Of Whisper and Darkness - Sina Brings - E-Book
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Of Whisper and Darkness E-Book

Sina Brings

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Beschreibung

Wenn das Flüstern einer anderen Welt in deinem Inneren immer lauter wird … Lou kämpft selbst anderthalb Jahre nach der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex als alleinerziehende Mutter darum, in Amsterdam über die Runden zu kommen. Die Erinnerungen an ihre Vergangenheit lassen sie nicht los. Ihr bis dahin so mühsam neu aufgebautes Leben versinkt jedoch im Chaos, denn ihr immer wiederkehrender Albtraum entpuppt sich als bittere Realität. An die Nacht ihrer Flucht in der Glastonbury Abbey kann Lou sich nicht mehr erinnern, doch als die mysteriöse Kraft, die seitdem in ihr schlummert, aus ihr hervorbricht, wird sie zur Gejagten. Sie gerät in einen Strudel aus menschlichen Abgründen, einem skrupellosen Auftraggeber und den gefährlichen Mächten einer anderen Welt. Doch wie weit ist Lou am Ende bereit zu gehen, um zu schützen, was sie am meisten liebt?

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Triggerwarnung:

Liebe Leser*innen, die folgende Geschichte enthält sensible Themen und potenzielle Trigger wie häusliche und psychische Gewalt, Drogensucht und sexuelle Belästigung.

Achtet gut auf euch, denn wir wünschen uns für euch das beste Leseerlebnis.

Über die Autorin

Sina Brings war bereits in jungen Jahren eine begeisterte Leserin und Geschichtenerfinderin. Die Liebe zu Büchern wurde ihr von ihrer Mutter in die Wiege gelegt. Schon immer faszinierte sie, wie viel Macht Worte besitzen und welche Welten mit ihnen und der Fantasie in unseren Köpfen erschaffen werden können. Beruflich strebte sie eine andere Karriere an, erkannte jedoch schnell, dass die Liebe zum geschriebenen Wort sie nie ganz loslassen würde. Heute lebt Sina mit ihren Kindern und ihrem Ehemann im schönen Münsterland und schreibt in jeder freien Minute an ihren Manuskripten.

Auf Instagram und TikTok hält Sina ihre Community über @eineweltausworten über aktuelle Buchprojekte und Schreibupdates regelmäßig auf dem Laufenden.

WREADERS E-BOOK

Band 247

Dieser Titel ist auch Taschenbuch erschienen

Vollständige E-Book Ausgabe

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: Books on demand

Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann

Illustrationen: Jasmin Kreilmann

Lektorat: Lilli Wynands, Kristina Butz

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für all jene, die des ewigen Kämpfens müde sind. Erinnert euch daran, wofür ihr es tut. Erinnert euch daran, dass, egal wie aussichtslos es auch scheinen mag, wahre Stärke doch eines ist: nicht aufzugeben.

Für Chris.

Für all die Zeit, all die Worte und all die Liebe. Ich danke dir.

Prolog

»Schwanger?« Ungläubig starrte Peter mich an, und für einen winzigen Moment zuckten seine Mundwinkel nach oben.

Meine Hände, die ich bereits in böser Voraussicht zu Fäusten geballt hatte, entspannten sich, als eine Welle der Hoffnung in mir aufbrandete. Vielleicht würde er sich ja doch freuen.

Seine Miene wandelte sich jedoch nach diesem kurzen Augenblick des Erstaunens. Peter zog die Nase kraus und sah mit erhobenen Augenbrauen auf mich herab.

»Du und ein Kind? Das glaubst du doch wohl selbst nicht, Lou. Du kannst ja nicht mal für dich selbst sorgen.« Da war nichts als Verachtung in seinen Augen.

Und es waren nicht seine Worte, die mich am meisten schmerzten. Die Erkenntnis, dass ich mir etwas vorgemacht hatte, und war der Augenblick auch noch so kurz gewesen, tat noch mehr weh.

Ich war so dumm gewesen.

Hoffnung war gut. Hoffnung war wichtig. Aber nicht in meinem Fall. In meinem Fall lähmte sie mich, genauso wie die Angst vor ihm.

Auch jetzt stand ich einfach da, starrte in sein Gesicht, das ich eigentlich lieben sollte, in unserem Wohnzimmer, unserer Wohnung, die einst ein Zuhause hätte sein sollen und nun eher einem Drogenumschlagplatz ähnelte.

Ich hatte schon lange keinen Blick mehr für die Brandflecken auf dem hübschen Wohnzimmertisch, den uns meine Eltern zur Einweihung geschenkt hatten, oder für das Loch in der Wand im Flur. Unzählige Male hatte ich ihm, während er im Sitzen auf der Couch eingeschlafen war, die noch glimmende Zigarette aus den Fingern gewunden, hatte aufdringliche Schuldeneintreiber an der Tür abgewimmelt. Für ihn. Für uns. Und doch hatte es ihn nicht davon abgehalten, mich zu schlagen.

Nie hatte ich gewollt, an diesem Punkt zu stehen, gleichzeitig hatte sich alles irgendwie verselbstständigt und ich hatte nichts getan, um aus diesem Strudel auszubrechen. Nur an dieses Wunder geglaubt. Daran, dass alles irgendwie wieder gut werden würde.

Und mich geirrt.

Meine nun schlaff herabhängenden Hände zitterten immer mehr, je länger Peter mich abschätzig und ungläubig zugleich ansah, und ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust.

Eine Erkenntnis zuckte wie ein Leuchtfeuer durch meine Gedanken.

Und wie um dies zu unterstreichen, spürte ich eine Regung in der Nähe meines Bauchnabels. Das vertraute Gefühl, als würde ein kleiner Fuß gegen die Innenseite meines Bauches drücken, erinnerte mich wieder an den Entschluss, den ich gefasst hatte. An das Versprechen, das ich nicht nur mir gegeben hatte, sondern eben diesem unschuldigen Kind in meinem Bauch, dessen Bewegungen ich jeden Tag ein bisschen mehr spüren konnte.

Ich würde nicht mehr mitspielen, nicht klein beigeben und mich nicht von meiner Entscheidung abbringen lassen. Nicht dieses Mal. Egal, was es mich kosten würde.

»Ich will dieses Kind«, sagte ich mit einer Stärke in der Stimme, die nicht nur mich überraschte. Peter wich zurück, fast unmerklich, doch ich registrierte es dennoch und schluckte, bevor ich fortfuhr. »Und ich werde es bekommen, ob du dabei bist oder nicht.«

Das Kinn vorgereckt, stand ich kerzengerade da. Doch in meinem Herzen tobte ein Sturm. Ich konnte das Beben in meiner Stimme nur mit Mühe unterdrücken. Es war eine Ewigkeit her, seitdem ich ihm das letzte Mal widersprochen hatte. Dass ich ihm wie in diesem Augenblick die Stirn bot, war jedoch noch nie vorgekommen. Angst strömte wie ein zähflüssiges Gift durch meine Adern.

Schützend legte ich die Hände über meinen bereits wohlgerundeten Bauch, den ich, seit ich von der Schwangerschaft wusste, wohl wissend unter weiten Klamotten verbarg.

Doch dieser Tag hatte kommen müssen. Wäre er clean, hätte er es mir mittlerweile wohl eh angesehen. Die Wölbung meines Bauches war inzwischen so ausgeprägt, dass ich Probleme hatte, meine Füße zu sehen, und ich trug nur noch Leggings und übergroße Shirts und Pullis. Meine alten Jeans oder etwas annähernd Figurbetontes hatte ich seit Wochen nicht mehr angehabt. Nicht nur um meine Schwangerschaft weiterhin halbherzig zu verstecken, sondern weil sie mir schlichtweg nicht mehr passten.

Und doch hatte ich es viel zu lange vor mir hergeschoben. Aus Angst vor meinem eigenen Freund, meiner einstigen großen Liebe, von der so gut wie nichts mehr übrig geblieben war. Weil von ihm so gut wie nichts übrig geblieben war.

»Du weißt nicht, was du da sagst«, entgegnete Peter, den Mund zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Er schüttelte langsam den Kopf, seine kalten Augen fest auf mich gerichtet. »Ich erlaube es nicht. Das wird nie passieren. Du wirst es abtreiben, und damit hat sich die Sache.«

Da hatte ich meine Antwort. Und seinen Richtspruch.

Ich ignorierte krampfhaft das plötzliche Vibrieren von Peters Handy auf dem Wohnzimmertisch. Entweder war es ein Kunde oder jemand, dem er Geld schuldete. Beides war schlecht. Peter war vor einem Tag der Stoff ausgegangen, was zwangsläufig passieren musste, wenn man selbst sein bester Kunde war. Seine Schulden konnte er ebenso wenig zurückzahlen.

Auch Peter ignorierte das anhaltende Surren, und wie um seine Worte zu unterstreichen, trat er drohend ein paar Schritte auf mich zu.

Ich zwang mich, nicht vor ihm zurückzuweichen, mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und auszusprechen was ich schon so lange vorhatte zu sagen. »Das kann ich nicht. Dafür ist es zu spät. Und ich will es auch gar nicht!«

»Dann wirst du es weggeben! Ich kann kein weiteres Maul gebrauchen, das ich stopfen muss!«

Die Worte trafen mein Herz mit voller Wucht. Es wäre sicherlich in diesem Moment in zwei gebrochen, wäre es das nicht schon längst gewesen. Und doch konnte ich niemandem die Schuld für meine Misere geben. Noch nicht einmal Peter. Nur mir selbst.

Ich hätte wahrscheinlich alles weiter hingenommen und mitgemacht, hätte er mir diese eine Sache, diesen einen Wunsch, nicht abgeschlagen.

Er hatte ihn nicht einmal zur Diskussion werden lassen.

Ich hatte meine Stimme verloren.

Seit einer viel zu langen Zeit schon.

Bis jetzt.

»Nein«, stieß ich hervor und schaute ihn trotzig und gleichzeitig mit Tränen in den Augen an. Vor Angst? Vor Wut? Ich wusste es nicht.

Die Illusion von ihm, meinem Freund, der von aller Welt nur missverstanden wurde, vor dem mich so viele Menschen, nicht zuletzt meine Eltern, bereits nach kurzer Zeit gewarnt hatten, und ich sie doch alle immer vehement ignoriert hatte, zersprang wie ein Spiegel in Tausend Teile. Ich hatte nicht hören wollen, war blind gewesen, die ganze Zeit über.

Ohne Vorwarnung holte Peter aus.

Er verpasste mir eine Ohrfeige, die meinen Kopf zum Dröhnen brachte, die mich straucheln ließ und beinahe umwarf. Ich sah Sterne vor den Augen und hielt mir die brennende Wange. Tränen liefen mir übers Gesicht, ohne dass ich sie noch zurückhalten konnte. Langsam richtete ich mich auf, ein leichtes Klingeln in den Ohren.

»Du bist nicht bei klarem Verstand«, sagte er. »Ich weiß, was das Beste für uns ist, und das ist ganz sicher kein Kind. Schlag dir den Gedanken aus dem Kopf.«

Er hatte nicht geschrien. Das musste er auch nicht. Seine Stimme klang in meinen Ohren wie klirrendes Eis.

Peters Augenbrauen zogen sich zusammen, und er schüttelte langsam den Kopf. »Warum zwingst du mich dazu, Lou?«

Trotzig starrte ich ihn an, wollte wütend auf ihn sein, ihn hassen, doch der Zorn gegen mich selbst überwog. Wieder einmal. Ich hatte das alles mit mir machen lassen, ohne mich zu wehren. Hatte mich abhängig gemacht und mich selbst aufgegeben.

Selber schuld, Lou.

Als ich sprach, schmeckte ich Blut in meinem Mund. Meine Worte klangen nicht annähernd so entschlossen und stark, wie ich es mir gewünscht hätte. Denn mir fehlte jede Übung darin, zu widersprechen. »Ich werde dieses Kind bekommen. Auch ohne dich.«

Dann wandte ich mich ab, wollte weg, meine Sachen zusammensuchen, um von hier zu verschwinden. Ich würde gehen, ihn verlassen. Ein für alle Mal.

Ihm den Rücken zuzukehren, war jedoch ein Fehler.

Wumm.

Ich hatte den Schlag nicht kommen sehen und wurde von seiner schieren Wucht von den Füßen gerissen. Dieses Mal hatte er nicht mit der flachen Hand, sondern mit der Faust auf meinen Kopf gezielt. Hart prallte ich gegen das Bücherregal, landete auf dem Fußboden und rollte mich zusammen. Eine Vase, die auf dem Regal durch die Erschütterung ins Schwanken gekommen war, landete gleich neben mir und zerschellte in Tausend Scherben. Ich spürte, wie sich feine Splitter auf meine Haut legten, sah das Glitzern ihrer Überreste auf dem Fußboden, zu denen sich ein kleines Rinnsal meines Blutes gesellte.

Der erneute explodierende Schmerz in meinem Kopf war kaum zu ertragen. Ein widerwärtiges Pochen breitete sich in meinen Schläfen aus, und ich atmete flach gegen die plötzliche Übelkeit an.

Ich hörte, wie Peters Schritte näher kamen, wie er mit seinen Schuhen achtlos auf die Überreste der Vase trat, hörte das Knirschen, als sie unter seinem Gewicht zu noch kleineren Fragmenten zerbrachen. Und ich hörte meinem eigenen Herzen dabei zu, wie es noch ein Stückchen mehr brach.

Ich hatte ihm widersprochen. Hatte ihm gesagt, dass ich das Kind auch ohne ihn bekommen würde. Ich hatte es getan. Endlich. Trotz des Schmerzes überfiel mich für einen Moment eine innere Ruhe. Ich war für mich eingestanden.

»Das wirst du nicht«, stieß er zwischen wütend zusammengepressten Zähnen hervor, während er mich am Hals packte, hochriss und gegen die Wohnzimmerwand presste. Voller Wucht, ohne Mitleid und nun auch ohne jegliche Kontrolle.

Meine Füße verloren jede Bodenhaftung. Ich strampelte, schlug wild um mich, versuchte, mich irgendwie zu befreien, doch sein Griff war hart und unnachgiebig.

Ein hilfloses Röcheln entfuhr meiner Kehle. Panik ergriff mich. Ich würde ersticken. Er würde mich ersticken lassen.

Meine Hände krallten sich in die seinen, wollten mich verzweifelt retten, doch selbst um mein eigenes Leben zu schützen, war ich scheinbar zu schwach.

»Und wenn es kein Arzt wegmachen kann, dann werde ich es tun, hörst du? Also kümmere dich darum«, flüsterte er mir ins Ohr, seine Schläfe hart an die meine gepresst.

Ich spürte seinen warmen, alkoholgeschwängerten Atem auf meiner Haut und fragte mich unwillkürlich, wann ich aufgehört hatte, ihn zu lieben, und es für mich nichts als blanke Gewohnheit geworden war, bei ihm zu sein. Wann genau ich mich selbst aufgegeben hatte.

Ohne Vorwarnung ließ Peter mich los und vor seine Füße zu Boden fallen wie ein Kind, das das Interesse an seiner Puppe verloren hatte. Panisch rang ich nach Luft. Konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Hustend kroch ich auf allen vieren von ihm weg, um einer erneuten Attacke zu entgehen, während das Blut von meinem Kopf über meinen Hals in dicken Tropfen zu Boden fiel. Ich wollte mich in eine Ecke des Wohnzimmers retten, mich zusammenkauern, mich unsichtbar machen. Doch ich konnte anhand der Vibrationen auf dem Fußboden spüren, wie er mir gemächlich folgte.

Ich hatte seine Grenze überschritten, für ihn existierten die meinen jedoch schon lange nicht mehr.

In meinem Kopf, meinem Hals und meinem Herzen war nichts als Schmerz. Für einen Moment saß ich einfach nur da, bemüht, zu begreifen, was eben passiert war. Stellte mir vor, wie ich vom Fußboden, der Erde unter mir, einfach verschluckt werden würde. Wünschte mir, so allem entfliehen zu können und nie wieder aufstehen zu müssen.

Aber ich konnte nicht einfach aufgeben.

Ich war nicht mehr allein.

Während ich wieder zu Atem kam, rückte auch der Schmerz in meinem Körper ein wenig in den Hintergrund. Nicht jedoch der in meinem Herzen.

»Komm schon, Lou. Steh auf.«

Widerwillig hob ich den Kopf und sah Peter in die harten Augen.

Er beugte sich zu mir, versöhnlich die Hand nach mir ausstreckend, und ich wich unweigerlich noch weiter vor ihm zurück. In seinem Gesicht war keine Spur von Reue zu entdecken. Er betrachtete mich, ganz so, als wäre ich von selbst hingefallen. Als wäre ich nicht zurechnungsfähig. Als wäre ich wirklich die dumme, einfältige Lou. Die Lou, die ich vielleicht nur Augenblicke zuvor noch gewesen war.

Ich ignorierte die Hand und rappelte mich umständlich auf. Mein Kopf dröhnte, und mir war, als spürte ich immer noch den unnachgiebigen Druck seiner Hände an meiner Kehle. Wie sie meine Luftröhre immer weiter zudrückten.

Innerlich betete ich darum, dass dem Kind nichts passiert war. Nur das zählte, war von nun an meine Mission, meine Lebensaufgabe, auch wenn ich es allein großziehen würde. Konnte ich das schaffen? Das war keine Frage mehr. Ich musste.

Die Tränen verschleierten mir die Sicht, doch ich gab keinen Laut von mir, als ich seine kräftige Hand auf meiner Schulter spürte. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte.

»Das mit dem Kind ist jetzt geklärt«, sagte er seufzend und rieb sich mit der Hand über die Augen. »Wir reden nicht mehr darüber. Vergiss es einfach und lass uns was zu essen bestellen. Morgen früh fährst du los und kümmerst dich darum.« Seine Stimme klang matt, beinahe traurig. Als hätte nicht ich gerade meinen letzten Rest Würde auf dem Fußboden verloren, als wäre nicht mir jedwede Entscheidungsgewalt entrissen worden.

Genug.

Ich hatte nur eine Chance.

Für einen kurzen Augenblick starrte ich Peter noch einmal ins Gesicht. Das Gesicht, dessen Ausdruck beinahe meine gesamte Vergangenheit bestimmt hatte. Sah ihn an, ohne Trotz und ohne Wut. Da war nur kalte Traurigkeit in mir.

Dann schlug ich die Augen nieder. »Ich … ich hole die … Karte vom Italiener aus der Küche«, hörte ich mich unter Schmerzen und mit kehliger, gebrochener Stimme flüstern, einen Hustenanfall mühsam unterdrückend.

Wie als Antwort glitt ein zufriedener Ausdruck über sein Gesicht, während er sich breitbeinig auf die Couch setzte, eine Hand bereits an der Fernbedienung. »Braves Mädchen.«

Ohne ein weiteres Wort schaltete er den Fernseher ein. Ende der Diskussion. Haken dran. Einfach so.

Ich hatte nur diese eine Chance. Um zu retten, wofür es sich zu leben lohnte. Also ging ich langsam an der Küche vorbei zur Haustür und verließ sein Blickfeld. Ich verdrängte den Schmerz in meinem Körper, bemüht, ihn auszublenden und mich dafür zu wappnen, was vor mir lag. Ich nahm meine Jacke und meine Tasche vom Haken und schlüpfte leise aus der Wohnung.

Als die Tür ins Schloss fiel, rannte ich los.

Kapitel 1

Ich trat aus der Wohnung und war bereits jetzt völlig erledigt. Der graue Pullover, den ich schon seit zwei Tagen trug, hatte seine besten Zeiten längst hinter sich. Doch ich hatte keine Zeit mehr gehabt, mir etwas anderes rauszusuchen. Ich war einfach nicht in der Lage, es besser zu machen oder … besser zu sein.

Doch es ließ sich nicht ändern.

Keine Zeit. Ich hatte einfach keine Zeit, war immer spät dran, obwohl ich so sehr versuchte, alles unter einen Hut zu bekommen.

Mo klammerte sich wie ein Äffchen mit seinen Händchen an meinen Locken und dem Kragen meiner Jacke fest. Ich balancierte ihn auf meiner Hüfte, stützte ihn mit der einen Hand, um mit der anderen die Tür hinter mir zuzuziehen. Ich kam ins Schwitzen, während ich immer noch einhändig meinen Wohnungstürschlüssel hervorzog und zweimal abschloss. Prüfend blickte ich in den Flur, der im dämmrigen Licht des Morgens leer vor mir lag.

Niemand war zu sehen. Ich entspannte mich ein wenig.

Wie gern wäre ich zu Hause geblieben, hätte den ganzen Tag mit Mo auf unserem alten, durchgelegenen Sofa verbracht, in unserer kleinen, renovierungsbedürftigen Wohnung, die ich mir trotzdem nur gerade eben so leisten konnte. Allein bei der Vorstellung, nicht wie beinahe jeden Morgen unter mörderischem Zeitdruck lossprinten zu müssen, wurde mir ganz flau, so sehnsuchtsvoll malte ich mir diese Fantasie in meinem Kopf aus. Nur er und ich und alle Zeit der Welt. Kein Stress, kein Druck, keine Geldsorgen. Keine Angst.

Vielleicht war es aber auch nur der wenige Schlaf, der sich langsam bemerkbar machte und seinen Tribut forderte. Unsere Nacht war mehr als unruhig gewesen. Wie so oft. Wenn es hoch kam, hatte ich vielleicht zwei Stunden am Stück geschlafen, vermutlich weniger. Und dann hatte auch schon mein Wecker geklingelt.

Doch ich hatte keine Wahl, musste weitermachen, denn die Rechnungen, die mich unter ihrer Last schier zu erdrücken drohten, wollten beglichen werden. Ganz abgesehen von meinen bereits vorhandenen Schulden, die eigentlich nicht meine eigenen waren.

Dunkel schwante mir, dass ich heute auch noch dringend einkaufen müsste. Bei diesem Gedanken biss ich mir auf die Innenseite meiner Unterlippe. Nein, es war wahrlich nicht die Zeit für Tagträumereien, für Fantasievorstellungen, für Sehnsüchte. Nicht in meiner Welt.

Ich eilte die Stufen hinab, und die Tristesse des Treppenhauses, die mich umgab, schien mich schier zu verschlucken. Natürlich war der Aufzug kaputt. Und das nicht erst seit unserem Einzug. Ein Großteil der Deckenlichter, die das Treppenhaus erhellten war ebenfalls defekt, und im Halbdunkel des Morgens, das durch die wenigen Fenster trat, hatte ich Mühe, die Stufen zu erkennen. Um mich herum, in diesem Gebäude, in diesem Flur, diesem Treppenhaus war nichts als Grau. Grau in allen nur erdenklichen Schattierungen. Selbst die Schmierereien und das Graffiti an den Wänden schienen all ihre Farben verloren zu haben. An manchen Tagen fühlte es sich an, als wäre ich unter einem Berg aus Beton begraben. In einem kalten Grab, das jede Art von Farben oder Freude erstickte, wenn man zu lange in ihm verweilte.

Auch dieses Mal beschleunigte ich meine Schritte nur noch mehr. Wenn ich mit Mo unterwegs war, war es jedoch nicht ganz so schlimm. Das Gefühl, in diesen Gängen zu ersticken, weil ich mich hier schutzlos und angreifbar wie fast nirgends sonst fühlte, war mit ihm beinahe erträglich. Weil er mich davor bewahrte, mich in meiner Angst zu verlieren. Oder in meiner Vergangenheit.

Mein Sohn war meine Fackel in unendlichen Tiefen. Mein leuchtender Stern in der Finsternis. Mit ihm an meiner Seite konnte mir die Schwermut, die aus jeder Pore dieses Gebäudes zu strömen schien, etwas weniger anhaben.

Ich erreichte den Eingangsbereich, an dessen Wänden unzählige Briefkästen hingen. Sie machten mir einmal mehr bewusst, wie viele Seelen unter diesem Dach lebten und wie gering die Zahl derer war, die ich selbst nach anderthalb Jahren davon kannte.

Hektisch sah ich auf die digitale Anzeige meiner alten Armbanduhr. »Fuck.« Die Zeit rann mir nur so durch die Finger.

Entschuldigend blickte ich zu meinem Sohn hinunter, der mich jedoch gar nicht gehört zu haben schien und verträumt mit einer Strähne meines braun gelockten Haares spielte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, das jedoch bei dem Gedanken daran, wie spät es bereits war, sogleich verschwand. Meinen Blick wieder vorwärtsgerichtet, beschleunigte ich meine Schritte weiter.

Nur beiläufig registrierte ich, wie mein Magen zu knurren begann. Auch wenn ich bemüht gewesen war, Mo genug Zeit zum Essen einzuräumen, war unser Frühstück kurz ausgefallen. Ich selbst hatte mir im Vorbeigehen die übrig gebliebenen Reste von Brot und Obst in den Mund geschoben.

Also musste ich später essen. Damit konnte ich leben.

Für Mo musste jedoch immer Zeit sein. Und Geld. Hier konnte ich keine Abstriche machen. In meiner Welt, der Welt, in der ich praktisch alles tat, damit wir irgendwie über die Runden kamen, war zumindest dieser Fakt nicht verhandelbar. Geld und Zeit. Auch wenn mich dieser Vorsatz immer wieder an meine Grenzen brachte. Denn das eine hatte die mich zum Verzweifeln bringende Angewohnheit, das andere auszuschließen. Noch etwas, das ich nicht in Einklang bringen konnte.

Endlich auf der Straße angekommen, blickte ich noch einmal zurück. Zurück zu dem Plattenbau, den auch das schönste Tageslicht nicht attraktiver machen konnte. Jetzt, im Grau des wolkenverhangenen Himmels, sah er noch viel beschissener aus, um einiges deprimierender als ohnehin schon.

Es war über Nacht kühl geworden, ungewöhnlich frisch für Ende September, und ich war froh, Mo bereits vorsorglich in eine dickere Fleecejacke gesteckt zu haben. Mir selbst war nicht kalt, das war es nahezu nie. Trotz meiner dünnen Jacke schien mein Körper auch heute wieder permanent unter Strom zu stehen. Kein Wunder, ich war praktisch immer in Bewegung, immer unterwegs und dennoch irgendwie nie genug.

Mein Blick blieb an einem der Fenster auf unserer Etage hängen. Ich meinte zu sehen, wie sich ein Vorhang bewegte, als hätte jemand kurz zuvor noch dort gestanden und hinausgeschaut.

Ich sog scharf die Luft ein, unsicher, was ich wirklich gesehen und was ich mir eingebildet hatte. Presste unwillkürlich die Zähne aufeinander, riss mich dann aber sogleich los, um mich nicht von diesem beklemmenden Gefühl der Angst, das in mir hervorbrach, übermannen zu lassen. Ich eilte die Straße entlang in Richtung Bushaltestelle.

Vergangenheit. Es war vergangen, und ich durfte nicht zulassen, dass ich mich selbst schwächte, indem ich immerzu daran dachte, was in der Nacht meiner Flucht geschehen war. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich mich noch einmal umsah. Konnte dem Drang nicht widerstehen, zum Fenster zu sehen. Niemand war dort. Er war nicht dort. Und doch hatte ich immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden.

Die Busfahrt war kurz und trotzdem kam sie mir unendlich lang vor. Minuten verstrichen, und der Linienbus hielt gefühlt an jeder verdammten Haltestelle. Die Menschen brauchten quälend lange, um ihr Ticket vorzuzeigen und sich hinzusetzen.

Mo, der meine Anspannung vielleicht spürte, obwohl ich sie, so gut es ging, vor ihm verbarg, wurde zunehmend unruhiger. Doch ich wollte ihn unbedingt davon abhalten, in den Ritzen der Sitze herumzustochern. Also zog ich sein Schmusetuch aus meinem alten Jutebeutel, dem mit dem Spitzenmuster, den ich so sehr liebte und der eins der wenigen Überbleibsel meines alten Lebens war. In diese Tasche hätte gefühlt mein ganzer Hausstand gepasst, würden wir einmal in die Situation kommen, schnell verschwinden zu müssen. Zu fliehen.

Damals war ich geflohen. Und mein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Na ja, nicht gänzlich. Einige grundlegende Dinge waren zu meinem Verdruss, zu meiner eigenen Verbitterung, gleich geblieben. Manchmal fragte ich mich, ob ich ohne diesen Umstand die Habachtstellung, die Vorsicht, die mittlerweile ein einziger Automatismus in meinem Inneren zu sein schien, nicht schon längst hinter mir gelassen hätte.

Aber vielleicht war schon zu viel passiert.

Mein Leben, unser Leben, war zu fragil, als dass ich so tun könnte, als wäre alles … in Ordnung.

Ich sah meinem Sohn dabei zu, wie er das Ende des ausgewaschenen, blassgrünen Tuchs nahm und es sich immer wieder sanft über die Nasenspitze strich, während er wie hypnotisiert aus dem Fenster blickte. Unwillkürlich glitt ein Lächeln über mein Gesicht.

In manchen Momenten war es für mich so einfach, mein Kind zufriedenzustellen. In anderen war alles, was ich tat, einfach falsch. Aber davon konnte wahrscheinlich jede Mutter auf diesem Planeten ein Liedchen singen.

Nachdenklich betrachtete ich ihn weiter, wie er so dasaß, seine wilden Locken, die den meinen so ähnlich waren, und seine grünen Augen, mit denen er verträumt die vorbeiziehende Umgebung beobachtete. Er war gerade erst etwas mehr als eineinhalb Jahre alt, und ich konnte ihn nur für seine Zufriedenheit bewundern.

Für seine Stärke. Er schien in so vielen Momenten in sich zu ruhen. Mit sich im Reinen zu sein. Natürlich war das nicht immer der Fall, aber er machte es mir leicht. Leichter, mit all dem Scheiß klarzukommen, den ich vorsichtig Vergangenheit nannte.

Ich schob den Gedanken schnell beiseite, denn es waren Erinnerungen, die ich mir nicht leisten konnte. Die mich nur zurückwarfen, in ein Damals, obwohl ich viel mehr im Heute leben sollte.

Wir waren endlich angekommen. Ein weiterer flüchtiger Blick auf meine Uhr ließ mich Mo schnell wieder auf den Arm nehmen, aus dem Bus aussteigen und im Laufschritt zum Eingang des Kindergartens hasten, der sich genau gegenüber der Haltestelle befand.

Nun war mir wirklich warm, und ich pustete eine Strähne, die sich aus meinem Haarknoten gelöst hatte, aus dem Gesicht. Im Rennen wurde mir mit einem Mal wieder bewusst, wie sehr meine Hose an den Hüften schlackerte. Auch das war früher anders gewesen.

Gehetzt klingelte ich an der Pforte des privaten Kindergartens. Die rothaarige Erzieherin, Helen, die für die Gruppe, in die Mo ging, zuständig war, öffnete mir nach einem kurzen Augenblick, der sich für mich anfühlte wie eine Ewigkeit. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie mich an, den vorwurfsvollen Blick nur halbherzig verbergend. Die Morgenrunde hatte mit Sicherheit schon angefangen. Trotzdem und zu meiner Erleichterung nahm sie Mo kommentarlos mit einem mütterlichen Lächeln in ihre Arme, nachdem ich ihm gerade so noch einen schnellen Kuss auf die Wange hatte drücken können. Eine Welle der Dankbarkeit durchströmte mich, auch wenn ich ahnte, was sie über mich denken musste.

»Ich komme heute vielleicht etwas später«, zwang ich mich, mit bemüht fester Stimme zu sagen.

Bei meinen Worten verfinsterte sich ihre Miene merklich. Innerlich wand ich mich unter ihrem Blick, doch bewahrte Haltung. Es war nicht das erste Mal, dass dies vorkam. Doch es ging einfach nicht anders.

»Sie wissen, dass Sie nur eine bestimmte Stundenzahl gebucht haben, oder? Kann nicht jemand anderes –«

»Nein, heute klappt das leider nicht. Aber ich werde mich beeilen«, schnitt ich ihr das Wort ab.

Ihr kalter und anklagender Blick lag schwer auf mir. »Sicher?«

Erwartungsvoll sah sie mich an, doch ich überhörte ihre Frage absichtlich, zwang mich, den Ausdruck auf ihrem Gesicht weiter zu ignorieren, und winkte meinem Sohn zum Abschied. »Bis später, mein Schatz. Viel Spaß, ich hab dich lieb!«

Mos Augen hatten jedoch schon längst etwas im Inneren des Kindergartens ausgemacht. Auch dafür war ich dankbar. Dankbar, dass es ihm offenbar nicht schwerzufallen schien, mich jeden Tag aufs Neue für einige Stunden nicht um sich zu haben. Von mir konnte ich das Gleiche leider nicht behaupten.

Mit einem letzten abschätzigen Blick und einem harten Zug um den Mund schloss die Erzieherin die Tür hinter sich und war mit ihm verschwunden.

Ich schluckte. Nicht dem Bild einer Mutter zu entsprechen, die organisiert war, alles regeln konnte und zumindest in der Lage war, morgens ein frisches Oberteil anzuziehen, der scheinbar alles leichtfiel und die augenscheinlich alles unter Kontrolle hatte, tat weh. Ich sollte es wenigstens schaffen, pünktlich zu sein.

Ohne Zeit zu verlieren, machte ich mich wieder auf den Weg zur Bushaltestelle und redete mir währenddessen ein, dass jeder mal zu kämpfen hatte und dass das alles nur Momentaufnahmen waren.

Aber war das wirklich so? Oder versteckte ich mich nur vor der bitteren Wahrheit?

Ich war keine Vorzeige-Mum. Das war ich einfach nicht. Würde ich es je sein? Keine Ahnung. Aber ich versuchte, die beste Mutter für Mo zu sein, die beste Version von mir. Für ihn.

Der Neuanfang war nicht leicht gewesen, hier, weit weg von zu Hause, doch ich hatte es irgendwie geschafft, in Amsterdam Fuß zu fassen. Jetzt bemühte ich mich jeden Tag aufs Neue, etwas Ordnung in unser Leben zu bringen. Nur dass es mir irgendwie nicht recht gelingen wollte. Ob es daran lag, dass ich allein war, ohne einen Partner an meiner Seite, der mich unterstützte? Vielleicht. Zumindest war ich mir aber in einem Punkt ganz sicher. Wir waren ohne Mos leiblichen Vater besser dran. Und wir waren sicher, zumindest für den Moment. Sollte das nicht genug sein?

Natürlich hatte der Bus, der mich zur Arbeit bringen sollte, Verspätung. Als ich endlich einstieg, waren meine Hände schweißnass. Und das, obwohl ich geschlagene zehn Minuten reglos an der Haltestelle gewartet hatte. Die Vorahnung, was mir angesichts meines Zuspätkommens blühen würde, drehte mir den Magen um.

Es begann zu regnen. Tatenlos sah ich dabei zu, wie schwere Tropfen auf die Straße prasselten und der Himmel sich um mehrere Nuancen verdunkelte.

Warum hatte ich nicht früher das Haus verlassen können? Warum hatte ich Mo nicht einfach zeitiger wecken können? War es wirklich so schwer? Und war es das alles wirklich wert?

War es, flüsterte eine kleine Stimme in mir, die meinem Herzen wahrscheinlich am nächsten war.

Das Geräusch seines regelmäßigen Atems, die besondere Wärme, die nur schlafende Kinder ausstrahlen können, und der friedvolle Ausdruck in seinem Gesicht hatten mich davon abgehalten, ihn zu wecken. Ich hatte diesen Moment so lange wie möglich bewahren wollen, ihn aufsaugen, festhalten wollen, bevor der Tag uns mit seiner Hektik und seiner Betriebsamkeit wieder einholte.

Die Arme fest um meine Beine geschlungen, hatte ich auf dem Boden vor seinem Bettchen gesessen und ihn beobachtet. Es war ein Moment vollkommenen Glücks, vollkommener Zufriedenheit gewesen, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen. Lange hatte ich so dagesessen, bis ich die immer weiter voranschreitende Uhrzeit nicht mehr ignorieren konnte.

Vielleicht war es unter normalen Umständen keine große Sache, wenn eine Mutter mal zu spät kam, weil die Nacht mit ihrem Schützling ein einziger Albtraum gewesen war. Nicht so in meinem Fall.

Die Beziehung zu meinem Chef war generell schon … nennen wir es angespannt. Es wäre zu einfach, zu sagen, dass er mich nicht ausstehen konnte.

Die letzten Meter ins Callcenter legte ich im Sprint zurück. Es herrschte bereits emsiges Treiben, und ein Durcheinander an Stimmen empfing mich. Ich schlüpfte am Empfang vorbei und ließ mich in meine Zelle des Großraumbüros fallen, schnappte mir mein Headset und fuhr den PC hoch. Angestrengt konzentrierte ich mich darauf, den Eindruck zu machen, schon ewig an diesem Platz zu sitzen, auch wenn der Bildschirm vor mir noch verräterisch blau und ich immer noch völlig außer Atem war.

»Sieh an, wer uns mit seiner Anwesenheit beehrt. Guten Morgen, Louisa, auch schon wach?«

Ich zuckte bei diesen Worten zusammen. Fuck. Langsam drehte ich mich auf meinem Bürostuhl um. Vor mir schlenderte Phil, mein Boss, mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen bedrohlich auf mich zu.

Mein Körper verkrampfte sich, während ich arglos dreinblickte und mich gleichzeitig zwang, ruhig zu atmen.

Doch innerlich zitterte ich.

»Sorry. Der Bus hatte Verspätung«, sagte ich leise und sah ihm dabei nicht in die Augen.

Ich hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, wollte nicht zu eingeschüchtert wirken und hoffte gleichzeitig, dass er es nicht für notwendig befinden würde, mir eine weitere Lektion zu erteilen.

Doch alles Wünschen war zwecklos. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er diese Situation genoss.

Er stand vor mir, die Hände lässig in den Hosentaschen seines Anzugs vergraben, und ließ seinen Blick langsam über mich gleiten, bevor er mit übertrieben lauter Stimme weitersprach.

»Weißt du, Lou, wäre es das erste Mal gewesen, würde ich noch ein Auge zudrücken.« Innerlich stöhnte ich auf. Es wurde stiller im Büro, die Leute um uns herum richteten ihre Aufmerksamkeit auf uns. Wie von ihm beabsichtigt. Das Publikum war startklar, die Show konnte beginnen.

»Aber wir alle hier versuchen, Geld zu verdienen. Wenn du diesen Job nicht nötig hast, räum deinen Stuhl für jemanden, der ihn mehr will als du.« Der Satz hing drohend und abwartend in der Luft. Dann trat er vor, kam noch näher und strich mir beinahe zärtlich über die Wange.

Ich erstarrte unter seiner Berührung, krampfte mich zusammen, mein Gesicht brannte und jeder konnte es sehen. Alle starrten mich einfach nur an. Doch niemand rührte sich. Niemand kam mir zu Hilfe. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Es war jetzt fast unheimlich still im sonst so betriebsamen Büro. Seine Finger glitten langsam weiter meinen Kiefer hinab, über meinen Hals und verweilten einen Augenblick am Ansatz meines Schlüsselbeins. Herausfordernd und abwartend sah er mich dabei an, in Erwartung, was ich tun würde.

Doch ich reagierte nicht. Sah mich selbst auf diesem Stuhl sitzend und ertrug es einfach. Kämpfte darum, die Tränen, die sich vor Schock und Ekel in meinen Augenwinkeln gesammelt hatten, wegzublinzeln. Ich würde nicht weinen. Es würde nichts besser machen. Auch nicht, wenn ich seine Hand wegschlagen und ihn beschimpfen würde. Ich würde nur vor mehr Nichts stehen, würde mich selbst eines weiteren Stücks meiner kläglichen Existenz berauben. Ich wusste, worauf das Ganze hinauslaufen würde, was er von mir wollte, und meine Kehle schnürte sich schmerzhaft zu.

Gemächlich zog er sich zurück, die Arme lässig verschränkt und in gespannter Erwartung auf mich herabblickend. Ich hätte in diesem Moment einfach nur kotzen können. Um gleichzeitig vor Scham im Erdboden zu versinken.

So viele Dinge hätte ich gern getan und gesagt, hätte mich gewehrt, doch gleichzeitig wusste ich, dass es meine Situation nur noch schlimmer machen würde.

Stattdessen sagte ich leise, bemüht, meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen: »Ich will diesen Job. Ich brauche ihn, und es tut mir leid. Ich werde nicht noch mal zu spät kommen. Ich hänge die verlorene Zeit natürlich hinten dran.«

Phils überhebliches Lächeln wurde breiter. Er war nur wenig älter als ich und vielleicht hätte er attraktiv sein können, mit seiner durchtrainierten Statur und den markanten Kieferknochen, dem dunklen kurz geschnittenen Haar, wäre da nicht ein gewisser Ausdruck in seinem Gesicht gewesen, der mich von Anfang an auf Distanz gehalten hatte. Ein Ausdruck von haushoher Überlegenheit, der nur von seinem herablassenden Gebaren und seiner Haltung anderen gegenüber übertroffen wurde.

Und da war noch etwas, das ich zuerst vielleicht nicht hatte sehen können, als ich ganz frisch hier gestartet war. Doch spätestens heute wusste ich nur zu gut, was die Leute in seiner Umgebung in Alarmbereitschaft verfallen ließ und sie abschreckte. Grausamkeit.

Die Freude am Elend anderer. Nein, ich war nicht die Einzige, mit der er so umsprang. Und deswegen traute sich niemand, etwas zu sagen. Doch ich war anscheinend sein Lieblingsopfer.

Bemüht reumütig senkte ich den Blick und hoffte, das Schlimmste hinter mich gebracht zu haben. Wie ich diese Unterwürfigkeit verabscheute. Und nur zu gut wusste, wie sehr ich mich selbst damit verleugnete, indem ich all das zuließ. Nur um hinter diesem Schreibtisch sitzen zu dürfen. Als hätte ich das alles nicht längst hinter mir. Und doch holte es mich scheinbar immer wieder ein.

Meine mit Bedacht gewählten Worte milderten seine Stimmung, auch wenn wir beide wussten, dass es nicht vorbei war. Dass es nie vorbei sein würde, so lange ich hier weiter arbeitete. Dass er nur auf die nächste Möglichkeit lauerte, um mir zu zeigen, dass er mich in der Hand hatte. Und welchen schweren Fehler ich begangen hatte, ihn abgewiesen zu haben.

Phil beugte sich zu mir, und dieses Mal konnte ich nicht verhindern, dass ich zurückwich, wobei sich die Rückenlehne meines Stuhls an den Schreibtisch presste. Um nicht in Panik zu verfallen und nicht doch zu weinen, krallte ich meine Finger in die Stuhllehne, doch er schien es nicht zu bemerken. Oder gerade das machte ihn an.

Seine Hand griff sacht in meine Haare, spielte gedankenverloren mit einer Strähne, die nur wenige Momente zuvor mein Kind in seinen unschuldigen Fäusten gehalten hatte. Ich fühlte mich dreckig. Beschmutzt. Besudelt.

Er sprach nun bedeutend leiser als zuvor, sodass nur ich ihn hören konnte. »Du könntest es so einfach haben, kleine Lou. Du sträubst dich so sehr gegen ein gutes, angenehmes Leben, und ich frage mich immer … wieso? Ich sehe, wie du kämpfst und jeden Tag ein bisschen mehr verlierst. Lass mich dir helfen. Bevor es zu spät ist. Lass uns ausgehen, und ich zeige dir, was du bisher verpasst hast.«

Früher einmal hätte ich mich vielleicht gewehrt. Doch das war in einem anderen Leben.

»Danke, ich schaff das schon.« Meine Antwort war lahm, schwach, und das Zittern meiner Stimme zum Ende hin kaum überhörbar. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich meinem Stolz so wenig Beachtung schenken durfte, um zu überleben.

Endlich ließ er mein Haar los, doch er fixierte mich weiter mit seinen glühenden, vor Erregung dunklen Augen. Wartete wieder. Lechzte nach einer Reaktion. Vielleicht doch einer Träne, die mir entfloh, einem Schluchzen, mehr Zeichen von Schwäche, von Unterwürfigkeit. Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht.

Zumindest etwas war scheinbar von meinem Stolz übrig geblieben.

Der Moment verstrich. Als wäre er enttäuscht, dass das Gespräch nicht noch interessantere Wendungen genommen hatte, schenkte Phil mir einen herablassenden Blick. »Du fängst jetzt besser an, Lou.«

Seine zuvor so verführerische Stimme war einem schneidenden Tonfall gewichen. Er war fertig mit mir. Fürs Erste.

Ich wandte mich schnell ab, schaute mich nicht noch einmal um, wollte nicht sehen, wie er mir womöglich einen weiteren Blick zuwarf, mir zunickte, während sich seine Schritte langsam entfernten. Hoffentlich hatte er für den heutigen Tag genug von mir.

Die Stunden vergingen wie im Flug, in denen ich Telefonnummer für Telefonnummer abtelefonierte und meine in Fleisch und Blut übergegangenen Floskeln runterratterte. Meine Stimme war professionell, freundlich und geübt. Ich redete und redete, doch meine Gedanken waren weit weg. Innerlich aber hätte ich am liebsten geschrien.

Kapitel 2

Am Ende meiner Flucht, meiner langen Reise, war ich wie eine Schiffbrüchige an Land gespült worden. An die Ufer der großen Stadt, von der ich gehofft hatte, dass sie mich retten würde. Mir Zuflucht gewährte. Ein fremdes Land, in dem ich niemanden kannte. In dem mich niemand kannte. In dem ich neu anfangen konnte. Ohne einen Plan, mit nichts weiter als meiner Kleidung am Leib und einem Neugeborenen im Arm war ich gestrandet und hatte ziemlich schnell merken müssen, dass Amsterdam verdammt noch mal nicht auf mich gewartet hatte.

Ohne Job, ohne Geld und ohne eine Wohnung, mit einem kleinen Bündel Leben, das es zu versorgen galt, war meine Ankunft eine Katastrophe gewesen. Nur durch bloßen Zufall hatte ich eine Wohnung gefunden, nachdem ich die ersten Tage mit Mo in einem Sozialheim untergekommen war. Und rückblickend konnte ich sagen, dass dieser Zufall, diese Wohnung, das Beste war, was mir hatte passieren können.

Denn auch wenn der graue Betonklotz, den ich nun Zuhause nannte, wenig Charme besaß und die Ein-Zimmer-Wohnung ihre besten Tage schon längst hinter sich hatte, war sie für mich bezahlbar. Gerade eben so.

Hätte es nicht kurz nach meinem Einzug an der Tür geklopft, wäre mein Abenteuer in der fremden Stadt trotzdem schneller beendet gewesen, als mir lieb war. Denn allein die erste Miete hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht aufbringen können.

Ich hatte die Tür nur zaghaft geöffnet. Die Angst, dass Peter uns doch irgendwie gefolgt war, hatte mir damals das Herz bis zum Hals schlagen lassen. So wie es heute bei unangemeldetem Besuch immer noch der Fall war.

Eine ältere Dame hatte vor mir gestanden, mit einer riesigen Auflaufform in den Händen und einem breiten Lächeln auf den Lippen. Bei ihrem Anblick waren mir die Knie weich geworden, so erleichtert war ich gewesen, dass sie nicht er war. In eine übergroße Strickjacke gehüllt, die sie noch winziger als ohnehin schon erschienen ließ, hatte die Frau mich durch ihre dicken Brillengläser hindurch mit Augen, denen nichts zu entgehen schien, angestarrt, und dabei war ihr Blick an Mo hängen geblieben, den ich in Decken gehüllt an meine Brust gedrückt hatte.

»Willkommen in der Nachbarschaft«, hatte sie mich begrüßt und war sogleich resolut an mir vorbei in die Wohnung getreten.

Einen Augenblick hatte ich ihr nur verdattert nachsehen können, um dann völlig überrumpelt die Tür hinter ihr zu schließen.

Mitten im Wohnraum stehend, der mit einer Kochnische ausgestattet war und somit auch Küche, Esszimmer und Schlafzimmer zugleich darstellte, hatte sie sich langsam und mit geschürzten Lippen um die eigene Achse gedreht. Viel zu sehen hatte es nicht gegeben, außer einer alten Matratze, die auf dem Boden gelegen und die der Vormieter zurückgelassen hatte. Zum Glück, denn sonst hätte ich mit meinem Säugling auf dem nackten Boden schlafen müssen.

»Wenn ich es nicht besser wüsste, Mädchen, würde ich dich fragen, ob die Möbelpacker auf sich warten lassen«, hatte sie mit energischer Stimme gesagt, die nicht gerade schmeichelhaft durch den sonst leeren Raum gehallt war. »Aber wer hierherzieht, der kann sich so was normalerweise nicht leisten, stimmst du mir da zu?«

Ihre Worte waren zu direkt und ich zu perplex gewesen, als dass ich überhaupt die Gelegenheit gehabt hätte, um peinlich berührt zu sein.

»Auf die können wir wohl lange warten«, hatte ich nur matt entgegnet.

Schon nach diesem ersten kurzen Augenblick hätte ich diese Frau da vor mir mit nur einem Wort beschreiben können. Sie war entwaffnend.

»Also, wie dem auch sei.« Sie hatte kurz mit den Schultern gezuckt, als wäre nichts dabei, wenn man nur eine alte Matratze sein Eigen nennen konnte, und mich dann wieder prüfend beäugt. »Ich bin Clara Mey und ich wohne direkt nebenan. Falls du also mal etwas brauchst, hast du es nicht weit.«

»Ich bin Lou.« Meinen Nachnamen hatte ich bewusst nicht erwähnt. Ich war damals schon auf der Hut gewesen, genauso wie heute, gab nie mehr Informationen über mich preis als notwendig und befürchtete stets, dass meine Vergangenheit mich vielleicht doch noch irgendwann einholen würde.

»Na dann, Lou, hast du vielleicht Hunger?«

Ich hatte noch nicht einmal nicken müssen, denn in diesem Augenblick hatte mein Magen das Sprechen für mich übernommen. Und wie ich Hunger gehabt hatte.

Unwillkürlich waren meine Augen zu dem nicht gerade vertrauenserweckenden Ofen der Kochnische geglitten. Ich hatte ihn zuvor noch nicht ausprobiert, mich die ersten Tage überwiegend von billigen Instant Nudeln ernährt und inständig gehofft, dass sein in die Jahre gekommenes Aussehen trügen würde.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, hatte Clara die Auflaufform geräuschvoll auf der Arbeitsfläche abgestellt, etwas vor sich hin gegrummelt und dabei geradezu aufgebracht, beinahe wütend gewirkt.

Ich hatte mich schon gefragt, ob sie noch bei Verstand war, da hatte sie sich wieder brüsk zu mir umgedreht, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt.

»Ich bin ehrlich, ich habe dein Kind schreien gehört. Die Wände hier sind ziemlich dünn, und ich wollte mal nach dem Rechten sehen. Doch bei aller Liebe, du siehst aus, als seist du am Verhungern, Mädchen! Und wie mir scheint, hast du noch nicht einmal eine Gabel, stimmt’s?«

Richtig. Wenn man die Plastikgöffel nicht dazu zählte, die ich aus dem Supermarkt um die Ecke geklaut hatte, in dem ich auch die billigen Nudeln von meinem letzten Geld kaufte. Zum Glück hatte Mo sich problemlos stillen lassen. Eine Sorge weniger in einem Meer aus Fragezeichen in meinem Kopf.

Clara hatte energisch einige Schubladen aufgezogen, nur um sie dann stöhnend wieder zu schließen. Tief durchatmend und anscheinend um Fassung ringend, hatte sie sich die Augen gerieben, mich wieder angestarrt und kurz innegehalten. »Okay, dir fehlt es wirklich an allem. Gut. Das werden wir ändern.«

Sie war wortlos aus meiner Wohnung gestürmt, wobei sie die Tür offen gelassen hatte. Ratlos hatte ich ihr nachgesehen, den schlafenden Mo immer noch auf dem Arm.

Bepackt mit einer großen Kiste war sie nach nur wenigen Minuten wieder aufgetaucht, war an mir vorbeigerauscht, und ich konnte nur zusehen, wie sie begann Besteck, Geschirr und alle möglichen Küchenutensilien in der Kochnische einzusortieren. Ich hatte damals kein Mitleid gewollt und wollte es auch heute nicht. Am liebsten hätte ich sie in diesem Moment gebeten zu gehen. Denn ich war vor Scham beinahe im Boden versunken.

»Clara, das ist nicht –«, hatte ich angesetzt, doch war gnadenlos unterbrochen worden.

»Was? Nicht nötig? Ich glaube doch.«

Unbeirrt hatte sie dabei weitergemacht, Schubladen gefüllt, Lebensmittel in Schränke gelagert, sogar einen kleinen Wasserkocher hatte sie in der Kürze der Zeit angeschleppt.

»Das ist zu viel, wirklich. Du kennst mich doch gar nicht!«, hatte ich erwidert. Hatte versucht, genauso energisch, genauso stark zu klingen wie sie. Auch wenn es mir nicht im Mindesten gelungen war.

Clara jedoch hatte sich auf meinen jämmerlichen Widerstand hin urplötzlich umgedreht und mir einen scharfen Blick zugeworfen. »Dein Stolz in allen Ehren, Kind, aber lass es gut sein. Jetzt hast du das Nötigste, und ich brauche es nicht. Als mein zweiter Mann verstarb, konnte ich unser damaliges Haus nicht mehr halten. Wenn man von einem großen Haus in eine kleine Wohnung umzieht, gibt es so einiges, was man dann plötzlich nicht mehr braucht. Also belassen wir es dabei und verschwenden keine Tränen um verschüttete Milch. Und wenn wir jetzt zusammen essen wollen, könntest du mir ruhig behilflich sein. Du kannst den Ofen anmachen und bewachen, damit er nicht in die Luft fliegt. Ich traue diesem Ding nicht.«

Immer noch völlig entgeistert, hatte ich nur nicken können und war ihr zur Hand gegangen. Für den Moment hatte ich mich geschlagen gegeben.

Der Auflauf war fertig, der herrliche Duft hatte sich schnell in der kleinen Wohnung ausgebreitet und mir ein zartes Gefühl von Geborgenheit gegeben. Zu Hause, in meinem Elternhaus, hatte es auch immer nach gutem Essen gerochen.

Als wir gemeinsam das Essen auf zwei Teller verteilt hatten, hatte sich die zierliche Frau mit der gedrungenen Haltung noch einmal verzweifelt suchend nach einem Stuhl umgesehen, geseufzt und sich dann kurzerhand auf den blanken Fußboden niedergelassen.

Spätestens da war mir die Scham darüber, dass ich meiner Nachbarin wirklich nichts, noch nicht einmal einen Stuhl, anbieten konnte, heiß die Wangen hinaufgekrochen.

Doch sie hatte nur abgewunken. »Als hätte ich nicht schon mal auf einem Fußboden gesessen. Mach dir nichts draus und setz dich zu mir.«

Lächelnd hatte sie auf den Platz neben sich gedeutet.

Während Mo weiter in meinem Schoß geschlafen hatte, hatten wir lange Zeit schweigend dagesessen und der Kloß in meinem Hals war immer größer geworden. Weil mich diese warme selbstgekochte Mahlzeit so sehr an zu Hause erinnert hatte. An eine längst vergangene Zeit. An meine Familie, der ich den Rücken gekehrt hatte. Und weil mir einmal mehr bewusst geworden war, wie wenig ich meinem Sohn zu bieten hatte. Dass ich kaum eine Perspektive in dieser fremden Stadt hatte, ohne Geld, ohne Job, ohne Unterstützung, ohne Möbel. Als sie aufgegessen hatte, hatte Clara mich ernst angesehen und mit einer sanften Handbewegung auf meinen schlafenden Sohn gedeutet. »Möchtest du mir erzählen, warum ihr beide hierhergekommen seid?« Eine einfache Frage, gestellt von einer wildfremden Person.

Doch in diesem Moment war es, als würde sie mit diesen Worten einen ganzen Damm in meinem Inneren brechen lassen. Ich hatte mich lange zusammengerissen, mir nicht erlaubt zu weinen, mich selbst zu bemitleiden oder darüber nachzudenken, wie es jetzt eigentlich weitergehen sollte. Jeden Tag hatte ich einfach stur weitergemacht.

Allerdings hatte ich nicht mit Claras Auftauchen gerechnet. Ihre pedantische und gleichzeitig aufrichtige, herzliche Art, ihre grundlose Hilfsbereitschaft, die warme Mahlzeit und das Gefühl, und sei es nur für eine Minute, nicht allein zu sein, hatten mich überrumpelt.

Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte, nicht mehr zurückhalten wollte, waren über meine Wangen gerollt, und ich hatte mein Gesicht in den Händen vergraben.

Ohne ein Wort hatte Clara mich daraufhin überraschend fest in ihre doch so zierlichen Arme geschlossen, dabei sorgsam darauf bedacht, das Baby nicht zu wecken.

Ich hatte nie groß etwas von Schicksal gehalten. Darüber still gelächelt, wenn Menschen erzählten, dass sie eine Person getroffen hatten, die daraufhin ihr ganzes Leben veränderte, und sie es vom ersten Augenblick an gespürt hatten. Doch seit ich Clara kannte, tat ich es.

Dann, als der Strom aus Tränen endlich versiegt war, hatte ich ihr leise meine Geschichte erzählt.

»Ich weiß nicht, wie ich so lange bei ihm bleiben konnte«, hatte ich damals mit tonloser Stimme und schweißnassen Händen geendet. »Selbst meine Eltern, die mir immer genug Freiraum gegeben haben, haben mich vor ihm gewarnt. Sie haben sich Sorgen gemacht, sich gefragt, warum ich plötzlich nicht mehr studieren wollte, warum ich alles wegwerfe. Sie haben mir ihre Hilfe angeboten. Und ich habe nicht auf sie gehört.«

Clara, die weiterhin nur dagesessen und mich aufmerksam betrachtet hatte, hatte mir tröstlich eine Hand auf die meine gelegt und sie nach einer Weile fest umschlossen. »Jetzt seid ihr hier. Und alles andere wird sich irgendwann fügen. Ich spreche da aus Erfahrung, musst du wissen. Schlimme Zeiten kommen und gehen. Man muss sie nur überstehen.«

Und damit hatte sie begonnen, mir zahlreiche Anekdoten aus ihrem Leben zu erzählen. Wenn sie versucht hatte, mich von meiner eigenen Situation abzulenken, und war es auch nur für eine Weile, hatte sie es geschafft.

Ihre Geschichten hatten mich gerührt und mich meinen Schmerz für mehr als nur einen Moment vergessen lassen. Das bisherige Leben meiner Nachbarin war bewegt gewesen, voll von Umbrüchen, voll von Freude, aber auch von Trauer. Aber sie hatte weitergemacht. Und dafür bewunderte ich sie.

Beim Abschied hatte Clara noch einmal meine Hand ergriffen, sie fest umschlossen, als würde sie mir damit die Aufrichtigkeit ihrer Worte begreifbar machen wollen. »Komm morgen vorbei und wir holen noch ein paar Sachen aus meinem Keller. Und danach gehen wir gemeinsam in den Laden an der Ecke und besorgen euch das Nötigste, in Ordnung? Du brauchst dringend Sachen für deinen Nachwuchs. Hast du noch Windeln?«

»Wirklich, ich …«

Doch Clara hatte mich nicht ausreden lassen. »Bestimmt finden wir auch noch ein paar Möbel im Keller, die sowieso nie in meine kleine Wohnung gepasst haben. Ich habe sie nur der Erinnerung wegen aufgehoben. Die Rührseligkeit einer alten Frau eben. Du kannst sie gebrauchen, und ich muss sie nicht wegwerfen. Nennt man so etwas nicht eine Win-win-Situation?«

»Das kann ich nicht annehmen«, hatte ich daraufhin stockend erwidert, wieder den Tränen nahe. Aber dann hatte ich widerwillig und doch zustimmend genickt. Hatte meinen Stolz hinuntergeschluckt, denn ich hatte keine Alternative. Wusste, dass ich ohne diese Hilfe, diese Unterstützung, mein Kind nicht würde versorgen können.

Ich ergab mich in diesem Moment meinem Schicksal, gab mein Leben in die Hände einer wildfremden Frau. Und war dankbar dafür. Verdammt dankbar.

Clara, dieser Engel, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, um mich zu retten, schenkte mir ein wissendes Lächeln. »Ich weiß, Kind. Es ist in Ordnung. Im Leben muss man manchmal über seinen Schatten springen und Hilfe annehmen, weißt du? Außerdem war dieses gesparte Geld lediglich dafür gedacht, ein wenig von der Welt zu sehen. Aber die wird mit Sicherheit noch ein bisschen länger auf mich warten können. Dieser kleine Kerl kann es nicht.«

Die Haut um ihre Augen hatte sich in tiefe Fältchen gelegt, als sie dem schlafenden Mo ein Lächeln schenkte.

»Ich danke dir«, hatte ich eindringlich geantwortet, auch wenn es viel zu kleine Worte gewesen waren, heute wie damals, um die Dankbarkeit für das auszudrücken, was sie seit diesem Tag für uns tat.

Denn sie war der Grund, warum ich es überhaupt irgendwie schaffte, hier, in dieser großen fremden Stadt, die mir immer noch so unwirtlich erschien, wirklich Fuß zu fassen. Es war allein ihr zu verdanken, dass ich gerade die ersten kritischen Monate überstand.

Und es sollte nicht bei Kleidung und Möbeln bleiben, die sie mir überließ. Clara gab mir Geld, in meinen Augen unendlich viel Geld, um die Miete in den Monaten nach Mos Geburt, als ich verzweifelt nach einem Job suchte und mich doch niemand einstellen wollte, zu bezahlen. Sie lieh es mir, damit ich über die Runden kam.

All meinem Protest, meinem Widerspruch zum Trotz hatte sie damals nicht hören wollen, hatte mir immer wieder einen Umschlag mit dem Geld für Miete und Essen in die Hand gedrückt.

Sie war es gewesen, die mich im Wochenbett unterstützt hatte und mir auch darüber hinaus immer zur Seite stand. Und wenn es nur ein kurzer Besuch auf eine Tasse Tee war. Bis heute.

Ich hatte Glück gehabt, sie zu treffen. Unverschämtes Glück.

Ich nahm Claras Hilfe voller Dankbarkeit an, auch wenn mir nur zu bewusst war, dass ich das, was sie für mich tat, nie würde vergelten können. Und es noch lange dauern würde, bis ich meine Schulden bei ihr abgetragen hätte.

Denn auch wenn ich jeden Cent, den ich im Callcenter oder der Bar verdiente und der übrig blieb, nutzte, um es ihr zurückzuzahlen, war es nicht so, als würde ich nur ihr Geld schulden.

Der immer weiterwachsende Berg an roten Zahlen in meinem Kopf gesellte sich nur zu dem noch weitaus größeren auf meinem Konto, den Mos Vater ohne mein Wissen während unserer gemeinsamen Zeit unter meinem Namen angehäuft hatte.

Dumme, einfältige Lou.

Langsam tauchte ich aus dem Sog meiner Erinnerungen auf und fand mich an meinem Schreibtisch im lärmenden Callcenter wieder. Meine Tagträumerei erinnerte mich daran, dass ich eigentlich ausrechnen wollte, wie viel Geld ich für diesen Monat noch zur Verfügung haben würde und wie viel davon ich Clara geben könnte. Es war wieder einmal erschreckend wenig.

Doch eines Tages, so hatte ich mir geschworen, würde ich das alles hinter mir lassen. Würde frei sein, frei von Schulden und frei zu entscheiden, was ich wirklich tun wollte. Das war mein Traum. Mit Mo fortzugehen, weit weg, mit genug Geld für einen richtigen Neustart. Vielleicht würde ich tatsächlich studieren gehen oder irgendetwas finden, was mich wirklich erfüllte. Und Mo würde in Frieden aufwachsen können. Wir würden in Frieden leben. Ohne Angst. Ohne dunkle Vergangenheit. Und vielleicht würde Clara uns begleiten. Um endlich ihre Welt zu sehen, und wir könnten ein Teil davon sein.

Kapitel 3

Mit müden Augen schaute ich auf die Uhr.

Feierabend.

Aber nur eigentlich.

Ich blieb wie versprochen länger, auch wenn ich es kaum erwarten konnte, raus aus diesem stickigen Bürogebäude zu kommen, raus aus dem Lärm, der mich umgab, und weg von dem Gefühl, Phil die ganze Zeit über in meinem Nacken zu spüren. Und auf meiner Haut.

Dennoch zwang ich mich, sitzen zu bleiben. Auch wenn das bedeutete, dass mein Zeitproblem, Mo pünktlich aus der Kita abzuholen, somit immer größer wurde. Mir war nur zu deutlich bewusst, dass mein Boss darauf wartete. Darauf, dass ich zu früh aufstand und ging. Diese Genugtuung wollte ich ihm kein zweites Mal an diesem Tag geben.

Die Minuten verstrichen quälend langsam und zugleich unendlich schnell.

Dann aber war es endlich so weit, und ich flog nur so zur Tür hinaus und warf keinen Blick zurück. Im Freien sog ich gierig die frische, kühle Luft ein. Sah nur beiläufig das Laub auf den nassen Straßen und den grauen Himmel, der sich in den Pfützen des Asphalts spiegelte. Für einen kurzen Augenblick versuchte ich, mich daran zu erinnern, wann es Herbst geworden war. Die Zeit war rasend schnell an mir vorbeigezogen.

Doch ich hatte auch jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Anspannung wurde immer größer. Ich rannte zur Bushaltestelle und schenkte den Menschen, an denen ich vorbeikam und die überrascht aufblickten und mir misstrauische Blicke zuwarfen, keine Beachtung.

Mein plötzliches Aufspringen war zu viel gewesen. Mein Magen machte einen Satz, und mir wurde schwummerig, denn ich hatte immer noch nichts gegessen und der Automatenkaffee des Büros, den ich in einer schnellen Minute hinuntergekippt hatte, lag mir schwer im Magen.

Und dann sah ich einen Mann an der Straßenecke stehen. Es war nur ein Moment, ein unachtsamer Augenblick, und doch war die Angst, die ich immerzu zu kontrollieren versuchte, mit einem Schlag wieder da.

Ich erstarrte. Trotz allem, trotz all der Zeit, die zwischen Jetzt und Damals lag, übermannte sie mich. Sie erwischte mich in einem Augenblick, in dem ich mich zu sicher fühlte, in dem ich nachlässig war. Der Mann an der Ecke sah Peter nicht einmal besonders ähnlich, nur die dunklen Haare passten und die Art, wie er sie trug. Doch allein dieser Anblick raubte mir den Atem und ließ die Panik in mir hinaufkriechen. Nur langsam beruhigte ich mich, nur langsam ebbten die Erinnerungen ab, ließen mich zurück, zitternd und beinahe unfähig, auch nur einen Tag, nur eine Stunde weiterzumachen. Allein noch einen Schritt zu gehen. Nicht immer gewann ich diesen Kampf. Doch ich wurde besser, je mehr Zeit verstrich.

Der nächste Bus kam. Ich zwang mich, hineinzuspringen, und ließ mich auf den erstbesten freien Platz sinken. Meine Hände zitterten immer noch, und ich bemühte mich, gleichmäßig zu atmen, um der Panik, aus der ich mich gerade erst befreit hatte, nicht noch einmal Futter zu liefern. Es war erst Nachmittag, doch mir kam es so vor, als würde der Tag kein Ende nehmen. Als wäre der Abschied von Mo bereits eine halbe Ewigkeit her. Ich sehnte den Augenblick herbei, in dem ich ihn endlich wieder in die Arme schließen konnte.

Niemals hätte ich mir träumen lassen, wenn ich überhaupt früher einmal darüber nachgedacht hatte, selbst Kinder zu haben, dass ich das meine bis weit über die Mittagszeit hinaus fremdbetreuen lassen würde. Und das regelmäßig, ja, fast immer.

Damals war eine gewisse Traumvorstellung in meinem Kopf fest verankert gewesen. Eine Vorstellung, die mit meiner Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hatte.