Sechs mal zwei - Arne Dahl - E-Book
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Sechs mal zwei E-Book

Arne Dahl

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Beschreibung

 »Ein wirklich brillant konstruierter Plot, der selbst den erfahrensten Krimi-Enthusiasten vom Stuhl kippen lässt. Die Gänsehautmomente hören gar nicht mehr auf!« Aftenposten   
Sam Berger und Molly Blom werden selbst zu Gejagten. In ihrem zweiten Fall müssen die Stockholmer Verbrecherjäger untertauchen. Sie müssen sich verstecken – vor den Geheimdiensten, vor ihrer Vergangenheit, vielleicht auch voreinander.

Bis in ihrem Exil im eisig schönen, unerbittlichen Norden plötzlich eine Frau ermordet wird. Ihre Leiche verschwindet, und der Täter lässt nichts als ein Stück Haut mit einer Kleeblattzeichnung zurück. Doch Sam Berger ist schockiert: Er kennt dieses Symbol aus einem alten Fall … 

»Wer bereit ist, mit jedem gelesenen Satz einen Schritt tiefer in die furchterregenden Verliese der menschlichen Seele hinabzusteigen, der kommt bei Dahl voll auf seine Kosten.« – Berner Zeitung 

Arne Dahl ist der Inbegriff des psychologisch komplexen Schwedenkrimis. Düster und genüsslich abgründig konstruiert er spannende Fälle, die mit den Erwartungen der Leser genauso spielen wie mit dem Schicksal der Ermittler.

Ein außergewöhnlicher Schauplatz – der hohe Norden Schwedens – verleiht »Sechs mal zwei« darüber hinaus einen ganz besonderen Reiz, dem sich kein Skandinavienfan entziehen kann. 

»Arne Dahl vereint alles: Verbrechen von globaler Tragweite, intelligente Plots, Hochspannung und literarische Qualität.« – Lars Kepler 

Mit Preisen, Lob und Bestsellerplätzen gibt sich Arne Dahl nie zufrieden. Seine Romane um das Stockholmer A-Team und die Opcop-Gruppe sind internationale Phänomene und gehören zu den meistgelesenen Krimireihen überhaupt.

Mit seiner Reihe um die Ermittler Berger & Blom gelang es Dahl, diesen Erfolg sogar noch zu übertreffen. Gnadenlos, voller Action und überraschender Wendungen: »Sechs mal zwei« ist die perfekte Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte. 

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Seitenzahl: 465

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Übersetzung aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

ISBN 978-3-492-97569-2

September 2017

© Arne Dahl, 2017

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: »Hinterlands« bei Albert Bonniers, 2017, Stockholm

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von mono studio

Covermotiv: AdobeStock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

I

Teil I - 1. Kapitel

Teil I - 2. Kapitel – Donnerstag, 12. November, 14:17

Teil I - 3. Kapitel – Donnerstag, 12. November, 17:48

Teil I - 4. Kapitel – Freitag, 13. November, 07:33

Teil I - 5. Kapitel – Mittwoch, 18. November, 10:28

Teil I - 6. Kapitel – Mittwoch, 18. November, 11:14

Teil I - 7. Kapitel – Mittwoch, 18. November, 11:16

Teil I - 8. Kapitel – Mittwoch, 18. November, 14:08

Teil I - 9. Kapitel – Mittwoch, 18. November, 21:44

II

Teil II - 10. Kapitel – Donnerstag, 19. November, 10:02

Teil II - 11. Kapitel – Donnerstag, 19. November, 10:02

Teil II - 12. Kapitel – Donnerstag, 19. November, 13:47

Teil II - 13. Kapitel – Donnerstag, 19. November, 14:09

Teil II - 14. Kapitel – Freitag, 20. November, 08:27

Teil II - 15. Kapitel – Freitag, 20. November, 12:08

Teil II - 16. Kapitel – Samstag, 21. November, 09:01

Teil II - 17. Kapitel – Samstag, 21. November, 14:13

Teil II - 18. Kapitel – Samstag, 21. November, 14:24

Teil II - 19. Kapitel – Samstag, 21. November, 18:03

Teil II - 20. Kapitel – Samstag, 21. November, 19:46

III

Teil III - 21. Kapitel – Sonntag, 22. November, 09:41

Teil III - 22. Kapitel – Sonntag, 22. November, 09:41

Teil III - 23. Kapitel – Sonntag, 22. November, 14:07

Teil III - 24. Kapitel – Sonntag, 22. November, 16:58

Teil III - 25. Kapitel – Dienstag, 30. Oktober 2007, 15:25(Acht Jahre zuvor)

Teil III - 26. Kapitel – Montag, 23. November, 05:18

Teil III - 27. Kapitel – Montag, 23. November, 09:46

Teil III - 28. Kapitel – Montag, 23. November, 13:27

Teil III - 29. Kapitel – Montag, 23. November, 13:42

Teil III - 30. Kapitel – Dienstag, 24. November, 02:11

Teil III - 31. Kapitel – Dienstag, 24. November, 10:07

Teil III - 32. Kapitel – Dienstag, 24. November, 12:47

IV

Teil IV - 33. Kapitel – Mittwoch, 25. November, 10:07

Teil IV - 34. Kapitel – Mittwoch, 25. November, 14:28

Teil IV - 35. Kapitel – Mittwoch, 25. November, 18:02

Teil IV - 36. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 02:07

Teil IV - 37. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 07:48

Teil IV - 38. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 09:16

Teil IV - 39. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 10:35

Teil IV - 40. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 10:35

Teil IV - 41. Kapitel – Donnerstag, 26. November, 11:30

Teil IV - 42. Kapitel – Freitag, 27. November, 11:14

Teil IV - 43. Kapitel – Freitag, 27. Dezember, 14:02

I

1

An Kommissarin Desiré Rosenkvist.

Zum ersten Mal habe ich das Geräusch vor zwei Monaten gehört. Es ist schwer zu beschreiben. Es klingt, als befände sich jemand in der Wand und im Boden. Das Geräusch kommt weder von innen noch von außen, und es ist nicht menschlich. Aber der Vorschlag der zwei jungen Polizisten, die mich neulich besucht haben, kommt mir jetzt, nachdem ich ein wenig darüber nachgedacht habe, fast wie eine Beleidigung vor. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht einmal, was ein Hausbock ist.

Jetzt weiß ich es.

Die Larven des Hausbocks leben sehr lange in trockenem Nadelholz, bis zu zehn Jahren, bis sie sich dann verpuppen und als Käfer schlüpfen. Sie höhlen das Holz von innen vollständig aus, von außen aber erscheint es gesund. Die einzige Möglichkeit, die Larven des Hausbocks zu bekämpfen, besteht darin, das befallene Holz zu verbrennen oder das Gebäude mit Gift zu begasen.

Und sie sind laut, man kann die Larven nagen hören. Sie sind weder drinnen noch draußen. Sie sind im Verborgenen.

Aber um so ein Geräusch handelt es sich nicht. Außer ich hätte meinen ganz eigenen, bösartigen Hausbock. Denn es fühlt sich wirklich so an, als wäre jemand hinter mir her.

Ich wohne sehr einsam, Frau Kommissarin. Ihnen würde es hier gefallen. Es ist fast wie zu Hause. Niemand kommt hier zufällig vorbei, hierher verlaufen sich keine Camper, es gibt keine neugierigen Immobilienspekulanten, keine Managerhorden, die so tun, als würden sie ihre innere Mitte mit ein bisschen Ironman-Training wiederfinden. Tiere gibt es dagegen schon, und natürlich dachte ich am Anfang, es sei ein verirrtes Rentier, vielleicht sogar ein Elch, der über den Zaun gesprungen ist und meine winterfesten Stauden zertrampelt. Aber es waren weder Spuren in den Beeten noch Beschädigungen am Zaun. Und ich weiß, dass Rentiere und Elche nicht über diesen Zaun springen können. Deshalb ließ ich ihn ja hochziehen.

Es kann sich also um keine andere Kreatur handeln als um einen Menschen. Auch Menschen können unmenschlich sein. Die Frage ist, ob wir unter den Millionen von Tierarten auf der Erde nicht den Weltrekord in Unmenschlichkeit halten. Obwohl wir ja eigentlich gerade das Menschliche repräsentieren.

Außerdem gehen die Forscher davon aus, dass wir bislang höchstens die Hälfte aller Tierarten auf der Erde entdeckt haben.

Trotzdem muss es sich um einen Menschen handeln, der mir nachschleicht. Und er – ich gehe davon aus, dass es ein Mann ist – kann sich auch aus keinem anderen Grund hier oben aufhalten. Es hat geschneit, und ich habe die Schneedecke nach Hinweisen abgesucht, habe aber nichts entdeckt, auch keine Spuren, abgesehen von meinen eigenen. Dennoch weiß ich, dass es kein Ende nehmen wird. Es geht immer weiter.

Jemand spioniert mir nach.

Im 19. Jahrhundert wurden alle Frauen als hysterisch abgetan und eingesperrt, wenn sie nach Freiheit und Gerechtigkeit verlangten, und leider sind wir heute noch nicht viel weitergekommen. Ich weiß, dass die Polizei mich längst als Hysterikerin abgestempelt hat. Obwohl Ihr Eure Vorverurteilungen mit Bezeichnungen wie »Querulantin« und »Verschwörungstheoretikerin« verschleiert, habt Ihr wahrscheinlich schon längst eine schicke neuropsychiatrische Diagnose für mich parat. Ich hoffe, Euch bleibt diese Diagnose dann im Hals stecken, wenn Ihr Euch über meine übel zugerichtete Leiche beugt.

Denn dieser Mann will mir nichts Gutes.

Es macht mich wirklich traurig, dass mir niemand glaubt. Oder, noch schlimmer, dass man glaubt, ich sei verrückt. Ich habe ja den Tonfall der Beamten gehört, als sie hier waren. Ich hörte, wie sie laut über ihren Witz vom »Hausbock« lachten, während sie in ihren Streifenwagen stiegen. Als wäre ich nicht in der Lage, den Unterschied zwischen dem verhaltensauffälligen Nachwuchs eines Käfers und einem gefährlichen, bösartigen erwachsenen Mann zu hören. Als würde ich diese Geräusche verwechseln.

Ich habe es schon so oft versucht, aber niemand hört auf mich. Ich bin wirklich am Boden zerstört.

Ihr wisst genauso gut wie ich, dass die »Operation Gladio« tatsächlich stattgefunden hat und dass die Tabakfirmen in den USA Zusatzstoffe in die Zigaretten gemischt haben, die Abhängigkeiten erzeugen. Auch die Herzinfarktpistole der CIA, die keine Spuren hinterlässt, gibt es wirklich, und die »Operation Snow White« haben die Scientologen in der Tat selbst durchgeführt, obwohl das niemand glauben wollte.

Ich selbst habe mehrmals darauf hingewiesen, dass Victor Gunnarsson kurz nach dem Mord an Olof Palme unzweifelhaft in der Luntmakargatan gesehen wurde – das ist sogar protokolliert –, und ich habe persönlich mit einem Polizisten gesprochen, der zugab, dass zwei voneinander unabhängige Zeugen an jenem Juliabend vor dem Café auf dem Kinnekulle einen weißen Sportwagen beobachtet haben, der einem Kriminalbeamten aus dem Bezirk gehörte.

Ich habe auch versucht, Euch mit einem gewissen Nachdruck klarzumachen, dass Essam Qasims DNA nicht auf dem Messer zu finden ist, das in dem Abfluss in Strömstad entdeckt wurde, und Penny Grundfelt vor dem Mord an Anders Larsson drei Jahre lang unter dem Hassparolen verbreitenden Profil »DeathStar« auf Flashback aktiv war. Auch die Erwähnung der Kugelschreiberzeichnung auf Lisa Widstrands Gesäß in der Lokalpresse führte nicht dazu, dass die Polizei Karl Hedbloms Schuld erneut überprüfte, und ich hatte Einblick in eine E-Mail-Korrespondenz der Zwillinge Abubakir, in dem sogar die Munition für die Ruger Mini 14 namentlich genannt wird, die Sanchez kurz darauf den Kopf weggeblasen hat.

Aber Euch interessiert das alles nicht.

Ihr kümmert Euch erst um mich, wenn ich ermordet sein werde. Erst als Leiche bin ich für Euch interessant.

Ja, ich schreibe mit einer Schreibmaschine. Ich benutze keinen Computer mehr, seit ich die Wahrheit über die NSA erfahren habe. Deshalb gelingt es Edward Snowden ja, in Russland unter dem Radar zu bleiben: Er benutzt keinen Computer. Wenn jemand unter Entzug leiden müsste, dann ja wohl er, aber man kann es schaffen. Ich surfe mit einem geschützten Tablet, aber ich schreibe kein einziges Wort auf einem Computer. Denn das könnte überall mitgelesen und weiterverbreitet werden. Wenn beispielsweise die Zwillinge Abubakir erführen, was ich weiß, hätte ich ziemlich schlechte Karten.

Jetzt höre ich das Geräusch schon wieder, in diesem Moment. Oh Gott.

Das Schlimmste dabei ist, dass er ganz bestimmt diese Blätter mitnehmen wird. Mit meinem Blut darauf. Dann wird er sie entsorgen, ohne darüber nachzudenken. Als hätten sie keinerlei Bedeutung.

Ich schreibe mit meinem Blut.

Es kommt von der Außenwand und wandert hinunter in den Keller. Ein schlurfendes Geräusch, als würde sich wirklich jemand in der Wand bewegen, in tiefster Dunkelheit. Natürlich weiß ich, dass er in Wirklichkeit draußen ist, dass er durch den Schnee geht, der die Beete bedeckt. Ich verstehe nur nicht, was er will.

Habe ich versehentlich doch ein paar unerwünschte Wahrheiten von mir gegeben, bevor ich aufhörte, Computer zu benutzen? Läuft hier doch noch ein Schuldiger ungestraft herum und meint, seine Freiheit sei von meinem Wissen bedroht? Oder ist es nur ein normaler, primitiver Sadist, der nichts im Sinn hat außer der Tat selbst? Ein Einbrecher, ein Vergewaltiger, ein Berufskiller? Aber eigentlich ist mir egal, wer es ist, ich möchte nur wissen, warum er das tut.

Ich will wissen, warum ich sterbe.

Ich weigere mich aufzustehen. Ich weigere mich, mit dem Schreiben aufzuhören. Die Abenddämmerung ist längst angebrochen, und ich ahne, dass der Himmel von Wolken bedeckt ist, denn hinter der Dunkelheit liegt eine weitere Dunkelheit und dahinter grenzenloser Boden.

Wieder dieses Geräusch. Es hat sich weiterbewegt. Ein hastendes, gezogenes, schleppendes Geräusch entlang der Wand, jetzt ganz in der Nähe der Eingangstür.

Wenn es doch nur die Larven des Hausbocks wären.

Mein Blick ist auf das Papier fixiert. Trotzdem spüre ich, dass ich mir einen Fluchtweg suchen muss. Meine Kerze flackert in der Dunkelheit, sie ist kurz vorm Erlöschen. Im Moment ist nur das Klappern meiner Schreibmaschine zu hören, was in allen anderen Situationen auf mich beruhigend wirken würde.

Aber nicht jetzt.

Denn jetzt höre ich das Geräusch erneut, das hastige Schlurfen, ein kurzes Rascheln. Noch nie war es so nah.

Seit fast zwei Monaten. Manchmal jeden Tag, manchmal nach einer unerträglichen Pause von mehreren Tagen. Nun höre ich das Geräusch an der Terrassentreppe, und es gibt mir beinahe ein gutes Gefühl. Viel länger hätte ich diese Ungewissheit nicht mehr ertragen.

Der Keller, den ich seit Jahren nicht mehr nutze – ich bin seitdem nicht ein einziges Mal unten gewesen. Mein Blick wandert zur Kellertür. Im selben Augenblick fährt plötzlich ein eiskalter Wind durch mein Schlafzimmer. Als die kleine Flamme meiner Kerze erlischt, höre

2

Donnerstag, 12. November, 14:17

Er hieß Berger. Sam Berger.

Das war alles, was er wusste. Und dass er wegmusste.

Fort von hier.

Er legte die Hand auf das Küchenfenster. Es war so kalt, dass seine Fingerkuppen am Glas haften blieben. Als er die Hand wegriss, blieben einige Hautfetzen hängen.

In der Fensterscheibe sah er sein Spiegelbild. Er formte mit der rechten Hand einen doppelläufigen Revolver.

Dann drückte er ab.

Draußen vor dem Fenster war alles weiß. Die dicke Schneedecke auf dem Feld schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Doch plötzlich machte Sam Berger in der Ferne eine Bewegung aus, ganz hinten am Horizont. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er erahnen, dass der lang gestreckte Quader, der sich an der Kante des Ackers entlangbewegte, ein Bus war.

Dorthin musste er.

Offenbar gab es dort eine Straße, die von hier wegführte. Fort von hier.

Die Tür seines Zimmers war zum ersten Mal einen Spalt weit offen geblieben, und er hatte es geschafft, sich genau zur richtigen Zeit hinauszuschleichen, in der Nachmittag-dösigkeit, und dann hatte er die Küche gefunden, in der er, soweit er wusste, noch nie zuvor gewesen war.

Das Küchenpersonal hatte schon alles für den Nachmittagskaffee vorbereitet. Ein paar Thermoskannen standen auf einem Servierwagen neben einer Schüssel voller Zimtschnecken, die mit Frischhaltefolie abgedeckt waren. Neben dem Wagen hingen ein paar weiße Kittel.

Er sah erneut aus dem Fenster und lehnte sich ganz nah an die Scheibe. Die Kälte strahlte auf sein Gesicht ab. Dann sah er an sich hinunter. Unter dem Kleidungsstück, das man unter anderen Umständen für eine bequeme Jogginghose hätte halten können, waren seine Füße nackt. Er bewegte die Zehen, und sogar sie schienen einzusehen, dass er die Straße niemals ohne Schuhe erreichen würde.

Trotzdem musste er fort. Er hatte schon zu viel Zeit hier verbracht.

War zu lange weg gewesen.

Er warf einen Blick in die Vorratskammer. In einer Ecke stand tatsächlich ein Paar Stiefel, und obwohl sie mindestens drei Nummern zu klein waren, zog er sie an. Seine Zehen krümmten sich, aber er konnte damit gehen, vielleicht würde er sogar rennen können.

Als er wieder in die Küche trat, hörte er Stimmen hinter der Tür, die zum Hauptkorridor führte. Sie war geschlossen, das würde aber bestimmt nicht lange so bleiben.

Also riss er alle drei Kittel an sich, die neben dem Servierwagen hingen, und humpelte zur hinteren Tür. Die Schmerzen in den gekrümmten Zehen hielten ihn wach.

Er zog den ersten Kittel an, dann den zweiten, aber als er den dritten über die beiden vorhergehenden ziehen wollte, klangen die Stimmen im Flur plötzlich ganz nah. Vorsichtig drückte er die Türklinke hinunter und schlüpfte in den Seitenflur. Er schloss die Tür hinter sich, so leise er konnte, und hörte, wie die andere Tür zur Küche im selben Augenblick aufgestoßen wurde. Während er den immer dunkler werdenden Flur entlangrannte, zwängte er sich in den dritten Kittel. Wegen der viel zu engen Stiefel wirkte sein normalerweise dynamischer Laufschritt wie das Stampfen zweier riesiger Klumpfüße.

Normalerweise? Es gab kein »normal« mehr. Definitiv keinen normalen Laufschritt. Es kam ihm so vor, als wäre er in einer vollkommen leeren, vollkommen weißen Welt aufgewacht.

In einer Welt ohne Zeichen.

Was sich an Erinnerungen zeigte, war nichts anderes als der Phantomschmerz seiner Seele. Alles war gekappt, als hätte sein Gehirn zielgerichtet jede Spur vernichtet.

Dennoch erinnerte er sich an die Tür, sogar an den Spalt, durch den die Kälte in den Flur drang. Die letzten dunklen Meter.

Er stieß die Tür auf. Der Balkon war groß, geradezu riesig, als gehörte er zu einem königlichen Schloss, aber nur auf einem kleinen Quadrat direkt vor der Tür war der Schnee weggefegt worden. Überall lagen Zigarettenstummel herum. Er musste also auch diese Raucherecke aufgesucht und geraucht haben, in seiner Zeit in tiefer, bodenloser Dunkelheit. So musste es gewesen sein. Wie sonst hätte er hierherfinden können?

Aber hatte er nicht aufgehört zu rauchen?

Hinter dem freigeräumten Quadrat lag der Schnee meterdick auf dem Balkon. Man hatte ihn zusammengeschoben, sodass sich eine steile Rampe aus dicht gepresstem Schnee gebildet hatte, die zu einem Schneeplateau führte. Es waren etwa sechs Meter bis zum Balkongeländer, aber er konnte nicht erkennen, wie tief es nach unten ging.

Hinunter auf den Acker, der zur Straße führte. Zur Straße, die an einen anderen Ort führte. Fort von hier.

Er quälte sich auf das Schneeplateau. Die Kruste war so dick, dass er nicht einbrach. Doch erst, als er sich endlich zur Balustrade vorgekämpft hatte, hörte er hinter sich an der Balkontür Stimmen.

Von hier ging es bestimmt fünf Meter in die Tiefe. Die Schneedecke dort unten wirkte dicker als auf dem Balkon, aber wenn sie genauso hart war, würde er sich die Beine brechen. Doch es gab keine Alternative.

Er sah sich nicht um, als er im Schersprung über das Balkongeländer verschwand. Die drei Kittel übereinander flatterten wie eigenartige weiße Flügel. Sie flatterten ziemlich lange.

Er fiel in den Schnee und sank ein. Ja, er sank, der Schnee dämpfte den Fall, und er fiel nach vorn. Sein Mund füllte sich mit Schnee, und er bekam keine Luft mehr. Panik überfiel ihn. Lawinenpanik. Aber dann rappelte er sich auf, bis seine Beine Halt fanden. Er spuckte Schnee und lief los, quer über das Feld. Auf die Straße zu. Doch er kam nur quälend langsam voran.

Nach etwa zehn Metern warf er einen Blick über die Schulter. Zwei breite Männer standen an der Balustrade des Balkons und starrten ihm hinterher. Dann verschwanden sie.

Er stapfte weiter. Der Schnee war kompakt und machte jeden Schritt zu einem Kampf. Außerdem fror er trotz der drei Kittelschichten erbärmlich.

Jetzt fing es auch noch an zu schneien. Große Flocken segelten aus dem bleifarbenen Himmel herab. Die Sonne war bereits untergegangen.

Plötzlich nahm er neben seinem eigenen Keuchen ein anderes Geräusch wahr. Sam Berger blieb stehen, reckte die Nase ins Weltall und ließ die Schneeflocken auf seinem Gesicht eine Maske aus lauter kleinen Fragmenten bilden. Er hielt die Luft an und horchte.

Hoch konzentriert.

In dem schwachen, matten Licht, das seit dem Sonnenuntergang herrschte, erahnte er in der Ferne eine Bewegung. Schließlich nahm sie Form an. Durch das Weiß der Welt bewegte sich ein Quader.

Der Quader kam auf ihn zu. Sam Berger lief wieder los, wagte einen verschwenderisch großen Schritt, aus dem ein Fehltritt wurde, er wollte nicht nach vorn fallen und fiel stattdessen auf den Rücken. Sein Bein steckte bis zum Knie im Schnee fest, und er kam nicht mehr hoch. Tanzende Schneeflocken blieben an seinen Wimpern hängen und trieben ihm Tränen in die Augen.

Er kam wirklich nicht mehr hoch.

Tief in seinem Innersten musste er nach einem glühenden Rest seines Willens suchen, nach einer gut verborgenen Energiereserve. Komprimierte Gewalt. Mit einem Schrei richtete er sich auf, um ihn herum wirbelte der Schnee, und die Kittel flatterten, als würde er heftig mit den Flügeln schlagen. Er war ein gefallener, aber wiederauferstandener Engel.

Mühsam stolperte er weiter. Der Bus kam immer näher. Die Seiten des Fahrzeugs waren von aufgewirbeltem Schnee bedeckt, nur Teile der Fensterscheiben waren zu erkennen. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer ein, Lichtkegel schossen aus dem Quader. Und das Brummen des Dieselmotors wurde zunehmend lauter.

Das Geräusch der Freiheit.

Jetzt konnte er die Straße sehen, die sich durch die weiße Schneedecke wand. Er rannte los, plötzlich konnte er rennen, der Schnee hielt ihn kaum noch auf. Mit jeder Kurve kam der Bus näher, aber es waren nur noch zehn Meter bis zum Straßenrand. Er fiel auf die Knie, richtete sich aber schnell wieder auf. Der Bus war bloß noch wenige Meter entfernt. Sam Berger hob die Arme und winkte wie wild, der Fahrer konnte das mit Flügeln geschmückte weiße Wesen unmöglich übersehen, das, umgeben von einer Aura aus schwirrendem Pulverschnee, auf die Straße zuwankte.

Mit den Armen fuchtelnd, lief er weiter, erreichte den Straßengraben und sammelte seine allerletzten Kräfte für einen Sprung über das Gebüsch. Als der Bus auf seiner Höhe war, starrte er in die Fahrerkabine, und einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke.

Aber der Fahrer bremste nicht.

Der Bus bremste nicht.

Sam Berger streckte die Hand wie eine Klaue nach der schneebedeckten Flanke des Busses aus, wollte das tonnenschwere Gefährt mit reiner Willenskraft zum Halten bringen. Brüllend donnerte der Bus an ihm vorbei, ohne die Geschwindigkeit auch nur im Geringsten zu drosseln. An seiner Seite waren nun deutlich fünf unregelmäßige Kratzspuren im Lack zu erkennen.

Er musterte seine steif gefrorene rechte Hand und die blutigen Fingerkuppen, aber er spürte nichts. Gar nichts. Verzweifelt sank er auf die Knie. Er hatte nicht einmal mehr genügend Kraft, um zu schreien. Der Bus, der in der Ferne verschwand, hinterließ eine undurchdringliche Wolke aus feinem Pulverschnee, die ihn umfing. Langsam, ganz langsam senkte sie sich herab.

Da zeichneten sich am Straßengraben zwei Gestalten ab. Zwei breitschultrige Männer näherten sich ihm.

Wie in Zeitlupe nahm er wahr, dass der eine auf ihn zutrat und die Faust hob. Dann verpasste er ihm einen Schlag mitten ins Gesicht. Sam Berger hatte das Gefühl, dass er bereits bewusstlos war, als ihn die Faust traf. Das Letzte, was er hörte, war das Rieseln des Schnees, der atemlos durch das All fiel.

3

Donnerstag, 12. November, 17:48

Eine weiße Fläche. Sonst nichts.

Aber als sein Blick allmählich klarer wurde, erkannte er zwei Neonröhren vor diesem Weiß. Eine davon flackerte schwach, aber schnell, und verbreitete einen nervös schimmernden Schein auf der weißen Zimmerdecke. Er kannte dieses Licht. Er hatte es schon einmal gesehen, auch wenn er das wohl kaum als Erinnerung bezeichnen konnte.

Ein erster bewusster Gedanke: Wie seltsam es war, so leer zu sein, so ohne alles. Nur ein Körper. Das vermittelte ein groteskes Gefühl von Freiheit. Einer Freiheit von Vergangenheit.

Aber nun gesellte sich ein ganz anderes Gefühl dazu. Als würden sich nacheinander in seinem Gehirn Türen einen Spaltbreit öffnen. Als wollte er sich tatsächlich zum ersten Mal erinnern.

Eine autoritäre Männerstimme sagte: »Starke Unterkühlung, aber keine Erfrierungen.«

Er wandte den Blick von der Zimmerdecke ab. Der weiß gekleidete Mann, der zudem mit einer weißen Haarpracht ausgestattet war, wickelte die Bandage um seine rechte Hand wieder zu und verklebte sie mit ein paar Pflasterstreifen. Ihre Blicke trafen sich.

Der Mann sah ihm lange in die Augen, runzelte nachdenklich die Stirn und erklärte dann: »Ich bin Doktor Stenbom, erkennen Sie mich, Sam?«

Er schüttelte den Kopf. Diesen weißen Mann kannte er nicht. Obwohl ihm sein Gefühl sagte, dass er das sollte.

»Die Hand sieht jedenfalls gut aus«, sagte Doktor Stenbom und legte sie geradezu zärtlich zurück auf die Bettdecke.

»Die Bandage hat nichts mit den Erfrierungen zu tun, sondern damit, dass Ihre Fingerkuppen ordentlich in Mitleidenschaft gezogen wurden, als Sie versucht haben, den Überlandbus aufzuhalten. Wir haben jeden Finger einzeln verbunden. Der Bus fuhr zu diesem Zeitpunkt ungefähr achtzig Stundenkilometer, was das Ausmaß Ihrer Verletzungen erklärt. Aber das wird wieder verheilen. Erinnern Sie sich daran, dass Sie versucht haben, den Bus anzuhalten? Sam?«

Zu seinem eigenen Erstaunen nickte er. Er erinnerte sich tatsächlich daran. Er erinnerte sich an den irrsinnigen Marsch durch den Schnee. An die Küche, an den Balkon, die Raucherecke, an das Feld. Er erinnerte sich auch an den Schnee in seinem Mund. An den Bus. Und an die beiden breitschultrigen Männer.

»Was ich nicht ganz verstehe«, fuhr Doktor Stenbom fort »sind die Wunden in Ihrem Gesicht.«

Aber ich, dachte er und lächelte. Heimlich, in sich hinein. Sein Gesicht spannte. Er tastete es ab – sein ganzer Kopf schien bandagiert zu sein.

»Erinnern Sie sich, wie es zu den Wunden in Ihrem Gesicht gekommen ist?«, fragte der Arzt.

Er schüttelte den Kopf.

Doktor Stenbom wiederum nickte, ein wenig besorgt.

»Ich hatte das letzte Mal den Eindruck, Ihre Wachheit habe zugenommen, Sam, aber jetzt scheint das Gedächtnis Sie doch wieder im Stich zu lassen. Wissen Sie, was für ein Wochentag heute ist?«

Erneut schüttelte er den Kopf. Er war sich nicht einmal sicher, ob er die Namen aller Wochentage kannte. Es waren sieben, oder?

»Montag«, riet er.

»Leider nicht«, entgegnete Doktor Stenbom und runzelte die Stirn.

»Dienstag«, fuhr er fort. »Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonntag.«

»Sie haben den Samstag vergessen, Sam.«

Er sah zur Decke hinauf. Den Samstag hatte er vergessen. Er hatte es nicht einmal geschafft, bis sieben zu zählen.

»Sie haben eine Gehirnerschütterung, Sam«, sagte Doktor Stenbom jetzt. »Die hat vermutlich mit Ihrem Unfall zu tun und nichts mit Ihrem … früheren Zustand. Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

»Sam Berger.«

»Gut. Und erinnern Sie sich, wie Sie hierhergekommen sind?«

Vage Regungen, eher unten im Nacken als oben im Hirn. Im Rückenmark? Ein Bild: starker Schneefall gegen eine Windschutzscheibe, eine flüchtige Spiegelung, eine Haarmähne. Wieder verschwunden.

Er schüttelte den Kopf. Doktor Stenbom nickte.

»Aber Sie wissen noch, dass Sie versucht haben zu fliehen?«

Er nickte. »Natürlich habe ich versucht abzuhauen«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, wo ich hier bin. Am Nordpol?«

Doktor Stenbom lachte kurz auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Erinnern Sie sich, wer Sie hierhergebracht hat?«

Erneut vage Erinnerungen, Bilder wie zerrissene Fotos. Er schüttelte wieder den Kopf.

»Wissen Sie, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

»Eine Frau«, antwortete er prompt und zu seiner eigenen Überraschung.

»Gut, Sam. Wissen Sie, wie sie ausgesehen hat?«

»Blond.«

»Wir haben Überwachungsbilder von unserem Haupteingang«, sagte Doktor Stenbom. »Es war eine blonde Frau. Aber sie hat Sie draußen liegen gelassen, im Schnee. Wir haben Sie hereingetragen, Sam. Wer war sie?«

Er spürte, wie er blinzelte. Bei jedem Blinzeln spannte die Bandage. War wirklich sein ganzer Kopf verbunden?

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er.

»Wir auch nicht«, sagte Doktor Stenbom und breitete die Arme aus. »Wir haben auch keine Informationen über Angehörige, die wir kontaktieren könnten, jetzt, wo Sie allmählich wieder gesund werden.«

»Werde ich gesund?«, fragte er.

»Ja, trotz allem«, antwortete Doktor Stenbom lächelnd und erhob sich. »Ich finde, wir sind auf einem guten Weg, Sam.«

»Ich habe keine Ahnung, wohin ich unterwegs bin.«

»Wir müssen uns Zeit lassen, Sam. Wenn Sie nicht wissen, wohin Sie unterwegs sind, dann ist es vermutlich auch nicht besonders eilig, dorthin zu gelangen.«

»Was machen Sie jetzt?«

»Ich lege die Infusion wieder an, Sam, den Tropf, über den wir Sie seit ein paar Wochen versorgen. Bald können wir die Dosis reduzieren.«

»Was ist das denn?«

»Hauptsächlich flüssige Nahrung«, erklärte Doktor Stenbom. »Sie waren nicht in der Lage, selbst zu essen. Und Beruhigungsmittel. Die benötigen Sie auch jetzt noch, wo sich die Wirklichkeit nach und nach wieder zurückmeldet.«

Er musterte die Pflasterstreifen in seiner linken Armbeuge. Sie wurden von einer gelben Kanüle gekrönt. In diese Öffnung steckte der Arzt den Schlauch, der mit dem Tropf an dem Gestell über seinem Kopf verbunden war. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und betrachtete seinen Patienten.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sagte er: »Sie sind geflohen, Sam. Wenn unser Personal es nicht bemerkt hätte, wäre die Kälte da draußen Ihr sicherer Tod gewesen. Normalerweise müsste ich Sie jetzt fixieren, zu Ihrem eigenen Besten. Ich sehe jedoch davon ab, weil ich glaube, dass Ihnen klar ist, dass Sie nicht vor uns fliehen, Sam, sondern vor der Wirklichkeit, vor Ihren Erinnerungen. Und nach dem zu urteilen, was ich und das übrige Personal in den vergangenen Wochen gehört haben, wird es nicht schmerzfrei vonstattengehen, wenn die Erinnerungen zurückkehren. Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, Sam. Es wird schmerzhaft werden.«

Doktor Stenbom musterte ihn wieder eine Zeit lang. Dann ein letzter, abwägender Blick, damit war er weg. Möglicherweise hörte man noch das Schloss klicken, als die Tür hinter ihm zufiel.

Er starrte den gelben Gegenstand an, der aus seinem Arm emporragte. Langsam begann er, das Pflaster zu lösen, mit dem die Kanüle befestigt worden war. Die Haut rund um die Stelle, an der die dicke Nadel im Arm saß, war nicht nur blau, sondern auch von mehr oder minder verheilten Nadelstichen übersät. Es gab keinen Zweifel, dass er schon eine ganze Weile hier lag. Ein paar Wochen, hatte Doktor fucking Stenbom behauptet, aber es konnte viel länger sein. Die Zeit hatte nach wie vor keine Bedeutung.

Mit einem Ruck zog er die Nadel aus dem Arm. Ein dünner Blutstrahl sickerte aus der Armbeuge, so schwach, als hätte er kaum Blutdruck. Er zog das Kissen unter dem Kopf hervor, riss den Bezug ab und legte es unter seinen Ellbogen. Das Blut sickerte gemächlich hinein und hinterließ einen Fleck.

Dann bog er die dicke Nadel zu einem Halbmond. Das war schwieriger, als er erwartet hatte. Schließlich gelang es ihm. Er hielt die Nadel ins Licht und musterte sie genau. Dann schob er sie wieder in die weiterhin blutende Wunde, bohrte darin herum und suchte nach dem Loch in der Vene.

Der Schmerz hielt ihn wach.

Er betrachtete die Haut. Ein paar Zentimeter unterhalb der Eintrittswunde bildete sich eine leichte Ausbuchtung. Er drückte ein wenig fester, die Ausbuchtung wuchs. Schließlich riss die Haut. Von innen. Die Spitze der gebogenen Nadel kam zum Vorschein. Jetzt sickerte Blut aus beiden Löchern. Er befestigte den Schlauch des Tropfs wieder an der Nadel.

Vor seinem inneren Auge schwebte ein Bild vorbei. Er sah ein Loch, ein Einschussloch. Es hielt sich hartnäckig eine Weile.

Aber eine klare Flüssigkeit inmitten des Blutstroms schob das Bild beiseite. Die Flüssigkeit tropfte aus der Spitze der gebogenen Nadel. Tropf, tropf. Die Infusion. Sie floss jetzt nicht mehr in seine Adern und vergiftete seinen Körper.

Und seine Seele. Er legte das Pflaster wieder über die Wunde, bildete darunter einen kleinen Tunnel und wartete, bis er den ersten klaren Tropfen aus dem Tunnel auf das Kissen rinnen sah. Dann justierte er das Pflaster, und alles sah aus wie vorher.

Er legte das blutbefleckte Kissen ans Fußende des Betts, als wollte er es dort trocknen lassen, schob die Beine über die Bettkante und setzte sich aufrecht hin. Langsam stellte er die Füße auf den Boden und stand auf. Alles drehte sich, und Schmerzblitze zuckten durch seinen Kopf, aber er blieb stehen. Nach einem ersten unsicheren Schritt wagte er den zweiten. Er wankte, ihm war schwindelig, und er musste sich an das Infusionsgestell klammern, aber die Beine trugen ihn.

In der einen Ecke des kahlen Zimmers befand sich ein Waschbecken, über dem ein Spiegel angebracht war. Er tapste dorthin und betrachtete das eigenartige Mumiengesicht, war aber nicht verwundert. Der Mann ohne Erinnerung, der Mann ohne Gesicht. Das war nicht Sam Bergers Spiegelbild. Behutsam fuhr er mit den Fingern über die Bandage.

Dies war das Spiegelbild einer ganz anderen Person. Eines Fremden. Doch plötzlich war der Spiegel eine Fensterscheibe, vermutlich in einem Auto, und mit einem Mal war das Glas auch nicht mehr klar und sauber, sondern von einem wilden Schwirren bedeckt. Es waren Schneeflocken, große, flache Schneeflocken, die reflektierten, als ob der Wagen durch ein Feuerwerk aus Lichtblitzen fahren würde. Und einen kurzen Moment lang sah er noch etwas anderes. Und das war nicht sein Spiegelbild, nicht das von Sam Berger. Es war eine blonde Haarmähne. Aber es gab kein Gesicht dazu, nur eine Haarmähne. Und dann waren die Bilder wieder verschwunden. Zurück blieb diese Mumie, die ihn aus einem Spiegel anstarrte, in einem trostlosen kalten Zimmer in einer Psychiatrie.

Er wandte sich vom Spiegel ab, das wollte er nicht mehr sehen. Stattdessen wankte er zum Fenster und sah hinaus. Das Feld, das zuvor so weiß gewesen war, war nun pechschwarz. Nichts war mehr zu erkennen, kein Mond, kein einziger Stern, nur Finsternis. Er konnte nicht einmal ausmachen, ob es schneite.

Doch er entkam seinem Spiegelbild nicht. Auch hier diese Mumie. Nur machte sie jetzt die Sam-Berger-Geste, hob die bandagierte rechte Hand und schoss mit einem doppelläufigen Revolver.

Dann erstarrte er. Wie eine Gestalt an einem Tisch.

Tisch? Gestalt? Dieses fürchterliche Gefühl, sich an etwas zu erinnern, das man jedoch nicht greifen kann. Wie in einem Vakuum.

Er blieb an dem pechschwarzen Fenster stehen und betrachtete sein Spiegelbild. Nach und nach tauchten im Hintergrund Bilder auf. Ein Raum, ein großes, beinahe leeres Haus. Regen, der laut gegen ein Fenster prasselte. Eine Gestalt, die auf einem Stuhl mitten im Raum saß. Ein Schrei von irgendwoher, der zu der hohen Decke aufstieg. Aber sonst nichts. Gar nichts. Doch.

Eine Haarmähne. Eine blonde Haarmähne. Seine Gedanken drehten sich im Kreis.

Die sitzende Gestalt. Undeutlich.

Ein vierblättriges Kleeblatt. Und dann eine plötzliche Explosion von Blut und Gewalt. Ein Haus voller Schmerz. Einschusslöcher überall. Im Boden.

Eine sitzende Gestalt. Eine Frau. Stille.

Dann war da ein Keller, eine dunkle Kellertreppe. Aber dorthin konnte er jetzt nicht gehen. Sein Gehirn weigerte sich.

Eine neue Bilderserie. Zwei Menschen, noch in weiter Ferne. Erst gingen sie, dann saßen sie still, ganz nah.

Wirbelnde Bilder.

Vielleicht war das die Wirklichkeit: Der Mond kroch hinter einer Wolke hervor und beschien die gemächlich taumelnden Schneeflocken. Sie tanzten eher gegen die Windschutzscheibe, als dass sie fielen. Es war tatsächlich möglich, jeder einzelnen Flocke mit dem Blick zu folgen, unberührt von Zeit und Geschwindigkeit.

Denn es gab keine Geschwindigkeit. Sie befand sich nur in ihm und nirgendwo sonst. Aber da war sie groß.

Die Unbestimmtheit der Erinnerungen: Alles entglitt ihm. Kaum war er kurz davor, ein Bild einzufangen, war es wieder weg.

Erneut zwei Menschen, ein großer und ein kleiner. Ein eingespieltes Team. Er zwang sich, sie festzuhalten. Der Größere war er selbst, das war Sam Berger, und neben ihm befand sich eine Frau. Aber es war keine blonde Frau, sondern sie war ziemlich klein und hatte dunkles, kurzes Haar. Verzweifelt versuchte er, sich an ihren Namen zu erinnern. Desiré?

Ja, das stimmte, aber da war noch ein anderer Name. Vielleicht ein Spitzname? Ja, Deer. Das war er doch, oder?

Und plötzlich sah er sie vor sich, Sam und Deer, das eingespielte Team.

Die Polizisten.

Dann saßen sie nebeneinander an einem Vernehmungstisch. Sam links. Deer rechts. Rosenkvist. Desiré Rosenkvist.

Er sah seinen Gesichtsausdruck: finster. Er sah den von Deer: aufmunternd. Good cop, bad cop. Er erkannte die höhnische Sam-Berger-Geste.

Es waren drei Frauen. Eine von ihnen saß regungslos auf einem Stuhl in einem unmöblierten Zimmer, während der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte, und es gab Blut und Einschusslöcher im Boden. Oder waren es vier? Oder noch mehr? Und dann waren die Bilder wieder verschwunden. Abrupt. Als hätte das gemarterte Gehirn eine Überdosis an Eindrücken bekommen und das System heruntergefahren.

Er machte einen Schritt zur Seite. Das Gestell mit dem Tropf klirrte, und er verspürte ein Ziehen in der Wunde, in der die Nadel steckte. Er untersuchte das Pflaster an seinem Arm, aber es schien nichts passiert zu sein. Er wartete. Schließlich sickerte ein Tropfen klarer Flüssigkeit aus dem kleinen Pflastertunnel.

Es funktionierte noch.

Als er sich im Zimmer umsah, stellte er fest, dass er eine Spur auf dem Boden hinterlassen hatte. Keine Blutspur, sondern eine Spur aus vereinzelten hellen Tropfen. Eine Infusionsspur. Er hoffte, sie würde trocknen, bevor einer der Pfleger käme.

Mühsam schleppte er sich zurück zum Bett. Dort lag das Kissen, ohne Bezug, aber mit einem deutlich sichtbaren Blutfleck. Er betastete ihn. Der Fleck war noch feucht. Er beschloss, das Kissen erst wieder zu beziehen, wenn das Blut getrocknet war.

Langsam setzte er sich auf die Bettkante, dann hob er die Beine hinauf und legte sich zurecht. Flach auf das Bett.

So lag er da und starrte an die Decke. Hinter dem nervös blinkenden Licht war sie vollkommen weiß. Und doch befanden sich dort jede Menge Zeichen. Zeichen, die anfingen, zu Erinnerungen zu werden.

Er brauchte eine Pause. Musste den Akku in seinem Gehirn wieder aufladen. Und dann musste er anfangen, sich endlich zu erinnern.

Sich ernsthaft zu erinnern.

4

Freitag, 13. November, 07:33

Es gab keine Fenster in dem Raum. Dafür umso mehr Leute. Und noch mehr Bildschirme. Als würden sich diese Menschen in der Unterwelt befinden. Oder zumindest unter der Erde.

In einer Ecke des großen Raumes, ein wenig abseits der hektischen Betriebsamkeit, saßen sich zwei Männer an einem Schreibtisch gegenüber. Sie blickten mindestens so oft in das Gesicht des jeweils anderen wie auf den Bildschirm ihrer Computer. Einer von ihnen saß mit dem Blick, der andere mit dem Rücken zur Wand. Sie wechselten sich in regelmäßigen Abständen ab, denn beide hatten lieber den Raum im Blick.

Der groß gewachsene Mann, der in dieser Woche die Niete gezogen hatte und zur Wand gerichtet saß, sah gerade auf die billige Taucheruhr an seinem kräftigen Handgelenk. Es wirkte, als wäre er eben wieder an die Oberfläche gekommen und wollte überprüfen, wie lange er die Luft anhalten konnte. Ein paarmal atmete er tief ein und aus und tauchte dann wieder ab. Tief hinein in das Binnenmeer des Computers.

Neben dem Bildschirm stand ein Messingschild, dem zu entnehmen war, dass der Mann Roy Grahn hieß.

Von der anderen Seite des Schreibtischs wurde ihm ein schneller Blick zugeworfen. Auch wenn keiner von ihnen es zugeben wollte, herrschte doch ein ständiger Kampf zwischen den beiden Männern, ein Duell gewissermaßen, wer als Erster den offiziellen Status erlangen und zu einem internen Mitarbeiter befördert werden würde.

Sie waren nämlich beide Externe.

Neben dem anderen Bildschirm befand sich ein im Großen und Ganzen identisches Messingschild, mit dem einzigen Unterschied, dass darauf »Kent Döös« stand. Und jetzt stürzte sich Kent Döös auf seine Tastatur, mit ungefähr denselben Suchparametern ausgerüstet wie Roy Grahn, um herauszufinden, ob etwas Neues aufgetaucht war.

Wie immer war die Suche schwierig. Wenn jemand, hinter dem sie her waren, entgegen aller Vermutungen an der Oberfläche auftauchte, geschah dies nur, weil er einen Fehler begangen hatte. Nach solchen Fehlern suchten Roy und Kent: der Verwendung einer Kreditkarte, Internetpräsenz oder anderen Hinweisen auf seine Identität.

Kent Döös schoss ein Name durch den Kopf: Molly Blom.

Roy und Kent hatten mit ihr zusammengearbeitet, und sie war unheimlich beeindruckend gewesen. Niemals würde sie einen solchen Fehler begehen. Sie war nicht nur eine interne Mitarbeiterin, sondern eine der höchst geschätzten, geradezu legendären Undercoveragentinnen. Sie hatte die Befugnis, mehrere Tarnidentitäten zu benutzen, die nicht einmal der Geheimdienst kannte, und würde bis in alle Ewigkeit unter dem Radar bleiben können. Ihr Partner hingegen, wenn man ihn denn als solchen bezeichnen konnte, der ehemalige Kriminalkommissar Sam Berger, war das schwache Glied in der Kette. Darum wurde große Energie auf die Suche nach eventuellen Fehltritten dieses Sam Berger aufgewendet. Aber seit ein paar Wochen schien auch er wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Entweder hatte Molly ihn vollständig unter Kontrolle, oder er war auf eigene Faust untergetaucht. Letzteres erschien allerdings eher unwahrscheinlich. Der dämliche Sam Berger würde auf jeden Fall einen Fehler begehen, das war unvermeidlich. Man musste nur Geduld haben. Andererseits war Geduld weder Kents noch Roys Stärke.

Blieb die Routinesuche: abgelegene Orte, die kaum im Netz auftauchten; Hotels mit analoger Gästeregistrierung; Kliniken, die vertraulich mit ihren Patientendaten umgingen; Trainingslager an besonders abgeschiedenen Orten; Flugtickets, bei denen zweifelhafte Ausweisdokumente einen verspäteten Alarm ausgelöst hatten; Grenzabschnitte mit extrem träger Melderoutine; besonders unauffällige Orte im gesamten Schengenraum, an denen keine Identitätskontrollen durchgeführt wurden. Und natürlich alles außerhalb dieses Bereichs. Obgleich es sehr wahrscheinlich war, dass Berger und Blom sich nach wie vor in der EU aufhielten, und zwar vermutlich dort, wo es gerade im ekligen Monat November am angenehmsten war.

Trotzdem war Kent nicht ganz überzeugt von der These einer Flucht ins Ausland. Dafür kannte er Molly Blom zu gut. Deshalb konzentrierte er sich auf Schweden. Auf die entlegensten Ecken von Schweden. Vielleicht irgendwo im Inneren des Landes? Im menschenleeren Inland?

Roy Grahn und Kent Döös hatten keinen Zugang zu den vertraulichsten Informationen. Also wussten sie nicht genau, warum Molly Blom und Sam Berger für schuldig befunden wurden. Nur, dass die Sicherheitspolizei nach ihnen suchte und sie ganz oben auf der Fahndungsliste der Säpo standen.

Dass Kent ein paar Sekunden lang in Gedanken abgeschweift war, würde er eine Minute später bitter bereuen, aber er konnte ein paar paradoxe Erinnerungsfetzen nicht unterdrücken. Nur zu gut erinnerte er sich an die absurde Schlägerei, zu der es gekommen war, als Berger in Bloms Wohnung eingebrochen war. Berger hatte um sich geschlagen wie der letzte Knastbruder, sie hatten ihn betäuben müssen. Und er erinnerte sich daran, wie Blom Berger knallhart verhört hatte, aber währenddessen aus bisher noch ungeklärten Gründen das Aufnahmegerät manipuliert hatte. Außerdem erinnerte er sich an den Einsatz in einer Albtraumwohnung in Sollentuna. Berger und Blom waren beide dort gewesen und hatten gemeinsam einen heldenhaften Rettungseinsatz durchgeführt.

Kent brachte diese Erinnerungen nicht miteinander in Einklang.

Aber er musste grinsen bei dem Gedanken daran, dass Roy sich übergeben hatte. Er hingegen nicht.

Darum war er nicht vorbereitet, als der Suchtreffer erfolgte, und wusste nicht, wie lange das Fenster auf dem Bildschirm schon blinkte. Aber als er es bemerkte, handelte er umso schneller. Er klickte sich durch einige Register, musste sich an ein paar Firewalls vorbeitricksen und ein paar Passwörter ermitteln, doch gerade als er ins Innerste vorgedrungen war, nahm er im Augenwinkel etwas wahr, das er ganz und gar nicht sehen wollte. Eine Hand.

Eine Hand ragte über den Monitor. Eine Hand mit einer billigen Taucheruhr. Zeigefinger und Mittelfinger formten ein V.

Roy sprang auf und brüllte: »Arjeplog!«

Damit rannte er aus dem Raum, während Kent mit angewiderter Miene seine Suche vollendete. Auf dem Schirm stand: »Sam Berger: Lindstorp-Klinik, Arjeplog«.

Schließlich konnte Roy die Tür öffnen und trat ein. Der Abteilungschef August Steen saß an seinem Schreibtisch, der Rücken stocksteif, das volle graue Haar kurz geschoren, der hellgraue Blick eisig und steinern.

»Wir haben ihn«, sagte Roy.

August Steen nahm umständlich seine Lesebrille ab, trommelte damit auf den Tisch und sagte: »Wer hat was?«

»Berger«, erklärte Roy. »Wir haben ihn. Er ist in einer Klinik bei Arjeplog.«

Steen runzelte kurz die Stirn, sonst bewegte sich in dem strengen Gesicht kein Muskel. Und kein Wort kam über seine Lippen.

»Ich würde den schnellstmöglichen Transport vorschlagen«, fuhr Roy fort. »Mit jeder Sekunde wächst das Fluchtrisiko.«

August Steen musterte ihn eingehend. Dann wanderte sein Blick zu Kent. Was nie ein besonders angenehmes Gefühl war.

Schließlich nickte er kurz.

Eine halbe Sekunde später hatten Roy und Kent das Zimmer bereits wieder verlassen. Steen betrachtete die Tür, die hinter ihnen ins Schloss fiel. Lange.

Dann reckte er den Nacken, bis es laut knackte, und zog eine der unteren Schubladen des Schreibtischs auf. Er wühlte darin herum und holte schließlich ein altmodisches Handy hervor. Mit abwesendem Blick wartete er, bis es funktionsbereit war. Dann wählte er eine Nummer und hielt sich das Gerät ans Ohr.

Zum Glück hatten sie noch einen regulären Flug am Morgen bekommen, und wenn alles klappte, wie es sollte, würde jetzt ein Hubschrauber am Flughafen von Arvidsjaur auf sie warten, mit dem sie die hundertfünfzig verbleibenden Kilometer nach Arjeplog zurücklegen konnten.

Als sie aus dem fast leeren Flugzeug stiegen, wurden sie von heftigem Schneefall empfangen, der offenbar noch zunahm. Außerdem blies ein unheilverkündender Wind.

Kurz darauf saßen sie in einem sehr kleinen Hubschrauber und wurden durch weiß wirbelnde Luftschichten hin und her geworfen, die nur manchmal die Unendlichkeit der Bergmassive unter ihnen erahnen ließen. In dem Bewusstsein, dass Berger gewisse, wenn auch begrenzte Fähigkeiten im Nahkampf besaß, kontrollierten sie ihre Waffen, zwei robuste Glock und als Back-up zwei dicke Spritzen, deren Inhalt schnell – beispielsweise über die Halsschlagader – verabreicht werden konnte.

Die wie eingefroren wirkende kleine Stadt war kaum zu erkennen, dann überflogen sie eine Ackerlandschaft. Kent sah einen winzigen Quader, der über eine schlangenartige Formation kroch, die sich bei näherer Betrachtung als Straße entpuppte. Und der Quader war vermutlich ein Bus.

Nun wuchs aus dem Schneegestöber ein herrschaftliches Gebäude empor und wurde immer größer. Davor breitete sich ein Feld aus, flach und eben, auf dem ein Kreis für die Landung des Hubschraubers freigeräumt worden war. Der routinierte, aber wortkarge Pilot traf den Kreis mit sicherer Hand, dann wurde alles um sie herum weiß. Motor und Rotorblätter waren längst verstummt, als der aufgewirbelte Schnee sich endlich legte. Drei Personen in dicken Jacken näherten sich, die Helikoptertür wurde geöffnet, und Kent und Roy verspürten schmerzlich, wie kalt es war. Ihnen ging auf, dass sie durchaus hätten ahnen können, dass Arjeplog Mitte November zu einem der eher kälteren Landstriche Schwedens gehörte.

Der weißhaarige Mann, der die Truppe anführte, kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Doktor Stenbom«, sagte er. »Willkommen in Lindstorp.«

»Roy Grahn, Sicherheitsdienst.« Roy gab ihm die Hand. »Und Kent Döös.«

»Ebenfalls Sicherheitsdienst«, ergänzte der.

Doktor Stenbom machte sich nicht die Mühe, die beiden anderen Männer vorzustellen, das war auch nicht nötig. Kent und Roy kannten diesen Typus: Pfleger, Wärter. Stattdessen drehte der Doktor sich um und führte die Besucher auf einem nachlässig geräumten Weg zu dem herrschaftlichen Gebäude.

»Sam Berger also?«, fragte der Arzt, während sie durch den Schnee marschierten. »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass er gestern versucht hat zu fliehen. Wir konnten ihn in letzter Sekunde wieder einfangen, sonst wäre er erfroren.«

»Zu fliehen?«, fragte Roy. »Ist er denn eingesperrt?«

»Gewissermaßen«, antwortete Doktor Stenbom. »Er war sehr mitgenommen, als er hier ankam. Eine nicht identifizierte Person hat ihn in einem schwer verwirrten und gewalttätigen Zustand hierhergebracht. Als er aufwachte, hatte er Panikattacken und randalierte derart, dass wir uns entschlossen, ihm starke Beruhigungsmittel zu verabreichen.«

»Und wann war das?«

»Vor ungefähr zwei Wochen.«

»Sie haben ihn also zwei Wochen lang mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt?«

»Wir sind zwar eine Klinik, die auf differenzierte psychiatrische Behandlung spezialisiert ist, aber wir haben nicht die Ressourcen, um rund um die Uhr Gefängniswärter zu spielen. Dennoch haben wir sukzessive die Dosis verringert und seinen Zustand überwacht. Gestern Morgen erschien Sam Berger ausreichend ausgeglichen, um die Medikamente abzusetzen. Aber die Ruhe war offenbar nur vorgetäuscht, um eine Flucht vorzubereiten. Eine äußerst verrückte Flucht, muss ich betonen. Er versuchte, mit bloßen Händen einen Bus anzuhalten.«

»Und wie ist sein Zustand jetzt?«

»Da er sich einige Verletzungen zugezogen hat, haben wir beschlossen, wieder zur maximalen Dosis zurückzukehren. Nun schläft er tief und fest.«

»Verletzungen?«, fragte Kent und schauderte. »Erfrierungen?«

»Keine primären«, antwortete Doktor Stenbom. »Wie gesagt, er hat versucht, mit bloßen Händen einen Bus anzuhalten. Wahrscheinlich wurde er von diesem Bus auch angefahren, denn er hat eine Prellung im Gesicht davongetragen. Wir haben ihn bandagiert.«

»Bandagiert?«

»Ja, mit Mullbinden.«

Sie gelangten zu einer Hintertür des Gebäudes.

Doktor Stenbom gab einen Code ein, zog eine Karte durch ein Lesegerät und sagte: »Sie werden also kaum die Möglichkeit haben, Berger jetzt sofort zu vernehmen. Weswegen auch immer er verdächtigt wird …«

Roy und Kent ignorierten die Neugierde des Arztes und bürsteten den Schnee von ihren dünnen Jacken. Der Flur war vollkommen kahl, und die Neonröhren an der Decke verstärkten mit ihrem kalten, kargen Licht die Trostlosigkeit des Ortes. Als sie in einen größeren Korridor einbogen, lief eine Schwester mit einem Medikamentenwagen vor ihnen durch den Flur, aber es war kein einziger Patient zu sehen.

Schließlich blieb Doktor Stenbom vor einer Tür stehen, die sich in nichts von den anderen unterschied, und holte einen klassischen Schlüsselbund hervor. Dennoch handelte es sich allem Anschein nach um ein Sicherheitsschloss. Kurz darauf runzelte er die Stirn, nur einen Augenblick, aber wie auf Kommando griffen Kent und Roy sofort an ihre Schulterholster. Doktor Stenbom öffnete die Tür, die er gar nicht hatte aufschließen müssen.

In dem einsamen Bett in der hinteren Ecke des Zimmers lag eine Person, von Kopf bis Fuß unter einer Decke verborgen.

Roy zog seine Pistole und sicherte den Raum. In der Zwischenzeit legte Kent die wenigen Meter bis zum Bett zurück und zog ebenfalls seine Glock. Dann riss er die Decke beiseite.

Die Person im Bett schlief tief.

Sie war weiß gekleidet.

Eine Krankenschwester.

Eine leere Spritze ragte aus ihrem Arm. Stenbom fühlte den Puls der Schwester und befand diesen offenbar für zufriedenstellend.

»Verdammt noch mal!«, schrie Roy und wandte sich zu den beiden Pflegern, die in den Raum geschlendert kamen. Sie zuckten verwundert die Schultern.

Ein großer feuchter Fleck hatte sich neben der Krankenschwester auf dem Laken der Matratze gebildet.

»Was ist das denn da?«, rief Kent. »Hat sich der Scheißkerl in die Hose gemacht? Oder war das die Schwester?«

Doktor Stenbom beugte sich zu dem Fleck hinab und roch daran. Dann schüttelte er den Kopf und drehte sich zu dem Infusionsgestell, das neben dem Bett stand. Er packte den Schlauch und tastete diesen bis zum Ende ab. Anstatt in Sam Bergers Arm zu stecken, baumelte die Kanüle in der Luft, gelb und mit frischem Blut verschmiert. Doktor Stenbom musterte die verbogene Nadel.

»Die Infusion hat nicht angeschlagen«, erklärte er.

»Reden Sie Klartext!«, brüllte Roy.

»Er hat die Nadel verbogen«, sagte Doktor Stenbom nachdenklich. »Die Infusionslösung ist ausgelaufen. Er war also nicht betäubt. Und als dann die Krankenschwester kam, um ihm eine …«

»Dann war er bereit«, unterbrach ihn Kent und deutete auf die beiden Pfleger. »Er wollte doch gestern schon abhauen. Wohin ist er geflohen?«

Die Pfleger sahen einander an. Ein bisschen zu lange.

»Antwortet, verdammt noch mal!«, schrie Roy.

»In die Küche«, sagte der größere Pfleger. »Dann raus auf den Balkon. Von dort weiter aufs Feld in Richtung Straße.«

»Dann legt mal einen Zahn zu!«, brüllte Roy.

Während sie durch den Flur rannten, keuchte Doktor Stenbom: »Das Blut an der Nadel ist noch ganz frisch. Er kann erst ein paar Minuten weg sein.«

Sie liefen eine Treppe hoch und bogen in einen weiteren Flur. Einer der Pfleger öffnete die Tür zu einer Küche. Ein paar Thermoskannen standen auf einem Servierwagen neben einer Schüssel voller Zimtschnecken, die mit einer Plastikfolie abgedeckt war, sonst war der Raum leer.

»Durchsuchen!«, rief Roy.

Ein wenig unbeholfen folgte das Klinikpersonal Roys Anweisungen und fing an, die schäbige Küche abzusuchen, bis der kleinere Pfleger rief: »Da!«

Sie traten an das Fenster, neben dem er stand. Durch die Milchglasscheibe war der Hubschrauber zu sehen. Der Pilot stand davor im Schneetreiben und rauchte.

»Da«, wiederholte der Pfleger und deutete auf die Spüle. In einer von vier Kaffeetassen war ein Blutstropfen gelandet und hatte einen sternförmigen Fleck hinterlassen.

Das Blut war frisch.

Es gab zwei weitere Türen in der Küche. Roy lief zu einer davon und riss sie auf. Ein Vorratsraum – leer.

»Durchsuchen!«, schrie er und eilte zu der anderen Tür. Auch diese öffnete er. Dahinter lag ein düsterer Flur.

In dem Moment rief jemand:

»Hier drin ist auch Blut!«

Roy rekapitulierte kurz, wo der Hubschrauber stand, und rannte dann den Flur hinunter. Nach etwa zehn Metern blieb er stehen und musterte die traurige beigefarbene Raufasertapete. Kent holte ihn ein und sah, wie der Zeigefinger seines Kollegen auf eine schwache Rotfärbung an der Wand wies.

»Ihm ist schwindlig«, sagte Roy. »Er ist gegen die Wand gerannt.«

Schulter an Schulter liefen sie auf eine Tür am Ende des Flurs zu. Sie drückten sie auf, und der Schneesturm schlug ihnen ins Gesicht. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wieder richtig atmen konnten, und noch länger, bis sie wieder etwas sahen.

Kent und Roy befanden sich auf einer Art Balkon, nur ein kleines Quadrat war freigeräumt, vermutlich eine Raucherecke. Im tieferen Schnee waren frische Fußspuren zu sehen, und wahrscheinlich ging es hinter der Balustrade steil nach unten aufs offene Feld hinab, auf dem sie mit Mühe zu ihrer Linken die Umrisse des Hubschraubers ausmachen konnten.

Roy hob die Pistole, als würde sich seine Sicht dadurch verbessern, aber das führte nur dazu, dass Kent mal wieder schneller war als er. Der Kollege stakste bereits über das Schneeplateau.

Als Kent zum Rand des Balkons gelangt war, sprang er über die schneebedeckte Balustrade, versank tief im Schnee und kämpfte sich wieder hoch. Der Schnee fiel immer dichter, aber inmitten des wilden Sturms nahm Kent eine Bewegung wahr. Der Anblick der Gestalt war so außergewöhnlich, dass Kent sich unter anderen Umständen Zeit genommen hätte, das Phänomen eingehender zu betrachten. Aber jetzt war er auf der Jagd, und da entkam ihm nichts und niemand.

Nicht einmal dieser Engel.

Denn so sah die Gestalt aus. Sie breitete ihre weißen Flügel aus, und es schien, als würde die Gestalt jeden Augenblick allen Naturkräften trotzen und einfach abheben und triumphierend in den aufgewühlten Himmel emporsteigen, mit diesem siegessicheren Sam-Berger-Grinsen an ihm vorbeigleiten und zwischen den Schneeflocken davonsegeln und für immer verschwinden.

Aber das geschah nicht. Die Gestalt vor ihm kam näher. Nein, Kent näherte sich ihr. Er holte auf, er war jetzt so nah, dass er den Mann genau erkennen konnte. Er sah eine dünne, lang gezogene Blutspur im Schnee, durch den der Mann sich mühsam kämpfte, und Kent konnte die flatternde Gestalt nun fast berühren.

Er analysierte die Lage. Vermutlich hatte er genau eine Chance, um ihn zu erwischen. Er wartete auf den richtigen Augenblick, um sich auf den Fliehenden zu stürzen, aber als er gerade nach vorn hechten wollte, schien die Gestalt neue Energie zu schöpfen und entkam.

Aber sie drehte sich um, und Kent sah, wie ihn das Gesicht verblüfft anstarrte, als hätte der Mann ihn noch nie zuvor gesehen, als hätte er nicht hemmungslos in Molly Bloms Wohnung auf ihn eingeprügelt, damals in der Stenbocksgatan in einem noch vollkommen schneefreien Stockholm. Als wäre das dort ein ganz anderer Mensch. Eine Mumie. Und diese Mumie hob jetzt ihre einbandagierte Hand, um mit einer imaginären Pistole auf ihn zu schießen.

Dabei strauchelte die Mumie allerdings, und plötzlich war der richtige Augenblick gekommen. Kent warf sich nach vorn, packte die Mumie beim Arm und riss die flatternde Gestalt mit sich auf die Schneedecke, die sofort unter ihnen nachgab. Kent wandte den verbotenen Polizeigriff an und drückte den Dreckskerl in das weiche Weiß.

Kent drehte den Mann auf den Rücken und presste ihm mit seinen Knien die Unterarme in den Schnee. Die von Mullbinden umrahmten Augen starrten ihn an. Blau, widerspenstig, leicht panisch. Dann begann Kent, die Bandage abzurollen. Darunter kam ein großer Bluterguss zum Vorschein.

Kent hatte Sam Bergers verhasstes Gesicht auf der Netzhaut. Jetzt war der Moment gekommen, ihm die Erniedrigungen der vergangenen Wochen heimzuzahlen. Er wollte sehen, wie sich dieses blau geschlagene, erschrockene Gesicht langsam in das eines Besiegten verwandelte.

Langsam und genussvoll wickelte er die Bandage auf. Stück für Stück kam Haut zum Vorschein. Die großen Schneeflocken schmolzen darauf.

Aber der Sieg bekam schneller als erwartet einen bitteren Beigeschmack. Bereits nach dem Freilegen der Kinnpartie ahnte Kent, dass etwas nicht stimmte. Jetzt zerrte er mit aller Kraft an der Bandage.

Der Siegeskelch enthielt nur Gift.

Kent musterte das zerschlagene Gesicht eine Weile.

Dann brüllte er: »Das ist nicht Sam Berger, verdammte Scheiße!«