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Kaum ist Paul Hjelm, Inspektor der Stockholmer Polizei, zur Sondereinheit für besonders schwierige Fälle berufen worden, da hat er es schon mit einem kaltblütigen Serienmörder zu tun: drei unbescholtene Geschäftsleute – hingerichtet mit Kopfschüssen aus nächster Nähe, nach einem präzisen Ritual. Eine erste Spur, die zu einer Geheimloge führt, erweist sich als Sackgasse. Ist womöglich die russische Mafia in die Morde verwickelt? Doch dann die heiße Spur: ein Jazzstück mit dem bezeichnenden Titel »Misterioso« …
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Seitenzahl: 467
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Übersetzung aus dem Schwedischen von Maike Dörries
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe
15. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95170-8
© 1999 Arne Dahl Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Misterioso«, Bra Böcker AB, Malmö 1999. Vermittelt durch die Bengt Nordin Agency, Stockholm Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2002 Umschlagkonzept: semper smile, München Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München Umschlagfoto: Argus / shutterstock
1
Etwas lag in der Winterluft.
Er konnte es nicht genau benennen – ein wärmender Lufthauch, die ausgefranste helle Öffnung am ansonsten gleichmäßig grauen Himmel, oder vielleicht lag es daran, daß es platschte, statt zu knirschen, als er in die Wasserlache trat, die den gesamten Winter über den für ihn reservierten Parkplatz umgeben hatte.
Er stand eine Weile da und blinzelte in die morgendliche Wolkendecke, die wie ein zusätzliches schützendes Dach über der Bank lag.
Die gleiche Stille wie immer.
Ein Stück entfernt lag der Ortskern, noch ganz verschlafen, das einzige Lebenszeichen waren ein paar dünne Rauchfäden, die sich aus dem einen oder anderen Schornstein kräuselten.
Er hörte das eintönige Zwitschern der Sumpfmeise und sah sie aus ihrem Nest direkt unter dem Dachfirst lugen. Nachdem er den Wagen abgeschlossen hatte, ging er die wenigen Meter zu der unansehnlichen Tür des Personaleingangs, fischte sein großes Schlüsselbund heraus und öffnete die drei Sicherheitsschlösser, eins nach dem anderen.
Im Schalterraum hing der übliche Wochenendmief; Lisbet würde lüften, sobald sie wie gewohnt gutmütig schnatternd eintraf.
Er selbst kam immer als erster, so war die Routine.
Alles war genau wie immer.
Er wiederholte es mehrmals: Alles ist genau wie immer.
Möglicherweise sagte er es einmal zu oft.
Er ging an seine Kasse und zog die Schublade auf, nahm ein längliches, vergoldetes Etui heraus und wog vorsichtig einen der langen Pfeile in der Hand. Seine Spezialwaffe.
Es gab nicht viele, nicht einmal unter den Eingeweihten, die wirklich wußten, wie ein Dartpfeil auszusehen hatte. Seine Pfeile waren eine Spezialanfertigung; ein zwölf Zentimeter langer Rumpf mit verhältnismäßig kurzen, buschigen Flights und eine sieben Zentimeter lange Spitze, die seine Gegner jedesmal wieder in Erstaunen versetzte.
Er nahm die drei Pfeile und ging um die Trennwand herum in den hinteren Bürotrakt. Dort hing das Board. Ohne auf den Boden sehen zu müssen, stellte er sich mit den Schuhspitzen an die dünne schwarze Linie, die exakt 237 Zentimeter von der Dartscheibe entfernt war, und warf in einer rhythmischen Abfolge die Pfeile. Alle drei steckten im äußeren großen Feld der Eins. Das war sein Aufwärmtraining.
Wie immer.
Alles war, wie es sein sollte.
Er verschränkte die Finger und bog die Handinnenflächen nach außen, bis ein leichtes Knacken zu hören war, danach schüttelte er die Hände aus. Er zog das Schlüsselbund aus der Manteltasche, ging zurück in den Schalterraum und öffnete den Tresor. Schwerfällig und mit sonorem Knarren schwang die Tür auf.
Es klang wie immer.
Er trug eine Tasche mit dicken Banknotenbündeln zu seinem Platz an der Kasse, breitete diese auf der Arbeitsplatte aus und betrachtete sie eine Weile, wie immer.
Gleich würde Lisbet durch den Personaleingang geschwebt kommen und augenblicklich anfangen, die neuesten Familiengeschichten auszubreiten; danach würde Albert mit seinem überheblichen Räuspern erscheinen und ihnen steif zunicken. Mia würde wie immer die letzte sein, dunkelhaarig, verschlossen und stumm unter ihrem Pony hervorschielend. Danach würde es nicht mehr lange dauern, bis Lisbets Kaffeeduft auch den letzten Rest Wochenendmief verdrängt hatte und das Büro mit einer Atmosphäre stiller Menschlichkeit füllte.
Danach die vereinzelt hereintröpfelnden Kunden: Bauern, die nervös an ihren uralten Sparbüchern herumfingerten; Hausfrauen, die pedantisch über jede noch so geringe Summe, die sie abhoben, Buch führten; Rentner, die ihr Konto überzogen, um sich das Futter für ihre Katzen leisten zu können.
Er hatte sich hier immer wohl gefühlt. Aber der Ort war kleiner geworden, viele Leute waren abgewandert, die Kundenzahlen immer weiter geschrumpft.
Es ist alles wie immer, dachte er.
Noch einmal trat er hinter die Trennwand, um den Tag mit einem schnellen Fünfhunderteins-Spiel einzuläuten. Von fünfhunderteins bis null. Mit ein paar Treble-Zwanzigern und Bullringen würde er den Countdown beschleunigen. Genau wie immer. Die Pfeile trafen punktgenau; der gewöhnungsbedürftige, zittrige Flug, das besondere Kennzeichen seiner langen Pfeile, führte sicher ans Ziel. Noch 87 Punkte, als die Uhr piepste.
Neun Uhr dreißig.
Während er darüber nachdachte, wie er das Finish gestalten wollte, ging er zur Eingangstür und schloß auf.
Alles war genau wie immer.
Nehmen wir die einfache Variante, dachte er, zuerst eine einfache Fünfzehn, danach eine einfache Zwanzig und als Krönung das einzige Bull’s-Eye dieses Morgens. Zwei. Danach zum Abschluß der Partie eine Doppel-Eins. Null. Ganz einfach. Das schwierigste würde sein, den dritten Pfeil exakt im kleinen schwarzen Mittelpunkt des Bull’s-Eye zu plazieren. Ein guter Start in den Tag.
Ein guter Start in einen ganz gewöhnlichen Tag.
Um der Spannung willen plazierte er die Fünfzehn ins äußere und die Zwanzig ins innere Feld; der Pfeil steckte direkt neben dem Stahldraht und neigte sich verräterisch zur Eins, aber er saß. Der Draht vibrierte leicht von der Berührung. Jetzt noch das Bull’s-Eye, mitten ins Schwarze. Er konzentrierte sich, hob den Pfeil, zielte mit der langen Spitze auf den inneren Ring und führte den Pfeil exakt in Augenhöhe zehn Zentimeter nach hinten.
In dem Moment schlug die Tür.
Das stimmte nicht. Das war nicht richtig.
Er ließ den Pfeil sinken und ging in den Schalterraum.
Ein riesiger, bulliger Mann zielte mit einer großen Pistole auf ihn. Wie versteinert blieb er stehen. Alles brach auseinander. Das war falsch, völlig falsch. Nicht jetzt. Nicht ausgerechnet jetzt. Der Boden unter seinen Füßen gab nach.
Der Mann trat an den Schalter und hielt ihm eine leere Reisetasche hin. Er legte den Pfeil beiseite, öffnete die Klappe und nahm die Tasche mechanisch entgegen.
»Fill it up«, sagte der Mann in gebrochenem Englisch.
Langsam und methodisch packte er ein Geldbündel nach dem anderen ein. Neben der Tasche lag der Pfeil mit der langen Spitze. Die Gedanken wirbelten wild in seinem Kopf herum. Nur noch das Bull’s-Eye, dachte er, und er dachte an Lisbet und daran, daß es neun Uhr dreißig war, und an die aus alter Gewohnheit aufgeschlossene Eingangstür, er dachte an den Abschluß mit der Doppel-Eins und den anonymen braunen Briefumschlag von höchster Stelle, an die Fäuste unter den blauen Klängen, daran, wie weich Lena war, und an die losen Zähne unter der Zunge und zuletzt wieder einmal an das Bull’s-Eye.
Der bullige Mann senkte die Pistole und sah sich lauernd um.
Er dachte an seine Fähigkeit, in extremen Streßsituationen das Äußerste aus sich herauszuholen.
»Hurry up!« fauchte der Stier und warf nervöse Blicke aus dem Fenster. Seine Augen mit den tiefschwarzen Pupillen waren rot gerändert.
Bull’s-Eye, dachte er und griff nach dem Pfeil.
Danach stand nur noch das Schlußdoppel aus.
2
Paul Hjelm ging durch den Kopf, wie lange er nicht mehr in einem Streifenwagen mit Blaulicht und heulender Sirene gesessen hatte. Er saß auf der Rückbank, eingezwängt zwischen zwei uniformierten Polizisten und einem Kripobeamten in Zivil. Als der Wagen in einem heftigen Linksschwenk auf den Botkyrkaleden Reifengummi verbrannte, beugte er sich vor und legte dem Fahrer eine Hand auf die Schulter.
»Es wäre vielleicht besser, die Sirenen auszuschalten«, sagte er leise.
Der Fahrer streckte die Hand nach dem Knopf aus, aber still wurde es deswegen noch lange nicht; die quietschenden Reifen und der heulende Motor sorgten für einen gleichbleibenden Lärmpegel.
Hjelm beobachtete seinen Kollegen in Zivil. Svante Ernstsson hielt sich krampfhaft an einer Schlaufe fest, die von der Decke herunterhing. Baumeln in modernen Polizeiwagen tatsächlich noch Handschlaufen? dachte Paul Hjelm – und gleichzeitig ging ihm auf, daß diese Frage jetzt irgendwie unangebracht war.
Dann dachte er, daß er in letzter Zeit häufiger unangebrachte Sachen dachte.
Es war knapp einen Monat her, daß Svante Ernstsson nach einer absurden Verfolgungsjagd durch Fittja auf dem Tegelängsvägen unbeschadet aus einem total demolierten Einsatzwagen gestiegen war. Er lachte unsicher, als der Wagen an der Ausfahrt nach Fittja vorbei über die stark befahrene Autobahn preschte, bevor er sich in Höhe von Slagsta in die langgezogene Linkskurve legte und über die Kreuzung raste. Rechts ging es in den Tegelängsvägen, Svante Ernstssons starrer Blick war stur nach links gerichtet. Danach entspannte er sich ein wenig.
Hjelm konnte sich lebhaft vorstellen, was in Ernstsson vorging. Nach fast siebenjähriger enger Zusammenarbeit in einem der härtesten Polizeidistrikte des Landes kannten sie einander in- und auswendig. Dabei war ihm klar, daß sie im Grunde genommen herzlich wenig voneinander wußten.
Hjelm fühlte sich vollkommen leer. Darum hatte er sich auch von der Angst seines Kollegen anstecken lassen. Um sich selbst einen Moment lang zu entfliehen.
Der Tag hatte erdenklich dämlich begonnen. Es war stickig gewesen im Schlafzimmer, die frühe Morgensonne hatte auf den Jalousien gestanden und den Mief noch aufgeheizt. Er war näher an Cilla herangerückt, die aber, als sie seine Erregung spürte, ein Stück von ihm weggerutscht war. Er hatte es nicht gemerkt, nicht merken wollen, war in seiner hartnäckig pochenden Geilheit weiter hinter ihr her gerobbt. Und sie war weiter von ihm weggerutscht, bis sie die Bettkante erreichte und aus dem Bett fiel. Er war hochgefahren, auf einen Schlag hellwach, und abrupt erschlafft. Sie hatte sich langsam aufgerappelt, kopfschüttelnd, wortlos wütend. Dann hatte sie eine Hand in den Slip geschoben, eine blutige Binde herausgezogen und sie ihm vor die Nase gehalten, worauf er angeekelt und entschuldigend zugleich das Gesicht verzogen hatte. In dem Augenblick hatten sie Dannes vierzehnjährig-pickeliges und völlig entgeistertes Gesicht in der Tür entdeckt. Im nächsten Moment war er davongestürzt. Seine Zimmertür krachte, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Public Enemy rappte in voller Lautstärke los. Hjelm und Cilla tauschten kurze Blicke. Plötzlich waren sie in einem wirren Schuldgefühl wieder vereint. Cilla lief über den Flur, aber ihr Klopfen an Dannes Tür war aussichtslos.
Wenig später saßen sie am Frühstückstisch.
Tova und Danne waren schon in der Schule. Danne hatte weder gefrühstückt noch ein Wort gesagt, keinen von ihnen auch nur eines Blickes gewürdigt.
Es sah aus, als spräche Cilla Hjelm mit den Spatzen auf dem Vogeltisch draußen vorm Fenster ihres Reihenhauses: »Du bist bei zwei Geburten dabeigewesen. Wie zum Teufel kann es angehen, daß du dich immer noch vor den weiblichen Körperfunktionen ekelst?« Er war vollkommen leer. Der Wagen ließ Slagstas Kleingartenkolonie rechts und die Brunnaschule links liegen und erreichte kurz darauf den Tomtbergavägen, der den schwer definierbaren Grenzbereich (mit fast vierhundert Hausnummern) zwischen Hallunda und Norsborg wie ein überdimensionales Hufeisen einrahmte. Dann bog der Wagen scharf nach links ins Zentrum von Hallunda ab; einen Augenblick lang hatte Hjelm Svante Ernstsson auf dem Schoß. Sie tauschten müde Blicke und sahen die kurzen, aber dichtbesiedelten Sackgassen Lindvägen, Kornvägen, Hampvägen, Havrevägen vor dem Fenster vorbeiziehen, die brutale Phantasielosigkeit der hohen, gleichförmigen Sechziger- und Siebziger-Jahre-Klötze. Nährboden, dachte Paul Hjelm, ohne genau zu wissen, wie er darauf kam.
Auf dem Marktplatz standen drei Polizeiwagen mit offenen Türen, hinter denen ein paar Uniformierte mit gezogenen Dienstwaffen kauerten und in völlig verschiedene Richtungen zielten. Weitere Polizisten waren damit beschäftigt, Schaulustige, Mütter mit Kinderwagen und Hundebesitzer zu verscheuchen.
Sie hielten neben den anderen Polizeiwagen. Die beiden Polizisten stiegen sofort aus und eilten ihren Kollegen zu Hilfe. Es ging um die »Evakuierung des Bereichs«, so hieß es zumindest später in den Akten. Hjelm saß noch halb im Auto, als Ernstsson bereits auf dem Weg zum nächsten Wagen war, aus dem sich Johan Bringmans schlaffe Gestalt zwängte und träge den Rücken streckte.
»Die Ausländerbehörde«, sagte er mitten im Strecken. »Drei Geiseln.«
»Okay, was wissen wir?« fragte Ernstsson, aus höchsten Höhen auf Bringmans krummen Rücken herabblickend, und knöpfte angesichts der Spätwintersonne seine Lederjacke auf.
»Schrotflinte, zweiter Stock. Der größte Teil des Gebäudes ist geräumt. Wir warten auf die Spezialeinheit.«
»Aus Kungsholmen?« fragte Hjelm. »Das kann dauern. Hast du gesehen, was für ein Verkehr auf der E 4 ist?«
»Wo steckt Bruun?« fragte Ernstsson.
Bringman zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wartet wahrscheinlich auf die Promis, denke ich mir. Na, egal, eine Angestellte aus dem Büro hat es nach draußen geschafft. Kommen Sie doch mal her, Johanna, ja genau. Das ist Johanna Nilsson, sie arbeitet da drinnen.«
Eine blonde Frau in den Vierzigern stieg aus dem Polizeiwagen und blieb vor Ernstsson stehen, eine Hand an der Stirn, während sie an den Nägeln der anderen kaute. Svante Ernstsson legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte beschwichtigend: »Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben. Wir werden das schon regeln. Kennen Sie den Mann?«
»Er heißt Dritëro Frakulla«, sagte Johanna Nilsson mit brüchiger Stimme. »Kosovoalbaner. Die Familie lebt schon eine ganze Weile hier. Jetzt sind sie in den allgemeinen Ausweisungsstrudel geraten. Sie dachten, es wäre alles geklärt, haben nur noch auf die positive Nachricht gewartet, und dann kam genau der gegenteilige Bescheid. Da ist ihm die Sicherung durchgebrannt, nehme ich an. Der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Ich weiß, wie das ist.«
»Kennen Sie ihn näher?«
»Ihn kennen? Mein Gott, er ist ein Freund von mir! Ich habe ihn betreut. Ich kenne seine Kinder, seine Frau, alle seine verdammten Katzen. Wahrscheinlich gilt das Ganze mir. Er ist ein zurückhaltender Mann, der keiner Fliege was zuleide tut. Ich hab ihn angelogen.« Sie wurde lauter: »Ohne es zu wollen, habe ich ihn die ganze Zeit angelogen, verdammt! Die Gesetze ändern sich alle naselang. Wie sollen wir unsere Arbeit gut machen, wenn sich alles, was wir sagen, am laufenden Band in Lügen verwandelt?«
Paul Hjelm erhob sich schwerfällig. Er zog die dicke Jeansjacke mit dem Fellkragen aus, schnallte das Schulterhalfter ab und warf es ins Auto, schob die Dienstpistole hinten in den Hosenbund und zog die Jacke wieder an.
Er war vollkommen leer.
»Was zum Teufel hast du vor?« fragten Svante Ernstsson und Johan Bringman im Chor.
»Ich geh jetzt da rein.«
»Die Spezialeinheit kann jeden Augenblick hier sein, verflucht noch mal!« rief Ernstsson ihm nach, als er den Tomtbergavägen überquerte. Er rannte hinter ihm her und packte ihn am Arm. »Warte, Pålle, mach jetzt keine Dummheiten. Bring dich nicht unnötig in Gefahr. Überlaß das den Experten.«
Ihre Blicke kreuzten sich. Er sah die leere Entschlossenheit in Hjelms Augen und ließ ihn los.
Wir kennen einander viel zu gut, dachte er und nickte.
Paul Hjelm schlich vorsichtig die Treppen zur Ausländerbehörde hoch. Nichts war zu sehen, nichts zu hören. Die Luft in dem geräumten Gebäude stand still. Um ihn herum purer Beton. Beton mit einem dicken, kunststoffartigen Anstrich, der trotz halbherziger Dekorationsversuche in Gestalt zufällig hingeklatschter Farbspritzer grau wirkte. Es roch nach Urin, Schweiß und Alkohol, und die wie Wüstenluft flimmernde Hitze verstärkte den Gestank noch. Der Duft Schwedens, dachte er.
Es war Ende der Neunziger.
Er schob sich durch den leeren tristen Korridor bis vor eine geschlossene Tür. Holte einmal tief Luft und rief: »Frakulla!«
Es herrschte absolute Stille. Um gar nicht erst ins Grübeln zu geraten, redete er einfach weiter: »Ich heiße Paul Hjelm und bin Polizist. Ich bin allein hier und unbewaffnet. Ich will nur mit Ihnen reden.«
Hinter der Tür tat sich etwas. Dann sagte eine tiefe Stimme fast unhörbar: »Kommen Sie rein!«
Er holte noch einmal tief Luft und öffnete die Tür.
Auf dem Fußboden des Büros saßen zwei Frauen und ein Mann mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. Daneben, vor einer fensterlosen Wand, stand ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einem braunen Anzug mit Weste, Schlips und Schrotflinte. Letztere war auf Paul Hjelms Nasenlöcher gerichtet.
Hjelm schloß die Tür hinter sich und hob die Arme.
»Ich weiß, was passiert ist, Frakulla«, sagte er, so ruhig er nur konnte. »Wir müssen versuchen, aus dieser Situation rauszukommen, ohne daß jemand verletzt wird. Wenn Sie sich jetzt ergeben, können Sie immer noch Berufung gegen den Beschluß einlegen. Wenn nicht, droht Ihnen eine Gefängnisstrafe und anschließend die direkte Ausweisung. Sehen Sie her, ich bin unbewaffnet«, sagte er, wand sich langsam aus der Jeansjacke und ließ sie auf den Boden fallen.
Dritëro Frakulla blinzelte heftig und zielte abwechselnd auf ihn und die drei Angestellten auf dem Boden.
Forder mich bloß nicht auf, mich umzudrehen, dachte Hjelm. Weiterreden, los, weiterreden. Appellier an sein Verständnis. Benutz Worte, die ihn zum Nachdenken bringen. Lenk ihn ab.
»Denken Sie an Ihre Familie«, fuhr er schließlich fort. »Was soll ohne den Versorger der Familie aus Ihren Kindern werden? Aus Ihrer Frau? Arbeitet sie? Was könnte sie arbeiten, Frakulla? Was für Qualifikationen hat sie?«
Die Flinte war nun auf ihn gerichtet; genau das hatte er erreichen wollen. Und dann begann Frakulla, in sauberem Schwedisch zu reden.
»Je schwerer das Verbrechen, das ich begehe, desto länger können wir bleiben. Haben Sie daran schon mal gedacht? Die schicken meine Familie nicht ohne mich nach Hause. Ich opfere mich für sie. Könnte man es nicht so nennen?«
»Falsch, Frakulla. In so einem Fall wird Ihre Familie unmittelbar ausgewiesen und muß schutzlos zu den Serben zurückkehren. Was glauben Sie wohl, was die Serben mit einer Frau und ein paar Kindern im Vorschulalter machen werden, die vor ihnen geflohen sind? Und was glauben Sie wohl, wie es Ihnen im Knast ergehen wird, wenn Sie einen Polizisten, obendrein noch einen unbewaffneten Polizisten, erschossen haben?«
Der Mann senkte die Flinte ein paar Zentimeter, jetzt sah er völlig verwirrt aus. Das reichte Hjelm. Er griff nach hinten, riß die Dienstwaffe aus dem Hosenbund und feuerte einen Schuß ab.
Zugleich versuchte er, die innere Stimme zum Schweigen zu bringen: Wie zum Teufel kann es angehen, daß du dich immer noch vor den weiblichen Körperfunktionen ekelst?
Für einen kurzen Augenblick, der aus der Zeit herausgelöst zu sein schien, stand alles vollkommen still. Frakulla hielt wie versteinert die Flinte in der Hand. Sein schwer zu deutender Blick bohrte sich in Hjelms Augen. Alles war möglich.
»Aah«, stieß Dritëro Frakulla aus, ließ die Waffe fallen und kippte vornüber.
Veränderung erfordert Handeln, dachte Hjelm und merkte, wie ihm schlecht wurde.
Der männliche Angestellte riß die Schrotflinte an sich und drückte den Lauf gegen den Schädel des am Boden Liegenden, unter dessen rechter Schulter eine Blutlache immer größer wurde.
»Lassen Sie die Waffe fallen, Sie Vollidiot!« brüllte Hjelm und übergab sich.
3
Am Anfang bizarre, kurze Sprünge auf der Klaviertastatur, rauf und runter, rauf und runter; im Hintergrund, ganz leise, das Zischeln eines Beckens, gelegentlich ein kurzes Wischen des Jazzbesens über die kleine Trommel. Hin und wieder verlassen die Finger die vorgezeichneten Wege, ohne jedoch den stolpernden Rhythmus zu unterbrechen. Kurze Pause, dann wird das Thema wiederholt, jetzt von Klavier und Saxophon unisono. Dann ein abrupter Wechsel. Der Baß spielt ruhige Viertel, das Saxophon erhebt seine Stimme zum Solo. Das Klavier teilt sporadisch verhaltene Akkorde aus, während das Saxophon souverän durch die Harmonien streift.
Die Pinzette versinkt in dem Loch, sucht und findet. Das Saxophon fiepst ein wenig außerhalb der Tonart, um gleich darauf weiterzuschlendern. Das Klavier ist verstummt. Für einen Moment ist im Hintergrund das Publikum zu hören. Die Pinzette zieht heraus, wonach sie gesucht hat, während der Saxophonist ein paar schnelle Läufe spielt. Nach jedem Lauf ruft einer aus der Band Yeah. Das Publikum antwortet mit Yeah. Das Saxophonsolo endet mit langgezogenen Tönen. Vereinzelter Applaus.
Das Klavier setzt wieder ein. Die gleichen Sprünge wie am Anfang, sukzessive Abweichungen, Querulieren, immer freiere Läufe. Klavier, Baß und Schlagzeug, sonst nichts. Die Pinzette versinkt im zweiten Loch. Diesmal geht es einfacher. Beide Klümpchen verschwinden in der Tasche. Er geht zurück zum Sofa.
Das Klavier gelangt wieder an seinen Ausgangspunkt. Der Baß setzt nach einer kurzen Pause erneut ein, dazu das Saxophon, alle finden im Thema wieder zusammen. Applaus. Yeah.
Er drückt auf die Fernbedienung. Mit einemmal ist es unerhört still.
Er steht auf. Bleibt eine Weile in dem großen Raum stehen. Hoch oben unter der Decke, in dem nicht spürbaren Luftzug um den Kristallüster, tanzen ein paar unerwartete Staubkörner. Das matte Metall der stromlinienförmigen Stereoanlage reflektiert kein Licht. Bang und Olufsen.
Bang, bang, denkt er. Olufsen, denkt er. Dann denkt er nichts mehr.
Seine behandschuhte Hand streicht sanft über den glänzenden Bezug des Ledersofas, ehe er sich prüfend auf den Weg über das heimelig knarrende Parkett macht. Er umrundet den fünfundzwanzig Quadratmeter großen Teppich, an dem pakistanische Kleinkinder in Sklavenarbeit monatelang geknüpft haben, und durchquert den Flur auf dem Weg zum Balkon. Er öffnet die Tür und bleibt eine Weile draußen stehen, direkt neben der Hollywoodschaukel. Er füllt seine Lungen mit der stillen, kühlen Luft der Frühlingsnacht und verweilt mit dem Blick auf den Reihen von Åkerö, Ingrid Marie und Lobo, Transparente blanche und Gelber Bellefleur. Jeder Apfelbaum ist mit einem kleinen Schild versehen, das hat er auf dem Weg nach drinnen gesehen. Noch existieren die Äpfel nur auf den Schildern, prall, farbintensiv, lange, lange vor den ersten Blüten. Platte Surrogatäpfel.
Er würde gern glauben, daß es Grillen sind, die er da hört, weil das Pfeifen sonst in seinem Kopf wäre. Überschallknall, denkt er, Olufsen.
Obwohl es eigentlich gar kein richtiger Knall war.
Er zieht die Balkontür zu, durchquert erneut den langen Flur und kehrt in das riesige Wohnzimmer zurück. Wieder macht er einen Bogen um die feurigroten Arabesken des handgeknüpften Teppichs, geht zur Stereoanlage und drückt auf Eject. In einer angedeuteten Ellipse schiebt sich die Kassette gelassen aus dem Fach. Er steckt sie in die Tasche. Dann schaltet er die Anlage aus.
Er sieht sich noch einmal in dem Raum um. Atmosphäre, denkt er. Selbst die Staubkörner scheinen eigens bestellt worden zu sein, passend zum Lüster, den sie so stilvoll umwirbeln.
Vor seinem inneren Auge erscheint eine Liste. Er vollführt mental eine Verbeugung.
Kuno, denkt er lächelnd. Ist das nicht ein Gesellschaftsspiel?
Beim Verlassen des gigantischen Wohnzimmers wählt er einen anderen Weg als beim Betreten. Der Teaktisch und die vier dazu passenden Stühle mit den hohen Rückenlehnen stehen auf einem anderen, ebenfalls handgeknüpften Teppich. Er bildet sich ein, daß es sich um einen Perser handelt. Im Gegensatz zu dem roten pakistanischen Teppich ist er beige gehalten.
Wenngleich sie einander nun sehr ähneln.
Neben dem Tisch muß er über das hinwegsteigen, was den Perserteppich rot färbt. Er hebt seine Beine über ein Paar andere.
Im Garten blinzelt ein verschlafener Vollmond unter seiner daunigen Wolkendecke hervor und beleuchtet einen verschleierten Elfenreigen auf den kahlen Apfelbäumen.
4
Kriminalkommissar Erik Bruun hatte vergessen, den roten Knopf an seinem Schreibtisch zu drücken, und so leuchtete im Flur, von einem Summen begleitet, am Türrahmen über seinem Namensschild eine grüne Lampe auf. Paul Hjelm drückte die Klinke der ewig geschlossenen Tür und trat ein.
Die Polizeidienststelle mit ihrer merkwürdigen Ortsmixtur stellte sich in etwa folgendermaßen dar: in Fittja gelegen mit Postanschrift Norsborg, Gemeinde Botkyrka, Polizeibehörde Huddinge. Hjelm selbst wohnte in einem Reihenhaus in Norsborg. Trotzdem konnte er nie genau sagen, an welchem Ort er sich befand. Am allerwenigsten jetzt.
Ein gottverlassener Ort, dachte er in einem Anflug von Tragik, als er den Raum betrat, der als Das Braune Zimmer bekannt war. Einmal im Jahr bekam es neue Tapeten, doch die waren innerhalb weniger Tage wieder braun; Erik Bruun pflegte sie mit einer seiner schwarzen Zigarren einzuweihen. Hjelm war nie in Bruuns Junggesellenwohnung in Eriksberg gewesen, die er nur aus Erzählungen kannte, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Wände dort aussahen. Er selbst war Nichtraucher, auch wenn er sich schon mal die eine oder andere Zigarette ansteckte, um nicht zum Sklaven seiner Tugend zu werden, wie ein weiser Mann es einmal ausgedrückt hatte.
An diesem Tag hatte er bereits sechs Zigaretten geraucht, und er wußte, daß es noch mehr werden würden. Das Nikotin zeigte erste Wirkung in seinem Kopf, und so blieb der sonst übliche Schock beim Betreten des Braunen Zimmers aus, das von der Gesundheitsbehörde wiederholt als massiv gesundheitsgefährdend eingestuft worden war. Ein übereifriger Beamter hatte einmal einen Totenkopfaufkleber auf Bruuns Tür geklebt, dessen restlose Entfernung Hjelm und Ernstsson drei Stunden ihrer wertvollen Arbeitszeit gekostet hatte.
Erik Bruun war nicht allein. Er thronte hinter seinem überbordenden Schreibtisch und sog an einer seiner unsäglichen russischen Zigarren. Auf dem Sofa vorm Fenster saßen zwei äußerst elegant gekleidete Herren ungefähr in Hjelms Alter, also um die Vierzig – wer wäre jemals auf die Schnapsidee gekommen, ihn als »Herrn« zu bezeichnen? In diesem Fall lag das Wort nahe. Er kannte die Herren nicht, aber er kannte diese aalglatten Gesichtszüge.
Na ja, was hatte er anderes erwartet.
Bruun wuchtete seinen massigen Körper aus dem Stuhl und kam ihm entgegen; eine derartige Joggingeinlage hatte Seltenheitswert. Er schüttelte Hjelm die Hand und kratzte sich den grauroten Bart.
»Ich darf gratulieren«, sagte er mit besonderer Betonung auf dem Ich. »Außerordentliche Leistung. Wie fühlst du dich? Hast du schon mit Cecilia gesprochen?«
»Danke«, erwiderte Hjelm mit einem Blick auf die beiden Herren. »Ich hab sie noch nicht erreicht. Sie wird es wohl auf anderem Weg erfahren, nehme ich an …«
Bruun nickte zögernd und kehrte zu seinem Lieblingsstuhl zurück.
»Wie gesagt: Wir hier im Haus gratulieren dir und stehen hinter dir … Du hast noch nicht die Frage beantwortet, wie du dich fühlst …«
Wieder nickte Bruun langsam und bedeutungsvoll.
»Verstehe«, sagte er schließlich und sog an seiner Zigarre. »Das hier sind übrigens Niklas Grundström und Ulf Mårtensson von den Internen Ermittlungen. Ob sie auch hier sind, um dir zu gratulieren, kann ich nicht sagen.«
Da Bruuns kleine Ansprache klang, als wollte er sich zurückziehen, erhoben die beiden Herren sich von dem Sofa. Es gab einen kurzen Moment der Irritation, als der Kommissar ungerührt sitzen blieb und seine schwarze Zigarre schmauchte – genau jenen Anflug von Unsicherheit, den die beiden um keinen Preis vermitteln wollten. Hjelm bedankte sich bei Bruun mit einem scheinbar neutralen Blick, der angemessen erwidert wurde. Der Kommissar nahm einen letzten Zug und erhob sich schwerfällig.
»Der Arbeitsschutzbeauftragte hat festgelegt, daß ich das Zimmer nicht mit brennender Zigarre verlassen darf«, entschuldigte er sich und verließ, in Rauchschwaden gehüllt, den Raum. Der ausgedrückte Zigarrenstummel schickte immer noch Rauchzeichen zur Decke.
Grundström schob den Aschenbecher weg, als handele es sich um eine übergärige Latrinentonne, und setzte sich, nicht ohne Widerwillen, in Brunns geräucherten Schreibtischsessel. Mårtensson sank wieder auf das Sofa. Grundström legte seine Aktentasche auf die Arbeitsplatte und nahm eine Brille mit fast kreisrunden Gläsern heraus, die er umständlich aufsetzte. Danach zog er einen braunen Umschlag und eine Abendzeitung hervor. Nachdem er die Aktentasche zurück auf den Boden gestellt hatte, hielt er Hjelm die Titelseite des Expressen entgegen. Fette Schlagzeilen verkündeten: »Extra. Der Held von Fittja. Polizist Held in Geiseldrama«. Unter der Überschrift war ein bestimmt zehn Jahre altes Foto des damaligen Polizeiassistenten Paul Hjelm abgedruckt.
»Die Medien haben die Rollen bereits verteilt«, sagte Niklas Grundström in blasiertem Ton und faltete die Zeitung zusammen. Dabei fixierte er Hjelm. »So etwas geht heutzutage unerhört schnell, nicht wahr. Daß sie es schon in der Abendausgabe bringen. Da war der Stift mal wieder schneller als der Gedanke.«
»Altes Dschungelsprichwort«, rutschte Hjelm heraus, ehe er den Denkapparat einschalten konnte. Er biß sich auf die Zunge.
Grundström musterte ihn, ohne eine Miene zu verziehen. Dann bückte er sich und nahm ein kleines Aufnahmegerät aus der Aktentasche.
»Ich hatte gehofft, darauf verzichten zu können«, sagte er und drückte den Startknopf. »Verhör mit Kriminalinspektor Paul Hjelm, geboren am 18.02.57, ausgeführt von Grundström und Mårtensson in der Polizeidienststelle Huddinge am 30. März um 17 Uhr 06.«
»Verhör?« fragte Hjelm.
»Verhör«, bestätigte Grundström. »Sie haben es selbst so gewollt.«
Hjelm biß sich erneut auf die Zunge. Jetzt bloß kein Wort zuviel. Und dann ging es los:
»Sind oder waren Sie jemals Mitglied einer ausländerfeindlichen Organisation?«
»Nein«, antwortete Hjelm und beschwor sich, ganz ruhig zu bleiben.
»Wie ist Ihr Verhältnis zu Ausländern?«
»Weder gut noch schlecht.«
Grundström kramte in dem großen braunen Umschlag und fischte schließlich etwas heraus, das wie ein Register aussah. Er faßte zusammen: »42 Prozent der Festnahmen während Ihrer Dienstzeit in diesem Distrikt sind gegenüber Personen ausländischer Herkunft durchgeführt worden. Im letzten Jahr ist die Zahl sogar auf 57 Prozent gestiegen.«
Hjelm hüstelte und konzentrierte sich. »In der gesamten Gemeinde Botkyrka sind nach neuesten Erkenntnissen 32 Prozent der Bevölkerung ausländischer Herkunft, wovon 20 Prozent ausländische Staatsbürger sind. Im nördlichen Teil, das heißt in Alby, Fittja, Hallunda und Norsborg, liegt die Zahl erheblich höher, deutlich über 50 Prozent. Daß 42 Prozent der Festnahmen in dieser Gegend gegenüber Einwanderern vorgenommen werden, ist ja wohl eher ein Indiz dafür, daß bei Personen schwedischer Herkunft ein ausgeprägterer Hang zur Kriminalität vorliegt. Jedenfalls liefert diese Zahl nicht den geringsten Beweis für Rassismus, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen.«
Hjelm war äußerst zufrieden mit seiner Antwort; Grundström nicht.
»Was hat Sie geritten, einfach da reinzustürmen und den Mann wie ein zweiter Dirty Harry umzunieten?«
»Dieser Mann, wie Sie sagen, gehört der albanischen Minorität in der Provinz Kosovo im südlichen Serbien an. Sie wissen ja sicher, wie die Situation dort aussieht. So gut wie alle Kosovoalbaner, mit denen wir in diesem Bezirk zu tun haben, Menschen, die sich eingelebt und Schwedisch gelernt haben, deren Kinder auf schwedische Schulen gehen, fast alle sollen nun ausgewiesen werden. So etwas geht nicht reibungslos ab.«
»Um so weniger Grund hatten Sie, ihn einfach niederzuschießen. Die Geiselsondereinheit der Reichspolizeibehörde war unterwegs, das sind Spezialisten, Experten. Warum, um alles in der Welt, mußten Sie unbedingt allein da rein?«
Hjelm schaffte es nicht rechtzeitig, sich auf die Zunge zu beißen.
»Um ihm das Leben zu retten, verdammt noch mal!«
Es war kurz vor acht Uhr abends. Hjelm und Bruun saßen im Braunen Zimmer, Bruun in seinem Sessel, Hjelm halb liegend auf dem Sofa. Zwischen ihnen auf dem Schreibtisch stand ein riesiges Tonbandgerät. Das Band lief.
»Um ihm das Leben zu retten, verdammt noch mal!«
Bruun hätte beinahe seine Zigarre verschluckt. Mit einer ausladenden Bewegung hielt er das Tonband an.
»Du«, sagte er und zeigte mit der gleichen ausladenden Bewegung auf Hjelm, »bist ein waghalsiger Mensch.«
»Idiotisch, ich weiß …«, erwiderte Hjelm. »Genauso idiotisch, wie heimlich ein Verhör der Abteilung für interne Ermittlungen mitzuschneiden.« Bruun zuckte mit den Schultern und schaltete das Gerät wieder ein. Nach einer kurzen Pause war wieder Hjelms Stimme zu hören: »Diese Spezialeinheit ist doch nur auf eine Sache spezialisiert, das wissen Sie genausogut wie ich: darauf, den Täter unschädlich zu machen, ohne die Geiseln zu gefährden. Unschädlich machen im Sinne von eliminieren im Sinne von töten.«
»Glauben Sie ernsthaft, daß wir Ihnen abnehmen, Sie hätten auf ihn geschossen, um ihn zu retten?«
»Glaubt doch, was ihr wollt!«
Bruun sah ihn an und schüttelte streng den Kopf; diesmal war es an Hjelm, mit den Schultern zu zucken.
»Genau das tun wir nicht«, sagte Grundström. »Wir sind hier, um Recht von Unrecht zu scheiden und sicherzustellen, daß es sich nicht um ein Dienstvergehen handelt und Sie womöglich ungestraft davonkommen. So wird nämlich das Rechtssystem ausgehöhlt. Wenn nötig, müssen wir Sie abmahnen. Das hat nichts mit unserer persönlichen Einstellung zu tun.«
»Fürs Protokoll«, sagte Hjelm, »der Schuß fiel um 8 Uhr 47, die Spezialeinheit traf um 9 Uhr 38 ein. Hätten wir so lange draußen hocken und warten sollen, fast eine geschlagene Stunde, mit einem verzweifelten Schützen, panischen Geiseln und einem lahmgelegten Zentrum in Hallunda?«
»Okay, lassen wir die Frage nach dem Warum einen Moment außer acht, und halten wir uns an das, was Sie de facto gemacht haben.«
Pause. Grundström und Mårtensson tauschten die Plätze, während Hjelm darüber nachdachte, was für eine Sorte Mensch »de facto« sagt.
Die geschliffene Stimme wurde durch eine sehr viel rauhere ersetzt.
»Also gut. Bisher haben wir nur an der Oberfläche gekratzt. Dann wollen wir jetzt mal die gröberen Teile auseinandernehmen.«
Bruun schaltete das Tonbandgerät aus, zog die Augenbrauen hoch und wandte sich aufrichtig erstaunt an Hjelm: »Soll das heißen, daß sie allen Ernstes diesen Good-guy-bad-guy-Schwachsinn durchgezogen haben? Vor jemandem, der so erfahren ist im Führen von Verhören?«
Hjelm zuckte erneut mit den Schultern und spürte, wie der Schlaf ihn einholte. Als Mårtenssons Stimme wieder erklang, vermischte sie sich mit Worten und Bildern aus allen möglichen Winkeln seiner Seele. Während der kurzen Übergangsperiode zwischen Wachen und Schlafen kämpften beide Seiten um den Vorrang. Schließlich schlief er ein.
»Schritt für Schritt. Erstens: Sie haben sich ohne Vorwarnung vor die Tür gestellt und gerufen; allein das hätte eine Katastrophe auslösen können. Zweitens: Sie haben behauptet, unbewaffnet zu sein, obwohl Ihre Pistole aus dem Hosenbund ragte; er hätte Sie nur auffordern müssen, sich umzudrehen, und die Katastrophe wäre perfekt gewesen. Drittens: Sie haben den Täter belogen; hätte er von bestimmten Fakten gewußt, wäre die Katastrophe erfolgt. Viertens: Sie haben auf eine nicht vorschriftsmäßige Stelle am Körper gezielt; das hätte in einer Katastrophe enden können.«
»Wie geht es ihm?« fragte Hjelm.
»Was?« sagte Mårtensson.
»Wie geht es ihm?«
»Wen meinen Sie?«
»Dritëro Frakulla.«
»Was zum Teufel soll das sein? Eine Apfelsinensorte? Ein transsilvanischer Graf? Konzentrieren Sie sich auf die Fakten, verdammt noch mal!«
»Das sind Fakten. Das sind die Fakten.«
Die folgende Pause war so lang, daß Bruun schon unruhig wurde und sich fragte, ob das Verhör zu Ende war. Hjelm konnte ihm nicht helfen; der schlief. Statt dessen antwortete Grundström aus dem Hintergrund.
»Er liegt in der Chirurgie von Huddinge und wird rund um die Uhr bewacht. Sein Zustand ist stabil. Was man von der Situation hier nicht behaupten kann. Morgen um halb elf machen wir weiter. Danke, das war’s für heute, Hjelm.« Stühlescharren, Papiere wurden zusammengeschoben, ein Aufnahmegerät abgeschaltet. Eine Aktentasche wurde zugeklappt und eine Tür geschlossen. Kommissar Erik Bruun zündete sich eine pechschwarze, unregelmäßig gerollte Zigarre an und hörte konzentriert zu. Jetzt kam, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte.
Grundström sagte: »Er ist ungeheuer gerissen. Warum hast du ihn so glimpflich davonkommen lassen? Transsilvanischer Graf. Himmel, Sakrament, Uffe! Wir können den Kerl doch nicht einfach laufenlassen. Ein Dirty Harry, der sich mit heiler Haut durch das System rettet, ebnet Hunderten rassistischer Trittbrettfahrer im ganzen Land den Weg.«
Der Rest war nicht mehr zu verstehen. Mårtensson murmelte irgend etwas, Grundström seufzte, Stühle klapperten, eine Tür wurde geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Bruun hielt das Band an und saß eine Weile schweigend da.
Draußen hüllte sich der klare Frühlingstag in eisige Dunkelheit. Bruun kämpfte sich langsam aus seinem Stuhl und ging hinüber zu dem fest schlafenden Hjelm. Ehe er einen Lungenzug machte und Hjelm den Rauch ins Gesicht blies, betrachtete er ihn kurz und schüttelte sanft den Kopf.
Ich werde ihn nicht mehr lange halten können, dachte er, während er den Rauch ausstieß. Früher oder später werde ich ihn verlieren.
Hjelm hustete sich wach. Seine Augen tränten, und das erste, was er durch dichte Nebelschwaden wahrnahm, war ein rotgrauer Bart auf einem Doppelkinn.
»Halb elf«, sagte Bruun und schloß seine alte, brüchige Aktentasche. »Schlaf dich aus. Und sei so knapp und bündig wie möglich. Vielleicht ein bißchen mehr als heute.«
Hjelm wankte zur Tür. Dann drehte er sich um. Bruun nickte ihm freundschaftlich zu. Das war seine Art, jemanden zu umarmen.
Wie heißt es doch gleich? dachte Hjelm, als er den Kühlschrank aufmachte und ein Bier herausnahm. Heterosexuelle, berufstätige Männer mittleren Alters mit weißer Haut sind die Norm der Gesellschaft. Auf dieser Norm basieren alle Durchschnittswerte. Ein anderer Satz tauchte von irgendwoher auf: Frau zu sein ist keine Krankheit, nur eine Abweichung. Ganz zu schweigen von Homosexualität und Jugend und Alter und schwarzer Haut und gebrochener Sprache. Genauso sah seine Welt aus: innerhalb der Grenzen all die heterosexuellen weißen Polizisten mittleren Alters, außerhalb alle anderen. Er betrachtete die Abweichler auf dem Sofa: seine – wie alt war sie jetzt? – sechsunddreißigjährige Ehefrau Cecilia und seine zwölfjährige Tochter Tova. Der andere Schlawiner hielt sich woanders auf, wie deutlich zu hören war.
»Jetzt, Papa!« rief Tova. »Jetzt kommt es!«
Bier zwischen den Zähnen hindurchziehend ging er ins Wohnzimmer. Cilla registrierte die jahrzehntealte Unsitte ihres Mannes mit einem gewissen Widerwillen, konzentrierte sich aber schnell wieder aufs Fernsehen. Die Erkennungsmelodie der Nachrichtensendung ertönte. Es tauchte in den Schlagzeilen auf. Verhältnismäßigkeit, dachte er, Verhältnismäßigkeit.
»Heute morgen spielte sich im südlichen Teil Stockholms, in der Ausländerbehörde von Hallunda, ein Geiseldrama ab. Ein bewaffneter Mann drang unmittelbar nach Öffnung der Behörde in die Büroräume ein und bedrohte drei Mitarbeiter mit einer abgesägten Schrotflinte. Das Drama fand ein glückliches Ende.«
Glücklich, dachte er und sagte: »Die Ausländerbehörde von Botkyrka, Standort Hallunda.«
Die weiblichen Familienmitglieder sahen ihn an und bewerteten seine Aussage, jede aus ihrer Sicht. Tova dachte: Ist doch scheißegal. Cilla dachte: Du drückst mal wieder deine allgemeine Unzufriedenheit aus, indem du sachliche Fehler herauspickst; Gefühle werden Gedanken, Empfindungen Fakten.
Das Telefon klingelte. Er rülpste und nahm den Hörer ab.
»Ausländerbehörde von Hallunda?« sagte Svante Ernstsson.
»Abgesägte Schrotflinte?« erwiderte Paul Hjelm.
Lachen an beiden Enden der Leitung, Insider-Lachen.
Das notwendige alberne Geplänkel.
Ein ganz bestimmtes Lachen.
An dessen Klang man erkennt, ob es nur oberflächlich ist.
»Wie geht es dir?« fragte Ernstsson schließlich.
»Gespalten.«
»Jetzt kommt es«, riefen gleichzeitig Cilla und Tova aus dem Wohnzimmer und Svante am Telefon.
Der alte, abgebrühte Reporter stand auf dem Tomtbergavägen, den Marktplatz von Hallunda im Rücken. Es war Nachmittag, der Frühlingshimmel strahlend blau. Der Marktplatz war voller Menschen. Alles sah völlig normal aus. Ein paar Jungs mit Eishockeyschals um den Hals stellten sich hinter dem Reporter auf und machten das Victory-Zeichen.
»Um zwanzig nach acht …«, sagte der Reporter.
»Acht Uhr achtundzwanzig«, sagte Hjelm.
»… betrat ein Mann kosovoalbanischer Herkunft mit einer Schrotflinte bewaffnet die Ausländerbehörde in Hallunda. Von den vier anwesenden Angestellten nahm der Mann drei als Geiseln. Die vierte konnte entkommen. Der Mann brachte die Geiseln ins zweite Stockwerk und befahl ihnen, sich auf den Boden zu setzen. Etwa zwanzig Minuten später begab sich der Polizist Paul Hjelm …«
Das zehn Jahre alte Foto füllte den Bildschirm vollständig aus.
»Wo haben die das nur her?« rief Hjelm.
»Zum Anbeißen«, sagte Ernstsson.
»Das war im Krankenhaus«, sagte Cilla und sah ihn an. »Offensichtlich existierst du in keinem Presseregister. Das ist das Bild, das ich in der Brieftasche habe.«
»Hast?«
»Hatte.«
»… in das Gebäude. Er gelangte unbemerkt in den zweiten Stock, verschaffte sich Zugang zu dem verbarrikadierten Raum …«
»Verbarrikadiert«, sagte Ernstsson.
»… und schoß den Täter in die rechte Schulter. Nach Aussage der drei Angestellten war Hjelms Vorgehensweise beispielhaft. Bedauerlicherweise haben wir bislang keinen Kommentar von Paul Hjelm oder von seinem Chef bei der Kripo Huddinge, Kommissar Erik Bruun.«
»Unser guter alter Bruun«, sagte Ernstsson.
Der Reporter fuhr fort: »Bruun verweist auf die laufenden Ermittlungen und die damit zusammenhängende Schweigepflicht. Aber Sie, Arne Svensson, waren eine der Geiseln. Erzählen Sie doch mal!«
Die Kamera schwenkte zu einem Mann mittleren Alters, der neben dem Reporter stand. Hjelm erkannte den Angestellten wieder, der dem bewußtlosen Frakulla das Gewehr an die Schläfe gedrückt hatte. Er siebte den letzten Schluck Bier zwischen den Zähnen.
»Ich rufe dich später zurück«, sagte er zu Ernstsson und ging auf die Toilette.
Er betrachtete sich im Spiegel. Ein neutrales Gesicht. Ohne besondere Kennzeichen. Gerade Nase, schmale Lippen, dunkelblondes, kurzgeschnittenes Haar, T-Shirt, Ehering. Mehr nicht. Noch nicht einmal der Ansatz einer Glatze. Ein Mann in den beginnenden mittleren Jahren. Zwei Kinder an der Grenze zur Pubertät. Keine besonderen Kennzeichen.
Überhaupt keine Kennzeichen.
Sein Lachen klang hohl. Das bittere Lachen eines entlassenen Polizeibeamten niederen Ranges.
»Zwei kräftige Blutergüsse am Hinterkopf konnten noch nicht aufgeklärt werden«, sagte Ulf Mårtensson.
»Habt ihr noch nicht mit der Geisel gesprochen?« fragte Paul Hjelm.
»Wir machen unseren Job und Sie Ihren. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen haben jedenfalls ergeben, daß die Kopfverletzungen vom Lauf einer Schrotflinte stammen könnten. Haben Sie dem Angeschossenen das Gewehr abgenommen und ihm damit auf den Schädel geschlagen?«
»Ihr habt also nicht mit der Geisel gesprochen …«
Mårtensson und Grundström saßen diesmal nebeneinander, in einem der kalten, sterilen Vernehmungszimmer. Vielleicht ahnten sie etwas von Bruuns kleinem Manöver mit dem Tonbandgerät. Schweigend warteten sie darauf, daß Hjelm fortfuhr. Er tat ihnen den Gefallen.
»Als Frakulla vornüberfiel, landete das Gewehr auf dem Boden, ganz in der Nähe des Angestellten Arvid Svensson. Der Angestellte Arvid Svensson hob es auf und drückte dem am Boden Liegenden den Lauf an den Kopf.«
»Und das haben Sie zugelassen?«
»Ich war fünf Meter entfernt.«
»Sie haben zugelassen, daß der Angestellte mit einer geladenen, entsicherten Schrotflinte auf den Kopf eines Bewußtlosen zielt.«
»Niemand konnte wissen, ob der Mann bewußtlos war oder nicht, der Angestellte Arvid Svensson hat also völlig korrekt gehandelt, als er die Waffe an sich nahm. Aber nicht, als er den Lauf gegen Frakullas Kopf drückte. Ich hab ihn angebrüllt, er solle das bleibenlassen.«
»Aber Sie haben nicht tätlich eingegriffen?«
»Nein. Nach einer Weile hat er das Gewehr weggelegt.«
»Nach einer Weile … Wie lang war die?«
»So lange, wie ich brauchte, um mein gesamtes Frühstück auszukotzen.«
Pause. Schließlich sagte Mårtensson langsam und gehässig: »Mitten in einem eigenwillig durchgeführten Einsatz, bei dem Sie eigentlich auf die Experten hätte warten sollen, waren Sie also von Ihrem Verdauungsapparat außer Gefecht gesetzt. Was, wenn Svensson den Täter erschossen hätte? Was, wenn der Täter gar nicht unschädlich gemacht gewesen wäre? Was dann? Sie haben viele lose Fäden hängen lassen.«
»Sie verwechseln Huhn und Ei«, sagte Hjelm.
»Was?« fragte Mårtensson.
»Ich habe mich übergeben, weil der Täter unschädlich gemacht worden war. Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Menschen geschossen hatte. So was muß euch doch schon mal untergekommen sein.«
»Natürlich. Aber nicht bei einem derart wichtigen und dann auch noch selbstgewählten Alleingang.« Mårtensson blätterte in seinen Unterlagen und fuhr dann fort: »Dies ist sozusagen ein kleiner Zusatz zu der ohnehin schon langen Liste fragwürdiger Zwischenfälle. Zusammengefaßt liest sie sich wie folgt. Erstens: Sie sind allein in das Gebäude gegangen, obwohl die Spezialeinheit bereits unterwegs war. Zweitens: Sie haben sich ohne Vorwarnung vor die Tür gestellt und gerufen. Drittens: Sie haben behauptet, unbewaffnet zu sein, obwohl Ihre Pistole gut sichtbar aus dem Hosenbund ragte. Viertens: Sie haben den Täter wissentlich getäuscht, um ihn zu überzeugen. Fünftens: Sie haben auf eine nicht vorschriftsmäßige Körperpartie geschossen. Sechstens: Sie haben den Angeschossenen nicht entwaffnet. Siebtens: Sie haben zugelassen, daß eine der Geiseln in Panik den angeschossenen Täter mißhandelte und beinahe erschoß. Ermessen Sie allmählich das Ausmaß der Problematik, vor der wir stehen?«
Grundström räusperte sich und sprach weiter: »Über diese Liste hinaus gibt es ein paar weitere, nicht minder wichtige Punkte, die Aufmerksamkeit verdienen. Ich rede von Regeln und Disziplin. Das berührt einerseits das Mißtrauen gegenüber der Polizeiorganisation, andererseits die Ausländerfrage. Zusammengenommen ebnen Ihre Fehler einer richtig unangenehmen Radikalenmentalität den Weg, für die es in unserem Korps keinen Platz gibt. Ich sage nicht, daß Sie ein Rassist sind, Hjelm, aber Ihr Handeln und die Lobhudelei der Medien bringen das Risiko mit sich, daß gewissen Einstellungen, die in großen Teilen des Polizeikorps latent vorhanden sind, eine Legitimation gegeben wird. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Sie wollen ein Exempel statuieren …«
»Wir wollen nicht, wir müssen. Ich bin zwar überzeugt davon, daß Sie der weniger maroden Hälfte des Korps angehören, Sie sind ein denkender Mensch, manchmal vielleicht ein wenig zu nachdenklich. Aber unsere Aufgabe ist klar definiert: Es geht nicht darum, einzelne verdorbene Polizisten auszumerzen, das ist zweitrangig, sondern wir haben dafür zu sorgen, daß die unguten Tendenzen innerhalb des Polizeikorps keine offizielle Legitimation erhalten. Dann wären wir nämlich verdammt nahe am Polizeistaat. Und so sieht es überall in der Gesellschaft aus. Der Abgrund lauert in uns. Die Projektionen unseres Versagens. Die Stimme des Volkes, der Ruf nach einfachen Lösungen. Und die Haut, die diesen Gesellschaftskörper lose zusammenhält, ist die Ordnungsmacht. Ganz außen sind wir, der Gefahr am nächsten, an exponiertester Stelle. Wird die Haut an der richtigen Stelle angestochen, quellen die Eingeweide des Gesellschaftskörpers heraus. Begreifen Sie, was für eine Lawine Sie mit Ihrem Alleingang hätten auslösen können? Mir ist wirklich daran gelegen, daß Sie verstehen, was ich meine.«
Hjelm blickte Grundström tief in die Augen. Er war sich nicht sicher, was er dort sah. Ehrgeiz und Karrierestreben im Kampf mit Pflichttreue und Aufrichtigkeit vielleicht. Womöglich sogar echte Sorge angesichts der Stimmungen, die bei den Uniformierten zweifellos unter der Oberfläche brodelten. Grundström würde nie ein Kollege unter anderen werden, er würde immer eine spezielle Rolle einnehmen, außerhalb stehen. Er wollte das Über-Ich des Polizeikorps sein. Erst jetzt wurde Hjelm klar, was für eine Topkraft sie zu ihm geschickt hatten. Und weshalb, vielleicht auch das.
Er starrte konzentriert auf die Tischplatte und sagte leise: »Alles, was ich wollte, war, eine schwierige Situation so schnell und so einfach und so gut wie möglich zu lösen.«
»Es gibt keine isolierten Handlungen«, sagte Grundström und fing Hjelms Blick ein. In seinem Ton schwang beinahe etwas Persönliches mit. »Jede Handlung zieht grundsätzlich eine ganze Flut anderer Handlungen nach sich.«
»Ich wußte, daß ich ihn retten konnte. Das war alles, was ich wollte.«
Grundström blickte geradewegs in sein Inneres.
»War das wirklich so?« sagte er. »Befragen Sie Ihr Herz, Hjelm.« Sie saßen da und musterten einander. Die Zeit wurde aufgehoben. Irgend etwas geschah, ein Austausch fand statt.
Am Ende erhob Grundström sich mit einem Seufzer. Mårtensson folgte seinem Beispiel. Als Niklas Mårtensson seine Aktentasche packte, fiel Hjelm auf, wie jung er aussah. Obwohl sie im gleichen Alter waren.
Mårtensson sagte: »Dürften wir Sie um Ihre Legitimation und Ihre Dienstwaffe bitten? Sie sind bis auf weiteres vom Dienst suspendiert. Das Verhör wird morgen fortgesetzt. Nichts ist zu Ende, Hjelm.«
Hjelm legte seinen Polizeiausweis und seine Dienstwaffe auf den Tisch und verließ den Vernehmungsraum. Er zog die Tür nicht ganz hinter sich zu, »Lauschstellung« nannte man das, und legte sein Ohr an den schmalen Spalt.
Möglicherweise hörte er eine Stimme sagen: »Nun haben wir ihn.«
Möglicherweise war es vollkommen still.
Er stand im Stockdunkeln und pißte, lange. Fünf späte Abendbiere wollten in einem Schwung raus. Während Uringeruch aus der Kloschüssel aufstieg, wurden um ihn herum allmählich die Konturen des Badezimmers sichtbar. Eine halbe Minute zuvor war es noch so dunkel gewesen, daß die Dunkelheit gar nicht existierte, jetzt konnte er sie sehen. Als er die letzten Tropfen abschüttelte, war sie greifbar.
Beim Spülen dachte er, daß der einzige Urin, der nicht unangenehm roch, der eigene war.
Er sah sich im Spiegel, ein vages, helles Band um etwas Dunkles. Und in dem Dunkel, das doch er selbst war, sah er Grundström, der sagte: Befragen Sie Ihr Herz, Hjelm. Dann tauchte Mårtensson auf: Nichts ist zu Ende, Hjelm. Und Svante: Warte, Pålle, mach jetzt nichts Dummes. Und dann war da plötzlich Danne in dem hellen Rahmen, sein Sohn, und musterte ihn mit pubertätsentsetztem Blick. Frakulla, ruhig: Ich opfere mich für sie. Cilla war auch da, in der gesichtslosen Dunkelheit: Wie zum Teufel kann es angehen, daß du dich immer noch vor den weiblichen Körperfunktionen ekelst?
Befrage dein Herz, Hjelm.
Leer, so schrecklich leer.
Alles brach auseinander. Suspendiert, verabschiedet. Nicht einmal Arbeitslosengeld. Sozialhilfe. Wer wollte schon einen verbrauchten Polizisten?
Bahnhofscafé, Sozialhilfehaß, Kanakenjargon. Natürlich hatte er sich auch daran beteiligt, Sozialhilfeempfänger verachtet, diese elenden Schnorrer. Und jetzt war er selbst an dem Punkt. Der Boden war ihm unter den Füßen weggezogen worden. Er schwebte in einem beängstigenden Vakuum.
Wo waren die Polizeioberen? Alle hatten sie ihn im Stich gelassen. Er hätte sie allesamt umbringen können.
Grundström: Dann wären wir nämlich verdammt nahe am Polizeistaat.
Die Gegenstände im Badezimmer nahmen Form an und rückten an ihre ursprünglichen Plätze. Seine Augen hatten alles Licht aus der Nacht herausgezogen. Eigentlich hätte inzwischen auch sein Gesicht im Spiegel hervortreten müssen.
Tat es aber nicht. Es hüllte sich immer noch in Dunkel.
Eine Silhouette.
Befrage dein Herz, Hjelm.
5
Er sitzt reglos in der Dunkelheit, die nicht wirklich dunkel ist. Durch die Balkontür sickert das Licht der Straßenlaternen auf der Prachtstraße. Würde er den Kopf ein wenig zur Seite drehen, könnte er die beiden großen Museumsgebäude in ihrem aus dem Innern kommenden Licht ruhen sehen. Aber er dreht den Kopf nicht zur Seite. Es herrscht absolute Stille. Sein Blick ist unverwandt auf die angelehnte Flügeltür auf der anderen Seite des großen Wohnzimmers gerichtet, die in die Eingangshalle führt. Er hat sich ein Bild von seiner Umgebung gemacht. Kachelofen und Kamin im selben Raum. Neben dem Kamin ein mattschwarzer Großbildfernseher und ein Turm mit Video und Stereoanlage. Auf dem Boden drei handgewebte Kunstteppiche. Zwei Eßtische mit Stühlen und eine fünfteilige, ochsenblutrote Ledersitzgruppe. An den Wänden moderne schwedische Kunst, drei Peter Dahl, zwei Bengt Lindström, zwei Ola Billgren. Auf dem Kaminsims thront eine der großen Mosaikenten Ernst Billgrens. Insgesamt gibt es in den beiden Etagen der Wohnung sieben Kachelöfen. Im Gegensatz zu dem vorigen, protzigen Wohnzimmer hat dieses direkt Stil.
Er sitzt über eine Stunde lang in der gleichen Haltung da.
Dann hört er die Wohnungstür. Die vielen Schlüssel streiten mit dem Mann, der, wie er weiß, allein kommt. Der Mann flucht leise; ein leichter, kein extremer Rausch. Eher der Rausch eines Mannes, der exakt weiß, wo der Punkt des größten Genusses ist, und es schafft, sich einen ganzen Abend dort zu halten. So wie heute. Er hört ihn aus den Schuhen steigen und pedantisch die Pantoffeln überziehen; er bildet sich sogar ein zu hören, wie der Knoten des Schlipses gelöst wird, der anschließend in zwei Streifen über dem Seidenhemd hängt. Das Jackett wird aufgeknöpft.
Der Mann öffnet die angelehnte Hälfte der fast drei Meter hohen Flügeltür. Er betritt das Wohnzimmer, rutscht aus einem Pantoffel, flucht, bückt sich, schafft es, den Schuh wieder anzuziehen, richtet sich auf und entdeckt ihn durch den seligen Nebelschleier, versucht, ihn zu fixieren.
»Himmel, Arsch und Zwirn!« sagt der Mann aufgebracht lallend.
Famous Last Words.
Er hebt die Pistole, die auf seinem Schoß gelegen hat, und gibt zwei schnelle, lautlose Schüsse ab.
Der Mann steht still da, vollkommen still.
Dann setzt er sich auf den Boden und beugt sich nach vorn über die Knie.
So sitzt er zehn Sekunden, bevor er zur Seite kippt.
Er legt die Pistole auf den Glastisch und atmet tief ein.
Vor seinem inneren Auge erscheint eine Liste. Er vollführt eine mentale Verbeugung.
Danach geht er zur Stereoanlage und schaltet sie ein. Er läßt das Kassettenfach auf-, das Band hinein- und die Klappe wieder zugleiten. Die ersten Klavierklänge erkunden den Raum. Das Saxophon gesellt sich dazu und wandert Seite an Seite mit dem Klavier. Die gleiche Schrittfolge, derselbe Weg. Als das Saxophon sich losreißt und wild herumtanzt, während das Klavier im Hintergrund sanfte Akkorde ausbreitet, zieht die Pinzette die erste Kugel aus der Wand. Er läßt sie in die Tasche gleiten, hebt die Pinzette vor das zweite Loch und wartet. Ein paar kurze Trommelwirbel. Und dann der merkwürdig arabisch klingende Saxophon-Singsang, ein wenige Sekunden dauernder Ausflug in den Orient. Das Klavier verstummt. Saxophon, Baß, Schlagzeug. Er sieht vor sich, wie der Pianist sich wartend wiegt. Yeah, u-hu. Er selbst wartet auch. Mit erhobener Pinzette.
Das Saxophon erklimmt den Gipfel, immer schneller. Ay. Ist es wirklich der Saxophonist, der diese Zwischenrufe in seinen Aufstieg einbaut?
Applaus, Gemurmel im Publikum, im Übergang vom Saxophon- zum Klaviersolo. Genau an dieser Stelle zieht er mit einem kräftigen Ruck die zweite Kugel heraus. Genau an dieser Stelle. Putz krümelt von der Wand. Der plattgedrückte Klumpen gleitet in die Tasche zum ersten. Das Klavier löst das Saxophon ab. Anfangs noch mit scheinbar unsicheren Schritten. Dann reißt es sich aus den vorgegebenen Strukturen los. Die Ausflüge werden immer freier, immer schöner. Er kann die Schönheit hören. In sich. Nicht nur als … Erinnerungsbild.
Der Baß verstummt. Wandernde Klänge vom Klavier. Genau wie am Anfang. Er würde es gern richtig verstehen. Das Saxophon setzt ein.
Die letzte Wiederholung.
Dann der Applaus, Pfiffe.
Er verneigt sich.
Er könnte das Stück wieder und immer wieder hören.
6
Es war der erste April. Paul Hjelm saß im Vernehmungsraum und rieb die Hände gegeneinander, ununterbrochen. Die Uhr an der Wand zeigte 10.34 Uhr. Wieso kam niemand? Wollten sie ihn etwa schmoren lassen? Oder war das Ganze ein Aprilscherz?
Er wußte nicht mehr, was er antworten sollte, war völlig zugemauert. Vielleicht hatte Grundström ja recht. Vielleicht blieb ihnen wirklich keine Wahl, und sie mußten ein Exempel statuieren. Er kannte die unterschwelligen Stimmungen bei der Polizei schließlich, trug selbst dazu bei, ließ sich von ihnen beeinflussen.
Die Tür wurde langsam aufgeschoben. Schon sah er Grundströms bedauernde Miene vor sich und konnte sich nicht entscheiden, ob er sie für aufrichtig halten sollte oder nicht.
»Tut mir leid, Hjelm. Der Beschluß ist heute morgen gefaßt worden. Ihr Entlassungsgesuch sollte spätestens bis drei Uhr heute nachmittag auf Kommissar Bruuns Schreibtisch liegen. Da Sie aus freien Stücken gehen, können Sie weder mit einer Abfindung noch mit Arbeitslosengeld rechnen.« Statt dessen erschien ein ihm fremdes Gesicht in der Türöffnung.
Der Mann musterte ihn ein paar Sekunden lang. Er mochte Ende Fünfzig sein, elegant gekleidet, frisch rasiert, glatzköpfig. Die Nase allerdings war monumental. Er betrachtete Hjelm, forschend, vollkommen neutral, und streckte ihm schließlich die Hand entgegen.
»Ich bin Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. Ich nehme an, Sie haben jemand anderen erwartet.«
»Paul Hjelm«, antwortete Paul Hjelm benommen.
Natürlich. Der Chef kam persönlich. Eine Frage der Befugnisse, der Rangordnung. Es war schwierig, sich vorzustellen, daß Grundström noch jemand übergeordnet war. So sah er also aus, der mehr oder minder geheime Chef der Abteilung für interne Ermittlungen.
»Wo ist Grundström?« bekam Hjelm heraus. Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor.
»Ach«, sagte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. »Eine Erinnerung nur.«
Er zog die Nachrichtenteile der beiden Stockholmer Morgenzeitungen aus der Aktentasche und hielt sie hoch, in jeder Hand einen. Das zehn Jahre alte Foto schmückte beide Titelseiten. Dagens Nyheter brachte die Schlagzeile: »GEISELDRAMA IN HALLUNDA« und die Überschrift: »Polizist befreit drei Geiseln«. Svenska Dagbladet schrieb: »DER HELD VON NORSBORG« und in der Zeile darunter: »Kriminalinspektor Paul Hjelm, Retter in der Not«.
Das war der reine Hohn, inszeniert von einem zutiefst sadistischen Regisseur.
»Haben Sie die schon gesehen?« fragte Hultin.
»Nein.«
Das hätte kurz und prägnant klingen können, wirkte hier aber eher – kümmerlich.
Hultin faltete die Zeitungen zusammen und fuhr fort. »Diese Schlagzeilen wären besser ungeschrieben. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin froh, daß sie so ausfallen. Das bedeutet, daß es bei uns bisher noch keine undichte Stelle gibt. Es ist nur so, daß in der Stadt momentan etwas sehr viel Größeres läuft. «
Das Wort »Verwirrung« hätte den Zustand, in dem Paul Hjelm sich befand, nur annähernd beschrieben.
Jan-Olov Hultin klemmte eine Lesebrille mit halben Gläsern auf sein stattliches Riechorgan und blätterte in einem Dossier, auf dessen braunem Deckblatt deutlich lesbar Paul Hjelms Name prangte.
»Wie haben Sie es geschafft, so lange in diesem Distrikt zu sein, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen? Keine Anzeigen, keine Auszeichnungen, nichts. Ich habe selten ein derart unbeschriebenes Blatt in einem doch verhältnismäßig alten Dossier gesehen. Was ist da neulich in Sie gefahren?«
Hjelm saß da wie versteinert. Hultin musterte ihn neugierig. Wahrscheinlich erwartete er gar keine Antwort. Hjelm gab sie trotzdem.
»Ich hab all die Jahre geackert und meine Familie zusammengehalten. Das können nicht alle Polizisten von sich behaupten.«
Der Großnasige lachte laut, ein Lachen, das ebenso nach außen wie nach innen gerichtet war, und beschloß, die sprichwörtlichen Karten auf den sogenannten Tisch zu legen.
»Heute am frühen Morgen ist im Reichskriminalamt eine neue Sondereinheit gegründet worden, die vorerst noch unter dem albernen Namen A-Gruppe läuft. Sie soll so etwas wie eine Gegenversion zur Palme-Gruppe sein, wenn man so will. Keine riesigen, unüberschaubaren Einheiten, keine ständigen Chefwechsel, kein Zögern hinsichtlich übergreifender Strukturen, sondern eine ganz neue Art von Einheit, klein, mit Leuten von außerhalb besetzt, ein Versuch, die Arbeit der Reichskripo zu erweitern und gleichzeitig auf den Punkt zu bringen. Sie soll sich aus jungen, routinierten Topkräften aus dem ganzen Land zusammensetzen. Ich werde der Chef dieser Gruppe sein, und ich will Sie dabeihaben. Wenn die Medien von der Sache Wind kriegen, sind wir auf die Sympathie angewiesen, die Ihrem Fall entgegengebracht wird. Ganz davon abgesehen, bin ich schwer beeindruckt von dem, was Sie getan haben. Ich habe das Material der Internen an mich genommen und sie sozusagen von ihrer Aufgabe entbunden. Diese Sache hat höchste Priorität, und wenn die Reichspolizeibehörde sich einschaltet, müssen sogar die Internen zu Kreuze kriechen.«
»Vor ein paar Sekunden stand ich noch kurz vor meiner Entlassung …«
Ende der Leseprobe