Oakins macht Karriere - Erich Loest - E-Book

Oakins macht Karriere E-Book

Erich Loest

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Beschreibung

Privatdetektiv Pat Oakins, Hauptfigur in etlichen Krimis von Erich Loest, will sich mit einem eigenen Büro selbständig und endlich Karriere machen. Doch Erfolg ist launisch; Oakins scheitert immer wieder an widrigen Umständen. In dieser humorigen Koda auf seine vorausgegangenen Krimis persifliert Loest etliche gängige Krimi-Helden und -Autoren (wie Simenon oder Chandler) und auch den Verfasser von Kriminalromanen Hans Walldorf. Unter diesem Pseudonym hatte Loest seine Kriminalromane in der DDR veröffentlicht. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 280

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Erich Loest

Oakins macht Karriere

Kriminalgeschichten

FISCHER E-Books

Inhalt

Prämie: zehntausend PfundKäse aus FrankreichEin kleiner toter ElefantÖlfarbe unter den FingernägelnGemälde mit EinlageFahndung nach einem alten SteinAuf BildungsjagdDer Ritter der Bibi Call

Prämie: zehntausend Pfund

Pat Oakins, der Privatdetektiv, wußte es längst: Am Ende der Judostunde liebte es Kokichi Nagaoka, sein japanischer Trainer, ihn durch einen besonders heimtückischen Wurf auf die Matte zu schleudern, vor allem wohl, um seinem Schüler zu beweisen, wieviel es noch zu lernen gab. Nagaoka riß die Arme hoch und deutete eine Hüftbewegung an, aus der Oakins schloß, er sollte mit einem Uki-Otoshi geworfen werden; Oakins setzte das rechte Bein vor, verlegte seinen Schwerpunkt, um mit einem Hidari-Tai-Otoshi abzuwehren, aber Nagaoka sprang hoch, klemmte die Oberschenkel seines Schülers mit den Beinen ein und ließ sich zur Seite fallen, so daß Oakins wie ein Frosch auf den Rücken klatschte. Nagaoka stand augenblicklich wieder. »Hasami-Geashi«, erklärte er höflich. »Scherenwurf.«

Unter der Brause verschwand Oakins’ Ärger und machte der Überlegung Platz, wo er essen könnte. Er nahm abends gern leichte Speisen zu sich, Fisch etwa, er spielte mit dem Gedanken, eines der berühmten Fischlokale aufzusuchen, Dover Buttery in der Dover-Street oder Scott’s in der Coventry-Street, wo man die besten Austern in ganz London aß. Dabei ahnte er, daß ihn letztlich die Scheu vor hohen Preisen in eine der minderen Pubs treiben würde, und so kam es auch: In einer Filiale von Lyons & Co. bestellte er Fisch und Chips, aß den Fisch mit Appetit und ließ die Hälfte der Chips liegen, weil er, wie er überschlug, sein selbstgesetztes Kalorienlimit an diesem Tag schon überschritten hatte.

Er fuhr bis in die Nähe seiner Wohnung, den letzten Kilometer ging er zu Fuß. Es war ein heiterer Sommerabend; London zeigte sich in halbwegs klaren Farben, und die Luft bestand nur zur Hälfte aus Ausdünstungen und Abgasen. Oakins bewohnte ein Appartement auf den Hügeln von Highgate, er fuhr mit dem Lift hinauf, streckte sich auf die Couch und blätterte in seinem Judo-Lehrbuch. Nach einer Weile fand er heraus, daß er sich gegen Nagaokas letzte Tücke womöglich mit einem Hidari-Aobi-Goshi hätte wehren können. Er las: »Legen Sie die Hand hinten an die Hüfte des Angreifers, die Finger nach unten, lockern Sie den Griff und pressen Sie die Handfläche oben außen an seinen rechten Oberschenkel, springen Sie hoch …« Das klang verworren; vor allem vermochte sich Oakins nicht vorzustellen, wie er alle diese Anweisungen in Bruchteilen von Sekunden ausführen sollte, so schnell, daß seinem Gegner keine Zeit zur Gegenwehr blieb.

Oakins war mit diesem Problem nicht zu Rande, als das Telefon klingelte.

»James Harrison«, hörte er. »Sie wissen, wer ich bin?«

»Selbstverständlich.« Oakins spürte eine verwirrende Leere im Hirn, die er für Ehrfurcht hielt.

»Es wäre mir recht, wenn ich Sie möglichst bald sprechen könnte.«

»Morgen früh«, antwortete Oakins ein wenig zu rasch, wie er sich später vorwarf.

»Bitte zehn Uhr in meinem Büro.«

An diesem Abend begriff Oakins nichts vom Hidari-Aobi-Goshi, seine Expanderübungen absolvierte er ohne Schwung und klemmte sich sogar, was selten geschah, die Haut am Nacken schmerzhaft ein. Er kam nicht von dem Gedanken los, warum James Harrison, einer der versiertesten Privatdetektive Londons und Besitzer einer berühmten Kartei, ihn sprechen wollte.

Oakins hatte sich gerade geduscht, als jemand an der Tür klingelte; im Bademantel öffnete er, sein rundliches, gutmütiges Gesicht, dem er so oft einen Zug von Härte und Schläue gewünscht hatte, überzog sich mit törichtem Staunen.

»Kommissar Varney!«

»Darf ich Sie sprechen?«

Oakins ließ seinen Gast ins Zimmer, ärgerte sich, daß er sich darüber ärgerte, daß Decke, Judobuch und Unterwäsche auf der Couch ein wirres Durcheinander boten. Bei einem Detektiv des von ihm bewunderten amerikanischen Kriminalschriftstellers Chandler, so sagte er sich, wären noch eine halbvolle Whiskyflasche und eine nackte Frau daruntergemischt gewesen, und es hätte ihm nicht das geringste ausgemacht. An dieser Vorstellung straffte er sein Selbstbewußtsein, wies auf den einzigen Sessel, holte eine Flasche Gin aus dem Kühlschrank und begann sich anzukleiden. Dabei sagte er: »Kommt Scotland Yard ohne mich nicht weiter? Ist ein Jährchen her, seit Sie das letzte Mal an mich gedacht haben, Kommissar.«

»Oakins, Ihre Verdienste sind unvergessen. Aber Sie wissen selber, daß wir nur in ganz seltenen Fällen einem Privatdetektiv einen Auftrag zukommen lassen dürfen.«

»Wenn Ihnen die Puste ausgegangen ist.«

»Oakins«, erwiderte Varney friedlich, »ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen zu streiten. Ich weiß, daß Sie es gern hören, wenn man Ihnen sagt, daß Sie wesentlich daran beteiligt waren, daß der Doppelmörder Graham gefaßt wurde, und deshalb bestätige ich es Ihnen hier und heute ein weiteres Mal. Aber sollten Sie nicht endlich einsehen, daß wahrhaft gute Polizeiarbeit heutzutage nur von einem Apparat und niemals von einem Einzelgänger geleistet werden kann?« Während Varney schilderte, welche Möglichkeiten Oakins als Mitarbeiter der Mordkommission des Yard hätte, während Varney versicherte, daß er schon bei seinem Leiter vorgefühlt hatte und einen Antrag von Oakins wohlwollend unterstützen würde, während er vorsichtig von Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten und Pension sprach, ließ Oakins vor seinem inneren Auge die Chandlerschen Recken Revue passieren, die sich mit den Gangstern und der Polizei gleichermaßen herumschlugen, wortkarge Männer in einer kalten Welt, die ihr Selbstgefühl aus der Tatsache ableiteten, daß sie einsam und hart waren, die einen einzigen Freund hatten, der sie tröstete, und das war die Whiskyflasche. Oakins hockte auf der Couch, die Beine untergeschlagen, vergeblich versuchte er, grimmige Falten in seine Wangen zu pressen, er trank Gin, der ihm zuwider war, und sehnte sich nach Apfelsaft. Varney sagte gerade: »Nehmen Sie es mir nicht übel, Oakins, daß ich mich ein wenig um Ihre Existenz gekümmert habe. Sie betreuen einen einzigen festen Kunden, einen Fischhändler, dem immerzu die Frau durchbrennt. Daneben gibt es Laufkundschaft, eifersüchtige Ehemänner und ähnlichen Krimskrams. Ich sag’s Ihnen noch mal: Oakins, kommen Sie zum Yard!«

»Und ich habe dann ein Dutzend Chefs über mir.«

»Aber ein schönes festes Gehalt.«

»Doch ich kann mir die Fälle, die ich bearbeite, nicht aussuchen.«

»Himmel, Oakins, das können Sie doch jetzt auch nicht! Sie müssen jeden Fall annehmen, der sich Ihnen bietet, wenn Sie über Wasser bleiben wollen.« Varney mochte Oakins, das war keine Frage, er schätzte ihn wegen seiner Härte und Tapferkeit. Oakins war nur 151 Zentimeter groß, er war der kleinste Privatdetektiv Londons. Manchmal hatte er die große Klappe, daß Varney ihn am liebsten hinausschmiß, aber so richtig böse sein konnte er ihm selbst dann nicht. Varney hatte Oakins manches Mal gefrotzelt, Oakins hatte nichts übelgenommen – an diesem Tag war Varney friedlich gestimmt, er verzichtete darauf, Oakins vorzuschlagen, in der Maske eines Schulanfängers mit Ranzen und Zuckertüte listig Verbrechergespräche zu belauschen und dem Yard unschätzbare Dienste zu leisten. Varney bedauerte, daß dieser Mann seine Fähigkeiten im Alleingang verschliß, er hätte gern seinen Apparat durch diesen eigenwilligen Burschen verstärkt. »Sie fürchten die Routine, ich weiß. Ich fürchte sie ja selber. Ich bin nun ewig auf dem gleichen Posten und möchte gern jemanden um mich haben, der mit frischem Blick an die Arbeit herangeht.«

Oakins fühlte Oberwasser. »Sagen Sie ganz ehrlich, Kommissar, beneiden Sie mich nicht auch ein wenig um meine Freiheit?«

»Am Gehaltstag bestimmt nicht.« Varney hatte sein Pulver verschossen, er sagte noch, daß im Yard gerade jetzt ein Plätzchen für Oakins frei wäre, und daß er dennoch nicht hoffe, es ginge Oakins einmal so miserabel, daß er notgedrungen zum Yard kommen müßte. Er ging und ließ Oakins in dem starken Gefühl zurück, abermals einer Versuchung nach bürgerlicher Solidität und Anpassung widerstanden zu haben. Oakins blickte mit runden Kinderaugen auf die beiden halbvollen Gläser mit Gin und dachte selig: Ich bin ein einsamer, wilder, räudiger, zähnefletschender grauer Wolf. Dabei fiel ihm Harrisons Anruf wieder ein. War auch das eine Falle?

Später stand Oakins sinnend vor seinem Bücherregal und schaute auf die Kriminalromane von Chandler, Gardner, Simenon und Durbridge. Für Oakins schlossen sie Welten auf: Den Chandlerhelden galt seine ganze Sympathie, diesen Einzelkämpfern in einer mißlichen, unerforschlichen Welt. Wenn ich, sann er, die Kartei des alten Harrison besäße, wäre ich wie Mason, Gardners Serienheld, ein Schreibtischstratege, der mit genialem Weitblick seine Fälle löst und die Dreckarbeit von anderen erledigen läßt. Hörte ich auf Varney und würde Angestellter des Yard, könnte ich mich hochdienen zu einer Position, wie sie Kommissar Maigret innehat, Simenons enorme Gestalt. Oakins überlegte: War das jeweilige Wunschbild eine Frage des Alters? Chandlers Helden waren bestenfalls dreißig, ein Fünfzigjähriger bräche vermutlich nach einer Woche derartigen Treibens mit einem Herzinfarkt zusammen. Ich halte durch, sann Oakins, mich schaffen sie alle zusammen nicht. Oder ist das Chandlerideal veraltet, ist es abgelöst worden durch Durbridges Supermänner, die zu allen alten Tugenden noch die moderne Technik einsetzen, die nicht mehr mit dem Colt kämpfen, sondern mit dem Laserstrahl? Ich bleibe bei meinem Leisten, beschloß Oakins, ich werde es denen allen zusammen schon zeigen! Am nächsten Morgen fuhr Oakins nach Kensington, verließ die U-Bahn an der Bond-Street und bog in die Welbeck-Street ein. Harrisons Büro lag im dritten Stock eines um die Jahrhundertwende gebauten, von den Zeppelinen des ersten und den Heinkelbombern des zweiten Weltkrieges verschont gebliebenen Geschäftshauses. Die Treppe wand sich um einen gitterumkleideten Fahrstuhlschacht, an dessen Türen Schilder mit der Aufschrift »Außer Betrieb« hingen; die Männer in den Korridoren trugen dunkle Anzüge und steife schwarze Hüte und in ihren Gesichtern den Ausdruck von Würde und Verläßlichkeit. So sah auch Harrison aus: Er war ein Mann nahe der Siebzig, der sich kerzengerade hielt und den Mund zu einem Strich zusammengepreßt hatte, als wollte er damit ausdrücken, dahinter wäre jedes Geheimnis so wohlverwahrt wie Rolls-Royce-Aktien in der Bank von England. »Kommen Sie herein, Oakins«, sagte er, »wir sehen uns zum ersten Mal, aber ich weiß natürlich einiges von Ihnen. Sie haben Kommissar Varney durch den Leichenfund in den Mendip-Hügeln einen hübschen Dienst erwiesen und sich selbst übrigens auch. Ohne Sie liefe Graham heute noch frei herum. Nehmen Sie Platz. Whisky?«

Oakins nickte verbissen. Er, dem sportliche Lebensweise über alles ging, hatte schwere Kämpfe hinter sich:

Chandlers Detektive waren allesamt trinkfeste Gesellen, und so opferte Oakins seinem Ideal, wenn nötig, hin und wieder einen Teil seiner sportlichen Prinzipien.

Harrisons Zimmer war ein fast quadratischer Raum, in dessen Mitte ein klobiger Schreibtisch stand; der Schreibmaschinentisch an der Fensterfront war verwaist. Drei Seiten waren mit Schränken aus Eichenholz verkleidet, die bis an die Decke reichten. »Ich habe«, begann Harrison, »in der vorigen Woche meine langjährige Mitarbeiterin verloren, pünktlich an ihrem sechzigsten Geburtstag ist sie in ein Damenstift übergesiedelt und unterhält nun ihre Umgebung mit Histörchen aus dem Verbrecherleben und sich selbst mit dem Stricken von Teehauben für grönländische Waisenkinder. Ich hätte nicht gedacht, daß sie mir so fehlt. Plötzlich habe ich keine Lust mehr.«

»Und Ihre Söhne?«

»Alle drei haben mich schwer enttäuscht. Sam, der Älteste, zeigte schon während seines Jurastudiums nicht den nötigen Fleiß. Danach trat er in meine Firma ein. In der ersten Woche kam er dreimal zu spät, insgesamt waren es vierundzwanzig Minuten. Seine Arbeit an der Kartei erledigte er liederlich und ohne Interesse. Sechs Wochen lang brauchte ich, um seine Versäumnisse, die während einer einzigen Woche entstanden waren, auszubügeln. Wir mußten uns trennen. Seitdem betreibt er eine eigene Detektei, ich habe mich nicht mehr um ihn gekümmert. William, der zweite, wollte technische Albernheiten einführen, eine Ziffernsprache anstelle meiner Karteikarten, dabei brachte er alles durcheinander. Pit, der dritte, zeigte sich erst recht anstellig, später aber mußte ich konstatieren, daß er einige Fälle auf eigene Rechnung bearbeitete; er behauptete, mit seinem wohlweislich zu keinem Wohlleben verleitenden Gehalt nicht auszukommen. Er betreibt nun eine winzige Detektei in Wimbledon.«

Oakins warf ein: »Immerhin, alle drei sind Männer vom Fach.«

»Aber nicht von der alten englischen Schule. Die drei würden mein Erbe im Nu verwirtschaften, wahrscheinlich würden sie die Kartei aufteilen und dadurch zerstören.« Harrison blickte angewidert zum Fenster hinaus. »Eine merkwürdige Familie! Neulich hörte ich, eine Nichte wolle Schauspielerin werden. Schauspielerin! Oakins, wenn Sie mir versprechen, die Kartei weiterzuführen, biete ich sie Ihnen zum Kauf an.«

Eine beklemmende Welle der Freude schlug in Oakins hoch. Harrisons Kartei, das wußte jeder in der Branche, war einmalig: Harrison und seine Sekretärin hatten vierzig Jahre lang eine Unzahl von Daten und Fakten zusammengetragen, die mit Verbrechern und ihren Taten zusammenhingen; diese Kartei war so umfangreich, daß es bisweilen sogar die stolzen Kommissare von Scotland Yard übers Herz brachten, bei Harrison anzufragen. Diese Kartei – aber in Oakins sank die Freude rasch wieder in sich zusammen. »Was soll sie kosten?«

»Fünfzehntausend Pfund, davon achttausend sofort, den Rest in Monatsraten von hundert.«

Oakins nickte schwach. »So ungefähr habe ich es mir gedacht. Achttausend bar – ich könnte Ihnen noch nicht einmal fünfhundert zahlen.«

»Aber Ihr Erfolg in den Mendip-Hügeln muß Sie doch groß herausgebracht haben. Hat Varney nichts für Sie getan?«

»Varney liegt mir ständig in den Ohren, ich soll in den Yard kommen und sein Stellvertreter werden.« Oakins schlug ein Bein über das andere. »So was liegt mir einfach nicht. Ich bin gern mein freier Mann.«

Harrison wollte erneut eingießen, überlegte es sich aber anders und setzte die Flasche ab. »Ich möchte nach dem Süden. Italien, Frankreich. Haben Sie nie Sehnsucht nach ewig blauem Himmel gespürt?«

Und ich soll dir diesen Himmel bezahlen, dachte Oakins. Ich soll dir das Geld für die Hotelrechnungen herauswirtschaften. Diese Kartei, deine berühmte Kartei …

»Überlegen Sie es sich«, riet Harrison eine Spur zu freundlich. »Ich halte meinen Vorschlag zwei Wochen lang aufrecht. Es soll ja hin und wieder noch reiche Tanten geben.«

Oakins zwang seinen Ärger hinunter. Er war auf der Schattenseite des Lebens geboren, hatte eine karge Kindheit verlebt, schlug sich schlecht und recht als Privatdetektiv durchs Leben, war, und das bedeutete seinen größten Kummer, nur hunderteinundfünfzig Zentimeter groß – es hätte einfach nicht in diese Kette von Mißlichkeiten hineingepaßt, wenn er der Besitzer der Harrisonschen Kartei geworden wäre. Er verabschiedete sich. An der Tür bemühte er sich um ein sarkastisches Grinsen, es fiel enttäuschend bieder aus.

Eine halbe Stunde später, als Oakins in einer Snackbar vor einem Glas Johannisbeermilch saß, fiel ihm ein, wie Raymond Chandler den Detektiv seiner Prägung charakterisiert hatte: Der Detektiv mußte auf der erbärmlichen Straße des Lebens ein ganzer Mann und ein einfacher Mann und dennoch ungewöhnlich sein. Er mußte reden, wie man in dieser Zeit redete, also kräftig und gescheit, mit feinem Gefühl dafür, was lächerlich war. Er mußte einsam sein und keine Beleidigung einstecken, ohne sich genau und leidenschaftlich zu rächen. Nichts hatte Chandler davon gesagt, daß ein Detektiv reich sein und von einem Büroschemel aus mit Hilfe einer Kartei seine Fälle klären müßte. Das war Gardners Masche. Aber Oakins wollte kein Gardner-Held sein – war er gerade spießbürgerlichen Fallstricken entronnen?

Oakins querte die Baker-Street, bog in den Hyde-Park ein und musterte alte Damen auf den Bänken, wobei er überlegte, welche von ihnen wohl so aussah, als ob sie ihrem Neffen achttausend Pfund vorschießen würde. Aber er war nicht der Neffe irgendeiner reichen Tante irgendwo in der Welt. Die Sonne schien so stark, daß die Dunstschicht über der Stadt kaum zu merken war. In Hyde-Park-Corner stieg Oakins wieder in das Dämmerlicht der U-Bahn hinunter, und als er vor seinem Haus stand, war es noch immer hell, und Oakins hatte an diesem Tag nur ein zweckloses Gespräch geführt und keinen Penny verdient.

Tags darauf rief ein Fischwarenhändler aus Brixton an und bat Oakins um Hilfe. Dieser Mann war sein Stammkunde; immer einmal lief ihm die Frau davon, dann mußte Oakins sie suchen. Diesmal telefonierte Oakins alle Tanten der ungetreuen Gattin an, und eine verriet ihm, ihre Nichte hätte ihr unter sämtlichen Siegeln der Verschwiegenheit mitgeteilt, sie wäre zu einem Physikstudenten geflüchtet. Oakins traf sie an, wie sie die Wäsche des Studenten wusch, er machte ihr klar, wie sehr ihr Mann unter der Trennung litt, und hörte sich geduldig an, es wäre eine Grausamkeit gewesen, zu verlangen, sie sollte jede der einzulegenden Gewürzgurken mit einer Nadel anstechen.

»Sechs Tonnen!« rief sie und schwenkte anklagend eine feuchte Unterhose. Der Student ergänzte, ohne von einer technischen Apparatur aufzublicken: »Sechs Tonnen sind wirklich happig.« Zärtlich federte sein Zeigefinger auf einer Taste, leises Piepsen stieg auf.

»Ein Funkgerät?« fragte Oakins höflich.

»Ein kombiniertes Funk- und Sprechfunkgerät, paßt in jede Aktentasche.«

»Eigenbau?«

»So halb und halb.«

»Zur Sache selbst.« Oakins wendete sich wieder der Fischhändlersgattin zu. »Würden Sie es unter Umständen mit zehn Zentnern versuchen?« Die Frau schnüffelte versonnen, sagte: »Gut, teilen Sie meinem Mann mit, daß ich unter diesen Bedingungen zurückkehre. Aber keine einzige Gurke darüber hinaus!« Oakins nickte dem Studenten mitfühlend zu, fuhr zum Fischhändler und teilte ihm mit, dessen Frau käme zurück, sobald die Wäsche des Studenten gebügelt und gestopft im Schrank läge. Mit einer Pfundnote und einem Karton marokkanischer Sardinenbüchsen machte sich Oakins auf den Heimweg.

Er hockte noch nicht lange in seinem Zimmer, als das Telefon klingelte. Eine kühle Frauenstimme teilte ihm mit, sie spräche im Namen der Three-Bell-Versicherung, und fragte an, ob es Mister Oakins möglich wäre, kurzfristig einen Auftrag zu übernehmen. Wenn ja, möchte er so freundlich sein, am nächsten Morgen Direktor Ashton aufzusuchen. Adresse, Uhrzeit-Oakins sagte zu. Wenig später machte er sich, weit weniger mißgelaunt, mit Verve an seinem Expander zu schaffen. Unter der Brause überlegte er mit mißtrauischem Eifer: War er in eine Glückssträhne geraten?

 

Direktor Ashton überlegte einen Augenblick, ob er aufstehen sollte; dann tat er es doch nicht. Er hätte die Hose hochziehen müssen, es war brutwarm im Büro trotz der Ventilation, und schließlich war Oakins nichts weiter als ein Privatdetektiv. Oakins hob halb die Hand, wie Chandlers Detektive es taten, lärmte: »Hallo« und grinste.

»Hallo, Oakins.« Ashton war überrascht: Er hatte gehört, Oakins wäre ein kleiner Mann, aber Oakins war ein außerordentlich kleiner Mann, und für einen Augenblick zweifelte Ashton, ob es richtig gewesen war, ihn hierherzubitten. Über eine Leiche stolpern konnte jeder; daß er selbst noch keine gefunden hatte, lag nur daran, daß ihm niemand eine in den Weg gelegt hatte. »Freut mich, Sie zu sehen. Hätten Sie einige Tage Zeit für die Three-Bell-Versicherung?«

»Ich will sehen, daß ich Ihre Angelegenheit einschieben kann.« Oakins mochte diese feisten Burschen nicht, die taten, als wären sie die Besitzer der Firma und ihre Gründer obendrein. Der da wog glatt zweieinhalb Zentner, bewegte sich wahrscheinlich höchstens vom Lift zum Auto und bildete sich ein, er müßte verhungern, wenn er nicht jeden Tag ein Steak von einem Pfund naschte.

»Eine merkwürdige Geschichte«, begann Ashton. »Vor einem Vierteljahr schloß ein Mann eine Lebensversicherung bei uns ab. Er war fünfunddreißig Jahre alt, kerngesund bis auf Spreizfüße und ein wenig Rheuma in der linken Schulter – wir nahmen an, er müßte neunzig Jahre alt werden. Versicherungssumme hunderttausend Pfund, bei Unfall das Doppelte, auszahlbar an die Witwe. Vor zwei Monaten verunglückte dieser Mann bei der Fahrt nach Italien. Irgendwo in Südfrankreich stieß er gegen einen Baum, sein Vanguard brannte aus. Der Mann war auf der Stelle tot. Wir einigten uns mit der Witwe, die Summe in sechs Monatsraten zu berappen, die erste sofort, die zweite vier Wochen später, die dritte ist in der nächsten Woche fällig. In diesem Rhythmus geht’s weiter. Der schwerste Schlag, den unser Haus seit langem hinnehmen mußte.« Die drei Kinne Ashtons legten sich in melancholische Falten, der Ausdruck seiner Augen ähnelte dem eines Karpfens in der Reuse. »Einiges jedoch läßt uns hoffen. Die Witwe hatte schon vor dem Tod ihres Gatten mit einem anderen Mann angebändelt, jetzt hat sie ihm die Leitung der verwaisten Firma übertragen, und seine Anzüge hängen seit zwei Wochen in den Schränken des Toten. Zu rasch und zu glatt sind einige Interessen unter einen Hut gekommen.«

»Wenn ich für Sie arbeiten sollte«, entwickelte Oakins, »kostet Sie das pro Tag zehn Pfund. Dazu die üblichen Spesen. Da die Summe, um die es geht, erheblich ist, sollten wir eine Erfolgsprämie vereinbaren.« Oakins sah, wie die Augen des Direktors zu glitzern begannen, überlegte, rechnete. »Fünf Prozent der strittigen Summe währen wohl nicht zuviel. Zehntausend Pfund.«

Es wurde so still, daß das Klappern der Schreibmaschine im Vorzimmer durch die Doppeltür hindurch zu hören war. Oakins bedachte, was zehntausend Pfund für eine gewaltige Summe waren. Dafür konnte er ein Häuschen bauen mit Garage und Goldfischbecken und Hundehütte, konnte einen Zaun darum ziehen und einen Sonnenschirm auf die Terrasse stellen. Oder: Er konnte Harrisons Kartei kaufen. Das Glitzern in Ashtons Augen erlosch. »Ich engagiere Sie für zehn Tage, danach werden wir sehen, ob es lohnt, den Kontrakt zu verlängern. Sollten Sie herausfinden, daß ein Versicherungsschwindel vorliegt, zahlen wir Ihnen zehntausend Pfund Prämie.«

Oakins nahm einen Notizblock aus der Tasche, Ashton legte die Details dar. Am fünften März hatte der Fleischwarenfabrikant Curtin eine Lebensversicherung abgeschlossen, am zwölften Mai war sein Wagen bei dem Städtchen St. Affrigue im südfranzösischen Departement Averyon gegen einen Baum geprallt. »Eine Sekretärin des verehrten Toten, Harriet Flaherty, hat die Meinung geäußert, der Dame Curtin wäre der Tod des Gatten gerade recht gekommen. Heute mittag steht sie wegen Verleumdung vor Gericht. Es wäre gut, wenn Sie sich diesen Prozeß anschauten.«

»Unser Vertrag tritt sofort in Kraft?«

Ashton drückte auf eine Klingel; ein Mädchen trat ein. Zehn Minuten später unterschrieb Oakins einen Vertrag, der ihm je zehn Pfund für zehn Tage und zehntausend Pfund Erfolgsprämie zusicherte. Etliche Einzelheiten erfragte er noch: Adresse der Fleischwarenfabrik und der Wohnung der Witwe Curtin, sie hieß Helen und war sechsundzwanzig Jahre alt, der Mann, der jetzt bei ihr wohnte, war der zweiunddreißigjährige Diplomkaufmann Lammence; der Tote hatte den Betrieb von seinem Vater geerbt, offenbar mit nicht allzu großer Lust geleitet, denn er war ein Bücherwurm, kümmerte sich lieber um alte Schlachten als um neue Salamisorten. »Eine Menge für den Anfang«, sagte Oakins und verabschiedete sich, um in einem Speiselokal den Auftrag mit gebratener Leber und Blumenkohl – sechshundertfünfzig Kalorien – gebührend zu feiern. Dabei wurde er sich klar: Wenn er die zehntausend Pfund erhielt, kaufte er dem alten Harrison seine Kartei ab. Er überlegte schmerzhaft: Verrat an Chandler, oder kam er einfach in die Jahre?

Satt und zufrieden machte sich Oakins eine Stunde später auf zum Prozeß gegen die Sekretärin Flaherty. Er fand vor dem Gericht in der Bow Street statt, wo es wie immer entsetzlich nach Desinfektionsmitteln roch. Harriet Flaherty war ein spätes, dickliches, wenig sorgfältig gepudertes Mädchen, dem es offenbar schrecklich peinlich war, vor Gericht wiederholen zu müssen, was es in einer Anwandlung von Mut und Empörung über drei Schreibmaschinen hinweg gelästert hatte. Unter blütenweißer Lockenperücke heraus drang Frage auf Frage auf sie zu: Seit wann arbeitete sie in der Firma Curtin? Hatte sie den ehemaligen Prinzipal auch privat gekannt? Altes Holz an den Wänden, ein verstaubter Kronleuchter in der Mitte, sechs Zuhörer, die sich auf hartem Gestühl langweilten, ein Staatsanwalt, dem es offenbar mehr auf ein Schuldbekenntnis als auf eine Strafe ankam, ein schwitzender, müder Richter, ein sich heißspornig gebender Vertreter der klagenden Partei – es war ein Prozeß, der keinen Journalisten angelockt hatte und der für niemanden außer den Beteiligten von irgendeinem Interesse sein konnte. Der Richter fragte: »Und was haben Sie am dreißigsten Mai während der Mittagspause über Frau Curtin geäußert?«

Schweigen der Angeklagten, Schnüffeln in ein Taschentuch hinein, dann las der Richter vor: »Die Angeklagte verbreitete sich darüber, daß Herr Lammence schon seit längerer Zeit im Hause Curtin ein und aus gegangen wäre. Er hätte mit Frau Curtin Tennis gespielt, Theater besucht und Reisen unternommen. Ihr, der Angeklagten, könnte niemand einreden, daß die beiden, wie sie wörtlich formulierte, nur zusammengekommen wären, um Butterhörnchen zu backen.« Der Richter fragte mit leisem Vorwurf: »Was meinten Sie damit?« Schulterzucken, erneutes Schnüffeln, dann die Antwort, sie hätte sich nichts dabei gedacht. Das gab dem Staatsanwalt Anlaß, gebührend auf das Hinterhältige, Doppelbödige dieser Formulierung hinzuweisen. Danach las der Richter weiter vor: »Schließlich verstieg sich die Angeklagte zu der Behauptung, selten hätte ein Autounfall anderen so gut ins Konzept gepaßt, und man hätte ja schon genug darüber gelesen, wie durch eine heimlich gelockerte Schraube ein Eheproblem auf überraschendste Art gelöst worden wäre.« Der Vertreter der Klägerin verlangte höhnisch Beweise, die die Angeklagte natürlich nicht geben konnte. Da die Angeklagte geständig war, die inkriminierten Äußerungen getan zu haben, wurde auf die Vorführung von Zeugen verzichtet und die Beweisaufnahme geschlossen. Nach kurzer Pause hielten Staatsanwalt und Verteidiger ihre Plädoyers. Der Staatsanwalt brandmarkte das Hinterhältige, Niederträchtige im Verhalten der Angeklagten, die das Leid ihrer Chefin genutzt hatte, ihren Schnabel zu wetzen, der Verteidiger beschränkte sich darauf, das unbescholtene Vorleben seiner Mandantin ins Feld zu führen. Das Urteil sprach Harriet Flaherty, Sekretärin ohne Anstellung, dreiunddreißigjährig, nicht verheiratet, schuldig der Verleumdung und verurteilte sie zu einer Geldbuße von zwölf Pfund. Nach kräftigem Schneuzen fragte Harriet Flaherty, wo sie den Betrag einzahlen könnte. Zimmer 243 – die Sitzung wurde geschlossen.

Vor dem genannten Zimmer wartete Oakins, bis das gemaßregelte Fräulein herauskam. Er stellte sich vor und eröffnete mit einer Miene, als wäre er professioneller Rächer von Witwen und Waisen, er hätte den Entschluß gefaßt, den Fall erneut aufzurollen und zu einem günstigen Ende zu bringen. Aus schwimmenden Augen starrte ihn Harriet Flaherty erschrocken an. »Nein«, flehte sie hastig, »ich bin froh, daß alles zu Ende ist.«

Oakins lächelte sein großes Beschützerlächeln, rollte die Schultern und rieb die Hände. Zuversichtlich klang die Stimme: Zunächst würde man irgendwo Tee trinken und sich in Ruhe unterhalten. Er faßte sie am Arm und schob, bis sie in Gang kam, dann ließ er los, denn nicht gern ging er per Arm mit Damen, die ihn überragten, woraus zu folgern war, daß er überhaupt nicht gern per Arm ging. »Liebes armes Fräulein«, sagte er, als sie in einer Pub saßen und Teegläser vor sich stehen hatten, »wir beide wissen, daß Ihnen Unrecht geschehen ist. Aber wie wollen wir es beweisen?« Wieder trat das Taschentuch in Tätigkeit; Oakins fältelte seine Züge zu einer Leidensmiene zusammen. »Wer also hat nach Ihrer Ansicht den armen Curtin auf dem Gewissen?«

Sie steckte das Taschentuch weg. »Diese beiden natürlich, Helen Curtin und Lammence. Wie oft habe ich Theaterkarten bestellen müssen! Und wer ging dann? Die zwei. Curtin hat Lammence obendrein als Prokuristen in alle geschäftlichen Dinge eingeweiht; ich mußte dabei helfen.«

»Sie waren die Privatsekretärin des Toten?«

»Drei Jahre lang. Alles ging über meinen Schreibtisch. Jeder im Betrieb wußte, daß Lammence ein Verhältnis zu Helen Curtin hatte, und ich wußte es natürlich am besten.«

»Hat auch Curtin es gewußt?«

»Vielleicht hat er es geahnt. Aber er war ja so großzügig, so feinfühlig. Er war ein Künstler.«

»Ging es unter seiner Leitung mit der Firma bergab?«

»Das nicht, aber bergauf auch nicht. Lammence macht es nun Spaß zu beweisen, was für ein forscher Manager er ist.« Sie wäre geradezu froh, fuhr sie fort, daß sie nicht unter seiner Fuchtel arbeiten müßte, sie würde schon eine Stellung finden, wenn sie auch nun als vorbestraft gelte – jetzt machte Harriet Flaherty aus ihrem Herzen keine Mördergrube, war keineswegs mehr das verschüchterte Geschöpf wie vor Gericht, jetzt konnte man ihr durchaus glauben, daß sie Chefsekretärin gewesen war und keine schlechte. Auf die Frage, wie Curtin ausgesehen hatte, erzählte sie, er wäre ein schlanker Mann von einem Meter achtzig gewesen, dunkelhaarig, mit schmalem Gesicht und ausgeprägter Nase und zarten Händen. Leise und höflich hatte er seine Anweisungen gegeben und niemals sie oder eine andere Sekretärin angeherrscht. Curtin hatte auf seine Kleidung geachtet wie ein Schauspieler. Niemals hatte er geraucht, während der Arbeitszeit nur dann Alkohol getrunken, wenn Besuch gekommen war, aber er hatte Kaffee geschätzt; wahrscheinlich hatte er sich das auf seinen Italienreisen angewöhnt.

»Was tat er in Italien?«

Er hatte dort, berichtete Harriet, historische Studien getrieben, Schlachtfelder und Gemäldegalerien besucht. Und das jedes Jahr drei- oder viermal.

»Hat er Post von dort bekommen?«

»Manchmal schickten Hotels ihre Prospekte. Einige Male bekam er Briefe, aber das ist ein Jahr her. Von einer Frau, glaube ich. Wenn ich mich nicht irre, war es eine große, schöne Handschrift.«

»Sprach er italienisch?«

»Ja, und französisch und spanisch auch.«

»Könnten Sie mir ein Foto von ihm verschaffen?«

»Ich habe eins zu Hause. Das ist bei einer Bürofeier aufgenommen worden. Irgend jemand hatte Geburtstag.«

Eine Stunde später stieg Oakins an der Seite von Harriet Flaherty die Treppe eines Mietshauses hinauf. Das Bild, das er zu sehen bekam, zeigte einen Mann, der mit gesunden Zähnen lachte, dessen Haar akkurat gescheitelt war, der ein Glas in einer Hand hielt und mit der anderen auf irgend etwas zeigte.

»Haben Sie noch zu jemandem in Ihrer alten Firma Verbindung?«

»Kitty Malone ist meine beste Freundin, sie ist auf meinen Platz gerückt.«

»Das trifft sich gut. Bleiben Sie mit ihr in Kontakt. Wenn Sie etwas erfahren haben: Hier auf der Karte sind Adresse und Telefonnummer. Das Foto darf ich behalten?«

Oakins fuhr nach Hause, nahm den Expander vom Haken und begann seine strapaziösen Übungen wie an jedem Abend. Seine literarischen Kenntnisse reichten kaum über die von Kriminalromanen hinaus, aber einen Satz Goethes kannte er: »Ein kleiner Mann ist auch ein Mann«, und er wußte, daß diese Weisheit täglich neu errungen werden mußte. Wenn er bei den harten Eventualitäten seines Berufes eine Chance haben wollte, mußte er flinker sein als die Burschen, die ihn um Haupteslänge überragten, mußte härter zuschlagen als sie und das Doppelte einstecken können. Bisher war es ihm gelungen, seine Muskeln straff zu halten und jedes Gramm Fett zu verbannen, noch lief er hundert Yards in zwölf Sekunden, noch drehte er am Hochreck die Riesenwelle, vorausgesetzt, daß ihn jemand hinaufhob. Aber er war vierunddreißig Jahre alt und fürchtete sich vor dem Tag, an dem er sich eingestehen mußte, daß seine Spannkraft nachließ. An diesem Abend arbeitete er mit besonderem Elan, duschte und stellte sich auf die Waage. Er war zufrieden: Der Zeiger zitterte über die 59-kg-Marke; Oakins hatte das, was er sein Kampfgewicht nannte, gehalten. Schließlich vertiefte er sich, ehe er einschlief, noch ein halbes Stündchen in die östlich-dunklen Geheimnisse des Hasami-Geashi, des Scherenwurfs.

Am nächsten Morgen bugsierte er seinen Wagen aus der Garage. Wenn er in der City zu tun hatte, hielt er es für nützlicher, die U-Bahn oder einen der vielen roten Omnibusse zu benutzen, die sich wie plumpe Herdentiere, oft in langen Schlangen hintereinander, durch das Gewühl zwängten. Hampstead aber war einer der nördlichen Vororte Londons. Oakins umrundete den großen Friedhof von Highgate, durchquerte die grüne Lunge des Hampstead-Heath und vermied es, zu tief in das Innere von Hampstead einzudringen, das wie ein italienisches Dörfchen an den Hang des Hügels gebaut war, das mit seinen südlich-weißen Häusern und seinen ungezählten Antiquitätenläden eine Augenweide für den Touristen, mit seinen winkligen Gassen jedoch eine Qual für einen Kraftfahrer darstellte. Er fand die Siedlung, in der Helen Curtin wohnte, parkte seinen Wagen und bummelte an blühenden Hecken entlang, bis er den Namen »Curtin« auf einem Bronzeschild las und hinter dem Zaun ein zweistöckiges Haus mit flachem Dach, breiten Fenstern und Liegestühlen auf einer Terrasse sah. Es war ein Wetter, wie es sich freundlicher nicht denken läßt: Sonne und hier und da eine silberne Sommerwolke, leichter Wind, Glanz und Frische auf allen Blättern von einem sanften Nachtregen. Die ersten Rosen blühten, überall in den Vorgärten war das Gras geschoren und brachte helle Nuancen in das vielfältig abgestufte Grün. Schräg gegenüber dem Haus der Helen Curtin lag ein Lebensmittelgeschäft, in ihm gab es auch Zeitungen und Kosmetika, und unter einem Vordach standen eine Reihe von Automaten, zwei Tische und ein paar Stühle. Dorthin setzte sich Oakins mit einer Flasche Cola und einer Zeitung. Nach einer Stunde, in der nichts geschehen war, ging er um das Straßengeviert herum, kaufte eine neue Zeitung, las von einer Sitzung des Sicherheitsrates der UN über das Schicksal der Palästinaflüchtlinge, vom Fußball und von der Hochzeit der dänischen Kronprinzessin, dann endlich wurde drüben die Gartentür geöffnet, und eine Frau kam geradewegs auf ihn zu. Sie trug anliegende schwarze Hosen und einen lose fallenden Pullover, sie hatte das rötliche Haar aufgetürmt, und wenn nicht alles trog und wenn sie nicht allzuviel Polsterung untergeschmuggelt hatte, war es dichtes, reiches Haar. Das Gesicht darunter war jung und glatt und jetzt am Morgen ohne Make-up bis auf eine Spur Lippenstift. Als die Frau an Oakins vorbeiging, sah er, daß die Nase ein wenig zu dick war; das war vielleicht das einzige, was man an diesem Gesicht bemäkeln konnte, aber es wurde reichlich aufgewogen durch einen hübschen kleinen Mund mit dazu passenden niedlichen Zähnen. Dicht neben Oakins kam ein Gespräch in Gang zwischen Frau Curtin und einer anderen Frau, um das Wetter ging es und um einen Pudel, der auf das neue Mischfutter mit Leber geradezu verrückt war, man wünschte sich einen weiteren guten Tag, und Helen Curtin betrat den Laden, gefolgt von Oakins, der beobachtete, wie sie Öl und Zucker, Tee und Makkaroni in ihr Körbchen legte. Siehe da, die Erbin einer Fabrik und einer stattlichen Lebensversicherung kaufte selbst ein. Ihre Grüße waren freundlich, aber nicht heiter, denn sie war ja Witwe. Sie zahlte, Oakins sah ihr nach, wie sie zu ihrem Haus zurückging, und war sicher, daß er sich immer so im Hintergrund gehalten hatte, daß in ihrem Gedächtnis keine Spur von ihm geblieben war.

Am Nachmittag klapperte Oakins Buchhandlungen und Kioske ab, bis er eine Autokarte von Südfrankreich fand. Er suchte die Straße, auf der Curtin verunglückt war, und wunderte sich: Was hatte jemand, der nach Italien wollte, auf ihr verloren? Er rief die Three-Bell-Versicherung an, um Ashton zu fragen, was bisher über diesen Umstand in Erfahrung gebracht worden war, aber der gewichtige Direktor war nicht zu sprechen.