaßen traditionsreiche wie ausladende Dach.

Der Rest des Films war in Zeitlupe gefilmt. Auf einmal wurde alles zweidimensional. Die Kamera änderte ihren Aufnahmewinkel, ein Dachziegel nach dem anderen erschien in monotoner Einförmigkeit im Bildausschnitt, bis plötzlich eine Kante auftauchte und die Tristesse durchbrach. Dann tauchte die Kamera ab, und das Bild wurde wieder dreidimensional.

Zu sehen war nicht irgendeine beliebige Dreidimensionalität. Unter dem Dachfenster – »Und der Himmel ist gleich nebenan« – befand sich eine Luxussuite. Deren Gäste die Jalousien nicht zugezogen hatten.

Direkt unter dem Fenster stand ein Bett, in dem ein etwas korpulenter Mann namens Panaiotis Skarparis lag. Und er war nicht allein. Ein goldblonder Haarschopf lag wie eine Sonnenblume aufgefächert auf den vom Licht geküssten Kopfkissen. Das war allem Anschein nach die schöne Helena, und was in diesem Bett geschah, war zweifellos etwas, das man früher als Beischlaf bezeichnet hätte.

Das Paar wechselte in einer einstudierten Choreografie die Stellung. Als Helena zu einer oralen Tätigkeit überging, zoomte die Kamera näher heran.

»Hervorragende Kameraführung«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

In dieser Sekunde entfernte sich die Drohne wieder von dem großen Dachfenster, und Berger und Blom drehten sich erschrocken um. Die potenzielle Gefährlichkeit des Eindringlings wurde – eindeutig ein Vorurteil – dadurch gemindert, dass die Person im Rollstuhl saß.

*

Der Blick ihres Gastes schweifte über den Edsviken und blieb am Horizont hängen. Ziemlich lange.

Berger betrachtete sie von der anderen Seite des Tisches. Seine Deer war ganz die Alte – und doch nicht. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Er hatte sie, so oft es ging, im Krankenhaus besucht. Was nicht so häufig gewesen war, wie er gewollt hätte – schließlich war er Geschäftsführer eines Unternehmens und verantwortlich für ein Kleinkind. Aber häufig genug, um Zeuge ihres langsamen Genesungsprozesses zu werden. Und ihrer Schmerzen.

Und die waren nicht verschwunden. Die Schmerzen setzten sie zwar nicht mehr außer Gefecht, aber sie hatten deutliche Spuren hinterlassen.

»Wie ist es dir eigentlich gelungen, an den Überwachungskameras vorbeizukommen?«, fragte Berger und warf einen Blick zu Molly Blom, die noch immer vor ihrem Laptop hing.

Deer war gerade im Begriff, Bergers Frage zu beantworten, als Blom mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und aufsah.

»Gebongt! Der Film belegt eindeutig die Untreue. Über jeden Zweifel erhaben! Manolina Skarparis hat die Datei gerade in Larnaka geöffnet. Das wird den Erzbischof nicht erfreuen. Das Honorar wird in den nächsten Tagen auf unserem Konto eingehen.«

Berger nickte und wandte sich mit aufforderndem Blick an Deer.

»Das mit den Kameras habe ich auf die harte Tour gelöst«, antwortete sie.

»Im Rollstuhl?«, fragte Berger staunend.

»Na ja, ihr wart ja so in euren Porno vertieft …«

Berger und Blom sahen einander kurz an.

»Warum bist du hier, Deer?«, fragte Blom.

»Ich muss unbedingt mit euch reden.«

Blom kam zu den beiden an den Tisch und setzte sich.

»Sam hat mir erzählt, dass du wieder angefangen hast zu arbeiten. Aber mehr nicht. Ich vermute, es ist gut, endlich wieder im Dienst zu sein?«

»Theoretisch schon«, murmelte Deer kaum hörbar.

»Mehr weiß ich selbst nicht«, sagte Berger. »Aber ich meine den schwachen Unterton einer Conny-Landin-Problematik zu vernehmen …?«

»Nur einen schwachen Unterton? Dann habe ich mich besser unter Kontrolle als gedacht.«

»Gut, ich höre etwas mehr als das«, gab Berger zu. »Also, was willst du von uns?«

Deer sah ihn lange an. Sehr lange. Schließlich wandte sie den Blick ab.

»Es gibt noch eine Möglichkeit. Aber ich weiß natürlich nicht …«

»Was weißt du nicht?«

»Ob ihr noch euren alten Biss habt.«

Der Blick, den Berger und Blom wechselten, war dieses Mal erheblich länger.

»Wie meinst du das?«, fragte Blom.

»Untreue Ehepartner«, sagte Deer und zog ihre Schultern hoch. »Videofilmchen von Kopulationen. Da seid ihr jetzt gelandet?«

»Falls«, Blom hob die Stimme. »Falls du gekommen sein solltest, weil du unsere Hilfe benötigst, solltest du dich vielleicht nicht so benehmen, als hättest du keinen Biss mehr.«

Die beiden Frauen musterten sich ein paar angespannte Sekunden lang.

»Touché!«, sagte Deer.

Dann drehte sie sich um und zerrte ihren Rucksack vom Griff des Rollstuhls. Nach kurzem Kampf holte sie eine Akte heraus, legte sie auf den Tisch und klopfte mit der flachen Hand darauf.

»Nur, falls ihr Zeit habt …«

Erneuter kurzer Blickwechsel zwischen Berger und Blom. Wobei er in ihren Augen eine deutliche Skepsis sah.

Berger war der festen Überzeugung, dass sie selbstverständlich Zeit für den Menschen hatten, der seine Beine für ihre Tochter geopfert hatte. Außerdem würde die zypriotische Zahlung sie eine Weile über Wasser halten.

Aber er wusste auch, dass Blom das nicht so sah. Sie wollte alles von ihrer Firma fernhalten, was auch nur im Entferntesten gefährlich werden konnte. Sie war zufrieden mit den anspruchslosen Versicherungsbetrügereien. Wann immer sie sich über die Zukunft Gedanken machte – diese unerträglichen, unendlichen Grübeleien, die meist mit einem Kurs in Selbstverteidigung endeten –, zog sie die allerharmlosesten Fälle vor. Jene, die keinen besonders großen Arbeitsaufwand bedeuteten.

Aber das war natürlich auch nur seine Perspektive.

»Und, um was geht es da?«, fragte Berger und legte eine Hand auf die Akte.

»Um einen Serienmörder«, sagte Deer, ohne zu blinzeln.

8

Sonntag, 28. Mai

Die Untiefen wirken in der Frühlingssonne größer als sonst. Ohne die Eisschicht sieht es aus, als würden sie weit aus dem Wasser ragen. Dasselbe gilt für das Spiegelbild in den Panoramascheiben. Auch das sieht größer aus. Der junge Mann hat einen anderen Körper bekommen. Er wächst.

Er wächst im Takt mit dem Auftrag. Und der Auftrag wächst in seinem Inneren, pumpt ihn förmlich auf, macht ihn größer. Dafür ist er geschaffen. Genau dafür.

Er mustert seine linke Hand. Wartet auf das Zittern.

Aber es setzt nicht ein. Es kommt immer seltener. Vielleicht ist er es endlich losgeworden. Weil er seine Berufung gefunden hat.

Er muss das tun. Es ist unausweichlich. Seit ein paar Monaten ist es wie eine Sucht geworden.