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Eva Nymans 1. Fall: Verbrechen im Namen des Klimas Erst trifft es einen Konzernboss in der Stahlindustrie, dann einen Marketingmanager im Dienst der Autolobby: In Schweden töten selbst gebaute Bomben zwei Menschen, bevor der Attentäter Kontakt mit der Polizei aufnimmt – und mit mehr droht. Ein Klimaaktivist auf Abwegen, scheint es, der in seinen Briefen von Sünde, heiligem Zorn und Rache faselt. Nur Eva Nyman, Kriminalkommissarin und Chefin eines eingeschweißten kleinen Teams, ahnt, dass mehr hinter den skrupellosen Taten steckt. Was sie verschweigt: In den Briefen finden sich Hinweise auf ihren alten Vorgesetzten Lukas Frisell. Doch kann Frisell wirklich der »Terrorbomber« sein, von dem alle reden? Nyman muss handeln, um einen dritten, noch viel verheerenderen Anschlag zu verhindern ... Der spektakuläre Auftakt zur neuen Reihe: Psychologisch, vertrackt, hochexplosiv! »Arne Dahl konstruiert mit leichter Hand ausgefeilte, durchdachte Plots und sorgt für brillante Unterhaltung.« Dagens Nyheter »Ein moralischer Ritt auf der Rasierklinge.«.« NTV über »Null gleich eins«
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum ePUB
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( ( bei fremdsprachigem Autor : ) )
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
© Arne Dahl 2023
Published by agreement with Salomonsson Agency
Titel der schwedischen Originalausgabe : » I cirkelns mitt «, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2023
( ( immer ) )
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Titel der schwedischen Originalausgabe: »I cirkelns mitt«, Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2023
Covergestaltung : zero-media.net, München
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Cover & Impressum
PROLOG
1
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I
DIE ERSTE JAGD
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II
DAS VERHÖR
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III
DIE ZWEITE JAGD
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EPILOG
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Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Das da vorne muss eine Frau sein. Hundertpro«, denkt er wütend und tritt aufs Gaspedal. Vorbei an dem ersten Sitzpisser in seinem E-Auto, um ihn mit dem bösen Blick zu strafen. Den Mittelfinger hebt er sich für später auf.
Man muss wissen, wann es sich zu kämpfen lohnt.
Der Abteilungsleiter Alf Stiernström ist an diesem Frühlingsmorgen mit dem falschen Bein aufgestanden. Genau genommen ist es schon lange her, dass er mit dem richtigen Bein aufgestanden ist. Kein Wunder, die erste Mail, die er auf seinem Handy gelesen hat – den Kopf noch tief im Kissen versunken, die Augen vom Schlaf verquollen –, war von seinem Anwalt, einem notorischen Frühaufsteher.
Was er am meisten an seiner Position im Unternehmen hasst, auf die er sein ganzes Leben lang hingearbeitet und die er jetzt erreicht hat, war das frühe Aufstehen. Aber es lässt sich leider nicht vermeiden. Die Leitung eines der führenden schwedischen Stahlkonzerne muss schon früh am Morgen bereitstehen, und nicht nur das. Früh aufzustehen ist ein Zeichen von Überlegenheit. Lange bevor der Gegner aufwacht, ist man ihm schon weit voraus. Man muss vor dem Feind auf dem Schlachtfeld sein, hat schon der chinesische General und Philosoph Sun Tzu gesagt.
Stiernström versuchte, sich von dieser Führungsphilosophie tragen zu lassen, während er die Mail seines Anwaltes überflog. Als er aber begriff, dass es darin um weitere Forderungen seiner zukünftigen Ex-Frau ging, löste sich die ganze Philosophie in Luft auf. Er hat sich auf alle Zugeständnisse eingelassen, aber nie ist es genug. Die Alte will alles haben, was er jemals erwirtschaftet hat.
Das mit diesem Feminismus geht wirklich zu weit.
Da sieht er, hinter Uppsala, wie vor ihm ein E-Auto ein anderes überholt. Er drückt das Gaspedal durch, schickt eine Benzinwolke über die wogenden Rapsfelder und hängt sich an die Klimadeppen. Mit großem Vergnügen bemerkt er die zunehmende Unsicherheit des Überholmanövers, als der Fahrer die Motorhaube seines eleganten BMWs im Rückspiegel sieht. Die Karosse des künstlich motorisierten Elektronikprodukts wackelt hin und her, und der überbezahlte Computernerd, wahrscheinlich mit Migrationshintergrund, reißt panisch das Steuer nach rechts, um sich vor den minimal langsameren Kollegen zu setzen.
Als Stiernström das sogenannte Auto überholt, streckt er seinen Mittelfinger in die Luft. Ein bisschen zu spät, der Fahrer wird es nicht mehr sehen können.
Aber er hat sich für einen Kampf entschieden.
Erst als er erneut beschleunigt, bemerkt er, dass sein Wagen sich sonderbar verhält.
Von einer Anhöhe wird durch ein Fernglas das zweite Überholmanöver verfolgt. Vor allem aber, was mit dem Wagen auf der linken Spur passiert. Er fängt Feuer, der Fahrer verliert die Kontrolle und schert in der Kurve in die falsche Richtung aus, rast von der Autobahn und pflügt wie ein Feuerball durch das goldgelbe Rapsfeld.
Das Letzte, was von dem Fahrer zu sehen ist, ist sein ausgestreckter Mittelfinger, der wie eine Fackel brennt.
Das Fernglas senkt sich in der einen Hand, der Fernzünder in der anderen.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug.
Es hat begonnen.
Es ist ein wunderschöner Frühlingstag, mitten im tiefsten schwedischen Laubwald. Schwache Sonnenstrahlen suchen zögernd ihren Weg zwischen den hohen Baumstämmen. Der kleine Waldsee ist finster und spiegelglatt, als würde er ein dunkles Geheimnis verbergen. Die Luft vibriert, summt, zwitschert und birgt allerlei Gerüche, Gestank und Düfte. Ein Hauch von Wehmut weht durch den Wald, als er aus seinem Winterschlaf erwacht.
Weil er weiß, dass er zum Tode verurteilt ist.
Auf der einen Seite des Waldsees erstreckt sich eine kleine Lichtung, dichtes Unterholz markiert das hintere Ende. Etwas bewegt sich dort. Eine ungewöhnliche Bewegung. Aber auch als deutlich wird, dass dort ein Mensch hockt, kann man ihn kaum von der Umgebung unterscheiden. Das liegt nicht nur an der zerschlissenen Camouflagekleidung, die der Mann trägt, sondern auch an der Selbstverständlichkeit, mit der er sich im Wald bewegt. Er gehört hierher. Das ist seine Welt.
Er schneidet sich die letzten grauen Haarsträhnen ab, dann spült er sich das frisch rasierte Gesicht mit dem Wasser aus einem Holzgefäß, richtet sich auf und steckt das große Jagdmesser in seinen Hosenbund. Er ist um die fünfzig, sehnig, wettergegerbt, und als er aufschaut und Witterung aufnimmt, besteht kein Zweifel daran, dass sein ausgeprägter Geruchssinn alles Wesentliche wahrnehmen kann.
Er ist froh, dass er nicht schon wieder einen Bären wittert, sondern nur ein paar Rehe, die sich im Laufe der vergangenen vierundzwanzig Stunden auf die Falle zubewegt haben. Glücklicherweise hat er die Sprengladung bereits demontiert.
Denn er ist im Aufbruch begriffen. Er hat eine lebenswichtige Entscheidung getroffen. Ist seinen Überzeugungen gefolgt, bis zum Schluss. Die Zeit ist gekommen.
Es hat begonnen.
Jetzt muss er sich nur wieder an seinen Namen erinnern. In der Natur existieren keine Namen, nur Duftspuren, Geräuschmuster und Verhaltensweisen. Aber jetzt ist es Zeit, seinen Namen zurückzuerobern, und niemand wird ihn übersehen.
Er hebt das Fernglas und lässt seinen Blick über den kleinen Waldsee gleiten. Alles ist still. Auf dem Weg zum See, dessen Oberfläche wie Teer aussieht, kehrt sein Name zurück.
Lukas Frisell.
Daran kann er sich erinnern.
Hinter dem Namen verbirgt sich eine Vergangenheit, eine Lebensform, eine Geschichte, die anders hätte verlaufen sollen. Er klappt die Falle zusammen, die unten am Ufer des Waldsees angebracht war. Er entfernt die Halterung an den Baumstämmen und wischt die Reste des Sprengstoffs ab. Die Falle landet in seinem Jutebeutel. Dann lässt er den Blick über die schwarze, glatte Oberfläche des Waldsees gleiten.
Er muss zurück, zurück zu den Ruinen des Verfalls.
Die er vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte, um niemals wieder umzukehren.
Lukas Frisell wirft sich den Beutel über die Schulter und verabschiedet sich von der Welt, von der er so lange Teil sein durfte. Die Natur hatte ihn willkommen geheißen, ihn aufgenommen.
Seine Dankbarkeit ist grenzenlos.
Er geht schneller, um die Niedergeschlagenheit abzuschütteln. Doch das ist unmöglich. Es ist Zeit, zu den Ruinen zurückzukehren, um den nächsten, unabwendbaren Schritt in seinem Leben zu nehmen.
Die Natur begleitet ihn auf seinem Weg, als würde sie Abschied nehmen wollen und sich versichern, dass er weiß, was er tut. Der Reichtum der Erde überwältigt ihn von Neuem, und einen Moment lang glaubt er, die Natur wolle ihn von seinem Vorhaben abhalten. Als würde sie versuchen, sein drastisches, doch notwendiges Handeln zu verhindern.
Lukas Frisell hat sich nie einsam gefühlt. Obwohl er so viele Jahre in Abgeschiedenheit verbracht hat, fernab von anderen Menschen, hat er sich nie einsam gefühlt.
Es erfordert einen geübten Blick, um die vagen Umrisse neben dem kleinen Hügel zu sehen und zu erkennen, dass es sich nicht um eine natürliche Erhebung handelt. Aber tatsächlich ist dort etwas. Die Stelle, an der die Anhöhe in eine kleine Senke übergeht, sieht ungewöhnlich aus. Das ist sein Ziel.
Dort befindet sich sein Unterschlupf.
Während er sich den Abhang hinuntergleiten lässt, ergreift ihn eine große Wehmut. So viele Jahre lang ist das hier sein Zuhause gewesen, sein Versteck. Das Zentrum seines Daseins. Bis zu dem Tag, an dem er die einzig richtige Konsequenz angesichts des immer sichtbarer werdenden Verfalls seiner Umwelt ziehen musste.
Sein Weg führt ihn durch seinen versteckten Garten, in dem er Gemüse und Kräuter anbaut. Alles wächst, strebt der Sonne entgegen. Aber in diesem Jahr wird er die Ernte den Tieren überlassen.
Kurz bevor er den sorgfältig getarnten Unterschlupf erreicht, bleibt er instinktiv stehen. Etwas stimmt nicht. Er greift nach dem großen Jagdmesser, das an seinem Hosenbund hängt. Und dann sieht er es. An seinem Türpfosten ist etwas eingeritzt worden. Ganz frisch.
Ein Kreis, der von einem zweiten Kreis umgeben ist.
Erneut hebt er seinen Blick, sieht hoch in den Himmel und versucht, eine Witterung aufzunehmen. Doch das Einzige, was er riechen kann, ist ein so flüchtiger Geruch, dass er nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob er überhaupt real ist. Er erinnert ihn an Kastanien, aber in der Nähe wachsen keine Kastanien.
Ein Windstoß weht durch Lukas Frisells Waldstück und wirbelt die frischen Holzsplitter auf.
HERBST 2008
In dem schwachen Licht, das auf den Tisch des Vernehmungszimmers fällt, kann man zwei Personen sehen. Sie sitzen nebeneinander, die andere Seite des Tisches ist leer. Auch der Kontrollraum hinter dem Spiegel ist leer.
Kriminalkommissarin Eva Nyman ist die rechte Hand ihres Chefs, neben dem sie sitzt. Zaghaft streicht sie mit der Hand über ihr sehr elegantes Markenjackett und sieht dem besagten Chef in seine hellblauen Augen. Es ist unverkennbar, wie sehr er sich bemüht, seine Ungeduld zu zügeln.
Denn Geduld hatte noch nie zu den Stärken von Kriminalhauptkommissar Lukas Frisell gehört.
»Gibt es schon Neuigkeiten von Peter?«, fragt er.
Eva Nyman schüttelt den Kopf und zuckt mit den Schultern, was ihren lockigen, braunen Haarschopf in Wallungen bringt.
»Er hat eine neue Spur verfolgt und wollte sich melden.«
Frisell schnaubt. Er nickt, streicht sich das dünne, dunkelblonde Haar aus der Stirn und klopft mit dem Stift auf den Tisch. Wie immer geht es nur um diesen einen Fall. Den ganzen Herbst 2008 ging es um nichts anderes als um die Entführung von Liselott Lindman. Von ihr hat die Presse vor etwa einer Woche ein Foto zugespielt bekommen, auf dem Liselott gefesselt auf dem Boden neben einer aktuellen Tageszeitung liegt. Sie sieht ausgemergelt und apathisch aus. Das war nun sieben Tage her. Der Entführer hatte das einmonatige Jubiläum gefeiert, indem er den Medien ein aktuelles Foto seines Opfers schickte.
Das Schlimmste ist, dass sie wissen, wer der Täter ist. Sie sind davon überzeugt, dass der Mann, der verantwortlich ist für die Entführung, die vor über einem Monat auf offener Straße stattfand, Liselotts Ex-Freund Dick ist. Nur wissen sie nicht, wo er sich versteckt.
Mit ziemlicher Sicherheit weiß das aber Robban Svärd, Dicks bester Freund, der vor Kurzem wegen Steuerhinterziehung auf den Malediven festgenommen wurde. Doch er hält sie hin. Sie vernehmen ihn heute zum zweiten Mal, aber bisher hat er noch keine Angaben gemacht.
»Heute knacken wir ihn«, sagt Lukas Frisell und hört auf, mit dem Stift auf den Tisch zu klopfen. Stattdessen dreht er den Ehering an seinem Ringfinger. Eva Nyman entgeht das nicht, sie kontert und legt ihr neues Handy auf den Tisch.
Das sieht nicht aus wie die anderen, handelsüblichen Handys 2008. Es ist ein iPhone, das erste seiner Art, das gerade in Schweden herausgekommen ist.
Frisell verzieht das Gesicht, versteckt seine Hände unter der Tischplatte und konzentriert sich auf die Buchstaben, die neben dem Handy in den Tisch geritzt wurden. »F. R. E. I.« Vielleicht hat ein Verhafteter seine Hoffnung ausdrücken wollen, die er noch nicht aufgegeben hatte. Aber wie zum Henker war es ihm gelungen, einen so spitzen Gegenstand in den Vernehmungsraum zu schmuggeln?
Ist das schon Freiheit?
»Diese neue Technik ist nichts als Gehirnwäsche.«
»Das ist die Zukunft«, erwidert Nyman. »Ob wir das wollen oder nicht.«
Keiner von ihnen hat wirklich Lust, darüber zu streiten. Sie wollen mit dem Verhör beginnen und den neuesten Anhaltspunkten folgen, um endlich Liselott Lindman zu finden. Aber vorerst sind sie noch sich selbst überlassen.
»Du weißt doch genau, wie es zu der Entführung kam, oder nicht?«, fragt Frisell.
Eva Nyman nickt. Über Facebook. Liselott hatte durch ein Zeugenschutzprogramm eine neue Identität bekommen. Aber dann tauchte auf Facebook, das in Europa gerade in Mode kam, ein Foto von einer Gartenparty auf. Im Hintergrund war Liselott zu sehen. Zwei Tage später wurde sie direkt vor ihrer neuen, streng geheimen Haustür entführt.
Eva Nyman ist erleichtert, dass es nicht wieder in einer endlosen Diskussion endet. Viel zu oft gerieten sie in letzter Zeit in eine Sackgasse. Zwar ist Frisell für sie der Chef, keine Frage, und hat das Sagen. Aber es gibt auch andere Kollegen, die anders zu dem Thema stehen. Peter zum Beispiel.
»Eine neue Spur also?«, sagt Frisell, als hätte er ihre Gedanken gelesen, was ihm ein bisschen zu oft gelingt. »Peter wollte sich melden?«
Nyman zuckt nur mit den Schultern, weil sie weiß, dass da noch etwas kommt.
»Wir können die Polizeiarbeit nicht einer Technologie überlassen, die weder getestet ist noch Rücksicht auf die Privatsphäre nimmt. Außerdem ist die Triangulation eine verdammt unsichere Methode, die unsere Handys zu zweifelhaften Petzen macht. Wir verraten damit die klassische Ermittlungsarbeit und entfremden uns von der Natur. Wir leben in den Ruinen des Verfalls und entfernen uns immer weiter von unserem Ursprung. Man löst Fälle mithilfe der Spurensicherung und von Vernehmungen, nicht mit Computern und … so was da …«
Frisell zeigt auf Nymans nagelneues Handy und verzieht verächtlich das Gesicht.
»Warte nur, bis die da ihre ganze Kraft entwickelt haben«, sagt er und verstummt dann, als draußen im Flur Schritte zu hören sind.
Sofort wächst die Anspannung. Der Wachmann bringt Robban Svärd, der sie mit dem bereits bekannten sarkastischen Grinsen begrüßt. Sein Anwalt betritt nach ihm den Raum, Svärd lässt sich auf den freien Stuhl fallen.
Plötzlich zerreißt ein ohrenbetäubendes, schrilles Geräusch die Stille. Sekundenlang herrscht Verwirrung. Es dauert, bis Lukas Frisell begreift, dass er noch nie ein iPhone hat klingeln hören. Vor allem müssen eigentlich alle Telefone im Verhörraum ausgeschaltet sein.
Eva Nyman geht ran.
»Eva hier. Mensch, Peter, du sollst mich doch nicht anrufen … Was? Okay, warte.«
Frisell reagiert sofort. Er bugsiert den Verdächtigen, seinen Anwalt sowie den Wachmann unsanft nach draußen und schlägt die Tür hinter ihnen zu. Nyman schaltet den Lautsprecher an und legt das Handy auf den Tisch. Peters Stimme hallt durch den Raum. Sie klingt fremd und abgehackt.
»Noch mal von vorne«, fordert ihn Frisell auf.
Man hört, wie Peter mehrmals tief Luft holt, um sich zu beruhigen.
»Die Triangulation hat funktioniert. Wir haben endlich einen Treffer«, sagt er.
Frisell sieht Nyman mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Die schüttelt den Kopf. Sie hatte zwar vermutet, dass Peter und sein Team hinter Frisells Rücken heimlich eine Triangulation machen würden, aber ganz sicher war sie nicht gewesen.
»Und der hat uns zu einem Haus in der Einöde außerhalb von Järna geführt«, fährt Peter fort. »Wir sind rein, aber da war niemand, zumindest nicht mit einem Handy. Es gab jedoch einen Keller, und der Boden des Kellers ist aus Lehm …«
Lukas Frisell gibt einen unartikulierten Laut von sich. Er weiß, wie der Satz enden wird. Und das tut Eva Nyman auch.
»Sie ist so winzig«, sagt Peter leise. »Wie ein Vogeljunges. Ein gefesseltes, kleines Vogeljunges.«
Es herrscht vollkommene Stille. Todesstille. Sowohl im Vernehmungszimmer in der Polizeidienststelle in Stockholm als auch im Keller außerhalb von Järna.
»Sie ist noch warm, Frisell«, durchbricht Peter mit jetzt fester und wütender Stimme die Stille. »Hätten wir mit der Triangulation nur ein bisschen früher begonnen, dann …«
Eva Nyman springt auf und beendet das Telefonat.
Aber es ist zu spät. Frisell hat es gehört.
»Wenn wir mit der Triangulation nur ein bisschen früher begonnen hätten«, sagt er kaum hörbar, »dann wäre Liselott Lindman noch am Leben.«
Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Er starrt auf die eingeritzten Buchstaben vor sich auf dem Tisch.
Frei.
Nyman legt zaghaft einen Arm um ihn, aber Frisell schiebt ihre Hand ohne den Hauch von Aggressivität weg. Da gibt das Handy einen Laut von sich, und auf dem Display erscheint ein Foto. Eva klickt es weg.
Es zeigt die Tote. Liselott Lindman sieht wirklich aus wie ein Vogeljunges.
Mit geschlossenen Augen sitzt Frisell am Tisch.
»Ich habe hier nichts mehr verloren«, flüstert er.
Jedes Mal, wenn er von der Odengatan in die Dalagatan einbiegt, sieht er hoch zu dem Stock, in dem Astrid Lindgren gewohnt hat. Die Tatsache, dass sie dort oben gesessen und ihre vielen Kinderbücher geschrieben hat, verleiht dem ganzen Viertel eine kreative Aura. Und ab und zu empfindet Jesper Sahlgren seinen Schreibtisch, von dem man einen Blick über den Vasapark hat, als neues kreatives Zentrum des Viertels. Heute ist so ein Tag. Die Frühlingskampagne der Werbeagentur hat bereits erste Wellen geschlagen.
Ebendiese Kampagne hat Jesper Sahlgren an diesem Sonntagmorgen im Mai zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett gejagt. Er hat seine Familie in der Vorstadtvilla in Täby weiterschlummern lassen und ist mit seinem Tesla nach Stockholm gefahren. Die Stadt ist menschenleer. Auch noch um diese Uhrzeit, es ist 6:23 Uhr. Was ihm die Möglichkeit gibt, auf der falschen Straßenseite zu parken. Mit dem iPad Pro unterm Arm betritt er das Gebäude und läuft die Stockwerke hoch bis zu der imposanten Tür, auf der in hippen, kantigen Buchstaben »Luspank AB« steht. In einer kleineren Schrift steht darunter: »Vielleicht doch nicht deine Agentur«. Er kann sich noch genau daran erinnern, wie er den Slogan dem Vorstand gepitcht hat. Die Sekunden, die verstrichen, ehe die Erkenntnis ihre abweisenden, reservierten Mienen aufhellte.
Sahlgren tippt den Türcode ein, starrt in den Irisscanner und hofft, dass er sich auf die SMS von gestern Abend verlassen kann. Und dass das Mädchen-für-alles, dessen Name ihm gerade nicht einfällt, sich tatsächlich von ihrem Zuhause in Vallentuna oder Märsta oder so aufgemacht hat, um das Paket mit den Probedrucken entgegenzunehmen.
Als die Panzertür endlich aufgeht, kann er kaum noch an sich halten. Während er mit schnellen Schritten durch das Großraumbüro geht, das er in der Pandemie schmerzhaft vermisst hatte, öffnet er auf dem iPad die Fotoserie mit geradezu kongenialen Aufnahmen der Vorsitzenden aller bürgerlichen Parteien an Zapfsäulen.
Er platzt förmlich vor Neugierde, diese Kampagne endlich gedruckt zu sehen.
Ohne seinen Blick abzuwenden, passiert er die Fenster, die zum Vasapark hinausgehen. Abgesehen vielleicht von einer unbedeutenden Bewegung, ein Schatten hinter einem der Bäume, wirkt auch die Welt dort draußen menschenleer.
Jesper Sahlgren hat seinen Arbeitsplatz erreicht, ein erleichtertes Seufzen hallt durch den Raum. Auf seinem Schreibtisch steht ein zylinderförmiges Paket.
Er zieht den Moment künstlich in die Länge. Sein Blick fällt auf seine massive Armbanduhr. Sie zeigt 06:28.
Ein ganzes Jahr lang hat er gewartet, bis er endlich eine echte Omega Speedmaster Moonwatch Titanium bekam. Wahrscheinlich die schlag- und stoßfesteste Uhr der Welt. Diese Titanvariante trug Neil Armstrong damals am Handgelenk, als er auf dem Mond landete.
Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die Menschheit, geht Jesper Sahlgren durch den Kopf. Dann öffnet er das Paket.
Als das Fernglas die Bewegungen im Gebäude einfängt, geht der Schatten hinter einem der Bäume in Deckung.
Dann wird das Fernglas gesenkt.
Das Universum hört einen tiefen Atemzug, dem eine dumpfe Detonation folgt. Das Geräusch von berstendem Glas zerreißt die morgendliche Stille. Etwas fliegt, wie ein Astronaut, durch die Luft und landet mit großer Wucht auf dem Rasen des Vasaparks.
Im Rasen des Vasaparks.
Der Schatten löst sich aus dem Schutz des Baumes und wendet sich ab von dem unförmigen Gegenstand, der aussieht wie ein qualmender, deformierter und verkohlter Fleischhaufen.
Das Einzige, was an einen Menschen denken lässt, ist eine Armbanduhr, die unbeirrt weiterläuft. Es ist 6:29 Uhr.
Am Fuß des Baumstammes liegen frische Holzsplitter.
Auf dem Weg zu dem dicken Stapel Post auf ihrem Schreibtisch wirft Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman einen kurzen Blick in den klassizistischen Spiegel. Er ist das i-Tüpfelchen ihres Versuchs, das trostlose Büro aufzupeppen. Aber es bleibt nicht bei dem kurzen Blick.
Eva Nyman hält sich in Sachen Privatleben gern bedeckt. So macht sie es seit fünfzehn Jahren, als alles den Bach runterging. Sie weiß, dass die meisten Kolleginnen aus ihr nicht schlau werden und nicht einschätzen können, auf welcher Seite der fünfzig sie sich befindet. Deshalb hat sie nicht einmal ihrer besten Freundin erzählt, warum ihre Haare über Nacht grau wurden.
Dabei kennt sie den Grund genau. Es war falsch, dass sie den Kontakt abgebrochen haben. Das Universum war anderer Meinung. Sie hätten sich nicht trennen sollen. Sogar die Natur protestierte dagegen.
Sie weiß es ganz genau, und trotzdem bleibt sie vorm Spiegel stehen.
Sind ihre Haare wirklich schon zur Hälfte grau?
Mit dem Finger fährt sie über ihre Falten, die ihrem Gesicht zu allem Überfluss einen mürrischen Ausdruck verleihen. Auf Höhe der Schläfen teilt sie die Haare und dreht den Kopf zu allen Seiten, um besser sehen zu können.
Und in der Tat, es gibt braune und graue Stellen.
Sie lacht und wendet sich ihrem antiken Schreibtisch zu. Bevor sie sich setzt, streicht sie ihre elegante, farblich passende Kleidung glatt, greift nach der Lesebrille und seufzt vernehmlich auf. Dann erst zieht sie den Stapel zu sich. Es wundert sie immer wieder, dass sie nach wie vor so viel Post erhält. Leben wir nicht im digitalen Zeitalter?
Einer der Umschläge scheint ihre Fragen unterstreichen zu wollen.
»Wie ein Gruß aus einer anderen Zeit«, flüstert sie, als sie den Adressaufkleber mit der Schreibmaschinenschrift sieht: »Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman, NOA, Polizeipräsidium, Stockholm«.
Mit einem Brieföffner schlitzt sie den Umschlag auf und holt ein dicht beschriebenes Blatt Papier heraus. Sie seufzt erneut und überfliegt den maschinengeschriebenen Text.
Bei der Polizei treffen täglich viel zu viele Briefe von Querulanten und Fanatikern ein. Offenbar hätte eine Mail nicht denselben Effekt für den Absender. Wahrscheinlich hat das mit dem physischen Akt zu tun, dem Bedürfnis, etwas mit den eigenen Händen zu vollbringen.
Ihr Blick bleibt an mehreren Formulierungen hängen. Es wird Zeit, dass sich der heilige Zorn über das verdorbene Land ergießt, auf dem einst Menschen lebten. … Die sanfteste der Explosionen hat den Stahlmann schon über das gelbe Meer verteilt. … Wir müssen die Schuldigen auf der anderen Seite der Ruinen des Verfalls ausfindig machen. Ein ungewöhnlicher, fast poetischer Stil – aber es ändert nichts daran, dass der Brief in ihrem Papierkorb landet.
Eva Nyman hat wichtigere Dinge zu erledigen.
Obwohl das nicht wirklich der Wahrheit entspricht. Sie und ihr Team befinden sich gewissermaßen »zwischen zwei Aufträgen«. Zwar gibt es noch ein paar lose Enden, die sie verfolgen mussten, aber es wird nicht mehr lange dauern, und die Mitglieder ihres ohnehin kleinen Teams werden von anderen Abteilungen der Nationalen Operativen Abteilung, kurz NOA genannt, angefordert und dorthin abgezogen werden.
Der Dienstag wird überschattet von den sonntäglichen Schlagzeilen. Die Explosion und die verbrannten Leichenteile, die bis in den Vasapark geflogen sind. Eva Nyman hat die Fotos gesehen. Der Fall gehört den Kollegen von der Kripo Stockholm. Ein großer Fall, beneidenswert groß. Der sogar schon die Landesgrenzen überschritten hat.
Aus welchem Grund würde jemand eine Werbeagentur in die Luft jagen wollen? An einem Sonntagmorgen?
Sie schüttelt den Kopf und überfliegt die Meldungen der Verbrechen des letzten Monats. Irgendetwas arbeitet in ihr. Sie kann es nicht richtig greifen, es ist eher das Gefühl, dass sie irgendetwas übersehen hat.
Da stößt sie auf den Folgebericht zu einem Unfall, der vor ein paar Tagen angefertigt wurde und den Hergang vollkommen neu beschreibt. Aus einem zunächst angenommenen Leck im Benzintank wurde nach genauerer Untersuchung durch das Nationale Zentrum für Forensik ein Sprengsatz.
Eva Nyman hat schon weitergeblättert, als sie plötzlich innehält. Ein Detail macht sie stutzig.
Ein Rapsfeld.
Sofort schrillen die Alarmglocken.
Es dauert einen Augenblick. Rapsfeld. Das gelbe Meer. Der Stahlmann.
Wer war das Opfer bei der Explosion auf der Autobahn? Der Abteilungsleiter des Stahlkonzerns SSAB, der auf der Autobahn hinter Uppsala ein waghalsiges Manöver fuhr, dessen Wagen explodierte, in ein Rapsfeld raste und ausbrannte.
Ja, und? Die Querulanten ließen ihre Frustrationsfantasien nicht selten an aktuellen Verbrechen aus. Warum sollte es hier anders sein?
Eva Nyman denkt nach.
Dann beugt sie sich nach unten und holt den Brief aus dem Papierkorb. Obwohl sie auf dem Umschlag und Briefpapier bereits ihre Fingerabdrücke hinterlassen hat, legt sie ihn nun mit spitzen Fingern zurück auf ihren Schreibtisch.
Der Brief ist bis an den Rand des DIN-A4-Blattes beschrieben. Die Nachricht eindringlich, sie wird mehrmals wiederholt, bis das Blatt ganz vollgeschrieben ist. Die Rückseite ist leer.
… Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens. Es wird Zeit, dass sich der heilige Zorn über das verdorbene Land ergießt, auf dem einst Menschen lebten. Die Sonnenstrahlen werden schon bald nicht mehr durch die Ruinen des Verfalls dringen und ihren Weg zu den Seelenlosen finden. Es hat begonnen. Die Uhr tickt nicht mehr von allein, sie muss mit Gewalt vorgestellt werden. Die Bremsklötze müssen beseitigt werden, damit wir überleben können. Die sanfteste der Explosionen hat den Stahlmann schon über das gelbe Meer verteilt. Während diese Zeilen geschrieben werden, stürzt der größte Lügner in sein grünes Grab. Und schon bald wird sich der Höllensaal mit Schrecken füllen. Das ist erst der Anfang. Die Genesung hat gerade begonnen, wir müssen die Schuldigen auf der anderen Seite der Ruinen des Verfalls ausfindig machen. Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens …
Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman schiebt sich die Lesebrille in die braungrauen Haare und starrt auf den Brief.
Er ist doch konkreter, als sie beim Überfliegen gedacht hat. Eine bedrohliche, apokalyptische Aufbauschung der üblichen Klimaargumente. Unsere Zeit ist abgelaufen, die Uhr tickt, aber nicht mehr von allein, die Bremsklötze müssen beseitigt werden … Aber danach folgt eine Art kryptische Aufzählung der kürzlich begangenen Attentate? Eine Bombe hat den Stahlmann über das Rapsfeld verteilt. Auch die Überreste des größten Lügners – der Werber – wurden von einer Bombe in das grüne Grab im Vasapark geschleudert. Und das Gleiche wird wahrscheinlich auch für den Höllensaal gelten.
In naher Zukunft.
Was sie aber noch stutziger macht, ist die Zeitangabe: Während diese Zeilen geschrieben werden.
Eva Nyman legt den Brief beiseite, mustert den Umschlag und den aufgedruckten Strichcode. Dann greift sie zum Hörer und ruft bei Postnord an.
Während sie wartet, gehen ihr zwei Fragen durch den Kopf.
Warum ist dieser Brief ausgerechnet an sie adressiert worden?
Die zweite Frage hängt mit einer ganz bestimmten Formulierung zusammen. Und in gewisser Weise hängen die beiden Fragen auch miteinander zusammen.
Die Ruinen des Verfalls.
Der Chef der Nationalen Operativen Abteilung sitzt in seinem nicht besonders stattlichen Büro und hebt mit grimmiger Miene den Kopf. In der Hand hält er den Brief, der in einer Plastikhülle steckt, und wedelt damit herum.
»Dieser Text ist ja vollkommen crazy!«
Kriminalhauptkommissarin Eva Nyman sitzt ihm gegenüber und versucht unauffällig, ihre Lesebrille aus den Haaren zu befreien. Ihre Antwort ist eine Frage.
»Wurden die beiden Explosionen bereits miteinander in Verbindung gebracht?«
Der Chef der NOA schneidet eine Grimasse und schüttelt langsam den Kopf.
»Nein«, gesteht er ein. »Aber jeder Depp kann so eine Verbindung herstellen, schließlich sind die beiden Verbrechen in den Medien breitgetreten worden. Und vor allem war eines davon spektakulär.«
Nyman ist gezwungen, ihre Haarangelegenheit pausieren zu lassen.
»Der Code«, sagt sie und bemüht sich zu verbergen, dass ihre Brille in ihren Haaren mittlerweile nicht mehr sitzt, sondern hängt.
Ihr Chef starrt sie fragend an.
»In der anderen Plastikhülle, Peter«, sagt sie.
Er hebt die Hülle mit dem Umschlag hoch.
»Der hat einen Strichcode«, erklärt Nyman. »Die moderne Version eines Poststempels. Heute ist Dienstag. Der Code verrät, dass der Umschlag am Freitag aufgegeben wurde.«
Ihr Chef nickt und seufzt.
»Und der Werber wurde erst am Sonntagmorgen in die Luft gejagt.«
Schweigend mustern sie sich, mit gegenseitigem Respekt und ebensolcher Skepsis.
»Der Absender«, fährt Eva Nyman fort, »übernimmt nicht nur die Verantwortung für zwei Bombenanschläge mit zwei Toten – wovon der eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden hat –, er kündigt einen dritten Anschlag an. Der Höllensaal, der sich mit Schrecken füllen wird.«
»Ich bin noch nicht ganz überzeugt.«
»Der Stahlkonzern SSAB ist wohl der schlimmste Klimasünder in ganz Schweden, je nachdem, welche Zahlen man nimmt. Und die Werbeagentur Luspank AG hat gerade eine landesweite Kampagne für die Ölindustrie fertiggestellt, in der Vorsitzende aller Parteien grinsend neben Zapfsäulen stehen. Im schlimmsten Fall haben wir es hier mit einem gesellschaftskritischen Wilden vom Typ Unabomber zu tun. Oder aber einer extremistischen Klimaorganisation oder -gruppe.«
Sie wird auf keinen Fall betteln. Argumente anbringen, das kann sie, sie wird bis zum bitteren Ende Argumente anführen. Aber auf keinen Fall wird sie Peter anbetteln.
Alles, außer betteln.
Ihr Chef runzelt die Stirn und klopft mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch.
»Was ich mich vor allem frage, Eva, ist, warum dieser Brief an dich adressiert wurde? Gibt es da einen Zusammenhang? Eine persönliche Verbindung?«
Eva Nyman hat diese Frage erwartet. Doch sie will die Antwort noch herauszögern, bis ihr der Fall übertragen wurde. Nur, was soll sie sagen, ohne zu lügen? Ohne etwas preiszugeben, was ihr später auf die Füße fallen könnte?
»Ich habe mich das auch gefragt, kann den Finger aber nicht draufhalten.«
Ihr Chef nickt und verzieht das Gesicht. Dann wird es wieder ganz glatt.
»Ich sehe keinen Anlass, die Fälle den jeweiligen Polizeidirektionen zu entziehen, und werde sie jetzt noch nicht zusammenbringen«, sagt er.
Eva Nyman hat eine ganze Batterie an Argumenten auf Lager. Aber sie wartet ab, ihr Chef scheint noch nicht fertig zu sein.
»Allerdings«, fährt er tatsächlich fort, »allerdings könnte es sich lohnen, diese potenzielle Terrorspur zu verfolgen.«
Nyman bewegt sich keinen Millimeter.
»Dein Team ist im Moment ziemlich inaktiv und droht, in alle Richtungen auseinanderzufallen. Trommel sie wieder zusammen, und verfolg mit ihnen diese Aktivistenspur. Das bedeutet, dass ihr auch eine offizielle Bezeichnung bekommt. Die teile ich dir nach unserer Vormittagskonferenz mit. Aber es darf kein Wort über Terror und Aktivismus an die Öffentlichkeit gelangen. Wir dürfen das Wort Klimaterror nicht einmal denken, bevor wir nicht stichfeste Beweise haben. Verstanden?«
Nyman nickt. Ihr Chef sieht ihr lange in die nussbraunen Augen.
»Aber, Eva … Ich bin mir nicht sicher, ob du schon bereit bist für so einen Posten. Nach allem, was passiert ist.«
Nyman schließt die Augen, unerwartet durchströmt sie eine starke Freude.
»Ich bin absolut sicher, dass ich bereit bin«, sagt sie mit fester Stimme.
Sie öffnet ihre Augen und blickt direkt in die des NOA-Chefs. Als wollte er die Wahrheit irgendwo in der Tiefe finden. Dann folgt ein kurzes Nicken.
»Gut! Dann setzen wir jetzt dein Team auf diese Sache an, Eva. Bitte diskret. Und bitte versuch, die laufenden Ermittlungen nicht zu stören.«
Nyman bemüht sich, keine Miene zu verziehen.
»Aber vorher musst du noch das Problem mit deiner Brille lösen.«
Sie verbirgt ihr Lachen hinter einem Räuspern. Dann steht sie auf und geht zur Tür. Zögernd bleibt sie stehen, die Türklinke in der Hand. Es gibt einen Ausdruck in dem Brief, den sie am liebsten ansprechen würde.
Die Ruinen des Verfalls.
Aber sie widersteht diesem Impuls. Es wäre dämlich, sich damit ausgerechnet jetzt schon Steine in den Weg zu legen.
Sie muss einen Weg finden, diese Rätsel zu lösen.
Und zwar hinter verschlossener Tür, denkt sie und zieht sie hinter sich zu.
Eva Nyman steht am Pult im Konferenzraum, der aus unbekannten Gründen Wartesaal genannt wird. Sie wartet auf ihr winziges Team, das zu diesem Zeitpunkt allerdings noch aus null Personen besteht.
Das Naheliegendste wäre, dass es ein Saal ist, in dem man auf etwas wartet. Auf seine Mitarbeiter natürlich, aber auch auf die Rente, den Tod – oder auf eine Karriere, die zum Stillstand gekommen ist.
Rein sprachlich könnte es aber auch der Saal selbst sein, der wartet. Der wartende Saal. Ein Saal, der trotz seines miserablen Zustands dazu verdammt ist, bis in alle Ewigkeit zu warten.
Eva Nymans spiritueller Gedankenfluss wird von der Ankunft des ersten Teammitgliedes unterbrochen. Annika Stolt, die alle nur Ankan nennen, betritt den Raum und sieht sich überrascht um. Normalerweise ist sie nie die Erste. Die eindrucksvolle Blondine, die Eva Nymans Ansicht nach immer eine Uniform tragen sollte, hat sich nach den einschneidenden Erlebnissen im vergangenen Jahr erstaunlich gut erholt. Sie weiß nicht genau, was Ankan gemacht hat, aber seit etwa einem Monat hat sie dieses gewisse Leuchten.
Leuchten? Wie kam sie denn darauf? Eva Nyman muss schmunzeln. Vielleicht hat auch sie dieses gewisse Leuchten, denn als Shabir Sarwani den Wartesaal betritt, bleibt sein Blick länger als üblich an seiner Chefin hängen. Unter Umständen hat ihr Meister der Beobachtung aber auch registriert, dass mit ihrer Frisur etwas nicht stimmt. Sie war am Ende nämlich gezwungen, die Lesebrille mit Gewalt aus ihren Haaren zu befreien und ein paar Strähnen abzuschneiden.
Als Nächstes kommt Anton Lindberg und mit ihm die Gewitterwolke, die ihn ständig umgibt. Der gut gebaute Familienvater setzt sich und versucht wie immer, sein langes, widerspenstiges hellbraunes Haar nach hinten zu streichen.
Während Eva Nyman auf das letzte Mitglied ihres Teams wartet, schweift sie ab und landet erneut bei der Formulierung Die Ruinen des Verfalls. Es ist bestimmt nur ein Zufall. Ansonsten gibt es keinerlei Hinweise. Wahrscheinlich ist sie gerade dabei, sich in etwas zu verbeißen. Und das könnte die eigentliche Ermittlung gefährden.
Als eine kurz geschorene, durchtrainierte Frau in ziemlich weiter Kleidung endlich den Wartesaal betritt, hat Eva Nyman noch keine endgültige Entscheidung getroffen, wie sie sich verhalten will.
Sonja Ryd nickt ihr kurz zu und lässt sich zwischen Ankan und Sarwani auf einen Stuhl fallen. Glücklicherweise scheint sie heute in guter Form zu sein, was Nyman wieder einmal über diese außergewöhnliche Kombination aus diszipliniertem Training und … ja, und eben dem anderen staunen lässt. Und darüber, wie Sonja Ryd es geschafft hat, ihre Vergangenheit in der Abteilung für Sexualdelikte mit den schrecklichsten Fällen, die man sich vorstellen kann, hinter sich zu lassen.
Eva Nyman ist gespannt auf die Reaktion ihres Teams, wenn sie die Neuigkeiten erfahren.
»Es ist schon eine Weile her, dass wir uns hier versammelt haben«, sagt sie, umrundet das Pult und springt vom Podest. »Da hatten wir einen Fall zu lösen, als Team. Und genau an so einem Punkt stehen wir jetzt wieder. Ein ziemlich hochkarätiger Fall, der lange und laut in den Medien nachhallen wird.«
Alle Blicke auf sie gerichtet. Sie hat ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Volle Konzentration. Erwartungsvoll. Sehr gut.
»Sind wir schon dran?«, fragt Sonja Ryd.
»Wir folgen einer Spur, die zwei Fälle miteinander verbindet, aus denen drei Fälle werden könnten«, sagt Nyman und hält sich damit an ihr Skript. »Und wenn es drei werden, haben wir einen.«
»Das klingt wie ein ziemlich konstruiertes Rätsel«, sagt Ryd.
»Wir sollen ermitteln, ob wir es hier in Stockholm mit einem hochaktiven Bombenleger zu tun haben, vielleicht sogar mit einer Terrorgruppe, die sich den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben hat«, ergänzt Nyman.
»Geht es um den Vasapark?«, fragt Anton Lindberg. »Gehört der Fall nicht den Kollegen von der Kripo?«
»Der Fall gehört ihnen«, nickt Nyman. »Aber nicht der Aspekt einer potenziellen Terrorbedrohung. Den sollen wir auch nicht an die große Glocke hängen. Unsere Aufgabe ist es, einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Bombenanschlag vom Vasapark und einem anderen Fall zu ermitteln, der weitaus weniger Aufmerksamkeit bekommen hat und als Verkehrsunfall behandelt wurde. Eine Woche bevor der siebenunddreißigjährige Jesper Sahlgren von einer Bombe in die Luft gesprengt wurde und durchs Fenster in der Dalagatan flog, verunglückte ein BMW auf der E4, nahe der Abfahrt Knivsta hinter Uppsala, und explodierte. Im Wagen saß der sechzigjährige Alf Stiernström, Abteilungsleiter des Stahlkonzerns SSAB. Außerdem sollen wir herausfinden, ob wir es mit einer ernst zu nehmenden dritten Morddrohung zu tun haben. Dafür hat unser Team einen offiziellen Namen erhalten.«
»Einen Namen?«, ruft Ankan.
»Wir heißen ab sofort NOVA.«
»Wie bitte?«, schnaubt Anton Lindberg. »Soll das ein Witz sein? Unser dämliches IT-Supportsystem heißt NOVA.«
»Ich weiß«, nickt Nyman. »Wir haben die Ehre, denselben Namen zu tragen wie unser EDV-System. Das weitaus Wichtigere ist aber, dass wir als offizielles Team etabliert werden. So ist es viel schwieriger, uns aufzulösen.«
»NOVA in der NOA«, sagt Sarwani und schnaubt verächtlich.
»Du hast vorhin was von Klimaschutz gesagt?«, fragt Sonja Ryd nach einer kurzen Pause. »Bedeutet das, es gibt eine Art Manifest?«
Nyman mustert ihre Kollegin. Mit einem Mal weiß sie, dass sie jemanden wie Ryd braucht. Ryd in Topform.
»Ich weiß nicht, ob man es ein Manifest nennen kann«, sagt Nyman und drückt eine Taste auf ihrem Laptop. An der Wand hinter ihr erscheint der Brief in Großformat.
… Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens. Es wird Zeit, dass sich der heilige Zorn über das verdorbene Land ergießt, auf dem einst Menschen lebten. Die Sonnenstrahlen werden schon bald nicht mehr durch die Ruinen des Verfalls dringen und ihren Weg zu den Seelenlosen finden. Es hat begonnen. Die Uhr tickt nicht mehr von allein, sie muss mit Gewalt vorgestellt werden. Die Bremsklötze müssen beseitigt werden, damit wir überleben können. Die sanfteste der Explosionen hat den Stahlmann schon über das gelbe Meer verteilt. Während diese Zeilen geschrieben werden, stürzt der größte Lügner in sein grünes Grab. Und schon bald wird sich der Höllensaal mit Schrecken füllen. Das ist erst der Anfang. Die Genesung hat gerade begonnen, wir müssen die Schuldigen auf der anderen Seite der Ruinen des Verfalls ausfindig machen. Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens …
Nachdem Eva Nymans Stimme verstummt ist, legt sich ein drückendes Schweigen über alle Anwesenden. Niemand scheint zu wissen, womit man in die Diskussion einsteigen soll. Also steigt Nyman gleich mit einem Knaller ein.
»Der Brief wurde an mich persönlich, in der Dienststelle NOA, adressiert.«
»Und hast du eine Idee, weshalb?«, fragt Shabir Sarwani.
»Nicht wirklich, nein. Also, was sagt ihr zu dem Text?«
»Literarisch«, erwidert Sonja Ryd. »Ein gebildeter Mensch.«
»Großer Wortschatz, aber vollkommen durchgeknallt«, kontert Anton Lindberg.
»Das klingt nach großer Überzeugung«, meldet sich Ankan zu Wort.
»Die Opfer waren also beides Klimasünder«, stellt Sarwani fest. »Vielleicht haben wir es mit einer Art Unabomber zu tun? Fehlgeleiteter Idealismus?«
»Oder es ist einfach ein ganz gewöhnlicher Irrer«, schlägt Lindberg vor.
»Sehr gut!« Eva Nyman nickt. »Ich freue mich, dass ihr in Fahrt kommt. Die zentrale Frage lautet natürlich: Wie sind die Bomben in Stiernströms Auto und Sahlgrens Büro gekommen? Wenn wir das Wie beantworten können, dann finden wir auch das Wer.«
»Aber unser Hauptaugenmerk sollte darauf liegen, diesen Höllensaal zu finden, oder nicht?« Ryd zeigt auf den Text an der Wand. »Und schon bald wird sich der Höllensaal mit Schrecken füllen. ›Und schon bald‹ heißt ja, wenn wir dem Ganzen denn Glauben schenken, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Zwischen den ersten beiden Anschlägen lag eine Woche. Vielleicht ist es dieses Mal noch weniger?«
»Schon wieder so ein Rätsel«, brüllt Lindberg. »Was soll denn bitte ein Höllensaal sein? Sitzen wir in einem? Ist unser Wartesaal der Höllensaal?«
Lautes, befreiendes Lachen.
»Ist es überhaupt möglich, etwas so Vages zu verhindern?«, fragt Sarwani.
»Wir müssen unser Bestes geben«, erwidert Eva Nyman. »Zuerst werden wir uns einen Überblick verschaffen. So umfassend, wie es nur geht. Dann tauschen wir uns mit den ermittelnden Beamten und Kriminaltechnikern aus, um so schnell wie möglich zu klären, ob wir es tatsächlich mit Terroristen zu tun haben. Das bedeutet für heute, dass NOVA mit folgender Arbeitsverteilung loslegt: Anton kümmert sich um den BMW und den Abteilungsleiter im gelben Meer. Ankan kümmert sich um den Vasapark und den gegrillten Werber, und Shabir versucht, etwas über den geheimnisvollen Höllensaal herauszufinden.«
Als sie das Seufzen von Shabir Sarwani hört, gibt sich Eva Nyman einen Ruck.
»Und Sonja, du kommst zu mir.«
Als die beiden Kolleginnen Eva Nymans Büro betreten, steuert Sonja Ryd direkt auf die Sitzgruppe vor dem Fenster zu und lässt sich auf einen Sessel fallen, lehnt sich zurück und sieht sich um.
»Du hast wirklich ein Händchen für Inneneinrichtung.«
Nyman lacht und setzt sich ihr gegenüber.
»Das war in der Tat eine Herausforderung«, sagt sie und zeigt auf die beige Raufasertapete.
Sie sehen sich schweigend an. Das ungleiche Freundinnenpaar existiert, seit Eva Nyman Kommissarin geworden ist. Die beiden verbindet ein gegenseitiges, freundschaftliches Vertrauen. Die Kriminalhauptkommissarin in eleganter, die Kriminaloberkommissarin in schlecht sitzender Kleidung. Sie betreten einen Raum, in dem alles gesagt und gedacht werden darf, in dem die üblichen Hierarchien aufgehoben sind. Nyman ist um die fünfzig, Ryd ein paar Jahre jünger, aber auch dieser Altersunterschied löst sich auf. In diesen Momenten ist Eva Nyman mal nicht rätselhaft, auch für sich selbst nicht.
»Wolltest du mich nur abchecken, oder hast du einen geheimen Auftrag für mich?«, fragt Sonja und streicht sich energisch über die raspelkurzen Haare.
»Das eine schließt doch das andere nicht aus?«, erwidert Nyman. »Geheim ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Maximal inoffiziell. Aber du weißt auch, dass ich dich im Auge behalten und ab und zu nachfragen muss. Wie zum Teufel hältst du dich so fit?«
Sonja Ryds hellblaue Augen sehen sie ernst an.
»Der eine Missbrauch bedingt den anderen«, sagt sie. »Wenn sich gegen Abend die Versuchung meldet, dann gehe ich zum Training. Sonst würde ich zur Flasche greifen. Jetzt sag schon, was ist das für ein geheimer Auftrag?«
»Und sie kommt nur gegen Abend?«
»Die Sucht nach dem Training ist hauptsächlich morgens, wenn die Angst sich über Nacht aufgestaut hat. Aber du weißt genau, dass das keinen Einfluss auf meine Arbeit hat.«
Nyman schneidet eine Grimasse, was Ryd veranlasst, sich vorzubeugen.
»Du hast weitaus größere berufliche Einschnitte erleben müssen als ich, Eva.«
Nymans Grinsen wird breiter.
»Die Ruinen des Verfalls.«
Ryd nickt.
»Die Formulierung kommt zweimal in dem Brief vor. Die einzige Wiederholung.«
»Ich wusste, dass es dir auffallen würde. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Ausdruck. Und du hast einen ungewöhnlich guten Blick, Sonja. Habe ich dir eigentlich von meiner Anfangszeit als Polizistin erzählt?«
»Viel zu wenig.«
»Ich hatte einen Chef, der mir alles beigebracht hat, was ich heute kann. Er ist nach wie vor der beste Polizist, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Er hasste alles Digitale, sah nur die Risiken, nicht die Vorteile. Und ging damit zu weit. Er verwehrte eine Triangulation, um ein Entführungsopfer ausfindig zu machen. Das endete tödlich. Ein schrecklicher Tod. Und der Täter wurde nie gefasst.«
»Sprechen wir gerade von Liselott Lindman?«, fragt Sonja Ryd überrascht. »Das ist ein Klassiker. Ich hatte keine Ahnung, dass du etwas damit zu tun hattest?«
»Das Präsidium hat es von der Öffentlichkeit ferngehalten, und das Team löste sich auf.«
»Und dein Chef?«
»Er quittierte den Dienst.«
»Und was hat das mit der Sache hier zu tun?«
Nyman seufzt.
»Er war ein Naturfreak und Klimaaktivist. Und sein Lieblingsausdruck waren die Ruinen des Verfalls. Das waren seine Worte für unsere verdorbene Gesellschaft.«
»Nein, verdammt«, ruft Ryd.
»Natürlich sind zwei Textstellen zu wenig, um eine eigene Ermittlung zu rechtfertigen. Aber ich habe diesen Ausdruck noch nie in einem anderen Zusammenhang gehört. Die Sprache des Briefs ist seine. Und er passt ins Profil.«
»Wenn das so ist, brauche ich alles, was du mir über ihn sagen kannst. Aber eine Sache vorweg: Warum schickt er das Manifest, oder wie wir das nennen wollen, ausgerechnet an dich? Standet ihr euch so nahe?«
»Ich war seine rechte Hand.«
»Und hast du das getan, was die rechte Hand eines Mannes so macht? Jetzt sag schon, Eva. Habt ihr gebumst?«
Nyman räuspert sich.
»Er war verheiratet und ein engagierter Polizist, der selbst aus schwierigen Verhältnissen stammt und beinahe Berufskrimineller geworden wäre. Seine Liebe zur Natur hat ihn davor bewahrt. Und ein sehr hartnäckiger Polizist, den er in einer der vielen Erziehungsanstalten kennengelernt hatte und der ihm den Kopf gewaschen hat. Er fing an, an einer Universität für Agrarwissenschaften und Umweltschutz zu studieren. Aber ich weiß nicht, an welcher. Das Studium hat er dann abgebrochen, um Polizist zu werden. Er hat seinen Kontakt in der Polizei aktiviert, und der hat geholfen, ihn an der Polizeihochschule unterzubringen, und wurde sein Mentor.«
»Mir scheint, dass es zwei Leute gibt, mit denen ich mich mal unterhalten sollte. Wie ging das mit ihm nach der Entführungskatastrophe weiter? Was macht er heute?«
»Das weiß ich nicht. Wir haben uns aus den Augen verloren. Ich glaube, er hat das Studium an der Uni wieder aufgenommen. Später habe ich das Gerücht gehört, er sei Prepper oder so etwas geworden. Ich habe ihn gegoogelt, aber es gibt keine Einträge über ihn. Er ist allerdings auch nicht als tot gemeldet.«
»Prepper? Dein Ernst? So ein Survivalist? Ein Überlebenskünstler, der im Wald lebt ohne Strom und fließend Wasser? Großes Misstrauen dem Staat und der Gesellschaft gegenüber?«
»Das ist bisher nur ein Gerücht. Versuch, so viel wie möglich herauszufinden. Und fang am besten mit dem an, den du eh schon im Visier hast: Frisells ehemaligen Mentor Edward Rasmusson, ein mittlerweile pensionierter Kriminaler, dessen Einsätze damals in den Jugendeinrichtungen legendär sind. Und seine Ex-Frau Nina Strömblad. Aber bitte mach es unauffällig.«
»Wie? Auch dem NOVA-Team gegenüber?«
Nyman verzieht das Gesicht.
»Zumindest am Anfang. Wenn es eine Sackgasse ist, können wir es einfach unter den Tisch fallen lassen.«
Sie schweigen. Sonja Ryd sieht sich erneut in dem sehr kleinen, aber stilvollen Raum um.
»Ich werde deinen ehemaligen Chef finden«, sagt sie. »Schon allein um herauszubekommen, ob ihr was miteinander hattet. Warum hat er den Brief an dich adressiert, Eva? An dieser Frage kommen wir nicht vorbei.«
Eva Nyman seufzt.
»Ich glaube, Lukas Frisell will, dass ich ihn jage.«
Shabir Sarwani war mit einer der afghanischen Flüchtlingswellen als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Schweden gekommen und von einer ungeeigneten Pflegefamilie zur nächsten weitergeschoben worden, die entweder islamistisch oder einfach nur gierig waren. Seine logische Schlussfolgerung war, dass er so schnell wie möglich schwedischer Staatsbürger werden musste.
Er würde lügen, wenn er behauptet, dass er bei diesem Vorhaben keine Hindernisse überwinden musste. Seine Ausbildung an der Polizeihochschule der Universität von Umeå schloss er mit Bestnoten in allen Fächern ab. Unabhängig voneinander hatten mehrere Polizeihistoriker festgestellt, dass es so etwas in Schweden noch nie zuvor gegeben habe.
Als Sarwani vor zwei Wochen aber seinen dreißigsten Geburtstag feierte, war kein einziger Schwede weit und breit zu sehen. Unbemerkt von seiner Umwelt, hatte er es sich nämlich zur Lebensaufgabe gemacht, Jugendliche auf Abwegen wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Indem er mit ihnen redete, in ihrer Sprache, und zwar bevor sie sich in die kriminellen Netzwerke in den besonders gefährdeten Stadtteilen verstrickten. Auch er hatte in einem dieser gefährdeten Stadtteile gelebt, aber das Glück gehabt, schließlich in einer nicht dysfunktionalen Familie zu landen, eine gute Schullaufbahn absolvieren und seine Freizeit sinnvoll gestalten zu können. Die Zeiten hatten sich geändert, keine Frage, aber er war nach wie vor der Überzeugung, dass auch ein so verschriener Stadtteil wie Rinkeby gute, nützliche Mitbürger und Mitbürgerinnen hervorbringen konnte.
Und mit diesen Jugendlichen hatte er seinen Geburtstag gefeiert.
Zwar verschwendet er daran keinen Gedanken, als er allein in dem Büro sitzt, in dem das neue Team von NOVA untergebracht ist. Doch es ist gar nicht so einfach, sich zu konzentrieren, wenn alle anderen einen richtigen Auftrag im Außendienst zugeteilt bekommen haben. Seine Aufgabe lautet, sich Gedanken über den Höllensaal zu machen.
Der sich schon bald mit Schrecken füllen wird.
Das ist eine richtige Scheißaufgabe. Unter Umständen aber vielleicht eine wichtige Scheißaufgabe.
Wenn es sich denn tatsächlich um einen Fall handelt …
Also fängt er von vorne an. Was zeichnet die Hölle aus, und was zeichnet einen Saal aus? Die Hölle ist heiß, dort wird das Böse bestraft. Aber was, was genau ist ein Saal? Ein großer, offener Raum? Ein Konzertsaal, ein Versammlungssaal, ein Festsaal, ein Speisesaal, ein Wartesaal, der sich plötzlich mit Schrecken füllt und dadurch zu einem Höllensaal wird?
Sarwani geht in Gedanken alle Säle in Stockholm durch. Der Saal im Rathaus, im Grand Hôtel, im Erbfürstenpalais, sogar an die Säle im Königlichen Schloss denkt er und streift durch die schwedischen Pracht- und Luxusbauten, bis er innerlich auf einen Widerstand stößt.
Ist das die einzige Möglichkeit? Aus einem Festsaal wird ein Höllensaal? Könnte es sich nicht von Anfang an um einen Höllensaal handeln? Und dann kommt noch der Schrecken dazu?
Ein heißer Saal also. Ein heißer, weitläufiger … Raum. In einem Industriegebäude vielleicht? Das genaue Gegenteil vom Prunk eines Festsaals.
Was könnte das sein? Ein Stahlwerk? Das erste Opfer, Alf Stiernström, war Abteilungsleiter beim Stahlriesen SSAB. Man kann sich so ein Stahlwerk sehr gut als Höllensaal vorstellen, in dem flüssiger Stahl fließt.
Der Werber wiederum hatte eher mit Petroleum zu tun.
Sarwani tritt einen Schritt zurück. Wenn der Brief und somit alle drei Taten – zwei bereits ausgeführt, eine angekündigt – zusammengehören, wenn es also tatsächlich einen Täter gibt, wer ist das dann? Er versucht sich an einer vorläufigen Skizze.
Das Engagement fürs Klima scheint echt und aufrichtig zu sein, tiefgreifend sogar. Vielleicht sollen die Taten verschiedene Klimaverbrechen aufzeigen. Bisher hat der Täter die Stahl- und Ölindustrie angeprangert. Was kommt als Nächstes? Welche Klimaverbrecher haben irgendetwas mit einem heißen Saal zu tun?
Plötzlich fügt sich eins ins andere. Das Internet. Das schon jetzt für zwanzig Prozent des weltweiten Stromverbrauchs verantwortlich ist. Die schwedische Stromkrise, Stromknappheit. Die Cloud. Die digitalen Giganten Facebook, Google, Amazon, Microsoft verfügen über energieverschlingende Serverhallen in ganz Schweden. Die romantisch klingende Cloud existiert nicht. In Wirklichkeit handelt es sich um heiße, lärmende und Energie schluckende Höllensäle, über die das kleine Land im hohen Norden in unproportional hoher Anzahl verfügt. Schweden ist so geschmeichelt von diesen Giganten, dass es ihnen enorme Steuervorteile gewährt, obwohl sie kaum nennenswerte Mengen an Arbeitsplätzen schaffen.
Er findet etwa zehn riesige Serverhallen im Netz, von Luleå im Norden bis Staffanstorp im Süden. Facebook hat sich nach Norden begeben, Microsoft ist überall verteilt, Amazon sitzt im Mälardalen und Google in Dalarna. Natürlich haben auch die fiesen IT-Firmen ihre eigenen Serverhallen, aber davon gibt es zu viele.
Sonderbarerweise findet man im Netz keine Fotos von den Serverhallen der Giganten, und Sarwani geht von einer umfassenden Geheimhaltung aus, die wohl weit über die Landesgrenzen hinausgeht. Er ruft Eva Nyman an und bekommt die Ankündigung – zusätzlich zu einer winzigen, aber berechtigen Portion Lob –, dass sie sich damit sofort an den NOA-Chef wenden wird. Vielleicht gelingt es ihnen, diskret und schnell eine Warnung rauszugeben.
Shabir Sarwani erstellt eine Liste aller Höllensäle, auf die er in der Kürze der Zeit kommt. Dabei sieht er sie mit den Augen der Klimaterroristen: Sie sind heiße, donnernde gigantische Orte, an denen das untergebracht ist, was am Ende unsere Zivilisation zerstören wird.
Und er ist sich ziemlich sicher, dass sich einer dieser Säle sehr bald schon mit Schrecken füllen wird.
Bei den gewalttätigen Osterkrawallen 2022 in Schweden waren viele seiner Kollegen verletzt worden. Dieses Trauma hat Anton Lindberg nicht mehr losgelassen, es hat sich in seine Seele gefressen. Er kann die Ereignisse bis heute nicht hinter sich lassen. Sie sind wie eine dunkle Wolke, die ihn ständig begleitet.
Es war im April 2022. Schweden war sowohl mit dem grotesken Angriff Russlands auf die Ukraine beschäftigt als auch mit einer eventuell notwendigen Unterstützung des Landes seitens der NATO. Da hatte ein Rechtsextremist nichts Besseres zu tun, als Ostern in Schweden zu feiern. An mehreren ausgewählten Orten, um dort öffentlich den Koran zu verbrennen. Diese Kundgebungen hatten durchschlagenden Erfolg, denn es kam zu heftigen Reaktionen gewaltbereiter Protestierender – und die richteten sich nicht etwa gegen den Initiator, sondern gegen die schwedische Polizei.
Von den Angreifern wurden sehr wenige verletzt.
Dagegen gab es mehr als dreihundert verletzte Polizisten und Polizistinnen.