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Erotik von Frauen nach den Wechseljahren kennt keine Regel(n). Die Sexualität von Frauen nach der Menopause ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse in unserer Kultur. Dem gegenüber belegt die Wissenschaft, dass Alter kein Kriterium für sexuelle Aktivität und Befriedigung ist. Ohne Regel(n) untersucht die unterschiedlichen Settings, die für Erotik in dieser Lebensspanne eine Rolle spielen und kommt zu dem Ergebnis, dass Sexualität in den späteren Jahren eine vielschichtige und höchst unterschiedliche Erfahrung ist für die es keine Regel(n) gibt.
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Seitenzahl: 314
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Anna FreixasOhne Regel(n)Erotik und Freiheitfür Frauennach der Regel
Aus dem Spanischenvon Emilia Gagalskiund Katja Utermöller-Staege
Anna Freixas
Erotik und Freiheitfür Frauen nachder Regel
Danksagungen
Sie, der Abend
Vorwort
Vorgehensweise
1. Den Deckel abnehmen
Eine explosive Mischung
Doppelmoral
Das bestgehütete Geheimnis
Ein Erbe für unsere Töchter
Schweigen auch im Film
2. Ohne Verfallsdatum
Es gibt ein Leben nach der Menopause, keine Angst
Ein Erklärungsversuch
Neue Konzepte von Sexualität: Sexy Omis oder Raubkatzen
3. Töchter der sexuellen Revolution und der aufwühlenden Zeiten
Die Protagonistinnen in groben Zügen
Frühentwicklerinnen und/oder Spätzünderinnen
Unsere Sexualität: Ein großes Durcheinander
4. In einer festen Beziehung sein oder nicht
Allein oder in Begleitung?
Wer suchet, der findet
Was für Partner wünschen sich die Frauen?
Die Sonnen- und Schattenseiten von langjährigen Beziehungen
Neue sexuelle Partnerschaften in Fantasie und Realität
Die verlagerte Sexualität
Sensible Einrichtungen
Wie läuft Ihr Sexleben in letzter Zeit?
Unsere sittenstrengen Kinder
5. Hab Spaß, auch du kannst lesbisch sein
Von der Heterosexualität zum Lesbentum
Akzeptanz, Leugnung und Identität
Die Suche, die Entdeckung, das Wohlbefinden
6. Der Körper im Irrgarten
Die unmögliche Pflicht zur Schönheit
Konjugieren wir das Verb „gefallen“
Unsere alltägliche Gesundheit
Sexuelle Dysfunktion oder sexuelle Schwierigkeiten?
Die erfundene Krankheit
Geständnisse
7. Die Rückkehr der Lust
Schwankungen und Beständigkeiten
Die Lust nimmt ab, wie schrecklich!
Die Lust vergeht nicht, wie toll!
Neue Zeiten
Jungfrauchen, Jungfrauchen
8. Die einen sind vom Mars, die anderen von der Venus
Diskrepanzen und Konflikte
Mehr Schwung in die Sache bringen
Eine umfassende Sexualität
9. Die Lust in die Praxis umsetzen
Fremdgehen
Vergnügen auf Abruf
10. Eine mehr oder weniger geteilte Sexualität
Die Vorstellung von der romantischen Liebe
Eine affektive Beziehung über den Koitus hinaus
Reiner Sex
11. Die Praktiken in der Praxis
Die Masturbation, ein Bereich der Selbstbestätigung und des Vergnügens
Der Versuch, die Sexualität zu beleben
12. Selbstgewählte oder situationsbedingte Asexualität
Ich bin an einem anderen Punkt
Ich habe Lust auf gar nichts
13. Endlich eine selbstbestimmte Sexualität!
Die Selbstbestimmung und ihre Grenzen
Die Konstruktion eines eigenen Bereichs legitimierter Lust
14. Sexualität, eine vielseitige und komplexe Erfahrung
Endnotenverzeichnis
In diesem Buch stecken viele Jahre voller Arbeit und Reflexion über die Sexualität von Frauen, die ich auf besondere und außergewöhnliche Art und Weise mit Bárbara Luque geteilt habe. Ohne sie wäre alles anders. Marina Fuentes-Guerra, Marisa Calero und Araceli Velasco haben als Freundinnen ihren Beitrag geleistet, indem sie gelesen und ihre Meinung kundgetan haben. Mithilfe ihrer Vorschläge habe ich Kürzungen und Ergänzungen am Text vorgenommen, hier und da geglättet und geschliffen; und vor allen Dingen haben sie meine Zweifel besänftigt, die mich des Öfteren geplagt haben. Sie sind mehr als nur Freundinnen.
Juana Castro hat mir für dieses Buch wieder einmal ein Gedicht ausgeliehen. Sie ist eine wunderbare Wiederholungstäterin, und ich bin glücklich, dass ich seit so vielen Jahren ihre Freundin und feministische Komplizin sein darf. Sie weiß genau, wie sehr ich ihr dafür danke.
Soledad Gallego war sofort damit einverstanden, das Vorwort zu diesem Buch zu verfassen – sehr großzügig, liebenswürdig und mutig, weil sie mich kaum kannte. Aus dieser Zusammenarbeit sind auch die Frescas entstanden, eine nach außen sichtbare und identitätsstiftende Gemeinschaft.
Rosa Bertrán, meine Agentin und sehr gute Freundin seit vielen Jahren, hat dabei geholfen, das Buch in einem traumhaften Verlag zu veröffentlichen. Dafür bin ich ihr zu tiefstem Dank verpflichtet.
Selbstverständlich danke ich den 729 Frauen, die sich vertrauensvoll an der Recherche zu diesem Buch beteiligt haben und ohne die es dieses Buch gar nicht geben würde. Einige von ihnen waren entscheidend an der Suche nach neuen Teilnehmerinnen, der Organisation von Diskussionsrunden und der Weitergabe des Fragebogens beteiligt. Andere haben Anregungen, Fragen und Ideen beigesteuert, die mir die Möglichkeit gaben, den erhaltenen Daten Bedeutung zu verleihen und die Unterschiede hervorzuheben, die uns im Alter ausmachen.
Juan und Bruno, meine kleine und stabile familiäre Gemeinschaft, und meine Schwestern Mamen, Bei und Lali sind immer da, feuern mich an und unterstützen mich bei all meinen Unternehmungen. Ich habe so viel Glück.
Die Radfahrerinnen treten vergnügt
in die Pedale.
Nach dem Regen
wird das Grün
der Blätter wieder sichtbar,
wie ein Glas voller Sonne
zwischen den Stimmen.
Sie treten in die Pedale
und singen.
Wie lange am Abend?
– fragt ein Blick,
der ihnen folgt, der mühsam
jeden Zentimeter des Spiegels
mit seinem Fleisch
schneidet und abwägt.
Wie lange?
Während sie, die vergnügten Freundinnen,
ungleich und eigen,
auf dem Hügel singen
und lachen und den Scheideweg
mit Licht besprenkeln.
Juana Castro (März 2017)
Der Artikel erschien Anfang des Jahres 2000 in The New York Review of Books: „Bevor ich im nächsten Monat 67 Jahre alt werde, würde ich gerne viel Sex mit einem Mann haben, der mir gefällt. Wenn du vorher noch unbedingt reden möchtest … also von mir aus können wir uns über Trollope unterhalten“ (Anthony Trollope war ein englischer Schriftsteller im viktorianischen Zeitalter, von dem W. H. Auden sagte, dass sogar Balzac im Vergleich zu ihm noch romantisch gewesen sei). Unterschrieben war der Artikel von Jane Juska, einer Professorin, die kurz darauf ihr erstes Buch Bevor ich 67 werde … (Originaltitel: A Round-Heeled Woman) veröffentlichte. Der amerikanische Titel bedeutet so viel wie „Sie ist leicht zu haben“, was wohl mit einer BH-Marke namens „Round Heeled“ aus den 20er-Jahren zu tun hat, die dafür bekannt war, dass man die BHs schnell ausziehen konnte. Sprache ist doch ein wundervolles Instrument, oder?
Bevor sie 67 wird? Und warum nicht danach? Mit 70 oder 80? Vielleicht verschwindet die Lust der Frauen in einem bestimmten Alter? Nein, die Lust löst sich nicht auf – aber die Möglichkeiten verschwinden, diese Lust auszuleben, und das aus unterschiedlichen Gründen sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und ästhetischer Natur. Der Satz „Ich genieße Sex viel mehr, obwohl ich weniger Sex habe“ fasst die Ergebnisse der Studie, die Anna Freixas durchgeführt hat, gut zusammen – sie hat 729 heterosexuelle, bisexuelle und lesbische Frauen zwischen 50 und 83 Jahren zu ihren Wünschen befragt und dazu aufgefordert, ihre eigene erotische Erfahrung zu bewerten.
Die abnehmende Lust von Frauen ab der Menopause oder ab einem bestimmten Alter war schon immer ein heiß diskutiertes, aber auch schwer zu bestimmendes Thema, weil es wenige Studien dazu gibt; und die wenigen, die zur Sexualität im Alter vorliegen, sind meist von weißen Männern verfasst, die ihre Gruppe als Vorbild sehen. Man sagt ja eigentlich, dass alte Menschen immer gerne aus dem Nähkästchen plaudern, doch bei einem bestimmten Thema trifft dies auf Frauen ganz und gar nicht zu. So schreibt Anna Freixas: „Wenn es etwas gibt, das die Sexualität von Frauen in allen Altersklassen definiert, dann ist es das Schweigen in Bezug auf ihre Sexualität; ein Schweigen, das umso größer wird, wenn es um jene Frauen geht, die die mysteriöse Menopause überschritten haben.“
Das Schweigen zu durchbrechen ist das Ziel dieses wundervollen Buches. Anna Freixas, Professorin der Evolutionspsychologie, untersucht schon viele Jahre den Alterungsprozess von Frauen, dokumentiert und analysiert Entwicklungen über Generationen hinweg und bringt Bereiche ans Licht, die sich bis dato komplett im Verborgenen gehalten haben – wie etwa alles, was mit lesbischen Beziehungen im Alter zu tun hat. Ihre Forschungen, von ihrem ersten Werk Mujer y envejecimiento (1993) bis zum letzten, Tan frescas. Las nuevas mujeres mayores del siglo XXI, liefern wertvolle Informationen darüber, wie wir Frauen denken und wie wir uns fühlen, wenn wir die 60 überschreiten. Bei dieser Gelegenheit hat es Freixas geschafft, dass einige Hundert Frauen über 50 über ihre eigenen erotischen Erfahrungen sprechen, und somit einen Komplex voller Aussagen ganz unterschiedlicher Art zusammengestellt, der dabei helfen soll, die kulturell verwurzelte Vorstellung der Asexualität von älteren Menschen aus den Köpfen zu verbannen.
Keine Angst, es gibt keine Schreckensbotschaften; vielmehr sorgt die Lektüre dieses Buches für eine gewisse Heiterkeit. Trotz der vielen Tabus, Probleme und gesellschaftlichen sowie kulturellen Vorurteile schaffen es ältere Frauen mehr oder weniger, diesen Urteilen zu entgehen: Die meisten wissen das Leben bereits zu genießen, einschließlich dessen, was einem vom Leben bleibt, also auch die Sexualität. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die heute 70-jährigen Frauen in sexueller Hinsicht glücklicher sind als die, die vor 30 Jahren so alt waren. Die Frage ist, ob die heute 30-Jährigen glücklicher sein werden als wir, wenn sie unser Alter erreicht haben. Anna Freixas erwartet, dass sie zumindest besser in der Lage sein werden, das Thema Sex in die allseits bekannten intimen Gespräche von Frauen untereinander einzubringen, wozu wir – Vorreiterinnen in so vielen Dingen – nicht genügend imstande waren. Die Stille bleibt weiterhin bedrückend.
Es ist auch künftig eine notwendige feministische Aufgabe, über das zu sprechen, was einige der Befragten so wunderschön als „Verlangen nach Haut“ beschrieben haben, aufzuhören, sich zu schämen, und nicht zuzulassen, dass andere einen beschämen, die Tür zu anderen Dimensionen zu öffnen, die Vergnügen bereiten.
Anna Freixas ist außerdem darauf bedacht, zu verhindern, dass neue Mythen über Alter und Sexualität entstehen – nicht dass sie uns erst abgesprochen und dann für uns verpflichtend wird, indem neue, ebenso unterdrückende Stereotype aufkommen. Der Gedanke, dass eine andauernde sexuelle Aktivität für Jugend und Gesundheit steht und zudem der Sex mit dem Koitus gleichzusetzen ist, ist eine von Grund auf maskuline Vorstellung, die genauso tyrannisch für die Frau sein kann wie die Verleugnung ihrer Lust. Die Anstrengung, Jugendlichkeit und Attraktivität auszustrahlen, die erschöpfende Arbeit, das Altern hinter Make-up zu verstecken, impliziert eine Ablehnung des Körpers aus Angst, dass er nicht mehr attraktiv genug sein könnte. Freixas behauptet, dass wir Frauen eine neue Sprache für das Alter bräuchten, die anerkennt, dass das Älterwerden den weiblichen Körper ganz offensichtlich verändert und umformt, ohne dass Frauen deswegen aufhören müssten, die Lust am Sex und an der Sinnlichkeit auszuleben. Sie sagt, wir sollten uns daran erinnern, dass wir uns umso mehr voneinander unterscheiden, je älter wir werden, weil wir unterschiedliche Erfahrungen anhäufen, die uns einzigartig machen, sodass – laut den gesammelten und analysierten Aussagen – beides gesund sein kann: den Sex regelmäßig zu praktizieren oder auf ihn zu verzichten.
Die Arbeit von Anna Freixas hilft dabei, einige vorgefertigte Klischees zu durchbrechen, unter anderem das Vorurteil, dass die sexuelle Lust mit der Menopause stetig oder radikal abnimmt. Laut ihrer Studie stimmt es zwar, dass es einen klaren Rückgang gibt, aber nur, was die sexuelle Aktivität angeht, nicht die Lust – was vor allem die heterosexuellen Frauen ab 70 im Gegensatz zu den Lesben und Bisexuellen betrifft. Entgegen der unangenehmen Vorstellung, dass „die Lust abnimmt, wie schrecklich“, führen uns die Aussagen der befragten Frauen eher zu der großartigen Feststellung, dass „die Lust nicht verschwindet, wie gut“. Es scheint sogar, als würden manche Frauen „diese Zeit dazu nutzen, ihre Erotik neu zu erschaffen“, weil sie gerade neue Aspekte an ihren gewohnten Partnern entdecken oder weil sie andere suchen, oder aber, weil sie sich in ihren sexuellen Interessen neu orientieren und stattdessen in anderen Frauen die Möglichkeit erkennen, ihre Sinnlichkeit ganz neu zu entwickeln. Außerdem greifen manche – auch wenn sie es nicht zugeben wollen, scherzt Freixas – aufs Internet zurück, um mehr Chancen auf eine Beziehung zu haben.
Das Resultat ist, dass mehr als 50 % der Frauen über 50 mit ihrem Sexualleben zufrieden sind und nur 15 % ganz klar unzufrieden. Sie haben es nicht leicht, aber ungefähr 40 % behaupten auch, mit ihrem Sexualleben über 70 zufrieden zu sein. Ist das eine gute oder eher eine mittelmäßige Nachricht? Was werden die heute 30-jährigen Frauen in 40 Jahren sagen? Wir könnten ihnen helfen, indem wir das Thema Älterwerden und Sex in die feministische Debatte einführen und ihnen positive Modelle von älteren Frauen anbieten, die es auf ihre eigene Art geschafft haben, sexuelle und sinnliche Lust zu genießen – weitab von Rollen, die durch eine noch immer männlich dominierte Kultur vorgeschrieben sind. Was wäre zum Beispiel, wenn man, wie Freixas fordert, mit den Verantwortlichen in Pflegeheimen über solche Themen spräche, damit auch sie diese verborgenen Tatsachen kennenlernen? Was wäre, wenn wir selbst mal darüber sprächen? Was wäre, wenn wir beispielsweise alles, was Freixas erforscht hat, mit unserer Sichtweise abgleichen?
Das erinnert mich an einen Zeitungsartikel, in dem es um die Vorteile der Menopause in Bezug auf Sex ging. Es war keine medizinische Fachzeitschrift, sondern eine glorreiche Kolumne von Maruja Torres, die sich 1992, anlässlich der Feierlichkeiten zu den Olympischen Spielen und des 500-jährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas, vornahm, ihr eigenes Fest zu veranstalten: Mit einem Gefolge an ihrer Seite schritt sie, gekleidet als Miss „Endlich frei“, die Straße zum Meer entlang, bis sie schließlich, dort angekommen, eine kleines Schiffchen voll mit Binden, Tampons, Spermiziden, Diaphragmen, Monats-/Vierteljahres-Verhütungsmitteln und der „Pille danach“ zu Wasser ließ. Mit ruhiger Hand schmetterte sie eine Flasche gegen den Schiffsrumpf, während eine Band „Sempre libera“ (dt. „Immer frei“) aus La Traviata anstimmte. Natürlich war die ganze Zeremonie der Heiligen Madonna gewidmet, deren Altar sie später besuchten, um einige Gebete zu sprechen. Schließlich sagte Maruja: „Auf geht’s, jetzt wird gelebt.“ Jetzt wird das Leben genossen. Wie sich herausstellte, war sie nicht auf dem Holzweg.
Soledad Gallego-Díaz (April 2017)
Man kann behaupten, dass Schweigen das gemeinsame bestimmende Merkmal hinsichtlich der Sexualität von Frauen aller Altersklassen ist und noch größer wird in Bezug auf Frauen, die die mysteriöse Menopause überschritten haben. Darüber sprechen wir weder in der Öffentlichkeit viel noch unter uns Frauen. Diese Schwierigkeit hat ihren Ursprung besonders in der restriktiven Erziehung der heute mehr oder weniger Älteren – aber auch in der Erziehung der jüngeren Generationen durch Väter und Mütter, Lehrerinnen und Lehrer, die nicht wissen, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Aber vor allem besteht ein Zusammenhang zwischen dem Schweigen und der sozialen und kulturellen Ablehnung der Sexualität von Frauen und Männern im Alter.
Als Fachfrau für das Älterwerden wusste ich, dass das Thema Erotik von älteren Frauen eines Tages in den Vordergrund rücken musste – ein Thema, über das es kaum Forschung oder überprüftes Material gibt und zu dem sich Frauen bisher kaum geäußert haben.
Es musste getan werden. Überzeugt davon, dass der Moment gekommen war, die Diskussion zu diesem Thema zu normalisieren und das Begehren, die Praktiken und die Vielfältigkeit sichtbar zu machen, machte ich mich vor einiger Zeit an die Arbeit. Als Erstes wollte ich den Deckel des Schweigens lüften, unter dem die weibliche Erotik im Alter seit Jahrzehnten vor sich hin kochte. Gemäß der alten feministischen Theorie versuchte ich, das Unsichtbare sichtbar zu machen, zu beleuchten.
Eines war klar: Ich musste hören, was die Frauen über ihre sexuelle Situation zu erzählen hatten, die Möglichkeit geben, unsere eigene Version der Realität zu erschaffen, über die Meinungen und Theorien existieren, wobei das Wissen über sie sich aber selten auf die Erfahrungen und Erlebnisse von Frauen stützt. Da ich wusste, dass die betroffenen Personen uns wohlwollend teilhaben lassen würden an den Schilderungen ihrer eigenen Definition und der Bedeutung dieses Lebensabschnitts für sie, fasste ich Mut und befragte sie. Die interessanten Arbeiten von Shere Hite wurden mithilfe einer solchen Methodik durchgeführt1 und auch ich habe sie in einer früheren Arbeit über die Menopause angewendet.2 Mittels meiner Lektüren habe ich Themen abgesteckt, die meiner Meinung nach – mit Informationen aus erster Hand – vertieft werden sollten. Davon ausgehend bildeten sich die großen Achsen heraus, über die ich Untersuchungen anstellte und die sich in einem umfangreichen Fragebogen konkretisierten. Ich versuchte stets, die persönliche und emotionale Vielfältigkeit mit anzuführen, die das Sexleben der Frauen ausmacht, sodass wir unter anderem einen Gegendiskurs zur abwertenden gesellschaftlichen Annahme in Bezug auf die weibliche Erotik im Alter erschaffen können. Dies war das primäre Ziel dieser Studie.3
So geht ein Großteil des Inhalts dieses Buches von den Informationen aus, die viele, sehr unterschiedliche und vielseitige Frauen über 50 mit der Beantwortung eines ausführlichen Fragebogens zu ihren sexuellen Erlebnissen und Erfahrungen geliefert haben. Über 700 an der Zahl (729). Sicherlich ist es nicht das gesamte Universum (das war auch nicht das Ziel), aber es ist eine beträchtliche Anzahl. Ich möchte nicht wie eine Schulmeisterin oder Predigerin über „die Sexualität der Frauen im Alter“ sprechen. Mein Wunsch war es, den Schleier des Schweigens zu lüften, das Thema zu normalisieren, eine Debatte zu entzünden. Anzuregen. Das Unbenannte zu benennen, infrage zu stellen, uns infrage zu stellen. Die Sinfonie von Stimmen aufzuzeigen, die uns charakterisiert. Ich möchte gleich klarstellen, dass sich alle von mir präsentierten Aussagen und Daten einzig und allein auf die Personen beziehen, die teilgenommen haben, und dass ich weder kategorisieren noch verallgemeinern möchte. Im Verlauf des Textes beziehe ich in Kursivschrift viele Beiträge ein, die ich von den Frauen erhalten habe – ihre Stimmen erhellen meine Argumentation. An vielen Stellen habe ich die Wiederholung von „Teilnehmerinnen“ oder „Informantinnen“ weggelassen und „Frauen“ geschrieben, um diejenigen zu benennen, die mit ihren Worten zu dieser Diskussion über die großen Themen der Sexualität von Frauen ab 50 beigetragen haben.
Wie ich im Verlauf des Buches zeigen werde, ist es nicht einfach, über Sexualität zu sprechen, weil es sich um ein sensibles Thema handelt, insbesondere in Bezug auf das Alter.4 Die Erotik von Frauen ist ein komplexes Thema, das sich nicht auf einige statistische Daten beschränken lässt, die die Aspekte der Erfahrung oder Subjektivität des Sexuallebens nicht berücksichtigen und die nicht den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext verdeutlichen, in dem sich diese Aspekte herausbilden.5 Dafür ist es wichtig, über qualitative Informationen zu verfügen, das heißt, die Worte und Stimmen der Frauen zu hören, die die Gestaltung der statistischen Informationen erlauben. Sexualität ist überall, und sie umfasst eine große Komplexität von Situationen, Erlebnissen und Emotionen. Sie ist nicht schwarz oder weiß. Sie wird von einer großen Palette von Grautönen gestaltet, von denen einige sich in diesem Text widerspiegeln, andere aber für zukünftige Denkerinnen bleiben.
Ich habe die unterschiedlichen Informationen aus dem Fragebogen, die statistischen Daten und einen Großteil der Schlussfolgerungen und Ideen mit Bárbara Luque erarbeitet, ohne deren aufmerksame und gewissenhafte Mitwirkung diese Arbeit nicht so sorgfältig und präzise wäre, wie sich sich heute darstellt.
Natürlich gibt es in jeder Altersgruppe viele Themen, über die nicht gesprochen wird. Sexualität ist eines davon, und wenn es um ältere Frauen geht, herrscht totales Schweigen. Eine schwere Stille umgibt das Sexualleben dieser Frauen, obwohl wissenschaftliche Beweise belegen, dass es keinen Grund gibt, anzunehmen, das Alter könnte ihnen, bezogen auf ihre Sehnsüchte und Genussmöglichkeiten, Schwierigkeiten bereiten. Die ersten Forschungen zum Thema Sexualität von Frauen, die von Masters und Johnson durchgeführt wurden,6 bestätigten, dass die Fähigkeit, Sex zu genießen, im Alter nicht abnimmt, obgleich es den Frauen vielleicht nicht so leichtfällt, sie stetig in die Tat umzusetzen, was vielen persönlichen und sozialen Faktoren geschuldet ist, die sich gegen die weibliche Erotik verbünden. Die Allgemeinheit geht nicht nur davon aus, dass das sexuelle Verlangen mit zunehmendem Alter verschwindet, sondern auch davon, dass es verschwinden sollte und dass es unangemessen und verwerflich ist, im Alter noch immer ein aktives Sexualleben zu führen. Außerdem gelten ältere Menschen aufgrund von kulturellen Vorurteilen als sexuell unattraktiv und haben es deshalb schwerer, jemanden zu finden, wenn sie noch Lust verspüren.
Die sensationelle Zunahme der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert hat einen Raum für Erotik im reiferen Alter geschaffen, den man sich früher nie erträumt hätte, und zu einer veränderten Einstellung zur Sexualität geführt. Dennoch ist die gesellschaftliche Annahme, dass ältere Menschen asexuell sind, keine Beziehungen noch Wünsche sexuellen Charakters haben, stark in unserer Kultur verankert, weshalb die Knappheit der Studiengänge nicht überrascht, die diese Facette des Lebens älterer Menschen beleuchten7 – seit eh und je ein Thema, das in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wenig Interesse findet.8
Obwohl es sich um ein Thema von großer Wichtigkeit handelt, ist die Forschung über Sexualität paradoxerweise gebrandmarkt und Opfer von perversen Praktiken der akademischen Lehre, die ihr die Legitimation entzogen und sie zu einer „schmutzigen Arbeit“9 gemacht hat. Dieser Mangel an epistemologischer Beachtung und Respekt betrifft sowohl Forscher*innen in ihrem akademischen Lehrplan als auch die Konstruktion des Wissens in Bezug auf Sexualität.10
Die vorhandenen Studiengänge sind daran gewöhnt, sich mit einem beschränkten Themenbereich auseinanderzusetzen (der Übergangszeit der Menopause, den sogenannten sexuellen Funktionsstörungen und dem Unwohlsein) und schauen dabei normalerweise auf die männliche, weiße, heterosexuelle Bevölkerung der Mittelschicht, während die dunkelhäutige Bevölkerung außer Acht gelassen wird.11 Die Mehrzahl von ihnen versucht, Sexualität mithilfe der Quantifizierung von Häufigkeiten zu verstehen: der des Koitus, der Masturbation und jeglicher anderen sexuellen Praxis, mit Schwerpunkt auf der sexuellen Aktivität in Partnerschaften – in einer Gesellschaft, in der eine beträchtliche Anzahl von älteren Menschen, vor allem Frauen, allein lebt. Der überwiegende Teil der Forschung, die sich mit sexuellen Funktionsstörungen beschäftigt, bietet nur eine teilweise Sicht auf die Komplexität der Erotik in den späteren Jahren und trägt zur Festigung von Stereotypen bei, die daran festhalten, dass Sex nichts für ältere Menschen sei, da diese sich nicht für eine solche Angelegenheit interessieren sollten.12 Sogar ältere Menschen selbst (Opfer ihrer eigenen kulturellen Vorurteile) haben das Gefühl, dass ihre Bedürfnisse unangemessen sind, und schämen sich für sie. Zudem verinnerlichen Frauen die Vorstellung, dass sie aufgrund ihres Alters in sexueller Hinsicht weder attraktiv noch begehrenswert sind,13 und schließen sich selbst aus, da sie glauben, unangebrachte sexuelle Bedürfnisse zu verspüren – ich merke nichts von der Freiheit des Rechtes auf Lust, ich denke, dass die Zeit dafür vorbei ist, sich an Erotik zu erfreuen.
Die grundlegende Auffassung, dass sexuelle Beziehungen reproduktiven Zwecken dienen, führt zu der Annahme, dass Frauen nach der Menopause kein sexuelles Verlangen verspüren – die gesellschaftlichen Zwänge assoziieren das Alter mit dem Verlust der Lust. Wir wurden mit der Vorstellung erzogen, dass ältere Menschen weder Bedürfnisse noch Wünsche haben –, infolgedessen werden sie von jeglicher Auswertung in diesem Bereich ausgeschlossen – was uns dabei im Weg steht, Sexualität auszuleben, sind Vorurteile und die Abwertung der Frau, nachdem sie einmal das fortpflanzungsfähige Alter überschritten hat. Das bedeutet eine Verneinung des Rechts auf Erotik aufgrund des Alters, ein gesellschaftliches Verschwinden – die Unsichtbarkeit, der Glaube, dass ältere Menschen keine Sexualität haben sollten, weil diese sie nicht mehr betrifft –, was äußerst entmutigend ist, da solche Vorurteile unter anderem davon ausgehen, dass in Freiheit ausgelebte Sexualität ausgeschlossen ist – wir erlauben es uns selbst nicht, uns und unseren geliebten Menschen gegenüber zu sagen, was uns gefällt und was nicht, wie und wann es uns gefällt, was den Sex angeht, aber auch, was alles andere angeht.
Das mangelnde Interesse an diesem Thema seitens der Forschung, zusammen mit dem Widerstand älterer Menschen, über ihr Sexleben zu sprechen, hat dazu geführt, dass es keine wahrhaftigen und aufklärenden Informationen gibt. Zur Sexualität von Frauen jeglichen Alters finden sich nur wenige Studien, aber wenn wir uns auf ältere Frauen konzentrieren wollen, stoßen wir auf eines der bestgehüteten Geheimnisse. Zudem macht es der Mangel an Forschungen, basierend auf gesunden Bevölkerungen, schwer, ein verallgemeinerndes Modell der Sexualität im Alter zu entwickeln. Es werden keine Informationen und angemessenen Hilfestellungen für ältere Menschen geboten, die gerne sexuell aktiv bleiben würden. Es ist merkwürdig, dass sich das Stereotyp der Asexualität dieser Generation standhaft in unserer Gesellschaft hält, obwohl es keine empirische Begründung hat und es bereits viele Beispiele von Frauen und Männern in fortgeschrittenem Alter gibt, die sexuell aktiv sind und gesund leben.14 Diese Glaubensvorstellungen spiegeln sich wider im mangelnden Interesse seitens der Ärzte in Bezug auf die sexuelle Aktivität der älteren Generation und im Fehlen einer sozialen und investigativen Politik, die diese Realität respektiert und einbezieht. Aber Vorsicht: Bestimmte übertrieben optimistische Behauptungen können auch neue Mythen über „das Alter und die Sexualität“ zur Folge haben, die sich als genauso unterdrückend für ältere Menschen herausstellen können wie die destruktiven Stereotype.15
Wie Sexualität ausgelebt und praktiziert wird, hängt von unzähligen Aspekten ab, die verschiedene Umstände, die Psyche und die Gesellschaft betreffen. Die komplexen Zusammenhänge zwischen Kultur, Gesellschaft und Älterwerden bestimmen, wie wir uns als „sexuelle Wesen“ im höheren Alter fühlen.16 Ein Wirrwarr aus kulturellen Nachrichten – nicht nur bezogen auf das Alter, sondern auch auf das Geschlecht –, das Körperbild und die Art der aufgebauten Bindungen und Partnerschaften ermutigen entweder die Erotik von älteren Frauen oder entmutigen sie. Die sexuellen Vorstellungen und Praktiken unserer Jugend werden zu einem System von Glaubensvorstellungen, die es mehr oder weniger möglich machen, Sexualität im Alter auf zufriedenstellende Weise auszuleben. Unsere Köpfe und unsere Kultur sind voll von Mythen (die zu Vorschriften werden), kennzeichnend für Vergangenheit und Gegenwart von Frauen und Männern in unserem Land; Mythen, die das Sexleben im Alter ganz offensichtlich stören. Zum Beispiel der Gedanke, dass eine zentrale Rolle bei „Sexualität“ wie „Geschlechtlichkeit“ gleichermaßen dem Koitus zukommt, während andere Praktiken im Spektrum der Möglichkeiten außer Acht gelassen werden, die mehr mit Zuneigung und Sinnlichkeit zu tun haben und die für Frauen von großem Interesse sind. Setzt man Sex mit dem Koitus gleich, scheint es, als wäre dieser das Einzige, was zählt, weshalb sich andere Dimensionen der Lust (Liebkosungen, Zuneigung und Empfindungen ohne den Druck, unbedingt kommen zu müssen) als unbefriedigend herausstellen und sich „nicht wie Sex“ anfühlen. Somit werden andere lohnenswerte Sexualpraktiken ausgeschlossen. Dieses Modell, das sich fest in die kulturelle Vorstellung eingegraben hat, erweist sich als unbefriedigend für Frauen in jedem Alter und als schwer zu erreichen für ältere Herren. Zudem erschwert das heterosexuelle Mandat, das in die „wahre“ (wahrhaftige, authentische) Sexualität eine Beziehung mit einem Mann einschließt (mit dem, um das Maß voll zu machen, eine Liebesverbindung vorausgesetzt wird), die Umsetzung der sexuellen Bedürfnisse von Frauen, insofern sich die Heterosexualität nur um die männliche Lust dreht.17
Vielleicht hat der soziokulturelle Aspekt, der die Sexualität von Frauen im Alter am meisten begrenzt, etwas mit der restriktiven und züchtigenden Erziehung zu tun, die sie erhielten – der Glaube, dass Lust oder Sexualität schlecht oder unmoralisch oder pervers seien. Diese Erziehung zeichnet sich durch einen Informationsmangel und die Aberkennung von allem aus, was die Erotik betrifft – Vorurteile, geringes Wissen über unseren Körper, unsere Wünsche, unsere Emotionen, fehlende sexuelle Aufklärung. Die jüdisch-christliche Moral hat in das Bewusstsein vieler Frauen dieser Generationen die enorme Schwierigkeit eingemeißelt, sexuelle Bedürfnisse zu erkennen und auszuleben – die Erziehung, die wir erhielten, hat uns sehr eingeschränkt. Fehlende Aufklärung in der Erziehung hat zu einem Bewusstsein voller Verbote und Ängste geführt – es kostet viel Überwindung, solche Tabus loszuwerden, mit denen wir gelebt haben. Ebenfalls von großer Tragweite sind Schuldgefühle bezüglich der Selbstbefriedigung, entstanden in einer Kultur, die Masturbation als verwerfliches Verhalten ansieht. Diese Beurteilung der Selbstbefriedigung als schambehaftet und strafwürdig hindert Frauen an der individuellen Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse, auch wenn diese wichtige Praxis sich gerade im fortgeschrittenen Alter als Haupt- oder einzige Lustquelle herausstellen kann.
Die emotionale Erziehung von Frauen schließt auch die Vorstellung mit ein, dass Sex Liebe beinhaltet und voraussetzt. Totaler Quatsch! Der Gedanke, an dem Frauen häufig festhalten, nämlich, dass sie verliebt sein müssten, um Sex zu haben, erschwert die verspielte und situationsbedingte Ausübung ihrer Sexualität. Auch die Annahme, dass ein Mangel an Initiative und sexuellem Interesse für Weiblichkeit steht, hemmt die Suche von Frauen nach sexueller Befriedigung, insbesondere im Alter, da die Gesellschaft von vornherein annimmt, dass Sex Frauen dann ohnehin nicht mehr betrifft. Dieser Glaube ist zutiefst einschränkend und stigmatisierend in dem Maße, wie Frauen, die sich aktiv und an Sex interessiert zeigen, in der Gesellschaft als Schlampen gelten. Andererseits führt die Verbindung zwischen Sex und Mutterschaft, einer der Eckpunkte der katholisch-christlichen Kultur, zu der Annahme, dass die Menopause das berechtigte Ende des Begehrens und in manchen Fällen sogar das Ende der Weiblichkeit bedingt. Eine beträchtliche Anzahl der Frauen, die von den vielen unterschiedlichen Mythen daran gehindert wurden, ihre Sexualität in ihrer Jugend voll auszuleben, macht Gebrauch von diesem Glauben, um einen Aspekt des Lebens als abgeschlossen zu betrachten, der ihnen mehr Unwohlsein als Glück beschert hat – bei diesem Lebensabschnitt angekommen, wollen sie keine Beziehungen mit ihren Partnern mehr aufrechterhalten (als intuitiver und kluger Beweis für ihre selbstbestimmte Sexualität).
Die Mischung, die diesem Glaubenssystem zugrunde liegt, bringt eine belastende Vergangenheit für ein unbekümmertes Erleben der Sexualität mit sich und hat die erotische Erfahrung von Frauen, die heute alt sind, in struktureller Hinsicht eingeschränkt. Das alles verhindert, dass sie in diesem Lebensabschnitt auf ihren Körper und ihre sexuellen Bedürfnisse hören oder sie überhaupt ausmachen können. Die lange Geschichte der sozialen und politischen Kontrolle über den sexuellen Ausdruck hat Abgründe von Ignoranz und Unwissen geschaffen, die es vielen Menschen schwer machen, Sexualität auf befriedigende Weise und mit Gelassenheit auszuleben. Obwohl Sexualität im Hinblick auf die praktische Erfahrung und die Wichtigkeit für die eigene und partnerschaftliche Befriedigung in der modernen Kultur in hohem Maße geschätzt wird , ist es zu Enttäuschungen gekommen, wo es eigentlich einen Bereich der Freiheit geben könnte – vor allem im Alter, in dem man mehr Zeit, mehr Freiheit, mehr Wissen und weniger Einschränkungen jeglicher Art hat.
In unserer Gesellschaft herrscht eine Doppelmoral, die Menschen, was Sex angeht, unterschiedliche Räume und Freiheiten zugesteht. Es ist offensichtlich, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Sexualität, seitdem wir denken können, für Männer anders ist als für Frauen. Den Herren wird die Freizügigkeit zugestanden, als sexuelle Subjekte zu handeln, bereits in jungen Jahren jegliche Art von Beziehungen zu führen, sich aktiv, interessiert und auch mit dringenden Bedürfnissen zu zeigen – während Frauen, die auf ihre eigenen sexuellen Wünsche reagieren, abgewertet und stigmatisiert werden, indem sie mit herabwürdigenden Begriffen bombardiert werden, die man bei Männern unter ähnlichen Umständen nicht benutzen würde. Die Verbindung zwischen Altersdiskriminierung18 und Sexismus unterstützt die Vorstellung, ältere Frauen seien wenig begehrenswert oder ungeeignet als Sexualpartnerinnen, was vor allem diejenigen betrifft, die nicht in einer Partnerschaft leben; für sie entwickeln sich diese Stereotype zu unüberbrückbaren Barrieren.19
Die Ideologie eines doppelten Standards beim Älterwerden (den unsere geliebte Susan Sontag anprangerte)20 geht davon aus, dass das Älterwerden eine graduelle sexuelle Diskreditierung für Frauen in unserer Gesellschaft mit sich bringt, bei der „die Frauen älter werden, während die Männer reifen“. Außerdem haben die soziale Annahme über den Körper der Frau als Objekt der Begierde und die hohen Erwartungen an Attraktivität und Körperverständnis einen negativen Einfluss auf die weibliche Selbstwertschätzung im Prozess der Alterung. Definitiv hat die Gesamtheit der unzähligen und unterschiedlichen Doppelkodizes seit eh und je die Fähigkeit der Frauen erstickt, Verlangen als legitimen Teil ihres Sexlebens zu erfahren. Dies führt dazu, dass sie sich immer mehr von ihrer Lust entfernen, der Führung in der Sexualität entsagen und das Verlangen außerhalb ihrer persönlichen Erfahrung platzieren.21 Vereint behindern all diese Elemente den erotischen Ausdruck von Frauen und haben verheerende Konsequenzen für Frauen im Alter, wenn man davon ausgeht, dass das Älterwerden oft einen Verlust der Möglichkeit zu mehr oder weniger regulären sexuellen Kontakten zur Folge hat, die anerkannt, akzeptiert und nicht stigmatisiert werden.
Dies ist für viele Frauen ein realistisches Zukunftsszenario und zeigt deren gesellschaftliche Unsichtbarkeit sowie die Schwierigkeit, neue Bereiche der Freude zu finden – bedauerlicherweise merke ich immer mehr, dass man ab 50 nicht mehr interessant für die Männer ist, die man sexuell anziehend findet. Das ist eine sehr unangenehme und entmutigende Tatsache. Frauen müssen sich mit den sozialen Aspekten, die ihr Sexualleben begrenzen, auseinandersetzen – die Gesellschaft sollte offener sein für sexuelle Verhältnisse außerhalb der Partnerschaft. Die soziale Ausgrenzung geht nicht an ihnen vorbei; sie haben Schwierigkeiten, einen Partner zu finden, und sehen sich sexuellen Beschränkungen und einer Unsichtbarkeit in unserer jugendlichen Gesellschaft ausgesetzt – ich habe seit geraumer Zeit keinen festen Partner und es deprimiert mich, festzustellen, dass ich anfange, für Männer im Allgemeinen und erst recht für die in meinem Alter unsichtbar zu sein. Einige verzweifelte Worte deuten ganz klar die wahrgenommene Unmöglichkeit an, seine Sexualität auch noch im Alter zu genießen – wenn es möglich wäre, was ich nicht glaube, würde ich gerne einen Sexpartner finden wie den, den ich bis zum 50. Lebensjahr hatte. Aber das scheint zurzeit schwierig zu sein. Ein sexueller Wunsch, der sich in der einfachen Möglichkeit darstellen kann, Sex zu haben – ihn zu leben, sexuelle Verhältnisse haben zu können. Gedanken und Bedürfnisse, die auch ältere Menschen verspüren – ich würde gerne einen Partner finden, mit dem ich Küsse und Zärtlichkeiten austauschen und ein sexuelles Verhältnis eingehen kann. Sie erwarten wirklich nicht viel, aber ihre Worte spiegeln die Lust auf Haut wider, die Sehnsucht nach einem Kontakt, der sie zu ihrem eigenen Körper zurückbringt. Oder einfach zu wissen, zu spüren, bestätigt zu bekommen, dass es nicht unmöglich ist – dass es existiert, dass es gegeben wird –, fordert eine über 80-jährige Frau und zeigt das Ausmaß des Wunsches nach Kontakt. Homosexuelle Frauen haben es da auch nicht leichter – ab 50 eine lesbische Partnerin zu finden, ist sehr schwer.
Hat man einmal die Menopause hinter sich, ist das Thema der gemeinsamen Sexualität keine einfache Angelegenheit in dieser alternden Gesellschaft, wie wir sehen. Neben der Schwierigkeit, jemanden kennenzulernen, beklagen manche Frauen, dass es problematisch sei, sexuelle Beziehungen aufrechtzuerhalten, wegen der persönlichen Eigenschaften der Männer, die vom Alter her zu ihnen passen, die aber Produkte einer sexistischen Erziehung seien und folglich wenig Anregendes zu bieten hätten – ich unterhalte sexuelle Beziehungen, wenn ich mit meinem Partner auf einer Wellenlänge bin. Das ist selten der Fall, weil die Herren in meinem Alter die Franco-Ära erlebt haben und extreme Machos sind. Auch kann man sich nicht einfach allem widersetzen – die Gesellschaft bestraft das Begehren außerhalb der Partnerschaft. So viele verschiedene Begrenzungen.
Das ungeheure soziale, kulturelle und religiöse Tabu in Bezug auf die Sexualität hat uns im Laufe der Geschichte zum Schweigen gebracht. Wir haben das Geheimnis der Sexualität so tief verinnerlicht, dass wir nicht flüssig und wie selbstverständlich über unsere diesbezüglichen Erlebnisse und Erfahrungen sprechen können – nicht einmal gegenüber den Menschen, die uns am nächsten stehen. Leichter scheint es uns zu fallen, theoretisch oder aus der Distanz über dieses Thema zu reden. Das theoretische Modell zur Sexualität im Alter geht davon aus, dass wir ab dem Zeitpunkt, da wir nicht mehr für die Fortpflanzung zuständig sind, asexuell werden. Schweigen garantiert dieses gesellschaftliche und sexuelle Verschwinden, da wir bereits wissen, dass das, worüber man nicht spricht, auch nicht existiert – ältere Frauen haben keine Sexualität, und der Beweis dafür ist, dass man nicht darüber spricht. Wenn sowieso angenommen wird, dass sie asexuell sind, ist es nicht notwendig, darüber zu reden, zu ermitteln, Theorien aufzustellen oder zu forschen – es ist das erste Mal, dass mich jemand nach meiner eigenen Sexualität fragt. Es hat mich nie jemand gefragt, ob ich manchmal masturbiere, niemand! Nie!
Wir Frauen sind sehr erfahren in Sachen Kommunikation. Unsere Mütter haben uns die Kunst der Intimität und des verbalen Austauschs gelehrt, doch wir nutzen diese nicht, um uns über sexuelle Emotionen auszutauschen. Es scheint uns leichter zu fallen, über Gefühle zu sprechen, als das Thema der Sexualität anzugehen – wir können besser über Gefühle sprechen als über die Sexualität, weil wir sie sicherlich mit dem gleichsetzen, was am meisten verboten ist. Zudem erweist es sich als bequemer, Gesprächspausen, auf Mitgefühl hoffend, mit Themen wie körperlichem oder psychischem Unbehagen zu füllen, während die Sexualität im Limbus des Schweigens zurückbleibt. Erotik gehört für uns einem so intimen Bereich an, dass man sie nicht in Umlauf bringen darf – ab einem bestimmten Alter fühlen sich Frauen dazu verpflichtet, über ihren Körper nur in Bezug auf Krankheit und nicht in Bezug auf Lust zu sprechen. Diese Art ist in der Gesellschaft erlaubt. Sie können über ihr Unwohlsein reden, ohne schlecht angesehen zu werden, und sie hätten nie den Mut, stattdessen zu sagen: „Ich habe es mir gut gehen lassen, gevögelt, hatte zwei Orgasmen …“ So sähe kein annehmbares Gespräch aus. Es stellt sich als schwierige Aufgabe heraus, im Alter ein Gespräch über ein Thema zu normalisieren, das seit der Kindheit als Tabu verinnerlicht wurde. Hinter uns liegt eine lange Geschichte des Schweigens – darüber spricht man nicht. Nicht nur mit 60, 70 oder 80 Jahren, ich habe auch nicht mit 20 oder 50 Jahren darüber gesprochen, ich habe nie darüber gesprochen. Es ist ein komplett totgeschwiegener, stummer Bereich. Wenn man sich bei manchen Themen unwohl fühlt, weiß man nicht, wie man das Gespräch diesbezüglich am Laufen halten soll. Man zieht die abstrakte Ebene der praktischen Umsetzung in der persönlichen Erfahrung vor – wir reden nie übers Vögeln oder über Orgasmen, die wir hatten oder nicht … Jede von uns tut so, als würde sie es auf ihre Weise regeln, und wenn wir dann zusammen sind, unterhalten wir uns lieber über Gott und die Welt. Es wird nicht über Sexualität gesprochen, weil wir in keinem Alter über einen normalisierten Diskurs darüber verfügen. Trotz der enormen Fortschritte auf allen Gebieten könnte es sein, dass sich dies in den folgenden Generationen nicht ändert – es stimmt, dass es keinen Diskurs über die Sexualität von älteren Frauen gibt, aber ich möchte gerne anmerken, dass es auch keinen Diskurs über die Sexualität von jungen Frauen gibt. Wir haben also noch einen langen Weg vor uns. Dennoch haben die großen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre einen größeren Weitblick begünstigt und vor allem dafür gesorgt, dass man mit mehr Verständlichkeit und Freiheit über dieses Thema sprechen kann – ich denke, dass die Stille etwas gebrochen wurde und wir uns langsam frei machen, um darüber zu sprechen. Die Erziehung und die erkämpften Freiheiten haben den Raum für Kommunikation geöffnet, wobei das Alter, paradoxerweise, eine Chance darstellt – ich habe festgestellt, dass Frauen umso gelöster sprechen, je älter sie werden … Hoffentlich müssen wir nicht erst 90 werden, um unsere Schamhaftigkeit zu verlieren. Einer der vielen Vorteile des Alters.
Wie können wir diesen Zustand durchbrechen? Die Stille birgt Gefahren, was Herrschaft und Unterwürfigkeit in der sexuellen Liebesbeziehung zwischen Frauen und Männern angeht. Die einzige Lösung ist also, darüber zu reden. Über Erfahrungen, Wünsche, Bedürfnisse zu reden, sodass wir einen Diskurs mit unseren eigenen Worten erschaffen können. Einen mächtigen und autonomen Diskurs – wir müssen über unsere Erfahrungen sprechen und sie teilen, weil sie, wenn sie im Dunkeln bleiben, manipuliert werden können und wir denjenigen ausgeliefert sind, die wir lieben