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Offene Grenzen – keine Forderung könnte der aktuellen politischen Stimmung mehr widersprechen. Dieses Buch zeigt: Eine Welt mit offenen Grenzen ist nicht nur möglich – sondern sogar dringend notwendig. Volker Heins zeigt, dass Mauern und Abschottung kein Garant für Wohlstand und Sicherheit sind, sondern eine Gefahr für die Demokratie. Anders als andere Experten beschreibt er die weltweiten Wanderungsbewegungen nicht nur aus der Perspektive der Regierungen, sondern auch aus der Perspektive von Migranten. Mehr noch: Er geht unserem Bedürfnis nach Grenzen und Abgrenzung auf den Grund. Sein leidenschaftliches Plädoyer für eine realistische Politik der allmählichen Öffnung aller Staatsgrenzen macht deutlich, dass globale Bewegungsfreiheit für den Bestand einer stabilen und gerechten Weltordnung unverzichtbar ist. Dieses Buch zeigt, welche Voraussetzungen dazu notwendig sind und wie in Zukunft unser Zusammenleben neu und besser gelingen kann – über alle Grenzen hinweg.
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Seitenzahl: 263
Volker M. Heins
Offene Grenzen für alle
Eine notwendige Utopie
Hoffmann und Campe
Offene Grenzen für alle? Alle sollen überallhin fahren dürfen, um zu arbeiten und zu leben, wo es ihnen gefällt? Das finden viele sicher illusorisch, unrealistisch, ja geradezu gefährlich. Nichts könnte dem Zeitgeist mehr widersprechen.
Dabei ist es – so die These dieses Buches – nicht die Öffnung, sondern die dauerhafte Schließung der Grenzen, die illusorisch, unrealistisch und zudem für die Betroffenen nicht selten lebensgefährlich ist. Gewiss, die vorübergehende Schließung von Staatsgrenzen kann manchmal sinnvoll sein, zum Beispiel um die Ausbreitung eines Virus zu verzögern. Das haben wir nach dem Ausbruch der Coronapandemie im Jahr 2020 gelernt, als nicht nur Europa die Grenzen dichtmachte, sondern auch China oder afrikanische Länder Visa annullierten und den Luft- und Schiffsverkehr von und nach Europa und in die Welt aussetzten. Sogar innerhalb Deutschlands gab es zeitweilig Einreise- und Beherbergungsverbote in bestimmten Bundesländern und Landkreisen. Selbst ein internationaler Gesundheitsnotstand rechtfertigt allerdings nur kurzzeitige Reisebeschränkungen, da sich Erreger nicht um Landesgrenzen scheren, wie die Weltgesundheitsorganisation schon bei früheren Pandemien feststellte. Reisebeschränkungen für gesunde Menschen ohne ansteckende Krankheiten sind noch viel schwieriger zu rechtfertigen. Und doch unterbinden zunehmend engmaschige, asymmetrische Grenzkontrollen die Freizügigkeit der Mehrheit der Menschheit dauerhaft und ohne vernünftigen Grund. Die Lockdowns, die wir während der weltweiten Coronakrise erlebt haben, sind für sie der Normalzustand. Dieser Zustand muss durch Lockerungsmaßnahmen im großen Stil überwunden werden.
Man kann nicht behaupten, dass die gegenwärtige Ordnung globaler Migrationskontrollen und Einreisebeschränkungen vernünftig ist. Es ist verrückt, dass ein kleiner Teil der Menschheit fast überallhin reisen und sich überall niederlassen kann, während der andere, viel größere Teil zur Sesshaftigkeit verdammt ist. Wer das normal und gerecht findet, kann nicht gleichzeitig das Hohelied auf die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte singen. Aber auch wenn man bereit ist, diese Prinzipien aufzugeben, ist es naiv zu glauben, man könnte im historischen Westen durch Zäune aus Stahl und biometrischen Daten dauerhaft eine »weiße« Parallelgesellschaft aufrechterhalten oder wiederherstellen – eine Parallelgesellschaft, die sich von der übrigen Menschheit abschottet. Über kurz oder lang führt kein Weg daran vorbei, die Durchlässigkeit der Grenzen von Staaten für Migrationswillige in alle Himmelsrichtungen zu erhöhen. Damit meine ich die »großen« territorialen Grenzen zwischen Staaten, aber auch die »kleinen« Grenzen zwischen den Neuankömmlingen und den Einheimischen innerhalb von Staaten.
Das Buch plädiert für eine praktische Orientierung an einer Utopie offener Grenzen. Das bedeutet zweierlei: offene Grenzen zwischen letztlich allen Staaten, auch außerhalb des Westens, und für alle ihre Bürgerinnen.1 Offene Grenzen heißt, dass Menschen ohne Visum – oder mit einem an der Grenze ausgestellten Visum – in andere Staaten einreisen können und sich in diesen Staaten niederlassen dürfen, solange sie niemandem Schaden zufügen. Das klingt utopisch und ist auch so gemeint. Aber wer diese Utopie zurückweist, läuft Gefahr, sich an ihre hässlichen Alternativen zu gewöhnen.
Es gibt zwei solche hässlichen Alternativen: eine Welt geschlossener Grenzen für alle und eine Welt offener Grenzen für nur wenige. Die erste Welt wäre furchtbar, würde aber immerhin die Gleichbehandlung der Bürger aller Staaten sicherstellen, deren Reise- und Niederlassungsfreiheit auf einem vergleichbar niedrigen Niveau eingefroren würde. Die Coronapandemie hat uns einen Vorgeschmack davon gegeben. Plötzlich durften auch die Deutschen mit ihren roten Reisepässen, die ihnen bis dahin den Zugang zur ganzen Welt öffneten, nicht einmal mehr nach Österreich, Holland oder Mallorca fahren, ja nicht einmal in ein anderes Bundesland. Eine Zeit lang und ganz plötzlich war die Welt sehr klein geworden.
Noch schlimmer wäre freilich eine Welt, in der das Recht auf Bewegungsfreiheit dauerhaft ungleich verteilt wäre. Und es ist diese Welt, die zunehmend Wirklichkeit wird. Der Grad der Bewegungsfreiheit oder, wie die Soziologin Anja Weiß sagt, der sozial-räumlichen Autonomie hängt heute maßgeblich vom Zufall der Geburt sowie vom Vermögen einer Person ab. Wer in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder Österreich geboren wurde, kann sich, wenn nicht gerade eine Seuche ausgebrochen ist, nahezu weltweit nach Jobs umschauen, weltweit Beziehungen pflegen und darüber nachdenken, ob man in den Ferien in der Südsee mit Haien tauchen, in Japan Skifahren oder doch lieber in den Bergen Kirgisiens wandern möchte. Nur die Bürger einiger weniger Staaten können für sich die globale Ausdehnung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit realisieren, während der Rest der Menschheit festsitzt.[1]
Was das bedeutet, kann man am »Global Passport Index« ablesen, einer kommerziellen Webseite, die den Wert von Reisepässen nach der Zahl der Staaten bewertet, in die man mit ihrer Hilfe visafrei einreisen kann. Deutschland, Dänemark und Schweden befinden sich ganz oben auf der Liste, während ganz unten Länder wie Afghanistan, Irak oder Nigeria stehen.[2] Die Wertlosigkeit vieler Pässe im internationalen Verkehr wird noch verschärft durch die organisierte Willkür von Konsularbeamten, die bei der Vergabe von Visa über einen beträchtlichen Ermessensspielraum verfügen. Jüngere, relativ mittellose Antragstellerinnen im globalen Süden, die sich nicht mit der Bürokratie auskennen, haben kaum eine Chance, die für ihre Reisepläne entscheidenden Stempel, Unterschriften und Dokumente zu bekommen. Die Situation wird noch dadurch verschärft, dass eine globale Elite sich Aufenthaltstitel und Staatsbürgerschaften völlig legal einfach kaufen kann, während für andere selbst die eigene Staatsbürgerschaft ein hohles Versprechen auf Teilhabe am eigenen Gemeinwesen bleibt.
Warum die Rede von einer Utopie? Weil die Idee offener Grenzen immer noch – obwohl es immerhin die Europäische Union gibt – auf rechtlich oder psychologisch tief verankerte Vorstellungen von eigensinnigen Völkern, souveränen Staaten und ganzheitlichen Kulturkreisen trifft. Sie rebelliert gegen den vermeintlich gesunden Menschenverstand sowie gegen die sorgfältig kultivierte Angst vor denen, die hinter den hohen Mauern leben, die moderne Staaten zur Abwehr irregulärer Einwanderer gebaut haben. In diesem Sinne sind offene Grenzen utopisch. Anders jedoch als ältere literarische Utopien habe ich nicht vor, den Plan für eine perfekte Gesellschaft zu präsentieren, in der es keine echten Konflikte mehr gibt, sondern nur noch unterhaltsame Reibereien. Von einer solchen Utopie soll hier ausdrücklich nicht die Rede sein.
Warum ist eine Utopie offener Grenzen notwendig? Weil die Welt so, wie sie im Moment aussieht, nicht akzeptabel ist. »Die Gewalt an den Grenzen und durch Grenzen«, schreibt der kamerunische Philosoph Achille Mbembe, »ist zu einem der Hauptmerkmale unserer Zeit geworden«.[3] Besonders an den Grenzen der vermeintlich freien Welt wird viel gestorben. Um das zu ändern, muss die Debatte über die Regelung globaler Mobilität radikal neu geführt werden. Nur offenere Grenzen können das massenhafte Leid abwenden, das die Grenzregimes der Gegenwart produzieren, die immer mehr zu Todesstreifen und militärischen Einsatzgebieten werden. Von Anfang 1996 bis März 2020 sind mindestens 75000 Menschen bei dem Versuch, in ein anderes Land zu gelangen, qualvoll ums Leben gekommen, im Mittelmeer ertrunken oder in Wüsten verdurstet. Die Dunkelziffer ist erheblich höher.[4]
Viele von denen, die nicht unterwegs starben, wurden auf der Flucht gekidnappt oder, wie in Libyen, als Sklaven verkauft. Noch mehr starben zu Hause, weil sie sich eine Abwanderung nicht leisten konnten oder über keine ausreichenden Kontakte verfügten, um abzuhauen. Die flüchtlingsfeindliche Regierung des famosen, inzwischen abgewählten Donald Trump in den USA hat in jüngerer Zeit eine Situation geschaffen, die Schwarze und Muslime aus Somalia, Eritrea, Ghana, Nigeria, Haiti oder Dschibuti dazu bewogen hat, sich auf den Weg durch die Bundesstaaten Minnesota oder New York zur amerikanisch-kanadischen Grenze zu machen, weil sie in den USA bei Asylverfahren kein Gehör fanden oder von Abschiebung bedroht waren. Einige von ihnen sind unterwegs an Unterkühlung gestorben oder haben Finger und Zehen durch Frost verloren.[5]
Dieses unnötige Leid wird oft heruntergespielt. Die Leichen an den neuen Todesstreifen werden als Kollateralschaden einer alternativlosen Politik betrachtet, als Unfallopfer oder als Opfer von kriminellen Schleusern. In Leserbriefen rechter Zeitungen heißt es oft, dass die Migranten selbst schuld seien. Warum steigen sie auch in diese Schlauchboote. Warum bleiben sie nicht da, wo sie hingehören. So wird die Aufmerksamkeit von dem Preis abgelenkt, den andere für die Migrations- und Grenzschutzpolitik wohlhabender Länder zahlen müssen.
Hinzu kommt noch etwas anderes: Je unüberwindbarer Grenzen sind, desto mehr werden diejenigen, die draußen bleiben sollen, zur Projektionsfläche von Angst- und Gewaltphantasien. Alle Mittel scheinen recht zu sein, um die »Barbaren« von den Toren der »Zivilisation« fernzuhalten. Im März 2020 wurde bekannt, dass Griechenland nicht nur geschlossene Lager betreibt, in denen Migrantinnen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden, sondern auch geheime Gefängnisse, sogenannte black sites, die keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen. Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass die Staaten der Europäischen Union in Libyen Milizen finanzieren, die afrikanische Migranten in Lagern foltern oder als Geiseln festhalten, um Schutzgelder von Verwandten zu erpressen. Derweil haben Flüchtlinge in Lateinamerika lange Zeit versucht, in Mexiko auf einen Güterzug in Richtung USA zu springen, den sie La Bestia nennen, weil immer wieder Menschen von dem fahrenden Zug stürzen und dabei zu Tode kommen oder verstümmelt werden. Wer es dennoch über die Grenze schafft und vielleicht mit seiner Familie reist, dem kann es passieren, dass er oder sie in die Fänge der US-amerikanischen Grenzpolizei gerät, die im Frühjahr 2018 dazu überging, irregulär einreisende Familien zu trennen. Daraufhin gingen Bilder von Kindern in Käfigen um die Welt, von denen einige sogar zur Adoption freigegeben werden sollten. In Europa und den USA gibt es inzwischen eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber, ob die Flüchtlingslager, für die westliche Länder verantwortlich sind, »Konzentrationslager« genannt werden dürfen oder »nur« den Internierungslagern des Vichy-Regimes im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs ähneln.[6]
Die globale Abwehr von Einwanderern richtet sich nicht nur gegen die da draußen, sondern auch gegen diejenigen, die es bereits ins Innere der euroamerikanischen Wohlstandszone geschafft haben. Wer Chinesen, Afrikanerinnen oder Muslime nicht ins Land lassen möchte, wird im nächsten Schritt darüber nachdenken, wie er die Chinesinnen, Muslimas oder Afrikaner, die bereits zur eigenen Bevölkerung dazugehören, wieder loswird und ihrer Rechte beraubt. Wer den Gedanken aufgibt, dass sich im Prinzip jeder Mensch durch Einwanderung und Einbürgerung dem eigenen Volk anschließen kann, zerlegt dieses Volk in echte und unechte Bürger, Rechtssubjekte und rechtlose Untertanen. Das hat Tradition. So sprach der einflussreiche französische Nationalist und Antisemit Charles Maurras nach dem Ersten Weltkrieg von echten Franzosen und bloßen Papierfranzosen (Français de papier), so wie man auch heute wieder von »Papierdeutschen« spricht, die angeblich nicht wirklich dazugehören. Geschlossene Grenzen sind nicht zu haben ohne eine Ideologie der Ungleichheit.
Schroffe Abgrenzungen nach außen pflanzen sich im Innern der Gesellschaft und in den Köpfen fort. Das war auch früher schon so in der europäischen Geschichte. Nachdem der spanische Klerus im ausgehenden 16. Jahrhundert von den Indianern und Wilden in Amerika gehört und sie zu fürchten gelernt hatte, gewann er zunehmend den Eindruck, dass auch die eigenen Bauern und einfachen Leute irgendwie den Indianern glichen.[7] Auch heute werden »sichere«, das heißt geschlossene Außengrenzen nicht zufällig von denjenigen gefordert, die ebenso energisch für die Schließung anderer Grenzen von Zugehörigkeit und sozialer Mobilität eintreten und das Volk auf einen Stamm reduzieren möchten. Umgekehrt folgt daraus, dass die Utopie offener Grenzen notwendig ist, weil ohne sie die Demokratie selbst in Gefahr gerät.
Schließlich ist die Utopie offener Grenzen notwendig, um eine Orientierung für die Unzufriedenen zu schaffen. Wenn die Welt in einem inakzeptablen Zustand ist, brauchen wir die Utopie eines künftigen Soll-Zustands, für den es sich zu streiten lohnt. »Müssen wir nicht mal wieder größer denken?«, fragt ganz zu Recht die Journalistin Ferda Ataman.[8] Utopien sind auch heute, in einem gründlich desillusionierten Zeitalter, eine unersetzliche Energiequelle. Anders als die totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts soll aber die Utopie offener Grenzen den Menschen nicht aufgezwungen werden. Vielmehr beansprucht diese Utopie, die Menschen so zu nehmen, »wie sie sind oder bald werden können«.[9] Die Einzelnen sollen selbst entscheiden, wo und wie sie leben wollen.
Die klassischen Einwanderungsländer, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, haben vor langer Zeit mit der Idee gebrochen, dass die Demokratie ein Volk innerhalb geschlossener Grenzen voraussetzt. Die USA wurden als eine weiße Siedlerkolonie gegründet, auf Kosten bereits Einheimischer und verschleppter afrikanischer Sklaven. Zugleich aber haben sie das Versprechen relativ offener Grenzen gegeben und auch lange Zeit eingelöst. Das hat im Lauf des 20. Jahrhunderts Millionen von Flüchtlingen und Exilanten das Leben gerettet. Bis vor kurzem galt »Amerika« ganz selbstverständlich als das ferne Land, in das man zur Not immer noch fliehen konnte, wenn daheim alle Stricke reißen: das Land der letzten Zuflucht. Auch wenn sich das inzwischen geändert hat, wahrscheinlich unwiderruflich, lohnt es sich doch, an dieses Versprechen zu erinnern und es woanders zu erneuern.
Denken wir an die amerikanische Freiheitsstatue. Lady Liberty, wie sie genannt wird, stellt die römische Göttin der Freiheit dar und blickt nach draußen in Richtung des offenen Meeres. Welchen Eindruck mag sie wohl auf Millionen von Einwanderern gemacht haben, die sich auf Schiffen der amerikanischen Ostküste näherten? Zumal die neoklassizistische Statue, die in ihrer Rechten eine Fackel hält, nach ihrer Errichtung einige Jahre als Leuchtturm für ankommende Schiffe fungierte. Wer von weither übers Meer kam und die Freiheitsstatue sah, wusste, dass er es fast geschafft hatte. Viele mochten zudem von dem berühmten Gedicht »The New Colossus« (1883) gehört haben, das die amerikanische Dichterin Emma Lazarus verfasst hatte und das später in die Bronzetafel im Sockel der Freiheitsstatue eingraviert wurde: »Give me your tired, your poor, / Your huddled masses yearning to breathe free, / The wretched refuse of your teeming shore …« [Gebt mir eure Müden, eure Armen, / Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, / Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten …]. Nicht umsonst diente die Freiheitsstatue als Kulisse in Filmen wie Charlie Chaplins The Immigrant von 1917.
Falls es mit den Vereinigten Staaten von Europa noch einmal etwas werden sollte, würde es uns gut zu Gesicht stehen, ebenfalls eine Freiheitsstatue zu errichten, vielleicht im Mittelmeer vor Sizilien. Möchte nicht auch Europa für die Welt außerhalb seiner Grenzen, insbesondere die afrikanische Postkolonie, ein Versprechen bereithalten? Oder ist Europa immer noch einem kolonialen Denken verhaftet, das die Feindseligkeit gegenüber den ehemals Kolonisierten auf die heutigen Migranten überträgt? Tatsächlich scheint dies die grimmige Botschaft Europas an den globalen Süden zu sein: »Ihr Müden, ihr Armen, ihr geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, Verdammte und Ausgestoßene an den gedrängten Küsten da draußen – bleibt wo ihr seid. Denn ihr gefährdet unsere Freiheit und unseren Wohlstand.«
Damit sind wir im Herzen der Debatte angekommen. Zahllose Politiker und Intellektuelle fordern, keine oder möglichst wenige Flüchtlinge anzuerkennen und besonders Muslime und Armutsmigranten auszuschließen. Charlie Chaplins Protagonist in dem oben genannten Film, der sich als »hungrig und pleite« bezeichnet, hätte da schlechte Karten. Wenn es nach dem Willen vieler reicher Staaten und ihrer Eliten ginge, würde die Welt nach dem Vorbild einer Ständeordnung organisiert. Welche Rechte jemand hat, wäre abhängig vom Besitz. Im Gegensatz dazu wirbt dieses Buch für die inzwischen unzeitgemäße Idee gleicher Rechte für alle weltweit. Das würde heißen: offene Grenzen als Perspektive und Leitmotiv jeder Migrationspolitik.
Dabei ist zu beachten, dass offene Grenzen nicht dasselbe sind wie überhaupt keine Grenzen. Maximal offen sind die Grenzen zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten des Schengenraums. Dass wir von Aachen nach Belgien oder in die Niederlande radeln oder in den bayerischen Alpen nach Österreich wandern können, ohne irgendwo angehalten und kontrolliert zu werden, heißt nicht, dass die betroffenen Länder ihre territorialen Grenzen aufgegeben hätten. Offene Grenzen sind solche, die im Notfall auch geschlossen werden könnten, zum Beispiel um im Vorfeld eines Fußballspiels Hooligans aus dem Nachbarland zu stoppen oder die Ausbreitung einer Seuche zu verlangsamen.
Das Problem sind nicht territoriale Grenzen als solche, sondern Grenzregimes, die sich systematisch gegen einen großen Teil der Menschheit richten, dem ohne vernünftigen Grund die Freizügigkeit verwehrt wird. Das sind typischerweise Menschen, die anders aussehen als die meisten Europäer, die zu anderen Göttern beten oder einfach nur ärmer sind als der europäische Durchschnitt. Selektive Grenzregimes müssen nach und nach zugunsten weniger selektiver, weniger diskriminierender Migrationsregeln abgebaut werden. Mehr Einwanderung mag kurzfristig die Folge einer solchen Öffnungsprogrammatik sein. Sie ist aber nicht ihr Zweck. Der Zweck der allmählichen und wohlüberlegten Öffnung von Grenzen ist die Sicherung von Freiheit und Gleichheit für alle, egal wo sie herkommen oder hinwollen.
Migration und Migrationsangst in der neuen Weltordnung
Die großen Tore werden geschlossen und verriegelt. Ich versuche den Feldwebel der Wache zu überreden, dass er die Fischersleute hereinlässt. »Sie sind in Todesangst«, sage ich. Wortlos dreht er mir den Rücken zu. Über unseren Köpfen stehen die Soldaten auf den Stadtmauern, die vierzig Männer, die zwischen uns und der Vernichtung postiert sind, und starren hinaus über den See und in die Wüste.[10]
J.M. Coetzee, Warten auf die Barbaren
Die Bilder ähneln sich und strömen in schneller Abfolge auf uns ein: Ein junger oder mittelalter Mann, weiß, ledig und, wie wir später erfahren, sexuell frustriert, stürmt mit Pistolen oder einem Maschinengewehr in einen Supermarkt in El Paso, Texas, in eine Moschee in Christchurch, Neuseeland, in eine Synagoge in Pittsburgh oder in eine Shisha-Bar in Hanau und tötet in kurzer Zeit so viele Menschen, wie er kann – bis er festgenommen oder erschossen wird oder sich selbst richtet. Vorher war er viel im Internet unterwegs, wo er seinen Hass auf Flüchtlinge, Schwarze, Latinas, Muslime, Jüdinnen oder Ausländer aller Geschlechter und Altersgruppen ins Maßlose verstärkte. In einem Pamphlet erklärte er vor der Tat, dass die von ihm aufgesuchten Opfer einer feindlichen, verschworenen Gruppe angehören und eine Lebensgefahr für das eigene »Volk« darstellen. In dem Pamphlet werden Begriffe aufgenommen, die aus der Sprache der legalen Politik oder sogar der Regierung bekannt sind. Von Migranten als »Invasoren« oder von der drohenden »Umvolkung« ist die Rede.
So die wiederkehrenden Nachrichten über Angriffe auf Menschen, die aussehen oder sprechen, als seien sie von irgendwoher eingewandert. Die Angriffe folgen einem Muster mit hohem Wiedererkennungswert. Ebenso eingespielt sind die Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Taten. Die einen sprechen wortreich davon, wie »sprachlos« sie seien, und behaupten, dass der Angriff »uns allen« gegolten habe, während er in Wirklichkeit nur den Mitgliedern ganz bestimmter Minderheiten galt, die von der Mehrheit und vom Staat nicht geschätzt und folglich auch nicht ausreichend geschützt werden. Andere zeigen Verständnis für den Hass oder offene Schadenfreude.
Keineswegs sprachlos sind in der Regel die Überlebenden der Anschläge sowie die Angehörigen und Freundinnen der Opfer, die mit jeder abgefeuerten Kugel mitgemeint waren. Nach einem Massaker im August 2019 an irgendwie südamerikanisch aussehenden Kundinnen in der Cielo Vista Mall in El Paso machten sich in den Einwanderermilieus der USA Angst und Wut breit. Rasch fanden diese Emotionen eine Sprache. »Werde ich der Nächste sein?«, fragten sich Latinos wie zum Beispiel Andrew Torres, ein 24-jähriger Absolvent der Universität in El Paso: »Will I be next?«[11] Die gleiche Frage konnte man ein halbes Jahr später auf einer Demonstration nach einem rassistischen Anschlag in Hanau hören. »Bin ich vielleicht die Nächste, weil ich schwarze Haare habe?«
Rassistische Massaker in den USA oder in Deutschland sind bei all dem nur die Spitze des Eisbergs. Im Jahr 2017, für das die deutsche Polizei erstmals Daten zur Gewalt gegen Muslime gesammelt hat, gab es mindestens 950 Angriffe auf Moscheen und andere muslimische Einrichtungen, darunter Brandanschläge, Morddrohungen, Hassbotschaften auf Hauswänden, Angriffe auf Frauen, die ihr Haar bedecken, oder die Entweihung von Gebetsräumen mit Schweineblut.[12] Ist es das, was passiert, wenn die Grenzen geöffnet werden und immer mehr Migranten »zu uns« kommen? Sind Spaltung und Zerfall der Gesellschaft eine Konsequenz von Einwanderung? Droht gar ein neuartiger Bürgerkrieg, der sich langsam zusammenbraut aus verstreuten Gewalttaten, wachsendem Misstrauen und einer verrohten öffentlichen Sprache?
Nach dem Blutbad an Besuchern einer Shisha-Bar in Hanau im Februar 2020 kommentierte Michael Klonovsky, ein bekannter Redenschreiber der AfD, dass der »Bürgerkrieg zwischen ethnisch-kulturell auf einem Territorium zwangsvermischten Gruppen« das vorhersehbare Ergebnis jeder Politik sei, die die »Aufnahme von Fremden« übertreibe. Die Präsenz der Fremden »kitzelt aus Menschen, die diesem verantwortungslosen Experiment ausgesetzt werden, einen der elementarsten Instinkte heraus: das Revierverhalten«.[13] Die Fremden – das sind die, die zu anders sind und von denen es zu viele gibt; folglich müssen sie weg. Das Denkmuster, das dieser Sprache zugrunde liegt, folgt zwar keinem Instinkt, ist aber tatsächlich alt und begleitet die globale Migrationsgeschichte wie ein konstantes Störgeräusch im Hintergrund. Wenn wir genau hinhören, bemerken wir einen unauffälligen Wechsel zwischen Argumentation und Drohung. Es ist wie in Gangsterfilmen, in denen der Schutzgelderpresser sagt: »Wenn du nicht zahlst, wird es Ärger geben.« Der Angesprochene weiß, dass der Erpresser hier nicht einen objektiven Kausalzusammenhang beschreibt, sondern etwas anderes meint: »Wenn du nicht zahlst, mache ich Ärger.« Das ist kein Argument, sondern eine Drohung.
Die neurechte Migrationskritik, die sich gegen offenere Grenzen ausspricht, versteckt sich hinter falschen Tatsachenbehauptungen. Der Rassismus wird als eine normale, vorhersehbare Reaktion auf Migration dargestellt. Wenn dies wahr wäre und Menschen instinktiv wie Wölfe ihre Reviere gegen Eindringlinge verteidigen würden, wäre es tatsächlich verantwortungslos, »revierfremde« Individuen in den menschlichen Wolfsgebieten auszusetzen. Aber den konstruierten Kausalzusammenhang gibt es nicht. Der Rassismus ist keine natürliche, vorprogrammierte Reaktion auf Migration, sondern eine formbare Haltung. Er beruht auf einer bestimmten Art, die Wirklichkeit der anderen zu lesen.
Der genannte Redenschreiber ist nur einer von vielen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen der Öffnung von Grenzen – oder auch nur der Rettung von Migrantinnen im Mittelmeer – und der wachsenden, oft geradezu hysterischen Abwehrhaltung gegenüber Einwanderern und Geflüchteten in der Bevölkerung nahelegen. Wer für offene Grenzen für alle eintritt, vermehrt demnach unabsichtlich die Zahl derer, die für geschlossene Grenzen eintreten. Die Migrationskritik deutet jedes kriminelle Vergehen eines Asylbewerbers, jede Rangelei zwischen nordafrikanischen Jugendlichen und Bademeistern im Freibad, jede verschleierte Frau auf der Straße als ein Zeichen an der Wand, das vom kommenden großen Krieg der Kulturen kündet – um im nächsten Schritt diese Deutung dem Publikum als die einzig richtige vorzutragen.
Diese Art der Migrationskritik ist beunruhigend realitätsfern und manchmal geradezu abergläubisch. Ich erinnere an den Bundestagsabgeordneten, der sich vor einiger Zeit über ein bekanntes Modehaus in Stuttgart beschwerte. Der Grund: In den Schaufenstern des Hauses waren Puppen mit Kopftüchern zu sehen – modische Kopftücher, wie sie einst Sophia Loren im Cabrio trug. Für den bedauernswerten Abgeordneten waren die ausgestellten Schaufensterpuppen allerdings keine harmlosen Werbemittel, sondern ein besonders perfides Medium der schleichenden »Islamisierung« Deutschlands und Europas. Überall sehen manche Menschen »Zeichen« des kommenden Unheils. Die vermeintliche Islamisierung ist dabei keineswegs das einzige Gespenst, das durch abendländische Köpfe geistert. Französische Intellektuelle wie Alain Finkielkraut warnen bereits vor der nicht minder großen Gefahr einer »Afrikanisierung Europas«.[14]
Der paranoide Euro-Nationalismus, der von solchen Gespenstern umgetrieben wird, ist eine Antwort auf die tiefe Unsicherheit und den fehlenden Konsens unserer Gesellschaften in der Frage des Umgangs mit Migration und Asyl. Eine andere Antwort ist der strikte Humanitarismus der Befürworter einer Seebrücke über das Mittelmeer und anderer Pro-Asyl-Aktivistinnen. Weißer, »identitärer« Nationalismus und weltbürgerlicher Humanitarismus sind Neuorientierungen in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich jedoch mehrheitlich noch nicht sicher sind, was sie überhaupt wollen sollen.
Die Ausgangsdiagnose lautet, dass sich die Einwanderungsgesellschaft, die das offizielle Deutschland und Europa sein wollen, in einer Orientierungskrise befindet. Eine Orientierungskrise entsteht nicht schon dann, wenn eine Person oder eine Gesellschaft unsicher ist, wie sie ein gestecktes Ziel erreichen soll. Um von Krise zu sprechen, genügt es auch nicht, dass jemand sich seiner Ziele unsicher ist oder mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen will, wie wir es alle tun, wenn wir Beruf und Familie oder Freizeitspaß und Umweltschutz unter einen Hut bekommen möchten. Vielmehr entsteht eine Orientierungskrise erst dann, wenn die Grundlagen und Maßstäbe verloren gegangen sind, die man braucht, um überhaupt eine Abwägung von Werten, Zielen oder Idealen vornehmen zu können. Das Resultat ist eine tiefe Verunsicherung, wie sie der österreichische Schriftsteller Robert Musil am Beispiel von Ulrich, dem Protagonisten seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften, dargestellt hat. Ulrich ist zu Beginn des Romans ein Mann, der in all seiner Geschäftigkeit kein Ziel mehr sieht und sich irgendwann fragt, welche Absicht er eigentlich gehabt habe. Oder, noch radikaler, wer er eigentlich sei. Folglich beschließt er innezuhalten und »sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen«, um sich neu auszuprobieren und neu zu erfinden.[15] Diese Option einer kreativen Auszeit haben politische Gemeinwesen leider nicht, auch wenn sie – wie Ulrich – ebenfalls Phasen akuter Desorientierung durchlaufen.
Dabei schien zunächst alles ganz klar zu sein. Nach Jahrzehnten der Realitätsverweigerung bekannte sich das offizielle Deutschland Anfang dieses Jahrhunderts endlich dazu, ein normales, wenn auch kein »klassisches« Einwanderungsland zu sein.[16] Spätestens mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und der Neuregelung sämtlicher Bestimmungen der Migrations- und Integrationspolitik sowie des Aufenthaltsrechts von Nichtdeutschen ist Deutschland auch rechtlich ein Einwanderungsland. Das war gewiss ein zumindest bescheidener Fortschritt. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte noch im Jahr 1982 laut darüber nachgedacht, wie man die Hälfte der Türken in Deutschland wegen ihrer »andersartigen Kultur« wieder aus dem Land hinausschaffen könnte.[17] Die späte Einsicht, dass »die Türken« in Wirklichkeit Einwanderer waren, deren Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv man zu akzeptieren hatte, war ein Fortschritt. Immerhin waren die politischen Eliten zu der Einsicht in die wirtschaftliche und demographische Notwendigkeit von Einwanderung gelangt und sagten das auch öffentlich.
Nicht geklärt wurde allerdings die Frage, wie sich die Gesellschaft im Zuge der Einwanderung verändern würde und welche berechtigten Hoffnungen und Ängste die Bürgerinnen mit dieser Veränderung verbinden könnten. Das Resultat dieser mangelnden Klärung ist eine Gesellschaft, die nicht recht weiß, wohin sie will. Eine Gesellschaft ohne Eigenschaften, könnte man in Anlehnung an Robert Musil sagen. Eine Gesellschaft, die als ganze weder eindeutig rassistisch noch eindeutig offen ist, weder grausam noch mitfühlend und solidarisch.
Der Desorientierung in den Köpfen entspricht eine Uneindeutigkeit der Welt. Wir leben in einer kritischen Übergangsphase der globalen Migrationsgeschichte, in der wir, hier und jetzt, die Gelegenheit haben, entweder eine neue, freiere Ordnung zu schaffen – oder aber eine Welt zu betreten, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Solche Übergangsphasen, in denen das Verhältnis von staatlicher Souveränität und globaler Mobilität neu ausgehandelt wurde, gab es auch früher schon. In allen diesen Phasen ging es immer darum, bestimmte Arten von Mobilität und Migration einzuschränken, andere aber zu fördern.[18] So hat sich in Europa im Anschluss an den Westfälischen Friedensschluss von 1648 die Norm staatlicher Souveränität als Ordnungsprinzip gegen ständische und kirchliche Herrschaftsansprüche durchgesetzt. Aus dieser Norm wurde das Recht von Staaten abgeleitet, »Fremde« zu identifizieren und an der Grenze abzuweisen oder abzuschieben. Fremde konnten auch die eigenen Untertanen sein, deren Bewegungsfreiheit überwacht und eingeschränkt wurde. Diesem Recht des Staates wurde nach und nach das Recht auf Auswanderung und auf religiöses Exil zur Seite gestellt.
Interessant wurde es je nach Weltregion aber erst in einer zweiten Phase, in der Staaten auch die Fähigkeit erwarben, ihr Recht auf Einreisekontrollen praktisch geltend zu machen. Den Anfang machten Quarantänegesetze in Australien und Neuseeland, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden, um die Einschleppung der Cholera und anderer Seuchen abzuwehren. Europäische Staaten und ihre Kolonien gingen dazu über, den grenzüberschreitenden Personenverkehr durch die Einführung von medizinischen Tests, Sprachprüfungen oder anderen Selektionsverfahren zu kanalisieren. Zudem wurden Reisepässe eingeführt und der Tatbestand des illegalen Grenzübertritts. Grenzen waren nicht länger nur Raumteiler, sondern, im Zeitalter des Nationalismus, auch symbolische Linien, mit deren Hilfe man die Welt in geschätzte und weniger geschätzte Menschengruppen einteilte. Erst jetzt wurde Einwanderung langsam zu einem öffentlich debattierten Problem, zu einem Auslöser heftiger politischer Leidenschaften und einem Gegenstand des Regierungshandelns.
Eine dritte Phase ist die Zeit zwischen den Weltkriegen, als erstmals rassistische Diskriminierung zu einem Bestandteil der Einwanderungskontrolle wurde. Das US-amerikanische Einwanderungsgesetz von 1924, das die Einwanderung von Asiaten ausdrücklich unterbinden sollte, bildet eine wichtige Wegscheide. Soziologen, Geopolitiker und Eugeniker beschworen damals eine globale color line, eine »Farbengrenze« zwischen dem »weißen« Norden und dem »gelben«, »braunen« oder »schwarzen« Süden der Erdkugel. Einwanderung und Mobilität waren zwar weiterhin erwünscht, aber es galt nicht mehr der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Menschen.[19]
Die kurze Epoche des europäischen Faschismus bildet eine eigene vierte Phase. Die Tatsache, dass diese grausame Unordnung scheiterte, bedeutet nicht, dass auch die mentalen Grundlagen des Faschismus verschwunden wären. Bis zum Faschismus hielten die meisten Staaten im Interesse des Welthandels daran fest, dass globale Mobilität im Prinzip etwas Gutes sei. Maßnahmen zur Einschränkung und Kontrolle von Einwanderung dienten dem Ziel, Personen, die aus irgendwelchen Gründen als unerwünscht galten, vor dem Grenzübertritt zu identifizieren und auszuschließen. Besonders der Nationalsozialismus ging anders vor, indem er die freiwillige Ein- und Auswanderung durch Vertreibung, Verschleppung, Zwangsumsiedlung und schließlich Völkermord ersetzte. Selbst dieses Regime hat ein Migrationssystem geschaffen, das bestimmte Formen von (Zwangs-)Mobilität förderte. Dasselbe gilt für den Stalinismus. Die kommunistischen Regierungen in Osteuropa haben nach dem Zweiten Weltkrieg alles dafür getan, durch Vertreibung, Zwangsassimilation und die strikte Kontrolle von Ein- und Auswanderung Gesellschaften zu formen, die der polnische Anthropologe Michał Buchowski »superhomogen« nennt.[20]
Von großer Bedeutung für die westliche Welt ist schließlich die Phase der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Phase ist durch widersprüchliche Trends gekennzeichnet. Auf der einen Seite wurde die globale Bewegungsfreiheit innerhalb der zerfallenden europäischen Imperien zwischen Nord und Süd massiv eingeschränkt. So war es von 1948 bis 1962 für die Bürgerinnen der Mitgliedsländer des britischen Commonwealth ein Leichtes, nach Großbritannien einzuwandern, um ein Geschäft zu eröffnen oder in Fabriken, Restaurants, Hotels oder für die britische Bahn zu arbeiten. Schätzungsweise eine halbe Million »nichtweißer« Personen aus den inzwischen unabhängigen Ländern des Empire gelangten auf diese Weise legal nach Großbritannien. Diese Freiheit ging mit dem Ende des Empire verloren. Auf der anderen Seite wurde in den Römischen Verträgen von 1957 erstmals ein Recht auf transnationale Bewegungsfreiheit zwischen den Mitgliedsstaaten Europas festgeschrieben.
Das Schengener Abkommen wiederum zeigt wie in einem Brennglas die Verknüpfung von Freiheit und Unfreiheit. Beispiel Polen: Um als Mitglied des Schengenraums willkommen geheißen zu werden und ihre Bürgerinnen in den Genuss der europäischen Personenfreizügigkeit zu bringen, musste die polnische Regierung 2003 ein neues Ausländergesetz in Kraft setzen. Darin wurde festgelegt, dass Russen, Weißrussen und Ukrainer, die bisher spontan und ohne viel Umstände nach Polen einreisen konnten, in Zukunft ein Visum brauchen.
Die jüngsten Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa und der lange Sommer der Migration 2015 werfen die Frage auf, ob wir heute wieder einen kritischen Punkt erreicht haben, an dem eine alte Migrationsordnung stirbt, ohne dass eine neue bereits genau zu erkennen wäre. Es wird sich bald zeigen, ob das Recht auf Bewegungsfreiheit graduell auf weitere Staaten und Bevölkerungen außerhalb der Europäischen Union ausgedehnt wird. Sollte diese Gelegenheit verstreichen, wird sich wohl eine Weltordnung verfestigen, die der britische Politikwissenschaftler Stephen Hopgood als »neowestfälisch« bezeichnet hat.[21] Das ist eine Ordnung, in der konkurrierende Staaten nach einer langen Phase multilateraler Kooperation erneut ihre »Souveränität« behaupten und diese rücksichtslos gegen universalistische Normen, internationale Institutionen und nichtstaatliche Autoritäten durchsetzen. Die einseitige und eifersüchtige Kontrolle der territorialen Grenzen – oft ohne Rücksicht auf die Menschenrechte oder internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention – ist ein zentrales Merkmal dieser neowestfälischen Ordnung. Ob sich eine solche Ordnung tatsächlich stabilisieren lässt, ist aber noch keineswegs ausgemacht. Die Ausnahmesituation der europäischen Flüchtlingsbewegung seit 2015 hat gezeigt, dass Gesellschaften auf spontane Masseneinwanderung sehr uneinheitlich reagieren. Europa spricht glücklicherweise nicht mit einer Stimme.
Um in dieser Situation weiterzukommen, genügt nicht das Wissen von Experten. Vielmehr muss darüber hinaus ein Orientierungswissen entwickelt werden, das uns über Möglichkeiten, Grenzen, Mittel und Zwecke einer ebenso klugen wie fairen Migrationspolitik informiert. Dazu ist es notwendig, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge mit etwas mehr Distanz zu betrachten. Wie sind wir in die Situation geraten, in der wir uns alle – mit oder ohne Migrationsgeschichte, mit oder ohne deutschen Pass – heute befinden? Gibt es erstrebenswerte Alternativen zu einer Demokratie ohne Mauern aus Beton und Vorurteilen und, wenn ja, wie sähen diese eigentlich aus? Wovor genau sollen uns die Zäune und Mauern schützen, die jetzt wieder überall erträumt und auch tatsächlich gebaut werden? Was ist der Preis der Abschottungspolitik, und wer muss ihn bezahlen? Wer sind die Gewinner und Verlierer der weltweiten Wanderungsprozesse? Und wie lässt sich das schleichende soziale Gift, das in den Konflikten um Migration ausgeschüttet wird, neutralisieren? Oder ist es dafür bereits zu spät?