Ohne dich verliebt - Katharina Koch - E-Book
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Katharina Koch

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Beschreibung

Nach einem Jahr Trauer wegen des Todes ihres Ehemannes fällt es Linda nicht nur schwer zurück in den Alltag zu finden, sondern auch den Glauben an die eine große Liebe hinter sich zu lassen. Als die Ferienwohnung über ihr durch den attraktiven Steffen bezogen wird, erweckt er lang vergessene Gefühle in ihr. Doch ist er der Liebling aller Schwiegermütter, wie er vorgibt, oder doch nur ein Playboy? Leseprobe: „Du hast recht. Es sieht echt so aus, als würde es nur wenige Meter entfernt sein. Wirklich einmalig.“ Seine Stimme klang ehrfürchtig. „Tatsächlich gibt es das Phänomen, das man an der Küste in der Dämmerung das Gefühl hat, als würde alles näher zusammenrutschen. Das gegenüberliegende Ufer sieht plötzlich ganz nah aus.“ „Wirklich?“ Steffen schaute mich beeindruckt an. „Vermutlich liegt das am Licht.“ Nach einem Moment des Schweigens fügte ich hinzu: „Wer weiß, wie oft man dieses Jahr noch sehen kann, dass ein Kreuzfahrtschiff während des Sonnenuntergangs ablegt und hier vorbei schwimmt.“ Steffen lehnte seine Wange an meinen Kopf. Es war so urgemütlich. Es fröstelte mich leicht, aber es war einfach zu wunderschön. Ich schloss die Augen und genoss seine Wärme. „Der Sonnenuntergang ist so romantisch“, flüsterte er in die angenehme Stille zwischen uns und löste seine Wange von mir. Ich schaute zu ihm auf und bemerkte, wie nah sein Gesicht mir war. Intuitiv drehte ich mich noch ein wenig zu ihm und sah ihm tief in seine Augen, die in der Dämmerung fast schwarz wirkten. Ein angenehmes Kribbeln durchfuhr meinem Körper und mein Herz schlug schneller. Seine Finger strichen zärtlich über meine Hüfte ein Stück hinauf bis zu meiner Taille. Eine Gänsehaut wanderte über meinen gesamten Körper, die ein wohliges Kribbeln in mir auslöste. Meine Kehle wurde trocken und gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis, mutig zu sein, mich vorzubeugen und ihn auf diese perfekten, vollen Lippen zu küssen, aber ich hatte den Fehler schon bei Christopher gemacht. Ich konnte nicht jeden Mann küssen, nur weil ich mich danach sehnte. Steffen und löste sich nur für wenige Wimpernschläge von meinem Blick. Dann beugte er sich ganz langsam näher zu mir herunter. Vor Anspannung zitternd, wartete ich, was er tun würde. Sanft legt er seine Hand auf meine Wange und fuhr über mein Ohr bis in meine Haare. „Du bist so wunderschön“, hauchte er mit heiserer Stimme. Mein Puls raste. Würde er sich trauen, mich zu küssen?

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
9 Monate später:
DANKSAGUNG
BIBLIOGRAFIE
Über die Autorin

 

 

Ohne

dich

verliebt

 

 

Von Katharina Koch

 

 

Copyright © 2023 Katharina Koch – alle Rechte vorbehalten. Stillektorat: Veronika Moosbuchner (Lektorat Moosbuchner) Korrektorat: Melissa Kamp Covergestaltung: Claudia Harnoss

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

 

 

 

 

 

 

FÜR JONAS

 

Kapitel 1

Ungeduldig schob ich die Kappe auf das Teststäbchen und legte diesen auf den Waschbeckenrand zu dem anderen. Hoffentlich hatte es geklappt. Das war meine allerletzte Chance. Ich schäumte mir mit der Holunderseife gründlich die Hände ein. Der süßliche Duft stieg mir in die Nase und ich schloss die Augen. Ich atmete tief durch, als das warme Wasser über meine Handgelenke strömte.

Die obligatorischen vierzehn Tage waren vorüber. Statt einen Frühtest durchzuführen, hatte ich geduldig gewartet und heute Morgen war es endlich so weit. Schnell warf ich noch einen Blick in die Packungsbeilage und stellte die Stoppuhr auf meinem Handy ein. Drei Minuten. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Nervös trat ich von einem Bein auf das andere. Wenn es klappte, würde ich schon in neun Monaten ein Baby in den Armen halten. Mein erstes Kind. Seufzend schloss ich die Augen und sah es genau vor mir. Vielleicht würde es Hennings grünbraune Iriden haben oder seine ebenso schiefe wie liebenswürdige Nase. Dazu könnte es meine schwarzen Haare erben. Die perfekte Mischung aus uns beiden – ein Geschenk unserer Liebe. Lächelnd rieb ich mir über den Bauch.

Das hier durfte nicht schiefgehen. Es gab kein „Dann eben nächstes Mal“ mehr. Wir hatten es so lange probiert. Bei jedem Versuch waren wir durch die Hölle gegangen. Ein allerletztes Mal lag dieser Weg noch vor mir.

Aufgeregt setzte ich mich auf den Toilettendeckel und wackelte rastlos mit den Beinen. Ich sah auf mein Smartphone. Es waren gerade mal sechzig Sekunden vergangen. Wieso waren drei Minuten nur so verdammt lang? Nervös öffnete ich meine Emails: nur Newsletter. Meine Aufmerksamkeit schwand sofort. Erneut kontrollierte ich die Uhr. Noch eine Minute. Ich sprang auf. Wie ein Tiger im Käfig eilte ich durch das Badezimmer. Aufgewühlt zupfte ich das hellgraue Frotteehandtuch an der Heizung zurecht, bis es faltenfrei hing.

Wann war diese verdammte Minute endlich vorbei? Was würde Henning jetzt zu mir sagen? Ich dachte an seinen liebevollen Blick, mit dem er mich bei jeder Enttäuschung bedacht hatte. Mein Herz schlug schneller. Ohne es zu wollen, schossen mir Tränen in die Augen. Ihnen wollte ich mich aber nicht hingeben, daher eilte ich wieder zurück ans Waschbecken. Sechzig Sekunden vergingen doch sonst auch wie im Flug. Atemzug für Atemzug zählte die Zeit über das Display meines Smartphones – ein Countdown. Noch eine halbe Minute. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Zweifel krochen langsam empor. Was, wenn es nicht geklappt hatte? Selbstbewusst schüttelte ich den Kopf und lächelte mich im Spiegel an. Positivdenken hieß die Devise!

Ich starrte auf die Sekundenanzeige. Noch weitere zehn. Neun. Acht. Sieben. Es war so spannend, dass es mich regelrecht zerriss. Dann ging der Alarm los und ich zuckte vor Schreck zusammen. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Mit zittrigen Händen schnappte ich mir das Teststäbchen, befeuchtete meine Lippen und drehte es um. Meine Handfläche schlug wie automatisch gegen den Mund. Es war eindeutig. Unbeachtet ließ ich es zu Boden fallen, ergriff das andere. Das gleiche Resultat. Zwei verschiedene Tests, ein Ergebnis. Das konnte nicht falsch sein. Fluchend warf ich die Stäbchen in das Waschbecken. Negativ! Nicht schwanger!

Tränen liefen mir ungehindert über die Wangen. Ich krallte mich an den kalten Keramikwaschtisch. Zu einhundert Prozent war ich davon überzeugt gewesen, dass es dieses Mal geklappt hatte. Nachdem die ersten beiden Versuche mit Henning an meiner Seite bereits ein Fehlschlag gewesen waren, war ich mir so sicher gewesen, dass unser Kinderwunsch endlich in Erfüllung gehen würde. Schniefend wischte ich mir eine Träne von der Wange, die so nah an der Nase entlanglief, dass es unangenehm kribbelte.

Das waren die letzten drei Eizellen, die wir noch eingefroren hatten, bevor Henning wegen der Krebserkrankung die Hoden entfernt werden mussten. Unsere einzige Hoffnung – zerstört.

Kraftlos sank ich auf die Knie. Es schüttelte mich regelrecht. Ich würde kein Kind von Henning bekommen. Niemals. Der Traum von einer Mutterschaft zerplatzte wie eine Seifenblase. Warum musste das ausgerechnet uns passieren? Hatte ich nicht schon genug verloren?

 

Etwa eine halbe Stunde später raffte ich mich vom Badezimmerfußboden auf und wischte mir mit dem Ärmel meiner Pulloverjacke, die Tränenspuren aus dem Gesicht. Es musste weitergehen. Henning würde nicht wollen, dass ich mich aufgab. Traurig schlurfte ich in die Küche, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Über den kühlen Fliesenboden trat ich ans Küchenfenster. Der Himmel war wolkenbedeckt, die Temperatur frisch. Dafür, dass es erst September war, schien mir das Wetter schon viel zu herbstlich zu sein. Wo war denn der Spätsommer, wenn man ihn brauchte? Bei meiner schlechten Laune würde mir ein sommerlicher Tag besser gefallen. Ich starrte auf die ersten gelb gefärbten Blätter der Eiche, die auf der anderen Straßenseite stand, und versank vollkommen in meinen deprimierenden Gedanken. Erst der Wasserkocher beförderte mich mit einem lauten Klacken zurück ins Hier und Jetzt. Träge schlurfte ich zu dem brodelnden Gerät und goss mir einen Tee auf.

Langsam trottete ich durch den Flur ins Wohnzimmer. Ich riss die Balkontür zum Garten auf und lief barfuß nach draußen auf die Terrasse. Die Platten waren kalt, doch ich ignorierte es. Ich eilte über die zwei Treppenstufen hinab auf die Rasenfläche und spürte den feuchten Tau zwischen den Zehen. Der Wind blies durch mein Haar und wirbelte es mir mitten ins Gesicht. Ich strich mir die langen Strähnen mit einer Hand hinter das Ohr, während ich mit der anderen den Becher umklammerte, um mich an der heißen Flüssigkeit zu wärmen. Hinter dem Garten, nur durch einen Zaun getrennt, erstreckte sich die ruhige Ostsee. Ein paar Frachtschiffe waren am Horizont zu sehen. Außerdem fuhr eine Yacht in die Förde ein.

Ich schloss die Augen, sog die salzige Seeluft tief ein und spürte, wie meine Lebensgeister wieder zum Leben erwachten. Es war kein Weltuntergang. Irgendwann würde ich vielleicht mit einem anderen Mann ein Kind bekommen. Ein tiefer Schmerz überkam mich. Was versuchte ich mir hier vorzumachen? Es war ein Weltuntergang! Meine kleine Welt, die ich mir mit Henning trotz der Umstände erträumt hatte, war unwiederbringlich zerstört. Das, was ich mir so sehr mit ihm gewünscht hatte, würde niemals passieren. Ich wollte unbedingt dieses Baby von ihm – wollte es mehr als alles andere. Das war das Letzte, das er mir von sich hätte schenken können.

Eine heiße Träne lief langsam über meine Wange.

„Henning, du fehlst mir so sehr“, flüsterte ich.

Die Seebestattung war mittlerweile fast ein Jahr her. Wie konnte es sein, dass er erst seinen Krebs besiegte und dann an so etwas Banalem wie einem Unfall gestorben war? Das war nicht fair!

Ich seufzte schwer bei all den schmerzhaften Erinnerungen, die im Hinterhalt lauerten und hinausdrängten. Das konnte ich nicht ertragen.

Nicht jetzt.

Nicht nach heute.

Ich trank einen Schluck Tee und schluckte damit alle aufsteigenden Bilder hinunter. An den Zaunpfahl gelehnt, schaute ich weiter hinaus aufs Meer.

Wie lang würde mein Chef meine Abwesenheit noch akzeptieren? Nach Hennings Tod hatte ich nicht in den Arbeitsalltag zurückkehren können. Immer wieder war ich in Tränen ausgebrochen, hatte ewig auf den Bildschirm gestarrt und nichts zustande gebracht. Es war für uns alle besser gewesen, dass ich unbezahlten Urlaub nahm. Mittlerweile dauerte die Pause länger an, als ich es geplant hatte. Bald wurde es Zeit, dass ich ins Leben zurückkehrte. Ob ich wollte oder nicht: Die Ersparnisse würden nicht ewig ausreichen.

Als mein Becher leer war, fröstelte es mich noch mehr. Widerwillig knallte ich das quietschende Gartentor zu und eilte über den nasskalten Rasen zurück zur Terrasse. Ich schloss die Balkontür hinter mir und blieb ratlos im Wohnzimmer stehen. Auf dem weißen Hochglanztisch stand noch das Geschirr vom Vorabend.

Ich stellte den Becher dazu. Danach ließ ich mich in den knubbeligen Ohrensessel sinken, auf dem locker Platz für zwei war und in dem Henning so oft gesessen hatte, um Fifa auf der Playstation zu zocken. Meine Hand strich über den dunkelblauen Samtbezug. Verdammt, wie oft hatte ich mich geärgert, wie viel Zeit Henning an der Konsole verbrachte. Jetzt fehlte es mir. Wenn ich innehielt und lang genug wartete, konnte ich wieder sein Jubelgeschrei hören, das er immer ausgestoßen hatte, wenn er ein Fußballspiel gewonnen hatte. Ich ergriff das beige Kissen und kuschelte mich fest daran. Möglicherweise war heute nicht der richtige Tag, um diesen allein zu verbringen. Ablenkung musste her.

Ich zog das Smartphone aus der Tasche der Pulloverjacke und wählte die Nummer meines besten Freundes Christopher. Nachdem ich einige Momente dem Freizeichenton lauschte, nahm er ab.

„Grün.“ Er meldete sich völlig professionell mit seinem Nachnamen. Wahrscheinlich hatte er, wie so oft, nicht auf das Display geschaut.

„Bist du wieder im Stress? Oder ist jemand neben dir, der nicht sofort wissen soll, mit wem du quatschst?“ Ich sah Christopher vor mir, wie er wieder ganz wichtig tat. Grinsend lehnte ich mich an die Sessellehne und zog die Beine unter den Po.

„Ach Linda, du bist es!“ Er kicherte herzlich. „Ist dir wieder einmal die Milch ausgegangen?“

„Das war nur ein einziges Mal.“ Ich stimmte in sein Lachen ein.

Ständig zog er mich damit auf. Dabei hatte ich ihn nur einmal angerufen, weil mir die Milch ausgegangen war und ich nicht in der Lage gewesen war, das Haus zu verlassen. Das war direkt nach dem Einsetzen der Eizellen gewesen. Aufgrund der zwei bereits erfolglosen künstlichen Befruchtungen wollte ich zu dem Zeitpunkt jegliches Risiko vermeiden.

„Es ist noch vor neun Uhr. Da kannst du doch nur irgendeine Schandtat geplant haben. Sonst bist du auch nicht so früh wach.“

„Die vierzehn Tage sind um …“ Ich verstummte.

„Oh nein! Babe, das kann nicht wahr sein.“ Sein Mitleid war unüberhörbar.

Sofort schossen mir wieder die Tränen in die Augen. „Ist nicht änderbar. Das war der letzte Versuch.“

„Das ist wirklich furchtbar. Was kann ich für dich tun?“

„Kannst du kommen? Bitte?“

„Ich habe erst noch Vorlesungen bis mittags, aber danach könnte ich gleich vorbeikommen. Was hältst du davon?“

„Und du musst keine Hausarbeit schreiben, von der ich dich abhalte?“

„Eigentlich schon, aber das kann ich morgen abarbeiten. Heute machen wir uns einen schönen Tag.“

„Und wie soll der aussehen?“ Ich spielte mit der Kapuzenkordel.

„Wie wäre es mit Sauna? Das tut dir bestimmt gut und entspannt dich.“

„Du willst dir nur wieder Kerle ansehen. Du weißt genau, dass ich noch nicht für etwas Neues bereit bin!“

Er lachte beherzt, wurde dann jedoch sofort wieder ernst. „Irgendwann muss es auch für dich weitergehen. Henning ist fast ein Jahr tot. Er hätte niemals gewollt, dass du dich in irgendeiner Wohnung an der Ostsee verschanzt und dein ganzes Leben aufgibst!“

„Du sagst es. Es ist noch kein ganzes Jahr! Wir waren verheiratet. Er war die Liebe meines Lebens. Ich kann nicht einfach so weitermachen. Vor allem nicht nach heute …“ Ich stand auf und trottete durch das Wohnzimmer in den Flur.

„Na gut. Worauf hast du dann Lust? Soll ich für dich etwas kochen?“

„Seit wann kannst du kochen?“ Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Kichern. Hatte er etwa sein letztes Bolognese Massaker vergessen?

„Sei doch nicht so gemein. Ich habe nur einmal deinen Herd unter Wasser gesetzt.“

„Du hast es nicht nur überkochen lassen. Die Nudeln waren so übel angebrannt, dass ich den Topf anschließend wegwerfen musste.“

Christopher lachte. „Ja, gut. Dann lassen wir das. Wollen wir einfach ins Kino?“

In der Küche faltete ich das kostenlose Wochenblatt auf. „Wie wäre es mit der halb drei Vorstellung von dieser neuen Komödie?“ Seufzend ließ ich mich auf einen der Stühle sinken, stellte den Lautsprecher an und legte das Smartphone aus der Hand.

„Gibt es nicht auch etwas von Marvel?“

Brummend vergrub ich mein Gesicht in den Händen. „Nein.“

Eigentlich hatte ich zu nichts Lust. Ich brauchte Ablenkung von den Ereignissen des heutigen Tages, damit ich nicht noch tiefer in das Loch fiel, dem ich täglich zu entfliehen versuchte. „Habe ich schon erwähnt, dass die Wohnung über mir frei geworden ist und der Vermieter da jetzt Touristen einquartieren will?“

„Nein, hast du nicht. Meine Haltestelle kommt bald. Auf eine Komödie habe ich keine Lust. Wir sollten uns also entscheiden, was wir machen.“

„Komm doch einfach nach der Uni zu mir. Dann schauen wir, was wir ausfressen.“

„Du musst auf jeden Fall unter Menschen. Denk dir irgendetwas aus. Verstecken gibt es heute nicht. Ich will nur dein Bestes.“

Ich setzte mich auf und schürzte die Lippen. „Okay, ich überlege mir etwas. Bis nachher.“ Mit den Worten legte ich auf und atmete hörbar aus.

Warum konnten wir nicht einfach zusammen sein, ohne Zeit mit anderen Menschen zu verbringen? Ich wollte nicht allein sein, aber gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis, mich ausschließlich in meinem Bett zu verkriechen und vor der Welt zu verstecken. Wann würde ich mich endlich wieder normal fühlen? Wie würde ich die Einsamkeit überstehen, die Henning in mir hinterlassen hatte? Konnte ich mich je wieder verlieben?

Kapitel 2

Den Vormittag verbrachte ich am Schreibtisch. Stolz sah ich auf mein neues Bild hinab, das ich mit Öl-Pastellkreide gemalt hatte. Ich war sehr zufrieden mit den verwischten Farbübergängen. Mit jedem Mal wurde ich besser. Konzentriert zeichnete ich mit einem Bleistift dünn die Silhouetten eines Frachters und einer Segelyacht. Als ich mit der Skizzierung zufrieden war, zog ich die feinen Linien deutlicher nach und malte die Konturen aus. Mit einem Korrekturstift strich ich feine Schaumkrönchen auf das Meer. Ich steckte die Kappe wieder auf und lehnte mich zurück. Nachdenklich betrachtete ich das Bild. In letzter Zeit waren es immer häufiger Momentaufnahmen der Ostsee geworden, doch das kam völlig automatisch. Meistens zeichnete ich einfach drauf los, ohne mir Gedanken darüber zu machen. Es floss einfach, sobald ich die Kreide auspackte. Ganz natürlich zog ich die Linien, malte die Übergänge wunderschöner Sonnenunter- oder -aufgänge und schaffte es, in diesen Momenten ganz im Hier und Jetzt zu bleiben. Keine verbitterten Gedanken an die Gesamtsituation oder Erinnerungen an Henning, die mich traurig machten.

Normalerweise wusste ich immer genau, was ich wollte. Seit seinem Tod war ich ein völlig anderer Mensch geworden. Zurückhaltend, zurückgezogen und nur mit größter Mühe fröhlich. Unumstößlich hatte Christopher recht: Ich musste raus aus diesem selbstgeschaffenen Schneckenhaus. Henning war gefühlt erst gestern aus meinem Leben verschwunden. Wir waren verheiratet gewesen, wollten eine Familie gründen und unser Leben gemeinsam verbringen, bis das der Tod uns scheidet. Es war nie geplant, dass dieser Umstand schon vor unserem dreißigsten Lebensjahr eintreten würde.

Ich stand auf und holte das Fixierspray aus dem Sideboard. Vorsichtig trug ich mein Werk auf die Terrasse und sprühte gleichmäßig die Fixierung auf. Mit etwas Kreppband klebte ich zwei Ecken des Bildes auf dem Tisch fest, damit es der Wind nicht wegwehen konnte. Es klingelte. Wer konnte das bloß sein?

„Ach, du bist es“, sagte ich, als Christopher vor mir stand. „Ist es wirklich schon so spät?“

Er sah gut aus. Seine Wangen waren vom kühlen Wind leicht gerötet. Ich schob mir einige Haarsträhnen hinter das Ohr und trat einen Schritt zur Seite.

Er gab mir einen sanften Begrüßungskuss auf die Wange. Dabei kitzelten seine Barthaare ein wenig. „Wieso sind deine Finger so bunt?“

Als ich die Haustür geschlossen hatte, schaute ich auf meine Fingerkuppen, die von dem Verschmieren der Kreide in allen möglichen Farbtönen leuchteten. „Ich habe gemalt.“ Durch die Tür neben Christopher huschte ich ins Bad. Eilig pumpte ich Holunderseife auf meine Hände und wusch die Farbe ab.

„Was hast du eigentlich mit den ganzen Bildern vor?“, fragte er aus dem Flur.

„Nichts. Kaufen will die ohnehin keiner. Dafür bin ich längst nicht gut genug.“

Als ich zurück in den Flur trat, hatte Christopher bereits seine Schuhe ausgezogen.

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte ich, was er mit einem Nicken bestätigte.

Zusammen gingen wir in die Küche, in der ich die Kaffeemaschine anschmiss und mich dann an die Arbeitsplatte aus Nussbaumholz lehnte. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute ich Christopher dankbar an. Seine himmelblauen Augen, die mich an einen Sommertag im Frühling erinnerten, strahlten mich wie gewohnt an.

„Und wie waren die Vorlesungen so?“

Er seufzte. „Mein Dozent meinte, wir sollten alle mal weniger Party machen und uns mehr auf den Stoff konzentrieren.“

Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Das Leben besteht eben aus mehr als immer nur Party.“

Er winkte ab. „Und was hast du dir nun für heute überlegt?“

Deprimiert zuckte ich mit den Schultern.

„Du trägst eine Yogapants. Willst du ins Studio zum Kurs?“

„Nein, normalerweise hätte ich heute Morgen etwas Yoga gemacht, aber nach dem Testergebnis war mir nicht mehr danach.“ Sofort überkam mich wieder diese tiefe Traurigkeit.

Ein kalter Stich in der Magengegend bereitete mir Schmerzen bei dem Gedanken, dass der Traum ausgeträumt war. Die letzte Chance verspielt.

Christopher überwand den Abstand zwischen uns und zog mich in seine Arme. Sofort roch ich seinen warmen Duft nach Sandelholz. Tränen, die ich nur mühevoll zurückhalten konnte, schossen mir in die Augen.

Seine Hand strich sachte über meinen Rücken. „Ich weiß, du wolltest das trotz aller Umstände, aber vielleicht hat das Schicksal etwas völlig anderes mit dir vor.“

„Nächste Woche ist Hennings erster Todestag …“, flüsterte ich mit tränenschwerer Stimme.

„Sollen wir eine kleine Trauerfeier zur Erinnerung organisieren? Etwas ganz Intimes. Vielleicht seine Eltern, die Geschwister, deine Familie und du?“

Ich schüttelte wortlos den Kopf.

„Warum nicht? Ein endgültiger Abschied von ihm könnte dir weiterhelfen.“

„Ich möchte mich nicht endgültig verabschieden.“ Geräuschvoll zog ich die Nase hoch, löste mich von ihm und wischte mir die Tränen von den Wangen.

„Natürlich bleibt er immer ein Teil von dir, aber es muss weitergehen. Du bist siebenundzwanzig. Als Trauerkloß wird dir das Leben unendlich lang vorkommen. Es ist an der Zeit, dass du weitermachst!“

„Ich weiß.“ Seufzend rieb ich mir die Stirn. „Aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit dazu bin.“

„Du wirst es nur herausfinden, wenn du den ersten Schritt machst. Dass du dir direkt an der See diese Wohnung gemietet hast und damit nur einen Sprung entfernt von Hennings Überresten bist, wird dich Tag ein Tag aus zurück in dieses Loch ziehen. Darin hast du es dir viel zu bequem gemacht! Das ist so, als hättest du dir eine Wohnung direkt neben dem Friedhof gemietet.“

Ich zuckte mit den Schultern. Wer konnte mir denn verbieten, dass ich meinem Ehemann nah sein wollte? Und was wusste Christopher schon von Trauerbewältigung? Außer Henning war bisher niemand in seinem Umkreis gestorben. Ich goss Kaffee in zwei Becher und reichte einen davon an ihn weiter.

 

Als wir draußen auf den Gartenstühlen saßen, betrachtete Christopher voller Bewunderung mein Bild. „Das ist echt gut geworden. Eigentlich müsstest du das ausstellen.“

Ich machte eine wegwerfende Geste. „Als ob jemand das Geschmiere sehen will, das ich zu Papier bringe.“

„Die meisten Künstler starteten mit einem Hobby, ehe sie berühmt wurden.“ Er strich nachdenklich über seinen Vollbart.

„Berühmt und reich wird man in der Szene doch meistens erst mit dem Ableben.“

Selbstverständlich gefiel mir der Gedanke, dass jemand meine Bilder kaufen könnte. Die Realität war mir jedoch zu präsent, um mich in solchen Träumereien zu verlieren.

„Ich würde dir das sofort abkaufen, wenn der Preis in einem studentenfreundlichen Rahmen liegt.“

„Sobald die Fixierung trocken ist, kannst du es dir gern einpacken!“

Christophers Augen weiteten sich überrascht. „So war das nicht gemeint, dass du es mir schenken sollst!“

„Weißt du, wie viele ähnliche Motive ich bereits in einer Mappe liegen habe? Aufhängen werde ich sie ja doch nicht.“

„Danke sehr.“ Er betrachtete das Bild noch einen Moment, dann wandte er sich wieder mir zu. „Also kreativ warst du heute schon und in die Sauna möchtest du nicht. Ich habe vorhin das Kinoprogramm angesehen, doch davon spricht mich nichts an. Für einen schlechten Film finde ich es einfach zu teuer.“

„Ich kann dich einladen.“

„Du bist doch aktuell selbst nicht so flüssig, ohne ein Einkommen.“

„Noch kriege ich diese Absicherung durch Hennings Arbeitgeber. Ich nage nicht am Hungertuch.“

„Das ist auch das Mindeste, was er tun kann!“

Ich verdrehte die Augen. Dieses Gespräch hatten wir bereits unzählige Male geführt. „Er kann doch nichts dafür. Am Verkehrsunfall war er gar nicht beteiligt.“

„Aber er hat wegen seines Chefs so viele Überstunden gemacht. Henning war völlig überarbeitet. Das kann ich seinem Arbeitgeber vorwerfen!“ Christopher schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, wieso du über diese Tatsache so leichtfertig hinwegsehen kannst.“

„Dieser Unfall wäre genauso passiert, wenn er nicht überlastet gewesen wäre. Die Frau hat die rote Ampel übersehen. Das war doch nicht seine Schuld und noch viel weniger die seines Arbeitgebers.“

Ich war diese Unterhaltung satt. Immer wieder kamen wir zum selben Ergebnis: Christopher verfluchte Hennings Chef und ich verfluchte die Fahrerin des anderen Autos, die weiterleben durfte, als wäre nie etwas passiert.

Die Wolken lockerten sich ein wenig und die Sonne strahlte für einen warmen Moment direkt in mein Gesicht. Geblendet schloss ich die Augen.

„Wir kommen hier niemals auf einen Nenner. Lass uns das Thema abschließen, ohne einer Meinung zu sein. In Ordnung?“ Ich blinzelte und warf meinem braunblonden Gegenüber einen besänftigenden Blick zu.

Widerwillig nickte er.

„Wie wäre es, wenn wir uns einen Film auf der Couch ansehen? Die neue Staffel The Bold Type ist herausgekommen. Ich habe noch nicht damit angefangen.“

Christopher trank einen großen Schluck Kaffee. „Aber nur ausnahmsweise. Das nächste Mal gehen wir wieder aus und unter Leute.“

 

Während das Intro lief, kuschelte ich mich an Christopher und zog eine Decke über uns. Das Schöne an einem schwulen besten Freund war, dass ich mit ihm Schmusen konnte, ohne das Gefühl haben zu müssen, das ungewollt mehr daraus werden könnte. Er legte den Arm um mich und zog mich fester an sich heran, bis ich seinen flachen Bauch an meinem Rücken spürte. Es tat gut. Ich schloss die Augen und gab mich der wohligen Wärme hin. Schon viel zu lange hatte niemand mehr mit mir so auf der Couch gelegen. Gerade heute, nach der schlechten Nachricht, brauchte ich die Nähe eines anderen Menschen. Der Ärmel seines weißen Langarmshirts war hochgerutscht, sodass ich die Ansätze seines Tattoos auf dem rechten, sehnigen Unterarm betrachten konnte. Eine so detaillierte Feder, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, zierte die leicht gebräunte Haut. Behutsam strich ich mit der Fingerspitze über die schwarze Tinte.

Christopher kicherte. „Hör auf, das kitzelt!“

Ertappt zog ich die Hand zurück und konzentrierte mich auf die Sendung, die bereits angefangen hatte.

„Danke“, flüsterte ich.

„Wofür?“

„Dass du mich gerade einfach festhältst, wo meine Welt heute so durchgerüttelt wurde.“

Sanft gab er mir einen kurzen Schmatzer auf die Schläfe. Sein Bart kitzelte, aber ich rührte mich nicht.

„Dafür sind Freunde doch da. Wenn du mich brauchst, werde ich dich immer auffangen und dich durch den Sturm des Lebens begleiten. Das habe ich dir versprochen.“

Dankbar nickte ich. Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Was würde ich nur tun, wenn Christopher jemals etwas zustoßen würde? Kein anderer Mensch war mir so nah wie er. Wir kannten uns schon so unglaublich lange. Ich war die erste Person, gegenüber der sich Christopher als homosexuell geoutet hatte. Sein Coming-out war alles andere als unproblematisch gewesen: mit einem homophoben Vater, der sein eigenes Kind mit Verachtung strafte, und mit einer Mutter, die zwischen den Stühlen saß. Eine Frau, die einerseits ihren Sohn nicht aufgeben wollte und andererseits ihren aggressiven Ehemann, der herablassend wurde, sobald es um sein eigenes Kind ging, nicht verlassen wollte. Letztlich hatte sie ihre finanzielle Abhängigkeit in der Ehe, die auf mich äußerst lieblos wirkte, bleiben lassen.

Erneut versuchte ich mich, auf die Handlung im TV zu konzentrieren, weil es mühsam war, über Dinge nachzudenken, die noch gar nicht geschehen waren. Dennoch fiel es mir schwer. Christopher war alles, was ich noch hatte.

Kapitel 3

Schneller als erahnt, kam der schwärzeste Tag des Jahres. Bereits am frühen Morgen schmerzte mein Magen unaufhörlich. Mutlos schlug ich die Decke zurück und setzte mich auf. Ich hatte mich von Hennings Mutter zu einer kleinen Trauerfeier überreden lassen, die bei ihr zu Hause stattfinden sollte. Wir würden Kaffee trinken und Kuchen essen. Danach gäbe es einen Spaziergang direkt am Strand. Außerdem sollte jeder etwas erzählen. Genau wie damals bei der Beerdigung fiel mir nichts ein, was ich zu diesem Grauen sagen könnte. Ohne Vorwarnung hatte mir das Schicksal die Liebe meines Lebens gestohlen. Von einem Tag auf den anderen war ich zur Witwe geworden. Wenigstens waren uns acht Jahre Beziehung vergönnt gewesen, fünf davon verheiratet, ehe uns der Tod einen Strich durch all unsere Pläne gemacht hatte. Seufzend trottete ich ins Bad.

Nach dem Duschen wischte ich mit einer Handbewegung den feinen Wassernebel vom Spiegel, um mein bleiches Gesicht zu betrachten. Meine haselnussbraunen Augen, die normalerweise eine ganz natürliche Wärme ausstrahlten, waren kühl und traurig. Den Glanz hatten sie vollkommen verloren. Ausgerechnet heute sprießte ein Pickel an meinem Kinn.

 

Eine Stunde später saß ich im Bus und fuhr in die Kieler Innenstadt. Sogar jetzt – dreihundertfünfundsechzig Tage nach alldem – war es mir nahezu unmöglich, Auto zu fahren. Nur, wenn es unumgänglich war, setzte ich mich selbst hinter das Steuer. Ich war traumatisiert von Hennings Unfall. Obwohl ich nicht dabei gewesen war, versetzte mich die Vorstellung, am Verkehr aktiv teilzunehmen, in Angst und Schrecken. Die Ärzte hatten mir zwar versichert, dass er den Aufprall nicht mitbekommen hatte, in meiner Vorstellung malte ich mir jedoch immer wieder die letzten Sekunden seines Lebens aus. Er hatte ja nicht geschlafen, sondern war bei vollem Bewusstsein gewesen, als es zum Frontalaufprall kam.

Frustriert schüttelte ich den Kopf in der Hoffnung, die Gedanken loszuwerden, die sich so fest in meinem Schädel manifestiert hatten. Wann würde es endlich leichter werden und nicht mehr so fürchterlich schmerzen?

Nachdem ich es schließlich geschafft hatte, mich auf dem Handy in die Fotografien meiner letzten Kunstwerke zu vertiefen, ging die Dreiviertelstunde lange Busfahrt schnell vorbei. Nach einem kurzen Fußmarsch stand ich vor dem Mehrfamilienhaus der Zieglers, in dem Hennings Eltern eine Eigentumswohnung bewohnten. Ich war schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr hier gewesen. Sofort kamen Bilder in mir hoch, wie wir in der Anfangszeit unserer Beziehung so oft hier übernachtet hatten. Das eine Mal hatte ich Henning nach einer Party nach Hause gebracht und er war so betrunken gewesen, dass er sich direkt vor der Wohnungstür übergeben hatte. Ein Schmunzeln unterdrückend räusperte ich mich. Grinsend zur Erinnerungsfeier bei der Familie anzutreten, wäre den Geschwistern sicherlich einen Streit wert. Von meinem Gefühl her hatten die mich noch nie gemocht.

Zögerlich biss ich mir auf die Unterlippe und sammelte meine letzten Kraftreserven zusammen. Das würde anstrengend werden, denn meine Schwiegereltern litten noch viel mehr unter Hennings Verlust als ich. Das war in all meiner Trauer schon nicht auszuhalten gewesen, daher hatte ich mich bewusst ferngehalten.

Oben im zweiten Stock angekommen empfing mich Irmgard mit offenen Armen. „Ach Liebes, schön dich mal wieder zu sehen.“

Hätte ich häufiger herkommen sollen? Aber es tat mir so weh, die beiden zu besuchen. Henning war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur die Augenfarbe hatte er von seiner Mutter. Das gleiche Grünbraun funkelte mir entgegen. Ich versuchte, die Fassung zu wahren, als sie mich herzlich umarmte.

„Hallo Irmgard, wie geht es dir?“, fragte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich mit ihrer Antwort klarkommen würde.

„Du weißt, wie das ist. Aber seitdem ich in Therapie bin, geht es mir besser. Ich komme morgens wieder müheloser aus dem Bett“, sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln auf den Lippen.

Ich trat an ihr vorbei in die Wohnung. Es roch nach Kaffee und irgendetwas Fruchtigem. Als ich meine Sommerjacke an die Garderobe hängte und dabei weitere Erinnerungsfetzen in mir aufkommen spürte, kam Hennigs Vater Wilhelm aus dem Wohnzimmer und schob damit alle Gedanken für den Moment fort.

„Linda, schön, dass du es einrichten konntest.“ Er schüttelte mir die Hand.

Wir waren schon immer so formell gewesen. Wilhelm war kein Typ für Umarmungen und Küsse, aber das war in Ordnung für mich. Mir fiel es schwer, bei seinem Anblick nicht an Henning zu denken. So hätte er aussehen können, in dreißig Jahren. Eine sportliche Statur, nur wenige Falten im Gesicht und mit vollem dunkelblondem Haar, das nur vereinzelt von grauen Strähnen durchzogen war. Vielleicht hätte er es nach wie vor so verwuschelt abstehend gestylt, wie er es vor seinem Tod ständig getragen hatte.

Ich unterdrückte ein Seufzen und trat ins Wohnzimmer, in dem Hennings Geschwister Manuela und Annemarie saßen. Zum Glück sahen ihm die Schwestern weniger ähnlich als sein Vater, sodass bei ihrem Anblick nicht noch weitere Vergleiche ausgelöst wurden. Ich nickte ihnen zu und setzte mich auf den freien Stuhl neben Annemarie.

„Wie geht es dir?“, fragte sie und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Wollte sie die Wahrheit hören? Ich hielt mich gerade so auf den Beinen. Irmgards Einladung auszuschlagen, verbot mir meine anerzogene Höflichkeit. Dadurch wurde ich gezwungen, hier zu sein, statt mich zu Hause unter die Bettdecke zu verkriechen.

„Es geht schon“, sagte ich in der Hoffnung, dass niemand die Lüge erkennen würde.

Ich wollte nicht hier sitzen, weinen und das Mitleid in ihren Augen sehen. Außerdem würde das bei allen Anwesenden zu Tränen führen und das hielt ich gewiss nicht aus.

Manuela nickte wissend. Ihr dunkelbraunes Haar hatte einige hellere, blonde Strähnchen, sodass sie zum Glück kaum Ähnlichkeit mit Henning hatte.

„Grauenhafte Tragödie, aber Gott sei Dank hat die künstliche Befruchtung damals nicht funktioniert. Überlege dir mal, wenn du allein ein Kind großziehen müsstest.“ Ihre Worte trafen mich wie ein Fausthieb in die Magengrube.

Wusste sie überhaupt, was sie da sagte? Angestrengt biss ich die Zähne zusammen. Es gab so einiges, was ich hierauf sagen wollte. Aber was brachte das schon? Ein Streit würde mir auch nicht weiterhelfen.

Annemarie warf mir einen fragenden Blick zu. „Habt ihr nicht noch Eizellen über? Ich meine, Henning hätte mal etwas von insgesamt neun gesagt.“

„Pro Versuch wurden drei eingesetzt“, sagte ich

„Also müssten noch welche übrig sein. Oder entsorgen sie die, wenn jemand stirbt?“, fragte Manuela mit einem markdurchdringenden Blick.

Ich räusperte mich und überlegte krampfhaft, was ich dazu sagen sollte. War es angebracht die Wahrheit zu verkünden? Würden sie sie nach der Aussage zuvor überhaupt verstehen? Speziell Manuela hatte offensichtlich eine vorgefertigte Meinung zu dem Thema.

In dem Moment kam Irmgard ins Wohnzimmer gehastet und stieß an den Tisch. „Hoppla. Ich habe den Kaffee fertig, wer möchte?“ Fragend schaute sie in die Runde.

Ich rutschte ein Stück zur Seite, damit sie besser an die Tassen herankam und reichte ihr meine.

„Liebes, ich vergesse es immer wieder. Nimmst du Zucker? Irgendjemand nimmt Zucker, aber ich kann mir überhaupt nicht merken, wer das war.“ Sie sah mich mit einem herzlichen Blick an.

Ich schüttelte schweigend den Kopf. Als ich ein Foto von Henning auf dem Wohnzimmertisch stehen sah, stockte mir der Atem. Ein starker Schmerz durchzog meine Brust. Natürlich war ich darauf vorbereitet, dass hier Bilder stehen würden. Dennoch traf es mich nun doch. Ich starrte es wie ferngesteuert an.

Als Wilhelm mit einer Sahnetorte ins Wohnzimmer kam, war ich froh über seine Ankunft. Ich löste mich von Hennings freundlichem Lächeln. Vielleicht würde sein Vater mich auch um eine Antwort auf Manuelas Frage bringen. Er hatte das unübertroffene Talent, jedes Gespräch mühelos an sich zu ziehen.

„Wie läuft es auf der Arbeit?“, fragte ich ihn, als er sich auf den Stuhl neben mir sinken ließ.

„Zwei Jahre noch bis zur Rente. Ich habe ehrlich gesagt auch keine Lust mehr“, antwortete er mit einem entspannten Lächeln, das mir einen Stich versetzte.

Hoffentlich würde ich den Tag überstehen, obwohl er mich jede Sekunde an Henning erinnerte. Ich vermisste ihn so schmerzlich, dass ich Mühe hatte Wilhelms anschließenden Ausführungen zu folgen.

„Und dann kommen die jungen Bengel und wollen mir erzählen, wie der Job funktioniert, den ich jetzt fast vierzig Jahre mache! Kannst du dir das vorstellen? Mir! Nach so langer Zeit.“

„Das ist bestimmt schwierig“, antwortete ich.

Manuela tippte abwesend auf ihrem Smartphone herum.

Irmgard warf ihr immer wieder böse Blicke zu. „Wollen wir dann erst ein Gebet sprechen?“, fragte sie.

Ich war zwar nicht gläubig, aber dennoch faltete ich brav die Hände zusammen. Irmgard sprach ein Dankgebet, doch ich hörte nur halbherzig zu. Als sie „Amen“ sagte, stimmte ich mit ein.

Mütterlich verteilte sie die Sahnetorte auf die Teller und alle begannen zu essen.

„Tatsächlich werden die gar nicht vernichtet“, sagte Manuela plötzlich und legte das Smartphone beiseite.

„Worum geht es denn?“, fragte Irmgard, die die ursprüngliche Unterhaltung nicht mitbekommen hatte.

Wollte Manuela das wirklich hier und heute diskutieren? Mir wurde heiß und kalt zugleich. Meine Kopfhaut kribbelte unangenehm.

„Henning und Linda haben nur zwei Versuche gemacht, aber damals neun Eizellen befruchtet eingefroren. Demnach müssten noch drei übrig sein. Meinen Recherchen zufolge werden die nicht einfach so entsorgt. Einige Gerichtsurteile zeigen, dass die Ehefrau darauf Zugriff hat, selbst wenn der Ehemann tot ist.“

Alle Blicke wandten sich mir zu. Nervös rutschte ich auf dem Stuhl herum. Meine Kehle schnürte sich zu. Ich hatte Familie Ziegler kein Wort vom letzten Versuch erzählt. Hoffnung zu streuen, obwohl diese vielleicht nie erfüllt wird, war das Letzte, das ich wollte. Ich war selbst verletzt genug. Der Besuch beim Gynäkologen vor drei Tagen hatte ebenfalls bestätigt, dass ich nicht schwanger war.

„Nach der Krebsdiagnose hat Henning einige Vorkehrungen getroffen, als er noch nicht in Remission war.“ Ich hielt inne. Musste ich mich überhaupt rechtfertigen? Was ging es sie an?

„Und was sind das für Vorkehrungen gewesen? Hodenkrebs ist doch in den meisten Fällen heilbar.“ Manuelas Blick war wie ein Dolchstoß.

Ich schaute zu Annemarie, die ihr Stück Kuchen auf dem Teller umher schob. Sie sah mich keine Sekunde an. Ihr schien das Gespräch auch unangenehm zu sein. Warum half sie mir nicht?

Ich räusperte mich, legte die Gabel aus der Hand und faltete die Hände schutzsuchend vor meinem Bauch.

Manuelas Augenbraue hob sich skeptisch empor.

„Ich habe mir im August die letzten drei Eizellen einsetzen lassen, aber es hat nicht funktioniert“, sagte ich ruhig, obwohl innerlich ein Sturm aus Gefühlen wütete: Angst, vor dem, was nun passieren würde, Scham, da ich es heimlich gemacht hatte, Trauer, weil es nicht geklappt hatte.

Annemarie schlug ihre perfekt manikürte Hand vor den Mund. Irmgards rieb sich die Stirn. Nur Wilhelm blieb regungslos neben mir sitzen.

„Du kannst doch nicht einfach-“, sagte Manuela und unterbrach sich nach Worten suchend.

Ein schmerzhafter Kloß saß in meinem Hals und ich räusperte mich erneut. „Doch, ich hatte Hennings schriftliches Einverständnis. Er wollte genauso ein Kind mit mir, wie ich mit ihm.“

Irmgard lief eine stumme Träne über die Wange. Sie stand auf und trat um den Tisch herum. Plötzlich umschlossen mich ihre Arme. „Du armes Mädchen!“

Überfordert saß ich da und ließ die Umarmung über mich ergehen.

Mit den Fingerrücken strich sie zärtlich über meine Wange. „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dich doch auf diesem schweren Weg begleitet.“

„Ich wollte niemandem Hoffnung machen. Zweimal hat es nicht geklappt. Mir ist klar, dass es nicht nur uns wehtat.“

Es kostete mich jegliche Kraft, dieses Gespräch zu führen. Dafür war heute nicht der richtige Tag. Es sollte um Henning gehen und nicht um meinen erfolglosen Versuch, eine Schwangerschaft herbeizuführen.

„Vielleicht ist es besser so. Alleinerziehende Mutter eines Kindes von einem Mann, der tot ist. Das Kind kann ja nur einen Knacks kriegen“, sagte Manuela und wirkte dabei so selbstgerecht, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre, um ihr eine zu klatschen.

Ich war ein friedvoller Mensch, aber sie war so beleidigend, dass ich mir nicht zu helfen wusste. Mühsam krallte ich mich an der Tischplatte fest, um meine Gedanken nicht in die Tat umzusetzen.

„Stell dir mal vor, du hörst später, dass dein Vater schon vor deiner Zeugung tot war. Was muss das schräg sein? So etwas gehört doch verboten.“

„Dann freu dich doch, dass es nicht geklappt hat!“ Zähneknirschend funkelte ich Manuela über den Tisch hinweg böse an.

Was nahm sie sich eigentlich heraus, so zu urteilen? Sie konnte nicht mal einen Mann länger als ein Quartal bei sich halten. Allein in dem Jahr bevor Henning starb, hatte sie uns sechs Männer als die große Liebe vorgestellt. Sechs verschiedene Kerle. Wer weiß, wie viele sie in den letzten Monaten außerdem noch vorgestellt hatte, die ich gar nicht kennengelernt hatte.

Irmgard küsste mich sanft auf den Kopf und löste sich von mir. „Bitte streitet euch heute nicht. Es ist Lindas Entscheidung und wenn die beiden das für sich so beschlossen haben, ist es ganz allein ihre Sache.“

„Hast du einen Beweis? Wir hätten auch Anspruch darauf gehabt!“ Manuela warf mir einen finsteren Blick zu.

Annemarie räusperte sich. „Manuela …“

„Mit welchem Grund hättest du Anspruch darauf haben sollen? Es sind meine Eizellen, die fest mit dem Sperma deines Bruders verschmolzen waren!“ Ich setzte mich aufrechter hin.

Die Frau tickte doch nicht mehr ganz sauber. Kein Arzt dieser Welt würde ihre Eizellen mit dem Sperma ihres Bruders befruchten, selbst wenn man unsere Proben wieder trennen könnte. Rechtlich hatte sie keinen Anspruch. Warum auch?

Manuela schüttelte den Kopf. „Du bist egoistisch!“

Unwillkürlich riss ich die Augen auf. „Ich bin egoistisch?“

Hilfesuchend sah ich zu Wilhelm, der noch gar nichts gesagt hatte, doch er starrte vor sich ins Leere. Bekam er die Unterhaltung überhaupt mit?

„Kinder, streitet euch nicht!“ Irmgard schaute mit tränennassen Augen bittend zu Manuela und dann zu mir.

Widerwillig schaufelte ich mir einen großen Bissen der Sahnetorte in den Mund, doch durch all die Wut in meinem Bauch und die trockene Kehle, hatte ich Mühe, den Brocken zu schlucken.

„Möchte einer von euch nicht lieber eine schöne Erinnerung an Henning mit uns teilen?“ Irmgard schaute fragend in die Runde.

Ihr Versuch, die Stimmung zu retten, in allen Ehren, aber was wollte sie jetzt von mir hören? Ich kochte vor Wut, war gelähmt vor Enttäuschung und fühlte mich wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. Das hier war nicht meine Familie. Nichts war mehr so wie früher, als ich neben Henning das Gefühl hatte, wirklich dazuzugehören. Jetzt fühlte ich mich nur noch wie ein Eindringling in einer fremden Sippschaft. Vielleicht war das heute nicht der Abschied von Henning, aber der endgültige Abschied von einer Familie, die eine Weile an meiner Seite gewesen war, jedoch durch Hennings Tod ebenfalls von mir getrennt wurde. War es an der Zeit zurück zu meinen Wurzeln zu kehren und meinen Mädchennamen wieder anzunehmen? Oder würde mich das zu schnell und zu weit von Henning entfernen?

Kapitel 4

Der Trauermarsch am Strand mit den Zieglers zu Hennings Gedenken war überaus anstrengend gewesen. Einen schlimmeren ersten Todestag hätte ich mir nicht vorstellen können. Müde lief ich von der Bushaltestelle nach Hause. Es lag noch ein Stück vor mir, bis ich zu Hause ankommen würde. Zum Glück hatte das Wetter heute wenigstens mitgespielt. Zwar hingen graue Wolken am Himmel, aber der angekündigte Regen blieb aus.

Ich zog das Haargummi aus meinen langen Haaren und lockerte sie mit den Fingerspitzen auf. Mein Kopf schmerzte. Ob ich in nächster Zeit noch mal meine Schwiegereltern oder Schwägerinnen besuchen würde, lag in den Sternen. Hätte ich gewusst, wie das heute ablaufen würde, wäre ich lieber gleich im Bett geblieben.

In meiner Wohnung schlüpfte ich aus den Turnschuhen und zog sofort das schwarze Etuikleid aus feiner Strickwolle aus. Genervt schmiss ich es in den Wäschekorb, rollte die Strumpfhose von meinen Beinen und warf sie dazu. Nur in Unterwäsche bekleidet, ließ ich mich auf das Bett fallen und zog die Decke über meinen Kopf. Für heute wollte ich nichts und niemanden mehr sehen.

Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Missmutig setzte ich mich auf und zog einen Morgenmantel über. Wer störte denn? Durch die Milchglasscheibe erkannte ich eine ungewöhnlich breite Silhouette. Schwungvoll riss ich die Tür auf. Zwei Personen ganz in Schwarz gekleidet standen auf der Schwelle. Eine davon hielt ein Magazin in der Hand, die andere ein schwarzes Buch. Unwillkürlich verdrehte ich die Augen.

„Ich brauche keine neue Religion!“ Grußlos schmiss ich die Haustür wieder zu.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Die Zeugen Jehovas, die mir ihren Glauben aufquatschen wollten – ausgerechnet an einem Tag wie diesem. Hatte ich vorhin mit Manuela nicht schon genug durchgemacht?

Aufgebracht wanderte ich durch die Wohnung. Heute verlief nichts so, wie ich es mir gewünscht hätte. Wäre es nach mir gegangen, so hätte ich die Zeit besser allein verbringen können. Ich setzte mich an den Schreibtisch, griff zu einem Blatt Papier und einem Füller.

Nachdenklich starrte ich auf den weißen Bogen vor mir. Nach einer Weile begann ich, ganz von selbst zu schreiben, so als würde ich es jeden Tag tun. Mein Kopf war daran nicht aktiv beteiligt. Mein Herz diktierte die Worte, die meine Hand schrieb.

Satz für Satz.

Wort für Wort.

Buchstabe für Buchstabe.

Die Schwere in mir wurde kleiner. Eine Erleichterung, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte, legte sich über mich. Ich schrieb all das auf, dass ich Henning nicht mehr sagen konnte. Alles, das er verdient hätte zu hören ehe er mich für immer verließ.

Als ich schließlich mit „In ewiger Liebe, deine Linda“ den Brief beendete, schob ich mich mit dem Stuhl intuitiv ein Stück vom Schreibtisch weg. Ich atmete tief durch. Dann ergriff ich das Blatt Papier und faltete es zweimal zusammen, steckte es in einen Briefumschlag und schrieb „Henning“ drauf. Ohne den Umschlag zuzukleben, schob ich ihn zwischen einige Bücher ins Sideboard. Ob mir das etwas in meinem Trauerprozess gebracht hatte, würde ich wohl erst in der nächsten Zeit erfahren. Wenigstens hatte ich versucht, den heutigen Tag würdevoll zu beenden.

Völlig ausgelaugt schlurfte ich zur Couch, schaltete den Fernseher an und ließ mich von den Abendnachrichten berieseln. Stumme Tränen liefen unaufhaltsam über meine Wangen.

Das Ding-Dong der Klingel riss mich aus meiner Trance. Mitgenommen wischte ich mir hastig über die Wangen und sprang von der Couch. Wehe, das waren schon wieder diese verdammten Zeugen! Als ich energisch die Tür aufriss, stand Christopher vor mir.

Er starrte mich mit großen Augen an. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Sogleich strömten mir erneut Tränen aus den Augen, als hätte jemand ein Fass angestochen. Mein bester Freund zog mich in die Arme und schob mich langsam zurück in die Wohnung. Er versetzte der Haustür einen leichten Tritt, sodass sie mit einem leisen Klick ins Schloss fiel.

„War das Treffen bei den Zieglers so schlimm?“

„Manuela ist auf mich losgegangen.“ Ich löste mich von Christopher, der einen Arm um mich legte und langsam mit mir ins Wohnzimmer schritt.

„Wieso?“

Nachdem ich ihm die ganze Geschichte über den Nachmittag bei den Zieglers erzählt hatte, saß er nur noch kopfschüttelnd und nach Worte ringend auf der Couch. „Ich meine, jeder kann seine eigene Meinung haben und darf sie vertreten, aber warum ausgerechnet heute?“

„Vielleicht ist es ihre Art der Trauerbewältigung?“ Mittlerweile waren meine Tränen versiegt.

„Damit würde sie es sich zu leicht machen. Du bist genauso ein Opfer der Umstände wie sie!“ Er schwieg einen Moment. „Will sie eventuell ebenfalls schwanger werden und es klappt nicht? Ist sie vielleicht eifersüchtig, weil du das potenzielle Gegenüber schon hattest und alles bereits finanziert war?“

„Ich weiß nichts darüber, aber dass sie keinen Mann bei sich halten kann, wissen wir beide.“ Ich seufzte. „Gehöre ich überhaupt noch in diese Familie? Ich habe mich heute wie ein Eindringling zwischen all den Zieglers gefühlt. Irgendwie ist es nicht mehr dasselbe wie damals, als Henning an meiner Seite war.“

Ich sah die Familie und mich auf der Couch sitzend ein Geburtstagslied für Wilhelm singen. Sah Henning, der im Takt der Melodie klatschte und am lautesten sang. Schnell schüttelte ich den Kopf und vertrieb damit die Erinnerung.

„Letzten Endes ist es dir überlassen. Niemand kann dich zwingen, dich weiter mit seiner Sippschaft abzugeben.“

Aufgewühlt kaute ich auf meiner Unterlippe herum. „Ich überlege sogar, ob ich meinen Mädchennamen wieder annehme.“

Christophers Augen weiteten sich einen Moment, dann nickte er kaum merklich. „Warum nicht? Steht dir doch frei. Entscheide das jedoch nicht aus dem Bauch heraus nach einem Konflikt. Schlaf einige Nächte darüber, ehe du irgendetwas unternimmst.“

Ich zupfte ein Taschentuch aus der Box, die auf dem Couchtisch stand, und schnäuzte mich ausgiebig. „Warum bist du eigentlich hergekommen?“

„Ich wusste doch, welcher Tag heute ist.“

Dankbar lächelte ich ihn an, obwohl es mir schwerfiel.

„Ich muss morgen früh erst gegen elf zur Vorlesung. Wenn du willst, bleibe ich heute Nacht hier.“

„Das ist doch nicht nötig.“

„Dafür sind Freunde da. Damit man in dunklen Stunden nicht allein sein muss.“

 

Während Christopher dezent neben mir schnarchte, lag ich hellwach unter meiner Bettdecke und konnte nicht schlafen. Es war ungewohnt, dass jemand zusammen mit mir in meinem Bett lag.

Rastlos wackelte ich mit dem Bein. Schließlich stand ich auf. Geräuschlos öffnete ich die Zimmertür und schlich den Flur entlang ins Wohnzimmer. Über mein Nachthemd zog ich den roten Cardigan, den ich über eine Stuhllehne der Tischgruppe abgelegt hatte, und trat hinaus auf die Terrasse. Der Boden war eiskalt, doch das hielt mich nicht auf. Eilig lief ich zum Gartentor, riss es auf und hastete zum Strand. Der feuchte Sand knirschte unter meinen Füßen. Ein paar klitzekleine, spitze Steinchen drückten sich schmerzhaft in meine Fußsohlen. Dennoch lief ich unbeirrt weiter. Das Rauschen der kleinen Wellen, die an das Ufer schlugen, war so nah. Es war stockfinster. Kurz bereute ich, dass ich keine Taschenlampe mitgenommen hatte.

„Henning“, flüsterte ich in die Stille der Nacht.

---ENDE DER LESEPROBE---