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Octave Mirbeau war ein französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der für seinen provokativen Schreibstil und seine sozialkritischen Werke bekannt war. Sein Buch 'Octave Mirbeau: Gesammelte Werke' bietet eine umfassende Sammlung seiner wichtigsten Arbeiten, darunter Romane, Essays und Theaterstücke. Mirbeau's literarischer Stil zeichnet sich durch seine schonungslose Darstellung von gesellschaftlichen Problemen, sein satirisches Schreiben und seine ironische Sicht auf die Welt aus. Seine Werke sind geprägt von einer tiefsinnigen Analyse der menschlichen Natur und sozialen Ungerechtigkeiten, die auch heute noch relevant sind.
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Seitenzahl: 516
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Books
Inhaltsverzeichnis
Mehrere Freunde waren eines Abends im Hause eines unserer berühmtesten Schriftsteller vereint. Nachdem sie ein köstliches Diner genommen hatten, stritten sie über das Thema des Mordes, ich weiß nicht aus welchem Anlaß, wahrscheinlich ohne jeden Grund. Es waren alles Männer; Moralisten, Dichter, Philosophen, Ärzte, kurz ausnahmslos Leute, die sich frei aussprechen durften, wie es ihnen ihre Phantasie, ihr Tollpunkt oder ihr Widerspruchsgeist eingab, ohne befürchten zu brauchen, daß sie plötzlich jenes Entsetzen und Verblüfftsein zu sehen bekämen, das schon der geringste, ein wenig gewagte Gedanke auf dem bestürzten Gesicht eines Notars malt. – Ich sage Notar, wie ich Advokat oder Portier sagen könnte, durchaus nicht in verächtlichem Sinne, sondern um die mittlere Norm des französischen Denkvermögens anzuführen. Ein Mitglied der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften bemerkte mit vollkommener Seelenruhe, als ob es sich darum gehandelt hätte, seine Meinung über die Vorzüge der Zigarre, die er rauchte, zu äußern:
– Meiner Treu! ... ich glaube allerdings, daß der Mord am meisten die Menschheit in Anspruch nimmt und beherrscht und alle unsere übrigen Thaten davon abzuleiten sind ...
Man machte sich auf eine lange theoretische Begründung gefaßt. Er aber verstummte.
– Selbstverständlich! ... stimmte ein gelehrter Darwinianer bei ... Der Grundsatz, den Sie da aufstellen, mein Lieber, ist eine jener ewigen Wahrheiten, wie sie der sagenhafte Herr de La Palisse tagtäglich entdeckte ... Da Mord sogar die Basis unserer sozialen Einrichtungen, folglich auch die dringendste Nothwendigkeit des civilisierten Lebens ist ... Wenn es keinen Mord mehr gäbe, würden auch keinerlei Regierungen mehr bestehen, infolge der bewunderungwürdigen Thatsache, daß das Verbrechen im Allgemeinen, der Mord im besondern, nicht nur für sie eine Entschuldigung, sondern sogar ihre alleinige Daseinsberechtigung vorstellt ... Wir würden sonst in vollster Anarchie leben, in einem Zustande, den man sich gar nicht vorstellen kann ... Infolge dessen ist es unerläßlich, weit davon entfernt den Mord zu vernichten, ich sage, es ist unerläßlich ihn mit Verständnis und Ausdauer zu pflegen ... und ich kenne kein besseres Culturmittel als Gesetze.
Und als Jemand Einspruch erhob, äußerte der Gelehrte, in fragendem Tone:
– Aber ich bitte Sie! sind wir unter uns, und sprechen wir ohne Rückhalt und Heuchelei, oder nicht?
– Um des Himmelswillen! ... bemerkte der Hausherr beruhigend ... benutzen wir ausgiebig die einzige Gelegenheit, da es uns gestattet ist, unsere heimlichen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, da ich in meinen Büchern und Sie in Ihren Collegien dem Publikum nur Lügen vorsetzen dürfen.
Der Gelehrte schob sich noch tiefer in die Polster seines Sessels, streckte die Beine aus, die ihm, da er sie zulange gekreuzt hatte, eingeschlafen waren und den Kopf zurückgebeugt, die Arme herabhängend, den Bauch von einer glücklichen Verdauungsthätigkeit geliebkost, blies er Rauchringe zur Decke empor und begann endlich von Neuem:
– Übrigens wird der Mord zur Genüge ganz von selbst gepflegt ... genauer ausgedrückt, ist er nicht das Resultat irgend einer Leidenschaft, auch nicht die pathologische Form der Entartung. Er ist ein Lebensinstinkt, der in uns wohnt ... der in allen organischen Wesen wohnt und sie gleich dem Geschlechtstriebe beherrscht ... Und dies ist so wahr, daß die längste Zeit sich diese beiden Instinkte so eng verbinden, so vollkommen ineinander aufgehen, daß sie gewissermaßen nur den einen und gleichen Instinkt bilden, daß man wirklich nicht mehr weiß, welcher von beiden uns dazu treibt, Leben zu geben, oder zu nehmen, welcher Mord und welcher Liebe ist. Ich habe die Beichte eines ehrenwerthen Mörders entgegengenommen, der Frauen tödtete, nicht um sie zu berauben, sondern um sie zu vergewaltigen. Sein Sport bestand darin, daß die Verzückung der Fleischeslust des einen, genau mit der Verzückung des Todes der andern zusammentraf: »In diesen Augenblicken, sagte er zu mir, stellte ich mir vor, ich sei ein Gott und schüfe die Welt.«
– Oho! rief der berühmte Schriftsteller ... wenn Sie Ihre Beispiele von den gewerbemäßigen Meuchelmördern herbeiholen!
Der Gelehrte entgegnete sanft:
– Wir sind eben alle mehr oder weniger Meuchelmörder ... Wir haben alle im Geiste analoge Gefühle gespürt, minder heftig, das will ich allenfalls glauben ... Der angeborene Drang nach Mord wird gezügelt und seine körperliche Heftigkeit gemildert, indem ihm gesetzlich gestattete Ausflüsse zur Verfügung stehen, die Industrie, der Colonialhandel, der Krieg, die Jagd, der Antisemittismus ... Weil es eben gefährlich ist, sich ihm ohne alle Mäßigung außerhalb der Gesetze zu überliefern, und weil die moralische Befriedigung, die man dadurch erhält, schließlich das doch nicht aufwiegt, daß man sich den gewöhnlichen Folgen dieser That aussetzt, der Verhaftung ... den Unterredungen mit den Richtern die stets ermüdend und jedes wissenschaftlichen Interesses bar sind ... schließlich der Guillotine ...
– Sie übertreiben, unterbrach ihn der Mann, der zu erst gesprochen hatte ... Nur für Mörder ohne Eleganz, ohne Geist, für impulsive und rohe Patrone, die keinerlei Art von Psychologie besitzen, ist Mord eine gefährliche That ... Ein intelligenter Mensch, der nachzudenken versteht, kann mit unantastbarer Ruhe jeden Mord, der ihm gutdünkt, begehen. Er ist der Straflosigkeit sicher ... Die Überlegenheit seiner Combinationen wird stets die Routine der polizeilichen Nachforschungen erfolgreich bekämpfen und sagen wir es frei heraus, auch die Armseligkeit der kriminalistischen Verhöre, in der sich unsere Untersuchungsrichter gefallen ... In dieser Hinsicht, wie in jeder andern, müssen eben die Kleinen für die Großen die Zeche bezahlen ... Nicht wahr, mein Lieber, Sie geben sicher zu, daß die Zahl der unaufgedeckten Verbrechen ...
– Und der geduldeten ...
– Und der geduldeten Verbrechen ... das wollte ich ja eben sagen, Sie geben sicher zu, daß diese Zahl tausendmal größer ist als die der entdeckten und bestraften Verbrechen, über die die Zeitungen mit seltsamer Weitschweifigkeit und einem widerlichen Mangel von Philosophie schwätzen? ... Wenn Sie dies zugeben, müssen Sie auch einräumen, daß der Gensdarm kein Abschreckungsmittel für die Intellektuellen des Mordes ist ...
Zweifellos. Aber darum handelt es sich nicht ... Sie verschieben die Frage ... Ich sagte: der Mord ist eine normale – und keineswegs eine außergewöhnliche – Function der Natur und jeglichen Lebewesens. Es ist folglich haarsträubend, daß die Gesellschaft unter dem Vorwande die Menschen zu regieren, sich das ausschließliche Recht, sie zu tödten angemaßt hat, zum Schaden der Individualitäten, denen allein dieses Recht inne wohnt.
– Sehr richtig! ... pflichtete ein liebenswürdiger, redseliger Philosoph bei, dessen Vorlesungen in der Sorbonne allwöchentlich ein auserlesenes Auditorium herbeiziehen ... Ich glaube meinerseits nicht, daß ein menschliches Geschöpf existirt, das nicht – wenigstens geistig – etwas von einem Mörder an sich hat ... Sehen Sie: mir macht es zuweilen Spaß, in Salons, in Kirchen, auf den Bahnhöfen, auf den Terrassen der Kaffeehäuser, im Theater, kurz überall wo Menschenmengen vorbeiziehen und sich ansammeln, vom Gesichtspunkt mörderischen Aussehens, die Physiognomien zu beobachten ... Sie tragen im Blicke, auf dem Nacken, in der Schädelform, an den Kinnbacken und den Wangen, kurz an irgend einer Stelle ihres Individuums, ausnahmslos sichtlich die Merkmale jenes physiologischen Factums, das man Mord nennt, an sich ... Das ist keine Verirrung meines Geistes, wenn ich Ihnen hier erkläre, daß ich keinen Schritt thun kann, ohne Mord zu streifen, ohne ihn unter den Augenlidern aufflammen zu sehen, ohne seine geheimnißvolle Berührung an den Händen, die sich mir entgegenstreckten, zu fühlen ... Vorigen Sonntag begab ich mich nach einem Dorfe, in dem gerade Jahrmarkt stattfand ... Auf dem großen Platze, der mit Laubwerk verziert war, mit blumengeschmückten Thriumphbogen und vielfarbenen Masten, konnte man aller Arten der bei diesen Volksunterhaltungen üblichen Belustigungen finden ... und unter der väterlichen Obhut der Behörden amüsirte sich eine Menge braver Leute ausgezeichnet ... Die Karoussels, die Rutschbahnen und Schaukeln übten nur sehr wenig Anziehungskraft auf die Menge aus. Vergebens quitschten die Leierkasten ihre lustigsten Weisen und verführerischen Melodien. Andere Vergnügungen fesselten diese Menge in Festesstimmung. Die Einen schossen mit dem Gewehr, oder mit Pistolen, ja mit der alten guten Armbrust auf Scheiben, die menschliche Gesichter darstellten. Andere brachten mit Ballwürfen Marionetten, die jämmerlich auf Holzbalken aufgestellt waren, zur Strecke; Andere schlugen mit Hämmern auf eine Platte, wodurch in patriotischer Weise ein französischer Seemann in Bewegung gesetzt wurde, der mit seinem Bajonett am Ende eines Balkens einen armen Hova oder einen bedauerlichen Dahomeyer durchbohrte ... Überall gab es unter den Zelten und in den kleinen beleuchteten Buden Darstellungen des Todes, Parodien von Metzeleien, Aufführungen von Hekatomben ... Und diese braven Leute waren überglücklich!
Jeder begriff, daß der Philosoph losgelassen war ... Wir richteten uns so gut es eben gieng ein, um die Lawine seiner Theorien und Anekdoten über uns ergehen zu lassen. Er fuhr fort:
– Ich habe sogar bemerkt, daß diese friedfertigen Vergnügungen seit einigen Jahren ansehnlich an Ausdehnung zugenommen haben. Die Freude am Tödten ist größer geworden und hat sich mehr verallgemeinert, in demselben Maaße wie die Sitten sanfter werden – denn die Sitten werden sanfter, das läßt sich nicht bezweifeln! ... Einstmals, als wir noch Wilde waren, zeigten diese Jahrmarktschießstände eine eintönige Armseligkeit, die jämmerlich anzusehen war. Es wurde nur auf Pfeifen geschossen, sowie auf ausgeblasene Eier, die auf einem Wasserstrahle tanzten. In den luxuriösesten Etablissements gab es allerdings Vögel, doch die waren aus Gips ... was für ein Vergnügen kann man daran finden, frage ich Sie? ... Heute hat sich der Fortschritt geltend gemacht, für jeden ehrenwerthen Mann ist es angänglich, sich für zwei Sous die köstliche und civilisatorische Aufregung eines Meuchelmordes zu verschaffen ... Und überdies kann man dabei auch noch bunte Schüsseln und Kaninchen gewinnen ... An Stelle der Pfeifen, der Eierschalen, der Vögel aus Gips, die in thörichter Weise zerbrachen, ohne uns eine blutige Vorstellung zu suggerieren, hat die Phantasie des fahrenden Volkes Gesichter von Männern, Frauen und Kindern gesetzt, die sorgfältigst ausgeführt und angezogen sind, wie es sich gebührt ... Darauf hat man diese Figuren mit Bewegungs- und Laufmechanismen versehen ... Durch eine geniale Maschinerie gehen sie glücklich hin und her, oder fliehen entsetzt. Man sieht sie einzeln oder in Gruppen, in Landschaften auftauchen, Mauern erklettern, in Burgthürme einsteigen, aus Fenstern springen und durch Fallthüren erscheinen ... Sie funktioniren gleich wirklichen Menschen, sie bewegen die Arme, die Füße und den Kopf. Einzelne scheinen zu weinen ... Einzelne gleichen armen Leuten ... einzelne sehen wie Kranke aus ... Es gibt auch welche, die mit Gold gleich märchenhaften Prinzessinnen bekleidet sind. Man kann sich wahrhaftig vorstellen, daß sie Vernunft, Willen und Seele besitzen ... daß sie lebend sind! ... Einige Figuren nehmen sogar pathetische, beschwörende Haltungen an ... Man glaubt sie sagen zu hören: »Gnade! ...Tödte mich nicht! ...« Folglich ist es ein entzückendes Gefühl, sich vorzustellen, daß man Wesen, die sich bewegen, die vorwärts schreiten, die Schmerz fühlen und um Gnade flehen, tödten kann! ... Und während mau auf sie das Gewehr oder die Pistole richtet, hat man im Munde einen Geschmack wie von warmem Blut ... Welche Lust, wenn der Ball diese scheinbaren Menschen enthauptet! ... Welcher Reiz liegt darin, wenn der Pfeil die Papierbrust durchbohrt, und die kleinen Leiber leblos zu Boden streckt, in der Lage eines Leichnams ... Jeder regt sich auf, wird mordlüstern und läßt sich Muth zusprechen ... Man hört nur noch Worte der Zerstörung und des Todes: »Gib' ihm nur den Rest! ... Ziel' auf sein Auge ... Ziel' auf's Herz ... Der hat sein Theil! ...« So gleichgültig diese braven Leute gegen Kreisscheiben und Pfeifen sind, so sehr begeistern sie sich, wenn das Ziel ein menschliches Bild vorstellt. Die Ungeschickten werden ärgerlich, nicht gegen ihre Ungeschicktheit, sondern gegen die Figur, die sie verfehlt haben ... Sie bezeichnen sie als einen Feigling, überhäufen sie mit gemeinen Beschimpfungen, wenn sie unverletzt hinter dem Thor des Burgthurmes verschwindet ... Sie fordern sie heraus: »Komm' nur, du elender Schuft!« und dann beginnen sie wieder darauf loszuschießen, bis sie sie getödtet haben ... Beobachten Sie nur diese braven Leute ... in diesem Augenblick sind es durchaus Mörder, Wesen, die von dem Gelüst zu tödten einzig und allein beherrscht werden. Die menschenmordende Bestie, die eben noch in ihnen schlummerte, ist vor der Illusion, daß sie ein lebendes Geschöpf vernichten könnten, erwacht! Denn das Männchen aus Pappe oder Holz, das vor der Coulisse hin- und hergleitet, ist für sie kein Spielzeug, kein Stückchen vernunftlosen Stoffes mehr ... Wenn sie die Figur hin- und hergleiten sehen, leihen sie ihr unbewußt eine Bewegungsfähigkeit, ein fühlendes Nervensystem, Gedanken und Vernunft, kurz all' das, was man so wollüstig gern vernichtet, mit so köstlicher Wildheit durch Wunden, die man ihm zugefügt hat, verbluten sieht ... Sie gehen sogar so weit, daß sie das Männchen mit politischen oder religiösen Meinungen ausstatten, die den ihren entgegengesetzt sind, daß sie ihm vorwerfen, ein Jude, Engländer oder Deutscher zu sein, um noch einen speziellen Haß zu diesem allgemeinen Haß gegen alles Leben hinzuzufügen und so durch eine persönliche, äußerst erquickliche Rache das instinktive Vergnügen am Tödten zu verdoppeln.
Hier legte sich der Hausherr ins Mittel, der aus Höflichkeit gegen seine Gäste, oder in der barmherzigen Absicht, unsern Philosophen und uns selbst ein wenig ausschnaufen zu lassen, lässig einwendete:
Sie sprechen nur von rohen Gesellen, von Bauern, die, wie ich zugeben will, im Banne ständiger Mordlust stehen ... Aber es ist nicht möglich, daß Sie dieselben Beobachtungen an »kultivirten Geistern«, an »polizeilich geschulten Naturen,« an Mitgliedern der guten Gesellschaft zum Beispiel, gemacht haben, die in jeder Stunde ihres Daseins Siege über den Urinstinkt und die wilden Gelüste des Atavismus davon tragen.
Darauf antwortete unser Philosoph lebhaft:
– Gestatten Sie ... Was sind denn eigentlich die Gewohnheiten und die bevorzugten Vergnügungen der Leute, die Sie »kultivirte Geister und polizeilich geschulte Naturen« nennen, mein Lieber? Das Fechten, das Duell, wilde Sports, das schändliche Taubenschießen, Stierkämpfe, die verschiedenen Übungen des Patriotismus, die Jagd ... alle diese Dinge sind in Wirklichkeit nur Rückschritte zur Epoche des antiken Barbarenthums, als der Mensch – wenn man sich so ausdrücken darf – im Punkte seiner moralischen Kultur mit den riesigen Raubthieren, denen er nachstellte, auf gleicher Stufe stand. Man braucht sich übrigens nicht darüber beklagen, daß die Jagd die ganze schlecht umgeformte Überlieferung alterthümlicher Sitten überlebt habe. Sie ist eine bedeutende Ableitung, durch die die »kultivirten Geister und polizeilich geschulten Naturen,« all' dem was in ihnen noch immer an Zerstörungslust und blutiger Leidenschaft besteht, ohne uns damit größeren Schaden zuzufügen, freien Lauf lassen. Sonst könnten Sie versichert sein, daß »die kultivirten Geister« statt den Hirsch zu hetzen, das Wildschwein abzufangen und unschuldiges Geflügel in den Kleefeldern niederzumetzeln, auf unsere Spuren ihre Meute hetzen und daß uns die »polizeilich geschulten Naturen« lustig mit Flintenschüssen niedermachen würden, welche Bethätigung sie nie verfehlen, wenn sie durch irgend eine Art und Weise zur Macht gelangt sind; sie thun dies mit mehr Entschlossenheit und – wir müssen das freimüthig anerkennen – mit weniger Heuchelei, als die auf niedrigerer Stufe stehenden ... Ach, hoffen und wünschen wir, daß das Wildpret nie aus unsern Haiden und Wäldern verschwände! ... Es ist unsere Schutzwache und gewissermaßen unser Lösegeld ... An dem Tage, da es plötzlich verschwinden würde, müßten wir rasch zu dem heiklen Vergnügen »der kultivirten Geister« seine Stelle einnehmen. Der Fall Dreyfus stellt uns ein bewunderungswürdiges Beispiel dafür vor, ich glaube: nie wurde die Lust am Morde und die Freude an der Jagd auf Menschen so vollkommen und cynisch offen gezeigt ... Unter den außergewöhnlichen Vorkommnissen und scheußlichen Thaten, zu denen sie täglich seit Jahresfrist Anlaß gaben, bleibt die Verfolgung des Herrn Grimaux durch die Straßen von Nantes der charackteristische Zug, der den »kultivirten Geistern und polizeilich geschulten Naturen« alle Ehre macht, die diesen großen Gelehrten, dem wir die hervorragendsten Untersuchungen in der Chemie verdanken, schmählichst beschimpften und mit dem Tode bedrohten ... Man muß sich stets daran errinnern, daß der Bürgermeister von Clisson, auch ein »kultivirter Geist«, in einem offenen Briefe Herr Grimaux das Betreten seiner Stadt verbot und sein Bedauern darüber aussprach, daß die modernen Gesetze ihm nicht gestatten, ihn »hoch und kurz zu henken« wie es Gelehrten in den schönen Zeiten der früheren Monarchien zukam ... Darin wurde der ausgezeichnete Bürgermeister von allem unterstützt, was Frankreich an entzückenden »Mitgliedern der guten Gesellschaft« zählt, die, wie unser Wirth sagt, in jeder Stunde ihres Daseins Siege über den Urinstinkt und die wilden Gelüste des Atavismus davontragen. Bemerken Sie übrigens auch, daß sich aus den Reihen der kultivirten Geister und polizeilich geschulten Naturen fast ausschließlich die Offiziere rekrutiren, daß heißt Leute, die weder schlechter noch dümmer als die andern sind und sich frei ihren – übrigens allgemein geachteten – Beruf wählten, bei dem die ganze geistige Anstrengung darin besteht, an einer menschlichen Person die verschiedensten Vergewaltigungen vorzunehmen, die vollständigsten, die sichersten Mittel für Raub, Zerstörung und Mord zu entfalten und zu vervielfachen ... Gibt es nicht Krigsschiffe, die man mit den durchaus loyalen und der Wahrheit entsprechenden Namen Devastation (Verwüstung) ... Furor ... Terror ... ausgestattet hat? ... Und ich selbst? ... Ja sehen Sie! ... ich habe die Gewißheit, daß ich kein Scheusal bin ... Ich glaube ein normaler Mensch zu sein, mit zärtlichen Neigungen, höheren Gefühlen, überlegener Kultur und dem Raffinement der Civilisation und Geselligkeit ... Na also, und wie oft habe ich in meinem Innern die gewaltthätige Stimme des Mordes knurren hören! ... Wie oft fühlte ich aus der Tiefe meines Lebens in einem Blutstrome nach meinem Hirn das Verlangen, das wilde, heftige und fast unbesiegliche Gelüst zu tödten, steigen! ... Glauben Sie nicht, daß dieses Gelüst sich in einer leidenschaftlichen Krise offenbart habe, von überlegtem Jähzorn begleitet worden sei, oder sich durch niedrige Habsucht entwickelt habe .... Nichts von alledem ... Dieses Gelüst entsteht plötzlich, kraftvoll, ohne Rechtfertigung in mir, aus keinerlei Ursache und bei keinerlei Anlaß ... Auf der Straße zum Beispiel, vor dem Rücken eines unbekannten Spaziergängers ... Ja, es gibt Rücken auf der Straße, die den Dolch herbeirufen ... Weshalb? ...
Nach diesem unvorhergesehenen Geständnis verstummte der Philosoph einen Augenblick lang und sah uns mit furchtsamer Miene an ... Dann begann er von Neuem:
– Nein, sehen Sie, die Moralisten können gut reden, der Drang zum Tödten wird im Menschen zugleich mit dem Drange zu essen geboren, und verschmilzt mit diesem ... Diesen instinktiven Drang, der der Motor aller lebenden Organismen ist, entwickelt die Erziehung, statt ihn einzuschränken, die Religionen heiligen ihn, statt ihn zu verfluchen; alles verbündet sich, um aus ihm die Achse zu machen, um die sich unsere bewunderungswürdige Gesellschaft dreht. Sowie der Mensch zum Bewußtsein erwacht, wird ihm der Geist des Mordes ins Hirn gehaucht, der Mord bis zur Pflicht erhoben, bis zum Heldenthum popularisiert, wird ihn durch alle Etappen seines Dasein's begleiten. Man wird ihn barocke Götter, tobsüchtige Götter anbeten lassen, die nur an Sündfluthen Gefallen finden und in reißender Wildheit Menschenleben verschlingen, Völker gleich Getreidefeldern niedermähen. Man wird ihn nur Helden achten lehren, diese ekelhaft rohen Kerle, die mit Verbrechen beladen und über und über roth von menschlichem Blute sind. Die Tugenden und Fähigkeiten, durch die er sich über seines Gleichen erheben und Ruhm, Vermögen und Liebe erringen kann, stützen sich einzig und allein auf Mord ... Er wird im Kriege die höchste Form des ewigen und allgemeinen Mordwahnsinnes finden, des regelmäßigen, in Regimenter eingetheilten obligatorischen Mordes, der eine nationale Pflicht ist. Wohin er auch geht, was er auch thut, stets wird er das Wort: Mord unsterblich auf dem Schilde dieses weiten Schlachthofes, der die Menschheit ist, angeschrieben sehen. Weshalb soll also dieser Mensch, dem man von frühester Kindheit an Nichtachtung des menschlichen Lebens eingeprägt hat, den man dem gesetzlichen Morde weihte, vor einem Todtschlag zurückschrecken, wenn er dabei Nutzen oder Zerstreuung findet? Im Namen welchen Gesetzes will die Gesellschaft Mörder verurtheilen, die in Wirklichkeit sich nur den menschenmordenden Gesetzen, die sie gegeben, anpassen, und den blutigen Beispielen, die sie ihnen geliefert, folgen? ... »Wie, könnten eines Tages die Mörder sagen, Ihr nöthigt uns einen Haufen von Leuten, gegen die wir keinerlei Haß spüren, die wir ja nicht einmal kennen, niederzumetzeln; je mehr wir tödten, in desto reicherem Maaße bedeckt Ihr uns mit Anerkennung und Ehren! ... Eines anderen Tages, Eurer Logik vertrauend, unterdrücken wir Wesen, die uns unbequem sind, und die wir verabscheuen, weil wir ihr Geld, ihr Weib, ihre Stellung begehren, oder auch einfach nur, weil es uns Freude bereitet sie zu unterdrücken: All' das sind genaue, annehmbare und menschliche Begründungen und da kommt uns der Gensdarm, der Richter und Henker in die Quere! ... Das ist eine haarsträubende Ungerechtigkeit, die sich mit dem gesunden Menschenverstande nicht vereinen läßt!« Was könnte darauf die Gesellschaft zur Antwort geben, wenn ihr auch nur das Mindeste an Logik gelegen wäre?
Ein junger Mann, der bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte, bemerkte nun:
– Ist dies wohl die richtige Erklärung der seltsamen Mordmanie, von der wir, wie Sie behaupten, ausnahmslos, von Natur aus und in der That befallen sind? ... Ich weiß es nicht und will es auch gar nicht wissen. Das befriedigt in höherem Grade meine geistige Faulheit, die davor zurückscheut soziale und menschliche Probleme zu lösen, die übrigens ja nie gelöst werden, und das bestärkt mich in dem Gedanken, in den ausschließlich poetischen Gründen, durch die ich alles, was ich nicht begreife, zu erklären oder vielmehr nicht zu erklären versucht bin ... Sie haben uns, verehrter Meister, soeben ein schreckliches Geständnis gemacht und uns Eindrücke beschrieben, die, wenn sie eine active Form annehmen würden, Sie weit führen könnten und mich desgleichen, denn ich habe diese Eindrücke auch oft genug erhalten und erst vor ganz kurzer Zeit unter folgenden, sehr banalen Verhältnissen ... Aber gestatten Sie mir vorher die Bemerkung, daß ich diesen abnormalen Geisteszustand vielleicht der Umgebung verdanke, in der ich aufgewachsen bin, sowie den täglichen Einflüssen, die ohne mein Wissen auf mich wirkten ... Sie kennen meinen Vater, den Doctor Trepan. Sie wissen, daß es keinen geselligeren, keinen liebenswürdigeren Menschen als ihn gibt. Es gibt aber auch keinen Menschen, aus dem sein Beruf einen rücksichtsloseren Mörder gemacht hätte ... Oft genug habe ich diesen wundervollen Operationen, die ihn in der ganzen Welt berühmt gemacht haben, beigewohnt ... Seine Verachtung des Lebens hat etwas wirklich Grandioses an sich. Einmal hatte er in meiner Gegenwart einen sehr schwierigen Schnitt in der Weichengegend einer Patientin ausgeführt, als er plötzlich die Kranke, die noch im Chloroformschlafe lag, nochmals genau untersuchte und vor sich hinmurmelte: »Diese Frau muß eine Affection am Magenmunde haben ... wie wäre es, wenn ich ihr den Magen öffnete ... Ich habe ja Zeit genug dazu.« Darauf nahm er die Operation vor; aber die Kranke hatte dort nichts. Da begann mein Vater die unnütze Wunde zuzunähen, während er bemerkte: »So habe ich mir wenigstens Gewißheit verschafft.« Diese Überzeugung war umso werthvoller, als die Patientin noch am selben Abend verschied ... Ein anderesmal besuchten wir in Italien, wohin er wegen einer Operation gerufen worden war, ein Museum ... Ich war begeistert. »Ach Du Dichter! ... Du Dichter, rief mein Vater, der sich keinen Augenblick lang für die Meisterwerke, die mich in wahres Entzücken versetzten, interressirte ... Die Kunst! ... die Kunst! ... Das Schöne! ... Weißt Du was das ist? ... Na also, mein Junge, das Schöne ist ein geöffneter, blutüberströmter Frauenbauch, mit Pinzetten darin! ...« Aber ich philosophire nicht, ich erzähle nur ... Sie können aus dem Bericht all die anthropologischen Folgen ziehen, die er enthält, wenn er überhaupt welche enthält ...
Der junge Mann hatte eine Sicherheit in seinem Auftreten, einen schneidenden Ton in der Stimme, der uns förmlich schaudern ließ.
– Ich kam aus Lyon zurück, begann er von Neuem, und befand mich allein in einem Coupé erster Klasse. In irgend einer Zwischenstation, ich weiß nicht mehr in welcher, stieg ein Reisender ein. Der Ärger darüber, in seiner einsamen Beschaulichkeit gestört zu werden, kann wohl eine geistige Verfassung von größter Heftigkeit veranlassen, und Einen zu bedauerlichen Thaten geneigt machen, das will ich gerne zugeben ... Aber ich empfand nichts dergleichen ... ich langweilte mich dermaßen allein, daß das zufällige Herbeikommen eines Gesellschafters mir anfänglich geradezu angenehm war. Er ließ sich mir gegenüber nieder, nachdem er behutsam sein kleines Gepäck in dem Tragnetz untergebracht hatte ... Er war ein dicker Mensch von gewöhnlichem Benehmen, dessen fette und glänzende Häßlichkeit mir ohne Verzug antipathisch wurde ... Nach Verlauf von wenigen Minuten fühlte ich, wenn ich ihn ansah, etwas wie unüberwindlichen Ekel ... Er war schwerfällig auf den Kissen niedergesunken und streckte die Beine auseinander, während sein riesiger Bauch bei jedem Stoß des Zuges gleich einem gemeinen Gelatinpacket zitterte und wogte. Da ihm augenscheinlich warm war, nahm er seinen Hut ab und wischte sich schmutzig die Stirn ab, eine niedrige, runzlige, knotige Stirn, die gleich Aussatz von kurzen, spärlichen, klebrigen Haaren zerfressen wurde. Sein Gesicht war nur eine Häufung von Fettklumpen; sein dreifaches Kinn, diese feige Kravatte weichlichen Fleisches, baumelte auf seine Brust herab. Um diesen unangenehmen Eindruck zu vermeiden, entschloß ich mich die Gegend zu betrachten und gab mir Mühe von der Gegenwart dieses peinlichen Gefährten vollkommen abzusehen. Eine Stunde verging ... und als die Neugierde, die stärker als mein Wille war, meine Blicke wieder auf ihn gerichtet hatte, sah ich, daß er in niedrigen, tiefen Schlaf versunken war. Er schlief, in sich selbst zusammengesunken, der Kopf hing herab und baumelte auf den Schultern, seine dicken aufgedunsenen Hände lagen offen auf den Beinen. Ich bemerkte, daß seine runden Augen unter den geschlossenen Lidern zitterten, in deren Mitte, wie in einem Riß, ein Stückchen bläulicher Pupille gleich einem Eitergewächs auf einem Fetzen welken Fleisches erschien. Welch' plötzlicher Wahnsinnsgedanke durchzuckte mir das Gehirn, ich weiß es wahrhaftig nicht ... Denn wenn ich mich auch oft zur Mordlust gereizt gefühlt hatte, blieb dies doch stets im keimartigen Zustande des Verlangens und hatte noch nie die bestimmte Form einer Geberde oder einer That angenommen ... Kann ich glauben, daß nur die niedrige Häßlichkeit dieses Menschen diese Geberde und diese That herausforderte? ... Nein, es lag noch ein tieferer Grund vor, dessen ich mir nicht genau bewußt bin ... Ich stand behutsam auf und näherte mich dem Schläfer mit ausgestreckten, verkrampften und gewaltthätigen Händen, als ob ich ihn erwürgen wollte ...
Darauf machte er als ein Erzähler, der mit seinen Wirkungen wohl hauszuhalten weiß, eine Pause ... Dann fuhr er mit sichtlicher Befriedigung fort:
– Trotz meiner unansehnlichen Gestalt bin ich mit bedeutender Kraft begabt, mit einer seltenen Geschicklichkeit der Muskeln, mit außergewöhnlicher Spannkraft, und in diesem Augenblicke verdoppelte eine seltsame Hitze die Wirkungfähigkeit meiner körperlichen Eigenschaften ... Meine Hände näherten sich ganz von selbst dem Nacken dieses Mannes, ganz von selbst, ich versichere Sie, eifrig und schrecklich ... ich fühlte in mir nur eine Leichtigkeit, eine Elastizität, einen Strom nervöser Wellen, etwas gleich dem starken Rausche geschlechtlicher Wollust ... Ja, ich kann das, was ich empfand, mit gar nichts besserem vergleichen ... In dem Augenblick, als meine Hände, gleich einer unlösbaren Zwinge, diesen fettigen Hals umschlingen wollten, erwachte der Mann ... Er erwachte mit Entsetzen im Blicke und stammelte: »Was denn? ... Was denn? ... Was? ...« Und das war alles! ... Ich sah wohl, daß er noch weiter wollte, aber er vermochte es nicht ... Sein rundes Auge zitterte gleich einem Flämmchen, das vom Winde bewegt wird. Dann starrte er mich unbeweglich, voll Entsetzen an ... Ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Entschuldigung oder Erklärung zu suchen, durch die dieser Mensch beruhigt worden wäre, ließ ich mich ihm gegenüber nieder und entfaltete mit ruhiger Gewandtheit, die mich heute noch Wunder nimmt, eine Zeitung, die ich übrigens nicht las ... Mit jeder Minute wuchs das Entsetzen in den Augen des Menschen, die sich nach und nach verdrehten, ich sah wie sein Gesicht rothe Flecken annahm, sich dann bläulich färbte und starr wurde ... Bis Paris behielt der Blick des Mannes diese entsetzliche Starrheit ... Als der Zug anhielt, stieg der Mann nicht aus ...
Der Erzähler zündete eine Zigarette an der Flamme einer Kerze an, und erklärte, nachdem er den Rauch vor sich hingeblasen, mit phlegmatischer Stimme:
– Ich glaube es gern! ... Er war todt! ... Ich hatte ihn durch einen Gehirnschlag getödtet ...
Dieser Bericht rief ein großes Unbehagen unter uns hervor und wir sahen uns verblüfft an ... War der seltsame junge Mann aufrichtig, hatte er uns zum Besten haben wollen? ... Wir erwarteten eine Erklärung, einen Kommentar, einen Schnörkel ... aber er schwieg ... Er rauchte ernst und bedächtig weiter und schien jetzt an etwas anderes zu denken ... Die Unterhaltung wurde von diesem Augenblick an regellos, ohne Stimmung fortgesetzt und verweilte tändelnd bei tausend unnützen Dingen in erschlaffendem Tone ...
Da sagte ein Mann mit verwüstetem Gesicht, gekrümmtem Rücken, trüben Augen, vor der Zeit ergrautem Haar und Bart, mit zitternder Stimme, indem er mühsam aufstand:
– Sie haben bisher von allem gesprochen, außer von Frauen, was mir bei einer Frage, in der sie die größte Wichtigkeit besitzen, wirklich unbegreiflich erscheint.
– Sehr richtig! ... Wir wollen jetzt von den Frauen sprechen, stimmte der berühmte Schriftsteller bei, der sich nun wieder in seinem Lieblingselement befand, denn er galt in der Litteratur als jener merkwürdige Dummkopf, den man einen feministischen Meister nennt ... Es war wirklich die höchste Zeit, daß ein wenig Frohsinn diese blutigen Traumgebilde verscheuchte ... Sprechen wir von der Frau, meine Freunde, da wir in ihr und durch sie unsere wilden Instinkte vergessen, lieben lernen und uns bis zur höchsten Erkenntnis des Mitleids und Ideals erheben.
Der Mann mit dem verstörten Gesicht lachte kurz auf, in seinem Lachen kreischte Ironie, gleich einer alten Thür, deren Angeln verrostet sind.
– Die Frau als Erzieherin zum Mitleid! ... rief er ... ja ich kenne diese Melodie ... sie ist sehr im Schwunge in einer gewissen Litteratur und in den Collegien von Salonphilosophie ... Doch ihre ganze Geschichte und nicht allein ihre Geschichte, sondern auch ihre Rolle in der Natur und im Leben strafen diese durchaus romantische Behauptung Lügen ... Denn weshalb drängen sich sonst die Frauen zu blutigen Schauspielen, mit der gleichen Verzückung, wie beim Wollustrausche? ... Weshalb strecken sie, wie man sich stets überzeugen kann, auf der Straße, im Theater, in den Gerichtssälen und vor der Guillotine den Hals nach Folterscenen aus, reißen gierig die Augen auf und empfinden bis zum Ohnmächtigwerden, schändliche Freude am Tode? ... Weshalb läßt sie schon der Name eines großen Mörders bis in die tiefsten Tiefen ihres Leibes in einer Art von köstlichem Entsetzen erschaudern? ... Sie schwärmen alle, oder beinahe alle von Pranzini! ... Weshalb? ...
– Ach was! ... rief der berühmte Schriftsteller aus ... Das sind doch Dirnen ...
– Nicht im Geringsten, erwiderte der Mann mit dem verstörten Gesicht, auch große Damen und Bürgerfrauen ... Das kommt ganz aufs gleiche heraus ... In Bezug auf Frauen gibt es keine moralischen Kategorien, es gibt nur soziale Kategorien, es sind eben Frauen ... Die Frauen aus dem Volke, aus dem hohen und kleinen Bürgerstande, ja aus den höchsten Kreisen der Gesellschaft stürzen sich lüstern auf jene scheußlichen Todtenkammern und absurden Verbrechermuseen, die die Feuilletons des Petit Journal sind. Weshalb? ... Das kommt daher, weil die großen Mörder auch stets schreckliche Liebhaber waren ... Ihre geschlechtliche Kraft entspricht ihrer verbrecherischen Kraft ... Sie lieben wie sie tödten! ... Der Mord wird aus der Liebe geboren und die Liebe erhält ihre höchste Spannkraft durch den Mord ... Es ist dies die gleiche physiologische Erregtheit ... Es sind die gleichen erstickenden Geberden, die gleichen Bisse ... Und häufig fallen dabei auch die gleichen Worte in der identischen Verzückung..
Er sprach mühsam, während ein leidender Zug bei ihm bemerkbar wurde ... Je länger er sprach, desto trüber wurden seine Augen, desto deutlicher traten die Runzeln seines Gesichtes hervor ...
– Das Weib als Spenderin des Ideals und Mitleids! ... begann er vom Neuen ... Aber die schändlichsten Verbrechen sind fast stets das Werk des Weibes ... Das Weib denkt sie aus, entwickelt sie, bereitet sie vor und leitet sie ... Wenn die Frau diese Thaten nicht mit eigener, oft zu schwächlicher Hand ausführt, kann man doch in allen diesen Verbrechen ihren Charakter voll reißender Wildheit, ihre Unerbittlichkeit, ihre Geistesgegenwart, ihren Gedanken, ihr Geschlecht wiederfinden ... »Cherchez la femme!« sagt der weise Kriminalist ...
– Sie verleumden das Weib! ... widersprach der berühmte Schriftsteller, der eine entrüstete Geberde nicht zurückhalten konnte. Sie stellen uns hier als Grundsatz auf, was doch nur in sehr seltenen Ausnahmen der Fall ist ... Entartung, Neurose, Neurasthenie ... alle Wetter! ... Das Weib ist gleich dem Manne gegen seelische Krankheiten nicht gefeit ... Obwohl bei ihm diese Krankheiten eine reizende und rührende Gestalt annehmen, die uns nur noch besser die Zartheit seines köstlichen Gefühllebens begreifen läßt. Nein, mein Herr, Sie befinden sich in einem bedauerlichen, und wenn ich mich so ausdrücken darf, verbrecherischen Irrthume ... Was man am Weibe bewundern muß, ist im Gegentheil der große Sinn, die große Liebe, die es für's Leben hat, und die, wie ich vorhin sagte, ihren endgiltigen Ausdruck im Mitleid findet ...
– Litteratur! ... Das ist Litteratur, mein Herr! ... Und zwar die denkbar schlimmste.
– Das ist Pessimismus, mein Herr! ... Blasphemie!.. Unvernunft!
– Ich glaube, Sie täuschen sich alle beide, warf ein Arzt ein ... die Frauen sind weit raffinirter und verwickelter als Sie annehmen ... sie sind unvergleiche Virtuosen, großartige Künstler des Leidens und deshalb ziehen sie das Schauspiel des Schmerzes dem des Todes, die Thränen dem Blute vor. Und dies ist eine bewunderungswürdige amphibologische Thatsache, wobei jeder seine Rechnung findet, denn jeder kann daraus sehr verschiedene Schlußfolgerungen ziehen, das Mitleid der Frau übertreiben, oder ihre Grausamkeit verfluchen, gestützt auf gleich unangreifbare Begründungen kann ihr Jeder, wie er nun gerade im Augenblick gelaunt ist, Erkenntlichkeit oder Hatz zuwenden ... Und dann: wozu dienen denn alle diese unfruchtbaren Streitigkeiten? ... Da wir doch in dem ewigen Kampfe der Geschlechter stets die Besiegten sind und nichts dagegen thun können ... und da wir doch, ob wir nun Weiberfeinde oder Feministen sind, bis jetzt zur Wollust und zur Fortpflanzung kein vollkommeneres Vergnügungsinstrument und kein anderes Zeugungsmittel, als das Weib, gefunden haben? ...
Aber der Mann mit dem verstörten Gesichte machte eine heftig verneinende Bewegung:
– Hören Sie mich an, sagte er: Die Zufälligkeiten des Lebens – und was für ein Leben war das meine! ... haben mich nicht einer Frau ... sondern der Frau gegenübergestellt. Ich habe sie gesehen, frei von allem Kunstwerk, von all den Heucheleien, mit denen die Civilisation ihre wahre Seele, wie mit einen Lügenschmuck verhüllt ... Ich habe sie gesehen, ihrer Laune allein überlassen, oder wenn Sie das vorziehen, unter der alleinigen Herrschaft ihrer Instinkte, in einer Umgebung wo allerdings nichts sie zügeln konnte, wo sich im Gegentheil alles verschwor, um sie aufzuregen ... Nichts verbarg mir sie, weder Gesetze, noch Moral, noch religiöse Vorurtheile, noch soziale Convenienz ... Ich habe sie in ihrer ganzen Wirklichkeit, in ihrer ursprünglichen Nacktheit, zwischen Gärten und Qualen, zwischen Blut und Blumen gesehen ... Als sie mir erschien, war ich zur niedrigsten Stufe menschlicher Herabgekommenheit gesunken – wenigstens glaubte ich es. Da schrie ich vor ihren Augen voll Liebe, vor ihrem Munde voll Mitleid, hoffend auf, und glaubte ... ja ich glaubte, daß ich durch sie gerettet werden würde. Nun also, die Dinge nahmen einen fürchterlichen Verlauf! ... Die Frau hat mich Verbrechen kennen gelehrt, die ich noch nicht kannte, Schatten, in die ich noch nicht herabgestiegen war ... Sehen Sie meine erstorbenen Augen an, meinen Mund, der nicht mehr zu sprechen weiß, meine zitternden Hände ... weil ich sie gesehen habe! ... Aber ich kann ihr nicht fluchen, ebensowenig wie ich dem Feuer fluche, das Städte und Wälder verheert, dem Wasser, das Schiffe scheitern läßt, dem Tiger, der die blutige Beute in seinem Rachen nach der Tiefe des Dschungel schleppt ... Die Frau hat in sich die weltumspannende Kraft der Elemente, einen unüberwindlichen Zerstörungsdrang, gleich der Natur ... Sie ist ganz allein an sich schon die ganze Natur! ... Da sie die Gebärmutter des Lebens ist, ist sie auch gleichfalls die Gebärmutter des Todes ... Da durch den Tod, das Leben unablässig wiedergeboren wird ... Und da den Tod abschaffen auch das Leben in seiner einzigen Fruchtbarkeitsquelle tödten hieße ...
– Und was beweist das? ... bemerkte der Arzt, achselzuckend.
Jener antwortete einfach:
– Das beweist nichts ... Müssen denn die Dinge, um dem Leide oder der Freude anzugehören, bewiesen werden? ... Sie müssen gefühlt werden ...
Dann zog der Mann mit dem verstörten Gesicht schüchtern und – o, Allmacht der menschlichen Eigenliebe! – mit sichtlicher Befriedigung über sich selbst, eine Papierrolle aus der Tasche, die er sorgsam entfaltete:
– Ich habe den Bericht dieses Theils meines Lebens niedergeschrieben, sagte er.. Lange zauderte ich ihn zu veröffentlichen und zaudere heute noch. Ich möchte ihn aber Ihnen vorlesen, da Sie Männer sind und nicht in die ärgste Finsterniß menschlicher Geheimnisse einzudringen fürchten ... Ach, daß Sie dennoch den blutigen Schrecken dieses Berichtes ertragen könnten! ...
Er betitelt sich: Der Garten der Qualen...
Unser Wirth ließ noch Zigarren und Getränke herbeischaffen ...
Ehe ich eine der furchtbarsten Episoden meiner Reise nach dem äußersten Orient berichte, ist es vielleicht von Interesse, wenn ich kurz auseinandersetze, durch was für Verhältnisse ich zu diesem Unternehmen veranlaßt wurde. Es ist ein Stück zeitgenössischer Weltgeschichte.
Allen denen, die sich vielleicht darüber wundern, daß ich in allen Punkten, die mich betreffen, grundsätzlich und ausnahmslos keine Namen nenne ... im ganzen, weiteren Verlauf dieses wahrhaften und traurigen Berichtes, sage ich nur:
»Mein Name thut nichts zur Sache! ... Es ist der Name eines Menschen, der sich und Andern viel Unheil zufügte, sich noch mehr als den andern, und der, nachdem er nach mannigfaltigen Erschütterungen bis zur Tiefe menschlichen Gelüstes herabgestiegen ist, versucht, sich eine neue Seele in der Einsamkeit und im Dunkel zu schaffen. Friede der Asche seiner Sünde.«
Vor zwölf Jahren stellte ich meine Kandidatur zur Deputiertenwahl auf, da ich durchaus nicht mehr wußte, was ich anfangen sollte und durch eine Reihe von Schicksalsschlägen mich der harten Alternative, mich aufzuhängen oder in die Seine zu springen, gegenüber befand; diese Kandidatur – meine letzte Rettung – stellte ich in einem Departement auf, in dem ich keine Menschenseele kannte und in das ich nie den Fuß gesetzt hatte.
Es ist allerdings wahr, daß meine Kandidatur officiell von dem Kabinet unterstützt wurde, das nicht wußte, was es mit mir anfangen sollte und dadurch ein geniales und feinfühliges Mittel an der Hand hatte, um meine täglichen und dringlichen Quälereien los zu werden.
Bei diesem Anlaß hatte ich mit dem Minister, der mein Freund und früherer Schulkamerad war, eine gleichzeitig feierliche, sowie auch vertrauliche Unterredung.
– Jetzt siehst Du, wie nett wir zu Dir sind! ... sagte dieser mächtige und freigebige Freund zu mir ... Kaum haben wir Dich den Armen der Gerechtigkeit entzogen – was gar nicht so leicht durchzusetzen war – so wollen wir auch schon einen Deputierten aus Dir machen.
– Ich bin noch nicht dazu ernannt ... sagte ich in griesgrämigen Tone.
– Sehr richtig! ... Allein Du hast alle Chancen für Dich ... Du bist ein intelligenter Mensch und hast ein verführerisches, bestrickendes Äußere, Du kannst wahre Wunder verrichten, Du bist auch ein guter Kerl, wenn es Dir Spaß macht und besitzest die majestätische Gabe zu gefallen ... Die Männer, die auf die Frauen wirken, mein Lieber, sind auch stets Leute der großen Menge ... Ich bürge für Dich ... Es handelt sich jetzt nur darum die Lage wohl zu begreifen ... Übrigens ist sie äußerst einfach ...
Dann empfahl er mir:
Vor allem keinerlei Politik! ... Verpflichte Dich zu nichts ... Laß' Dir ja nicht vielleicht Dein Temperament durchgehen! ... In dem Wahlbezirk, den ich für Dich ausgewählt habe, überragt eine Frage an Wichtigkeit alle andern: die Runkelrübe ... Das Übrige zählt nicht und geht einzig und allein den Präfecten an ... Du bist rein landwirthschaftlicher Kandidat ... besser als das, ausschließlich Rübenkandidat ... Vergiß' dies nicht ... Was auch im Verlauf des Kampfes geschehen möge, halte Dich unentwegt auf dieser ausgezeichneten Basis aufrecht ... Kennst Du die Runkelrübe ein Bischen? ...
– Meiner Treu! nein, antwortete ich ... Ich weiß nur, wie jeder gebildete Mensch, daß daraus Zucker ... und Alkohol gewonnen werden.
– Bravo! das genügt, bemerkte der Minister mit beruhigender, herzlicher Würde, in beifälligem Tone ... Geh' ungescheut auf dieser Basis weiter ... Versprich ihnen wunderbare, märchenhafte Erträgnisse ... außerordentliche und kostenlose chemische Dungmittel ... Eisenbahnen, Kanäle und Straßen für den Verkehr mit diesem interessanten patriotischen Gemüse ... Kündige ihnen Steuerermäßigungen an, Prämien für Landwirthe, fürchterliche Abgaben auf concurrirende Stoffe ... kurz was Dir gerade einfällt! ... In dieser Hinsicht gebe ich Dir alle Machtvollkommenheit und werde Dich dabei nach Kräften unterstützen ... Aber laß' Dich nicht etwa in persönliche oder allgemeine Polemiken hineinreißen, die Dir gefährlich werden könnten und zugleich mit Deiner Wahl den Ruhm der Republik beschimpfen würden ... Denn unter uns gesagt, alter Junge – ich mache Dir keinen Vorwurf, ich stelle es nur fest – Du hast eine ziemlich belastende Vergangenheit ...
Ich war aber durchaus nicht zum Lachen aufgelegt ... Über diese Bemerkung geärgert, die mir zwecklos und beleidigend erschien, erwiderte ich lebhaft, indem ich meinem Freund geradewegs in's Gesicht sah, wobei er in meinen Augen alles lesen konnte, was darin an scharfer und kalter Drohung aufgehäuft war:
– Du könntest richtiger sagen: »wir haben eine Vergangenheit ...« Mir scheint, daß die Deine, mein lieber College, der meinen nichts nachzugeben hat ...
– O, ich! ... rief der Minister mit einem Ausdruck überlegener Nichtachtung und vornehmer Sorglosigkeit, das kommt doch nicht auf dasselbe heraus ... Ich ... mein Freundchen ... bin eben gedeckt, mein Freundchen ... bin eben gedeckt ... sogar durch Frankreich selbst!
Dann kam er auf meine Wahlkandidatur zurück und fügte seinen Rathschlägen noch Folgendes hinzu:
– Ich fasse also nochmals alles zusammen ... Runkelrüben, nichts als Runkelrüben, stets nur Runkelrüben! ... Dies sei Dein Programm ... Weiche ja nicht davon ab.
Dann steckte er mir verstohlen eine kleine Unterstützung zu und wünschte mir viel Glück.
Ich folgte diesem Programm, das mir mein mächtiger Freund vorgezeichnet hatte, getreulich und hatte Unrecht damit ... Ich wurde nicht gewählt. Die vernichtende Majorität, die sich meinem Gegner zuwendete, that dies wohl, abgesehen von einigen unloyalen Manövern, hauptsächlich deshalb, weil dieser verteufelte Kerl womöglich noch unwissender als ich und eine ausgemachte Canaille war.
Im Vorübergehen soll hier nur festgestellt werden, daß eine gut zur Geltung gebrachte Schufterei in unseren Zeitläuften alle möglichen guten Eigenschaften ersetzt und die Welt geneigt ist, einem Menschen, je schandbarer er sich benimmt, desto mehr Geisteskräfte und moralischen Werth zuzuerkennen.
Mein Gegner, der heute eine der unbestreitbarsten Zierden unserer Politik ist, hatte in verschiedenen Lebenslagen gestohlen. Doch seine Überlegenheit bestand darin, daß er dies nicht verbarg, sondern sich dessen mit dem widerwärtigsten Cynismus rühmte.
– Ich habe gestohlen ... ich habe gestohlen ... brüllte er durch die Gäßchen der Dörfer, auf den öffentlichen Plätzen der Städte, und längs der Landstraße in die Felder hinaus ...
– Ich habe gestohlen ... ich habe gestohlen ... verkündete er in seinen Glaubensbekenntnissen, den Wandanschlägen und vertraulichen Rundschreiben ...
Und in den Kneipen wiederholten seine Vertrauensmänner, auf den Tonnen sitzend, voll von Wein, und vom Alkohol geröthet, in trompetendem Tone die magischen Worte:
– Er hat gestohlen ... er hat gestohlen ...
Entzückt bejubelte die arbeitsame Bevölkerung der Städte, desgleichen das brave Landvolk diesen kühnen Mann voll Leidenschaft, der tagtäglich im Verhältnis zu dem Freimuth seiner Geständnisse wuchs.
Wie hätte ich gegen einen Gegner kämpfen sollen, der eine solche Leumundsnote besaß, während ich eigentlich noch nichts auf dem Gewissen hatte und schamhaft, nur kleine Jugendsünden, wie häusliche Diebstähle, Lösegelder für Maitressen, winzige Gaunereien durch falsches Spiel, Erpressungen, anonyme Briefe, Verleumdungen und Meineide verheimlichte? ... O, Reinheit jugendlicher Unwissenheit!
Ich wäre sogar eines Abends in einer öffentlichen Versammlung fast von den Wählern todtgeschlagen worden, die wüthend darüber waren, daß ich gegenüber den schandbaren Erklärungen meines Gegners, mit dem hervorragenden Rang der Runkelrübe zugleich für das Recht auf Tugend, Moral und Redlichkeit stritt und behauptet hatte, es sei dringend nöthig, die Republik von einigen schmutzigen Individuen, die sie entehrten, zu reinigen. Man stürzte sich auf mich, faßte mich an der Kehle; ich wurde von einem zum andern geworfen und gleich einem Ball hin- und hergetrieben ... Glücklicher Weise trug ich als Folge dieses Beredsamkeitanfalles nur eine verschwollene Backe, drei verletzte Rippen und sechs ausgeschlagene Zähne davon ...
Dies war alles was ich von diesem traurigen Abenteuer zurückbrachte, zu dem mich unglücklicher Weise die Gönnerschaft eines Ministers, der mein Freund sein wollte, verleitet hatte.
Ich war entrüstet.
Ich hatte umsomehr Ursache entrüstet zu sein, als plötzlich, im heißesten Schlachtgedränge, die Regierung mich im Stiche ließ, und mir keinen anderen Schutz, als die Runkelrübe als Amulet gewährte, während sie mit meinem Gegner verhandelte und sich mit ihm in's Einvernehmen setzte.
Der Präfekt der zuerst sehr demüthig gewesen war, wurde ohne Zeitverlust höchst unverschämt, in der Folge verweigerte er mir die zu meiner Wahl nöthigen Auskünfte; endlich verschloß er mir so ziemlich seine Thür. Selbst der Minister beantwortete meine Briefe nicht mehr, bewilligte nichts von alledem, um was ich ihn angegangen hatte, und die regierungsfreundlichen Zeitungen richteten manch versteckte Angriffe und peinliche Anspielungen in höflichen und verblümten Phrasen gegen mich. Man gieng nicht soweit, mich gerade offiziell zu bekämpfen, aber dies stand für alle Welt fest ... man ließ mich fallen ... Ach, ich glaube wirklich, nie ist soviel Galle in die Seele eines Menschen getreten!
Als ich nach Paris zurückgekehrt war, hatte ich den festen Entschluß gefaßt Radau zu schlagen; auf die Gefahr hin alles zu verlieren forderte ich Erklärungen von dem Minister, den mein schroffes Auftreten sofort nachgiebig und entgegenkommend stimmte ...
– Mein Lieber, sagte er mir, ich bedaure sehr, daß Dir dies passiert ist ... Mein Wort zum Pfande! ... ich bin wirklich ganz verzweifelt darüber. Aber was konnte ich thun? Ich bin doch nicht allein im Kabinet ... und ...
– Ich kenne aber nur Dich! unterbrach ich ihn heftig, indem ich einen Haufen Aktenstücke, der in Handweite auf seinem Schreibtisch lag, zu Boden schleuderte ... Die anderen gehen mich gar nichts an ... Mit den anderen habe ich nichts zu thun ... Ich habe mich nur an Dich zu halten ... Du hast mich verrathen; es ist niederträchtig! ...
– Aber, alle Wetter! ... So höre mich doch nur einen Augenblick an! beschwor der Minister. Und rege Dich nicht so sehr auf, ehe Du nicht alles weißt ...
– Ich weiß nur eines und das genügt mir. Du hast mich zum Besten gehalten ... Na also schön! Die Geschichte wird nicht so einfach verlaufen wie Du es Dir vorstellst ... Jetzt bin ich an der Reihe.
Ich gieng in dem Arbeitzimmer auf und ab, stieß Drohungen aus und warf Stühle um ...
– Aha! Du hast Dich über mich lustig gemacht! ... Da wird es also einen feinen Spaß geben ... Das Land soll endlich einmal erfahren was eigentlich ein Minister ist ... Auf die Gefahr hin das Land zu vergiften, werde ich ihm diesen zeigen und ihm diese Seele eines Ministers weit geöffnet vorlegen ... Du Dummkopf! ... Hast Du denn wirklich nicht begriffen, daß ich Dich in der Hand habe, Dich, Dein Vermögen, Deine Geheimnisse und Dein Ministerportefeuille! ... Also meine Vergangenheit ist Dir peinlich? ... Sie geniert Dein Schamgefühl und das Mariannens? ... Schön, dann warte einmal! ... Morgen, ja morgen schon wird man alles erfahren ...
Ich erstickte fast vor Wuth. Der Minister suchte mich zu beruhigen, nahm mich beim Arm und zog mich sanft wieder auf den Stuhl, von dem ich jählings aufgesprungen war ...
– Aber sei doch nur ruhig! sagte er zu mir, indem er seiner Stimme einen beschwörenden Ton gab ... Höre mich doch nur an, ich bitte dich darum! ... Na also, setz' Dich doch! ... Warum willst Du verteufelter Mensch denn gar nicht hören! Also Folgendes ist geschehen ...
Überrascht, in kurzen, abgehackten Sätzen erklärte er mir:
– Wir kannten Deinen Gegner eben noch nicht ... Er hat sich im Verlauf des Kampfes als ein sehr bedeutender Mann enthüllt ... als ein wirklicher Staatsmann! ... Du weißt wie beschränkt das Regierungspersonal ist ... Obwohl immer wieder dieselben Leute dazu kommen, müssen wir doch nothwendiger Weise von Zeit zu Zeit der Kammer und dem Lande ein neues Gesicht zeigen ... Dabei haben wir keine große Auswahl ... Kennst Du vielleicht Jemanden? ... Schön, das haben wir also überlegt, daß Dein Gegner ein solches Gesicht sein könne ... Er besitzt all' die Vorzüge, die einem provisorischen Minister, einem Minister während einer Krise, gebühren ... Schließlich war er ständigen Fußes käuflich und lieferbar, begreifst Du? ... Es ist ja sehr unangenehm für Dich, wie ich gerne zugeben will ... Aber vor allem andern kommen doch die Interessen des Landes ...
– Mach doch keine faulen Witze ... Wir sind hier doch nicht in der Kammer .... Es handelt sich hier nicht um die Interessen des Landes, auf die Du gerade so wie ich pfeifst ... Es handelt sich um mich ... Dank Dir befinde ich mich wieder einmal auf dem Straßenpflaster. Gestern Abend hat mir der Kassier meiner Spielhölle in unverschämter Weise fünf Francs verweigert ... Meine Gläubiger, die auf einen Erfolg gerechnet hatten, sind über meine Niederlage wüthend und verfolgen mich gleich einem Hasen ... Mir soll alles versteigert werden ... Heute habe ich nicht einmal genug Geld zum Diner ... Und Du bildest Dir so einfach ein, daß ich das ganz ruhig ertragen werde? ... Du bist also blödsinnig ... ebenso blödsinnig wie ein Mitglied Deiner Majorität geworden? ...
Der Minister lächelte, er klopfte mir vertraulicher Weise auf die Kniee, dann bemerkte er:
– Ich bin ja vollkommen damit einverstanden – aber Du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen – ich bin ja ganz einverstanden Dir eine Vergütung zu verschaffen ...
– Nein, eine Ent–schä–di–gung!
– Meinetwegen eine Entschädigung!
– Eine vollständige?
– Eine vollständige! Komme in einigen Tagen wieder ... dann werde ich ohne Zweifel in der Lage sein, sie Dir gewähren zu können. Vorläufig nimm hier hundert Louisd'or, das ist der ganze Rest meiner geheimen Fonds ...
Er fügte noch freundlich, mit vertraulicher Lustigkeit hinzu:
– Ein halbes Dutzend Schwerenöther wie Du ... und dann könnte man mit dem Budget überhaupt nicht mehr zu Stande kommen ...
Diese Freigebigkeit, die ich in allem Anfange nicht erhofft hatte, brachte es fertig, meine Nerven unverzüglich zu beruhigen ... Ich steckte – noch immer brummend, denn ich wollte mich weder besiegt, noch zufriedengestellt zeigen – die beiden Banknoten ein, die mir mein Freund lächelnd reichte ... dann zog ich mich würdig zurück ...
Die drei folgenden Tage verbrachte ich in den niedrigsten Ausschweifungen ...
Es sei mir noch vergönnt einen kurzen Rückblick abzuhalten. Vielleicht ist es nicht gleichgültig für meine Leser, wenn ich ihnen sage, wer ich bin und woher ich stamme ... Die Ironie meines Schicksals wird dadurch nur noch besser erklärt werden.
Ich bin in der Provinz in einer Familie des kleinen Bürgerthums geboren worden, dieses braven, haushälterischen und tugendhaften Kleinbürgerthums, von dem in offiziellen Reden behauptet wird, daß es die Seele Frankreich's sei ... Na wahrhaftig! ich bin trotzdem nicht gerade stolz darauf.
Mein Vater war Kornhändler. Er war ein rauher, grober Mensch, der sich aber ausgezeichnet auf das Geschäft verstand. Er stand im Rufe darin sehr geschickt zu sein, und seine große Geschicklichkeit bestand darin »die Leute hereinzulegen«, wie er sich ausdrückte. Jemanden über die Qualität der Waare und das Gewicht täuschen, sich zwei Francs für einen Gegenstand, der nur zwei Sous kostete, und wenn es ohne zu großen Skandal angieng, sich zweimal zahlen zu lassen, das waren seine geschäftlichen Prinzipien. Er lieferte zum Beispiel niemals Hafer, ohne ihn vorher ganz gehörig in's Wasser getaucht zu haben. Auf diese Weise ergaben die aufgeschwemmten Körner das doppelte im Litermaaß und auch an Gewicht; besonders wenn feiner Sand hinzu gethan worden war, ein Vorgang, den mein Vater stets nach bestem Wissen und Gewissen ausführte. Er verstand es auch richtig und gerecht, Kornbrand und andere giftige Samen in die Säcke zu mischen, die beim Schwingen des Getreides ausgeschieden worden waren. Kein Mensch wußte auch besser als er verdorbenes Mehl frischem zuzutheilen, denn beim Geschäft darf nichts verloren gehen und alles wiegt schwer.
Meine Mutter, die noch wüthender hinter schlechten Gewinnsten her war, unterstützte ihn in seinen genialen Betrügereien und hielt steif und mißtrauisch die Kassa, etwa wie man einen Wachposten vor dem Feinde bezieht.
Als eifriger Republikaner und aufrichtiger Patriot – er lieferte auch für das Heer – als unbeugsamer Mann der Moral, kurz als ehrenwerther Mensch im volksthümlichen Sinne dieses Wortes, zeigte sich mein Vater mitleidslos und unerbittlich gegen die Unredlichkeit anderer, besonders wenn sie ihm selbst Nachtheil brachte. Da legte er wild über die Nothwendigkeit von Ehre und Tugend los. Eine seiner großen Ideen bestand darin, daß man in einem gut geordneten Volksstaate diese Eigenschaften obligatorisch machen müsse, gleich der Erziehung, der Steuer und dem Loosziehen für den Militärdienst. Eines Tages bemerkte er, daß ihn ein Fuhrmann, der seit fünfzehn Jahren bei ihm im Dienste stand, bestehle. Er ließ ihn ohne Weiteres verhaften. Während der Verhandlung vertheidigte sich der Kärrner so gut er eben konnte.
– Aber beim gnädigen Herrn war immer nur davon die Rede jemanden »herein« zu legen. Wenn er einem Kunden »einen tollen Streich« gespielt hatte, rühmte sich der gnädige Herr dessen, wie einer guten That. »Es liegt alles daran Geld aus den Leuten zu ziehen, sagte er, es ist nebensächlich woher und in welcher Weise man es nimmt. Das ganze Geheimnis des Geschäftes besteht darin, ein altes Kaninchen für eine schöne Kuh zu verkaufen« ... Nun schön, ich habe es gerade so gemacht wie der gnädige Herr mit seinen Kunden ... Ich habe ihn herein gelegt ...
Dieser Cynismus wurde von den Richtern sehr schlecht aufgenommen. Sie verurtheilten den Fuhrmann zu zwei Jahren Gefängnis, nicht allein weil er einige Kilogramm Getreide unterschlagen hatte, sondern hauptsächlich, weil er eines der ältesten Kaufhäuser der Gegend ... ein Haus, das im Jahre 1794 gegründet worden war, verunglimpfte, dessen althergebrachte, stramme und sprichwörtliche Ehrbarkeit von Vater auf den Sohn die Stadt verschönte.
Ich erinnere mich noch deutlich, daß am Abend nach diesem hervorragenden Urtheilsspruch, mein Vater einige Freunde an seinem Tisch vereint hatte, die gleich ihm Geschäftsleute und von dem leitenden Grundsatz durchdrungen waren, daß »die anderen herein zu legen«, die Seele des Handels sei. Sie können sich lebhaft vorstellen, wie sehr man sich über die herausfordernde Haltung des Fuhrmannes entrüstete. Bis um Mitternacht wurde überhaupt von sonst anderem nicht gesprochen und unter dem Geschrei, unter den Geistesblitzen, dem Gezänk und den Gläschen Branntwein, durch die dieser denkwürdige Abend verziert war, blieb mir diese Vorschrift im Gedächtnis, die sozusagen die Moral dieses Abenteuer's und zugleich auch das Leitmotiv meiner Erziehung war:
– Jemandem etwas fortnehmen und es behalten, ist Diebstahl ... Jemandem etwas fortnehmen und es einem andern weitergeben, indem man dafür möglichst viel Geld eintauscht, das ist Handel ... Der Diebstahl ist umso dümmer, als er sich mit dem einfachen, häufig gefährlichen Nutzen begnügt, während der Handel zweifellos doppelte Früchte trägt ...
In dieser moralischen Atmosphäre wuchs ich heran und entwickelte ich mich, gewissermaßen allein, ohne einen andern Führer als das tägliche Beispiel meiner Eltern. Bei kleinen Handelsleuten bleiben die Kinder im Allgemeinen sich stets überlassen. Man hat nicht Zeit dazu, sich mit ihrer Erziehung zu befassen. Sie bilden sich wie sie können, je nach ihrer Natur und den verderblichen Einflüßen dieses gewöhnlich niederdrückenden und verdummten Milieu's. Aus eigenem Antriebe, ohne daß mich jemand dazu genöthigt hätte, betheiligte ich mich nachahmend, sowie auch dem eigenen Erfindungsgeiste folgend, an den Familienschwindeleien. Vom Alter von zehn Jahren an hatte ich keine andere Lebensauffassung als Diebstahl und war überzeugt – o, in recht naiver Weise, ich versichere Sie, – daß »die Leute hereinlegen« die einzige Basis aller sozialen Beziehungen bilde.
Die Schule entschied über die bizarre und gewundene Richtung, die ich in meinem Dasein haben sollte; denn dort lernte ich denjenigen kennen, der später mein Freund und der berühmte Minister Eugène Mortain wurde.
Als Sohn eines Schankwirths war er auf Politik dressirt worden, wie ich auf den Handel, durch seinen Vater, der der Hauptwahlagent der Gegend, der Vicepräsident der Gambettatreuen Vereine, der Gründer verschiedener Liguen, Widerstandsgruppen und Handwerksgenossenschaften war. Eugène bildete in sich, von der zartesten Kindheit an, die Seele eines »wirklichen Staatsmannes«.
Obwohl er eine Freistelle inne hatte, hatte er uns doch von aller Anfang an zu imponiren verstanden, sowohl durch seine sichtliche Überlegenheit in Bezug auf Frechheit und Schamlosigkeit, als auch durch eine Art von feierlicher, jedoch leerer Phraseologie, die unsere Begeisterung auf die Spitze trieb. Ferner hatte er von seinem Vater die einträgliche und beherrschende Manie des Organisierens geerbt. Im Verlaufe von wenigen Wochen hatte er die Schuljungen in alle möglichen Vereine und Untervereine, Gesellschaften und Untergesellschaften eingetheilt, zu deren Präsidenten, Sekretär und Schatzmeister er sich gleichzeitig ernannte. Es bestand da ein Verein der Ballspieler, Kreiseldreher, Bockspringer und Fußläufer, die Gesellschaft des Reckes, die Trapezliga, das Syndikat der Sackhupfer u.s.w. Jedes Mitglied dieser verschiedenen Vereinigungen war verpflichtet der Centralkasse, das heißt der Tasche unseres Kameraden, einen monatlichen Beitrag von fünf Sous zu liefern, der nebst anderen Vortheilen auch das Abonnement für ein vierteljährig erscheinendes Journal umschloß, welches Eugène Mortain zur Propaganda für die Ideen-und Interessenvertheidigung dieser zahlreichen »autonomen und solidarischen« Genossenschaften, wie er stolz erklärte, herausgab.
Schlechte Instinkte, die uns gemeinsam waren, sowie eine ähnliche Genußsucht, näherten uns beide rasch. Aus unserem engen Einvernehmen ergab sich eine wüste, beständige Ausbeutung unserer Kameraden, die stolz darauf waren, ein Syndicat an ihrer Spitze zu sehen ... Ich wurde mir darüber klar, daß nicht ich der Bedeutendere in diesem mitschuldigen Verhältnis war, aber gerade auf Grund dieser Erkenntnis klammerte ich mich nur noch fester an den Glücksstern dieses ehrgeizigen Genossen. Wenn wir auch nicht redlich theilten, so war ich doch stets sicher einige Brocken zu erhaschen ... Damals genügten mir diese vollständig. Leider habe ich aber immer nur Brocken von den Kuchen, die mein Freund verschlang, erhalten.
Ich traf Eugène später während einer schwierigen und schmerzlichen Periode meines Lebens wieder. Infolge des ewigen »Reinlegens der Leute« hatte sich mein Vater schließlich selbst hereingelegt, und nicht nur im bildlichen Sinne, wie er es in Bezug auf seine Kunden meinte. Eine unglückselige Lieferung, die, wenn ich mich genau erinnere, eine ganze Kaserne vergiftete, war der Anlaß dieses bedauerlichen Vorfalles, dem der vollständige Zusammenbruch unseres im Jahre 1794 gegründeten Geschäftes krönte. Mein Vater hätte vielleicht die Entehrung überlebt, denn er kannte wohl die unendliche Nachsicht seiner Zeitgenossen; er konnte aber den Ruin nicht überleben. Ein Schlaganfall raffte ihn eines schönen Abends dahin. Er starb und ließ die Mutter und mich mittellos zurück.
Da ich nun nicht mehr auf seine Unterstützung rechnen konnte, sah ich mich gezwungen, mich allein durchzuschlagen, entriß mich dem mütterlichen Jammer und eilte nach Paris, wo mich Eugène Mortain so liebenswürdig als nur möglich aufnahm.