Okay, danke, ciao! - Katja Hübner - E-Book

Okay, danke, ciao! E-Book

Katja Hübner

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Beschreibung

Knapp eine Million Menschen in Deutschland ist wohnungslos. Viele leben dauerhaft auf der Straße und sind obdachlos. Passanten, die an ihnen vorbeieilen, gucken betreten oder im schlimmsten Fall angewidert weg. Nicht so Katja Hübner. Als sie im Mai 2017 im Hamburger Schanzenviertel einem hilflosen jungen Mann begegnet, schaut sie genauer hin und merkt schnell, dass hier jemand Hilfe braucht. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie keine Ahnung vom Leben auf der Straße. Sie weiß auch nicht, wie man einem Obdachlosen hilft. Oder ob das überhaupt erwünscht ist. Das hält sie jedoch nicht davon ab, ihre Hilfe anzubieten. Damit rettet sie ein Leben.

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Das Buch

Knapp eine Million Menschen in Deutschland ist wohnungslos. Viele leben dauerhaft auf der Straße und sind obdachlos. Passanten, die an ihnen vorbeieilen, gucken betreten oder im schlimmsten Fall angewidert weg. Nicht so Katja Hübner. Als sie im Mai 2017 im Hamburger Schanzenviertel einem hilflosen jungen Mann begegnet, schaut sie genauer hin und merkt schnell, dass hier jemand Hilfe braucht. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie keine Ahnung vom Leben auf der Straße. Sie weiß auch nicht, wie man einem Obdachlosen hilft. Oder ob das überhaupt erwünscht ist. Das hält sie jedoch nicht davon ab, ihre Hilfe anzubieten. Damit rettet sie ein Leben.

Die Autorin

Katja Hübner, in Darmstadt geboren, studierte in Würzburg Kommunikationsdesign und führt heute die Agentur Kommune Art in Hamburg. Hier betreut sie als Grafikerin zahlreiche Kunden aus der Musikbranche, unter anderem Udo Lindenberg, für den sie seit Jahren die Albumcover gestaltet. Katja Hübner lebt mit ihrer Tochter und ihrem Partner im Hamburger Schanzenviertel, unweit der Grünanlage, in der sie Marc erstmals begegnet ist.

KATJA HÜBNER

Okay,danke,ciao!

Eine Geschichteüber Freundschaft undObdachlosigkeit

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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@heyne.hardcore

Copyright © 2020 by Katja Hübner

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Loel Zwecker

Der Abdruck des Textes erfolgt mitfreundlicher Genehmigung von Die Brücke, Lübeck.

Umschlaggestaltung und -motiv:Johannes Wiebel | punchdesign, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com(Vertyr, Vladimir Sviracevic, Bojanovic, bessyana, Paladin12)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-26003-3V001

www.heyne-hardcore.de

Prolog

Anfang Mai 2017 begegnete ich einem einsamen jungen Mann auf einer Hundewiese mitten im Hamburger Schanzenviertel, rund dreihundert Meter von meinem Zuhause entfernt. Sein Name lautet Marc, und damals lebte er auf der Straße. Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass Marc sich nicht realitätsgerecht verhielt, offenbar an einer Psychose litt. Und irgendwann fühlte ich mich für diesen verlorenen Menschen verantwortlich.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung vom Leben auf der Straße und wusste so gut wie gar nichts über psychische Erkrankungen. Ich arbeite als Grafikerin für die Musikbranche und wohne zusammen mit meinem Freund Frank und unserer Tochter Paulina.

Aus dieser ersten Begegnung im Schanzenviertel ist eine Geschichte entstanden, die meinen Blick auf vieles verändert hat. Im Positiven wie im Negativen. Die mir aber auch jegliche Berührungsängste gegenüber psychisch Erkrankten genommen hat.

Im Herbst 2017 begann ich, all das aufzuschreiben. Weil ich spürte, dass nichts mehr alltäglich war, und Dinge passierten, die ich einerseits teilen, mir aber auch einfach von der Seele schreiben wollte. Marcs Familiengeschichte lasse ich im Folgenden bewusst außen vor, denn ich möchte mir nicht anmaßen, diese zu beurteilen oder zu interpretieren. Marc weiß, dass es dieses Buch geben soll, und ist damit einverstanden.

1. Tortillachips zum Frühstück

Mai bis Juni 2017

Kurz noch eine rauchen. Der Friseur winkt mir durchs Fenster zu, ich habe gleich einen Termin. In diesem Moment geht ein junger Typ mit Carhartt-Hose, Parka und Norwegermütze an mir vorbei. Er hat asiatische Gesichtszüge, bewegt sich auffallend langsam und wirkt irgendwie abwesend. Plötzlich bleibt er stehen, bückt sich und hebt eine Zigarettenkippe vom Boden auf. Ich bin kurz irritiert und betrete den Friseursalon. Ein sonniger Tag Anfang Mai.

In den kommenden Wochen sehe ich diesen jungen Mann immer wieder. Jedes Mal hat er die Kapuze seiner Jacke über seine Wollmütze gezogen, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Wie das Wetter ist, scheint ihm egal zu sein. Entweder liegt er auf der Wiese neben dem Friseur, oder er läuft die Schanzenstraße auf und ab, den Blick stets auf den Boden gerichtet. Von Woche zu Woche wirkt er ungepflegter, die Fingernägel sind lang und bräunlich gelb verfärbt, bald nehme ich seinen Geruch schon aus einigen Metern Entfernung wahr.

In Hamburg sind Obdachlose ein alltäglicher Anblick. Viele campen in Parks, andere suchen Unterschlupf in Hauseingängen oder U-Bahn-Schächten. Es fällt schwer, nicht abzustumpfen, man hat sich an den Anblick gewöhnt. Warum mir nun ausgerechnet dieser Typ nicht aus dem Kopf geht, weiß ich nicht.

Als ich eines Tages auf dem Weg zur Arbeit bin, sehe ich ihn mal wieder bewegungslos – den Blick gen Himmel gerichtet – auf der Wiese liegen.

Ich gehe zu ihm und frage:

»Ist alles okay?«

Er setzt sich auf, schaut mich mit freundlichen Augen an und antwortet mit erstaunlich sanfter Stimme:

»Alles super. Hast du eine Zigarette?«

»Ja klar«, sage ich und frage, ob ich kurz bleiben darf.

»Klar.«

Wir rauchen zusammen, und ich spüre, dass er nicht weiter mit mir reden will. Also verabschiede ich mich und gehe.

Von nun an halte ich jedes Mal bei ihm an. Ich erfahre, dass er Marc heißt, siebenundzwanzig Jahre alt und der Sohn eines Deutschen und einer Indonesierin ist. An guten Tagen, wenn seine Augen klar sind, fragt er mich, woher ich gerade komme, oder will wissen, wie es mir geht. An schlechten Tagen, wenn er unbewegt auf den Boden starrt, fragt er nur nach Zigaretten und sagt eintönig »Danke«. Ich versuche trotzdem, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Manchmal lässt er sich auf ein Gespräch mit mir ein. Wann und ob das passiert, lässt sich im Voraus nie genau sagen. Also übe ich mich in Geduld.

»Warum sitzt du hier so alleine?«, frage ich ihn, während wir nebeneinander auf seiner Bank sitzen. »Das ist nicht gut. Gibt es denn nicht irgendwo jemanden, der dich vermisst?«

»Doch, schon«, antwortet er.

Und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Aber das ist jetzt auch egal.«

»Nein, das ist nicht egal«, sage ich. Aber Marc geht nicht weiter darauf ein.

»Okay, danke, ciao.«

Obwohl er mir so deutliche Zeichen gibt, mich immer wieder wegschickt, sobald ich zu viel frage, lasse ich nicht locker. Schon am nächsten Tag frage ich weiter:

»Was ist denn nur los mit dir? Du wirkst, als hättest du auf der letzten Party zu viele Drogen genommen.«

Marc starrt unbewegt vor sich hin.

»Das kann passieren«, sage ich. »Das kommt schon wieder in Ordnung. Du solltest dir im Krankenhaus helfen lassen.«

Keine Antwort. Stattdessen fragt er nach einer Pause:

»Hast du noch eine Zigarette?«

Ich halte ihm meine Packung hin, er nimmt sich eine und sagt:

»Okay, danke, ciao!«

Marc besitzt nichts. Gar nichts. Sein Essen holt er sich aus Mülltonnen, seine Kippen sammelt er vom Boden auf. Ab und zu legen ihm Anwohner eine Decke auf die Wiese. Diese Wiese und die Bank scheinen für Marc der einzige Ort zu sein, an dem er sich sicher fühlt. Das scheint ihm wichtiger zu sein, als sich vor Regen zu schützen. Eigentlich absurd, denn diese Hundewiese ist alles andere als beschaulich. Kaum fünfhundert Quadratmeter groß, bestückt mit drei, vier Bänken, direkt an einer stark befahrenen Straße gelegen. Vier große alte Bäume stehen hier, am hinteren Ende befindet sich eine Rhododendronhecke. Zweimal im Jahr kommen Angestellte der Stadt vorbei und mähen diesen großen Rasenfleck voller Hundekot.

Marcs Lage erscheint mir vollkommen unmenschlich. In den ruhigen Momenten des Tages denke ich an ihn. Wie kann ich zusehen, wenn ein offenbar einsamer junger Mensch kaum dreihundert Meter von meiner Wohnung entfernt völlig alleine auf einer Wiese sitzt? Wie kann ich achtlos Geld ausgeben für Taxifahrten oder das zehnte Paar Schuhe? Wie kann ich überflüssiges Essen wegwerfen, wenn er zeitgleich in der Mülltonne wühlt?

Am nächsten Tag packe ich eine Tüte mit Essen und Getränken und suche Marc. Ich treffe ihn in der Schanzenstraße. Er freut sich offenbar, mich zu sehen, und fragt:

»Hey, wie gehts?«

Dann will er mich tatsächlich umarmen. Dieses Links-/Rechts-Ding. Aber er riecht so schlimm. Ich reiße mich zusammen und lasse es zu. Er fragt:

»Hast du eine Zigarette?«

Ich gebe ihm eine und frage zurück:

»Sind wir Freunde?«

Marc sagt: »Klar sind wir Freunde.«

Ich drücke ihm meine Tüte in die Hand.

»Ich will nicht, dass meine Freunde Müll essen.«

Mit diesem Satz habe ich ihm etwas Würde schenken wollen, und gleichzeitig war er auch ernst gemeint. Natürlich wird das eine ungleiche Freundschaft, aber ich merke schon jetzt, dass ich diesen einsamen Menschen nicht einfach wieder seinem Schicksal überlassen kann.

Von nun an bringe ich Marc täglich Verpflegung. Morgens ein Getränk und belegte Brötchen, abends packe ich die Beutel dann schon fast übertrieben liebevoll zusammen. Immer ein Stück Obst und einen Schokoriegel, mal Kartoffelsalat und Würstchen, mal Nudeln mit Tomatensoße, jeden Tag etwas anderes, es soll abwechslungsreich sein. Manchmal erscheint es mir selbst sinnlos, aber die Hilfe, die eigentlich gefragt wäre, nämlich ein Dach über dem Kopf, ein Bett im Trockenen oder Unterstützung durch psychiatrisches Fachpersonal, scheint für Marc keine Option zu sein.

Gerade in dieser Anfangszeit beschäftigt mich Marcs verwahrloster Zustand sehr. Vielleicht weil diese äußere Verwahrlosung sichtbarer ist als die innere – und weil Hilfe hier einfacher möglich scheint. Eines Morgens packe ich zu Hause unsere Nagelschere ein und nehme sie mit auf die Wiese. Ich halte ihm die Schere hin und sage:

»Ich glaube, du solltest dir mal die Fingernägel schneiden.«

Er sieht auf seine Hände, nimmt die Schere und antwortet:

»Ja, mache ich später.«

»Gut«, sage ich, »heute Abend möchte ich sie gerne wiederhaben.«

Auf meinem Weg zur Arbeit überlege ich, ob ich diese Schere später desinfizieren oder dann doch lieber entsorgen sollte.

Doch auch diese Gedanken waren umsonst, wie ich abends auf der Wiese feststellen muss. Schon von Weitem sehe ich Marc in lässiger Haltung auf der Bank sitzen. Ich gehe zu ihm und reiche ihm die tägliche Essenstüte.

»Oh, danke«, sagt er und legt sie neben sich auf die Bank.

Ein Blick auf seine Hände lässt mich erschaudern. Blutverkrustete Fingerspitzen an beiden Zeigefingern. Die Fingernägel wurden offenbar abgerissen. An den übrigen Fingern sind immer noch lange gelbe Nägel.

»Was hast du denn da gemacht?«, frage ich und zeige auf seine Hände.

»Äh, nichts.«

»Tut das nicht weh?«

»Nein, nein, das geht schon.«

»Okay … Wo ist denn die Nagelschere?«

»Die liegt da drüben.« Marc geht zielsicher über die Wiese, bückt sich und hebt die Schere auf.

»Ich nehme die jetzt wieder mit«, sage ich und packe sie in meine Tasche. Und beschließe, die Sache mit den Fingernägeln erst einmal hintanzustellen.

»Das Ganze geht dir viel zu nah«, warnt mich eines Tages mein Freund Frank. »Du wirst in dieser Sache gar nichts erreichen.« Aber auch er weiß: Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, lasse ich mich von niemandem davon abbringen.

Allerdings bin ich tatsächlich etwas überempathisch. Wenn es Menschen in meinem Umfeld schlecht geht, leide ich jedes Mal mit. Was zunächst sympathisch klingen mag, aber niemandem etwas bringt. Ich kann Franks Bedenken also durchaus verstehen. Doch es ändert nichts an meinem Verhalten.

Marc ist ein höflicher Mensch. Er bedankt sich immer, wenn ich ihm etwas mitbringe. Aber den zwischenmenschlichen Kontakt kann er nie lange ertragen. In der Regel steht er schon nach wenigen Minuten auf, sagt sein übliches »Okay, danke, ciao« und geht weg. Bei einem unserer nächsten Treffen spreche ich ihn darauf an:

»Sag mir einfach, wenn ich dich alleine lassen soll. Es ist schließlich deine Bank und deine Wiese.«

»Okay, danke, ciao.« Ich gehe weiter.

Am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit sehe ich Marc schon von Weitem mitten auf der Wiese sitzen. Er hat eine Tüte Tortilla-Chips in der einen und ein Glas Chili-Dip in der anderen Hand. Ich lege die Tüte mit Frühstücksbrötchen neben ihn ins Gras und setze mich.

»Hey, wie gehts?«, begrüßt er mich. Offenbar hat er gute Laune.

»Mir gehts gut, dir auch?«, antworte ich.

»Ja, alles super«, sagt er und hält mir die Chipstüte und den Dip entgegen. »Willst du auch?«

»Nein danke, ich habe gerade gefrühstückt«, antworte ich mit Blick auf seine langen, dreckigen Fingernägel. Für eine Zigarettenlänge bleibe ich noch bei ihm im Gras sitzen, dann verabschiede ich mich.

»Ich muss zur Arbeit. Heute Abend komme ich wieder.«

»Okay, danke, ciao.«

Im Büro angekommen, bestimmen dann wieder recht gegensätzliche Themen meinen Tag. Als Grafikerin für die Musikbranche kümmere ich mich seit über zehn Jahren um alle Artworks für Udo Lindenberg. Diese Zusammenarbeit ist besonders und unterscheidet sich von der mit anderen Künstlern, weil Udo ein so außergewöhnlicher Mensch ist. Er hat kein Management und regelt alles selbst. Er beantwortet jede SMS, bevorzugt nachts. Und wenn nach der hundertsten Änderung des Cover-Artworks immer noch nicht alles passt, tauscht er seinen Hut gegen eine Baseballkappe, macht sich auf den Weg und klingelt sonntagnachmittags an meiner Wohnungstür. Trotz seiner pedantischen, detailverliebten Art ist er dabei stets charmant und verschickt mit Vorliebe Zylinder-, Küsschen- und Raketen-Emoticons. Und genau wie Marc sagt er immer höflich Danke.

In diesem Sommer 2017 geht er auf bundesweite Stadiontour. Gemeinsam mit dem Team seiner Plattenfirma werde ich ihn bei vielen seiner Shows begleiten. München, Köln, Berlin, Hannover, Düsseldorf. Viele Bahnfahrten und Flüge, viele Hotels, viele Backstage-Partys. Shuttle-Service, feinstes Catering und auf den Partys Prominente in Hülle und Fülle. Eigentlich ist das nicht meine Welt. Genauso wenig wie meine neue selbst erwählte Berufung als »Streetworkerin«.

Jetzt im Juni steht die erste Show an, und ich merke, wie sich Unruhe in mir breitmacht. Marc wartet inzwischen täglich auf seine Tüten, er verlässt sich auf mich. Kann ich ihn enttäuschen, frage ich mich und gebe mir selbst die Antwort: Ja, ich muss. Mein Leben darf sich nicht komplett an Marc ausrichten. Das wäre ungesund.

»Marc«, sage ich beim nächsten Wiedersehen, »ich bin Dienstag und Mittwoch in München, da kann ich dir nichts bringen.«

»Ah, wirklich, München?«

Ich gebe ihm zwölf Euro und ein Päckchen Zigaretten. »Damit musst du für zwei Tage klarkommen, okay?«

»Ja, okay. Danke, ciao.«

Am Morgen des 17. Mai geht mein Flug nach München. Udo feiert seinen siebzigsten Geburtstag und spielt zwei Stadionkonzerte. Gemeinsam mit der Crew habe ich ein Geschenk für ihn organisiert: einen von uns gestalteten Tischkicker. Den soll er heute Abend vor der Show überreicht bekommen.

Ankunft in meinem Hotel. Ein modernes helles Doppelzimmer mit bodentiefer Dusche, die man vom Schlafzimmer aus einsehen kann. Mit dem Taxi geht es zum Stadion, wo mein Backstage-Ausweis schon bereitliegt. Die Atmosphäre hinter der Bühne ist ziemlich aufgekratzt, zur üblichen Aufregung kommt heute noch Udos Geburtstag dazu. Während auf der Bühne noch geprobt wird, gehe ich zum Catering, freue mich über das leckere Essen und treffe einige alte Bekannte.

Die »Zarin«, seit Anbeginn der Zeit Udos Make-up- und Styling-Frau, erklärt uns, er habe sich zum Geburtstag gewünscht, dass sie uns alle dramatisch schminkt, und legt gleich damit los. Rita, die A-&-R-Frau, scheint plötzlich zur Adams Family zu gehören, Hans Otto, mein Lieblings-Marketing-Mann hat angsteinflößende schwarze Balken im Gesicht, und ich bekomme einen Drama-Look verpasst, der selbst mich erstaunt, als ich anschließend in den Spiegel schaue.

Gleich ist es so weit: Udos Kicker wird enthüllt. Die einhundertzwanzig Mann starke Crew jubelt, Udo scheint sich ehrlich zu freuen, wir singen ihm ein Lied, und ich bin gerührt. Dann das Konzert: Udo tänzelt zweieinhalb Stunden über die Bühne, rennt, springt und fliegt als Astronaut über sein Publikum hinweg. Außerirdische übernehmen die Bühne, Gaststars treten auf – Udo liebt die ganz große Show, und sie gelingt ihm immer wieder.

Die anschließende Geburtstagsparty findet – eigentlich nicht Udo-like, aber wir sind ja in München – gemeinsam mit Sponsoren im Hotel »Vier Jahreszeiten« statt. Der Geschäftsführer des Hotels begrüßt jeden von uns per Handschlag. Innen dann eingedeckte Tische, gewaltige Kronleuchter, dicke Teppiche.

Die Münchner Schickeria wartet schon. Es gibt sie wirklich immer noch. Wie Karikaturen ihrer selbst stehen sie da mit ihren Champagnergläsern, lächerlich aufgespritzten Lippen und goldenen Rolex und mustern uns aus den Augenwinkeln.

Ich setze mich mit Hans Otto an einen der Tische.

»Hans Otto, das ist das Grauen«, stöhne ich.

»Ach komm, es gibt Schlimmeres«, sagt Hans Otto, greift sich zwei Gläser mit Champagner und zieht einen Aschenbecher zu uns rüber.

»Wir haben völlig vergessen, uns abzuschminken«, sage ich mit Blick auf seine irren schwarzen Balken im Gesicht.

»Nee, das haben wir nicht vergessen. Weißt du, was? Genau so fühle ich mich hier richtig.«

Für diesen Satz muss man ihn einfach lieben.

Udo betritt den Raum, und wie immer sind alle Augen auf ihn gerichtet. Die Botox-Truppe geht in Stellung. Die Prominenten-Töchter greifen sich das Geburtstagskind für ein Selfie. Ich höre ihn Höflichkeiten nuscheln und freue mich über Ina, die angepunkte blonde Sängerin, die auf der Tour einige Songs mit Udo performt. Sie setzt sich vor uns auf den luxuriösen Teppich und stößt mit uns an.

Im Hintergrund kann ich sehen, wie Udo sich bei den Münchner Damen entschuldigt und zu uns rüberkommt. Auch er setzt sich auf den Teppich und macht ein paar sexy Showmoves mit Ina. Die verlassenen Damen beobachten die Szene entsetzt, und ich fühle mich plötzlich unfassbar gut mit meinem miesen Drama-Styling.

Zurück in Hamburg, es regnet schon seit Tagen. Und das mitten im Sommer. Marcs Wiese steht komplett unter Wasser, sein nasser Schlafsack liegt im Matsch. Ich suche ihn und finde ihn wie so häufig auf der Schanzenstraße. Er ist völlig durchnässt.

»Will rauchen«, sagt er.

Wenn es regnet, sind die Kippen auf der Straße alle nass. Zum ersten Mal sehe ich Verzweiflung in seinem Blick. Seine Schuhe sind vollkommen kaputt, beide Sohlen haben sich abgelöst, bei jedem Schritt klappen sie auf und verursachen ein schmatzendes Geräusch auf der nassen Straße. Er tut mir in diesem Moment unfassbar leid.

Ich stehe vor ihm und versuche, ihn dazu zu überreden, sich irgendwo unterzustellen.

»Nein. Danke, ciao«, sagt er nur und läuft in Richtung Wiese.

So geht das nicht, denke ich und laufe ihm hinterher. Als wir beide bei seiner Bank angekommen sind, versuche ich es noch mal:

»Wollen wir gemeinsam zu einem Waschsalon gehen und deine Sachen waschen und trocknen?«

Marc denkt kurz nach. »Ja, okay, das mache ich«, antwortet er.

Nie hätte ich gedacht, dass er sich darauf einlässt. Wir gehen also nebeneinander durch den strömenden Regen, begleitet von irritierten Blicken der Passanten.

Auch im Waschsalon werden wir angeekelt gemustert. Ich kann die Leute verstehen. Wer möchte schon seine Bettwäsche in einer Waschmaschine waschen, in der vorher stinkende Klamotten eines Obdachlosen gereinigt wurden? Marc setzt sich auf einen Plastikhocker, das Schmutzwasser tropft von seinen Klamotten auf den Boden. Hektisch ziehe ich Waschpulver am Automaten.

»Gib mir deine Jacke«, sage ich zu Marc.

»Ich kann sie nicht ausziehen«, sagt er und starrt zu Boden. »Kannst du mir eine Zigarette geben? Ich will jetzt erst mal eine rauchen.«

So stehen wir wieder auf der Straße im Regen, inzwischen sind wir beide nass. Gegenüber ist ein Laden mit Jacken im Schaufenster. Ich frage Marc, ob er denn die Jacke ausziehen könnte, wenn ich ihm eine neue kaufen würde. Vielleicht habe ich so ja mehr Erfolg. Er bejaht, also betreten wir den Laden. Zwei getunnelte Hipster-Verkäufer reagieren betont unbeeindruckt. Ich sage:

»Wir brauchen einen großen Parka mit Kapuze, bitte.«

Marc entdeckt einen Spiegel und beginnt, an seinem alten Parka herumzunesteln. Unter seinem Kinn hat sich der Reißverschluss verhakt, es will ihm einfach nicht gelingen, das nasse stinkende Teil auszuziehen. Verzweifelt schaut er wieder in den Spiegel. Was nun? »Aufreißen«, ruft er und schafft es, mit einem Ruck den Reißverschluss zu öffnen. Die Jacke lässt er zu Boden fallen. Erst jetzt sehe ich, dass er darunter noch eine zweite Winterjacke trägt, die ebenfalls durchnässt ist. Der Gestank ist unerträglich, doch die Hipster tun so, als würden sie es nicht bemerken.

Marc bekommt eine neue Jacke gereicht, er zieht sie einfach über die alte, und ich bezahle. Er besteht darauf, den nassen alten Parka mitzunehmen. Er will nicht, dass ich ihn wasche oder trockne. So trennen sich unsere Wege: Marc mit seiner stinkenden Jacke in einer Tüte stapft wieder durch den Regen, und ich gehe nach Hause, um mich umzuziehen.

Abends regnet es immer noch. Als ich nach Marc sehen will, sitzt er wieder auf seiner Bank, er ist noch immer klatschnass. Über die neue Jacke hat er den alten Parka gezogen. Macht jetzt drei Jacken plus Pullover. Ich spüre Resignation in mir aufsteigen, aber was hatte ich denn erwartet? Eigentlich wusste ich ja, dass er sich wieder in den Regen setzen würde. Der Jackenkauf war eine hilflose Aktion. Der Versuch, wenigstens irgendetwas zu verbessern. Zum ersten Mal kaufe ich Marc ein Päckchen Zigaretten und stelle ihm ein Paar alte Arbeitsschuhe meines Freundes vor die Bank. Immerhin, er zieht sie an. Und raucht.

Die nächste Station auf Udos Tour ist Berlin. Ich fahre mit dem Zug, spare mir das Hotel und schlafe bei Freunden in Kreuzberg, die gerade im Urlaub sind. Udo wird an zwei Abenden hintereinander auf der Waldbühne auftreten. Auch in Berlin regnet es.

Den ersten Nachmittag überbrücke ich die Zeit bis zum Abend auf dem überdachten Balkon der Drei-Zimmer-Altbauwohnung. Ich fühle mich einsam, der Regen prasselt auf das Kopfsteinpflaster, und ich weiß nichts mit mir anzufangen. Schließlich reiße ich mich zusammen, dusche, mache mich fertig und fahre zur Waldbühne. Die Location ist wunderschön, und dieser kitschige Moment, wenn zweiundzwanzigtausend Menschen ihre Feuerzeuge leuchten lassen, während Udo »Hinterm Horizont« performt, ist sehr berührend.

Im Backstage-Bereich wird es plötzlich hektisch. Bei »Rock am Ring« wurde eine Person mit Sprengstoff verhaftet, deswegen ist jetzt auch hier höchste Alarmstufe. In Zivil gekleidete Sicherheitsmänner schreiten jeweils zu zweit die Zuschauerreihen ab, und ich fühle mich unwohl.

Dann ist das Konzert vorbei. Wir werden in einem der Tourbusse zur Aftershow-Party mitgenommen. Normale Taxis seien heute Nacht zu gefährlich. Bevor es losgeht, müssen wir im Bus noch etwas warten, also greife ich mir ein Getränk aus dem gut ausgestatteten Kühlschrank. Endlich kommt die Crew, die Tänzerinnen sind ausgelassen, wir fahren los, und hinter mir singen die Girls lustige Lieder. Ich schaue aus dem Fenster in die Nacht, die angespannte Stimmung aufgrund des Sicherheitsalarms ist verflogen, und eigentlich bin ich gerade ziemlich froh.

Mein zweiter Tag in Kreuzberg beginnt mit dem ewig gleichen depressiven Sound des Regens auf Kopfsteinpflaster. Ich laufe zum nächsten Supermarkt. Unentschlossen schlendere ich durch die Gänge, entscheide mich schließlich für eine Packung Vollkornbrot, Käse und ein paar Tomaten und kehre zurück in die einsame Wohnung meiner Freunde.

Ob Marc heute wohl schon etwas gegessen hat? Alleine, dass ich mir die Frage stelle, nervt mich. Der verregnete Tag verstreicht gähnend langsam, endlich ist es Abend. Noch einmal Waldbühne, noch einmal Udos Show. Das ist inzwischen fast zur Routine für mich geworden und wirkt irgendwie beruhigend.

Auch heute stehe ich neben Jenny im VIP-Bereich. Wir haben eine super Sicht, freuen uns mit Udo und seinem Publikum. Lauthals singen wir mit:

Nimm dir das Leben

Und lass es nicht mehr los

Denn alles, was du hast

Ist dieses eine bloß

Nimm dir das Leben

Und gibs nie wieder her

Denn wenn man es mal braucht

Dann findet man’s so schwer

Wieder in Hamburg. Es will einfach nicht aufhören zu regnen. Marcs Wiese ist komplett überschwemmt, seit zwei Tagen liegt er im Regen. Seine Hände sind völlig verschrumpelt, als hätte er eine Stunde in der Badewanne verbracht. Außer den Essenstüten und Zigaretten will Marc nach wie vor keine Hilfe annehmen.

Im Internet suche ich nach Antworten. Was kann man tun, wenn ein offensichtlich psychotischer Mensch Hilfe verweigert? Ich erfahre, dass es in Deutschland ein Recht auf den eigenen Willen und auch auf die eigene Krankheit gibt. Einen psychisch Kranken kann man nur einweisen lassen, wenn er andere oder sich selbst gefährdet. Meiner Meinung nach gefährdet Marc sich durchaus selbst. Spätestens dann, wenn die Temperatur unter null geht und er Gefahr läuft zu erfrieren. Der Wikipedia-Eintrag zum Thema »Zwangseinweisung« lässt mich etwas Hoffnung schöpfen.

Darin heißt es, dass die Verhinderung eines Selbstmordversuchs im Rettungsdienst und der Notfallpsychiatrie eine wichtige Rolle spielt. Bei chronisch Kranken oder verwirrten Personen besteht das Risiko einer Selbstgefährdung, aber das lässt sich nicht so einfach auf bestimmte psychische Erkrankungen eingrenzen. Es kommt auf die Situation an, man muss sehen, wie sich die betreffende Person bislang verhalten hat, ob sie bereit ist, sich von einem Arzt behandeln zu lassen, und wie verlässlich sie insgesamt wirkt. Um solche Fragen zu klären, gibt es in Hamburg ein paar psychiatrische Notdienste.

Zu Zwangsunterbringungen kommt es oft mit der Begründung, dass der Patient selbstmordgefährdet ist, was öfter bei schweren Psychosen wie Schizophrenie der Fall ist. Auch bei schweren Depressionen ist das Risiko erhöht, aber da gibt es seltener Zwangseinweisungen.

Betreuungsrechtlich begründen lassen sich Zwangseinweisungen mit Suizidgefahr, aber auch mit anderen potenziellen Gefahren, etwa wenn die betreffende Person sich weigert, eine schwere Krankheit behandeln zu lassen, sie völlig verwahrlost ist, eine Verschlimmerung der psychischen Erkrankung droht, sie hilflos herumirrt oder das Risiko besteht, dass sie verhungern oder erfrieren könnte. Aber so etwas kommt häufiger bei Demenz, chronischen Psychosen oder Suchtproblemen vor. Ob die Person zwangseingewiesen werden kann, hängt natürlich auch davon ab, wie sich das Umfeld verhält, wie sich beispielsweise Verwandte äußern.

Der erste Ansprechpartner für solche Fälle ist also der Sozialpsychiatrische Dienst, eine Behördenstelle der Stadt Hamburg. Ich suche die Nummer heraus, rufe dort an und schildere einer Mitarbeiterin die Lage:

»Der junge Mann sitzt seit Monaten ungeschützt im Regen. Er braucht Hilfe, das kann so nicht weitergehen.«

Sie sagt mir, dass ich zunächst einmal mit einem Bürgernahen Beamten sprechen solle. Also rufe ich bei der Polizei an. Dort erklärt man mir, dass man erst in einer Woche einen Termin vereinbaren könne, schließlich stehe der G-20-Gipfel vor der Tür. Also rufe ich bei Hinz&Kunzt an, die nicht nur das Hamburger Stadtmagazin für Obdachlose herausgeben, sondern auch aktive Hilfe direkt auf der Straße leisten. Ich führe ein langes Telefonat mit einem ihrer Sozialarbeiter. »Wir kennen ihn«, sagt er, nachdem ich Marcs Situation geschildert habe. »Haben ihn mehrfach aufgesucht, aber er hört kaum zu, und wenn es ihm zu viel wird, geht er einfach weg. Da kann man nichts machen, wir können ihn zu nichts zwingen.«

G-20 und Marc. In zwei Wochen wird es ungemütlich werden auf seiner Hundewiese. Sie liegt nur hundert Meter entfernt vom Hamburger Schulterblatt. Hier befindet sich die Rote Flora, ein seit den späten Achtzigerjahren besetztes ehemaliges Theater. Die Aktivisten der Flora sind bundesweit für ihre linksradikalen Ansichten bekannt. Das ganze Viertel steht eher für linke Kultur. Es ist mir absolut unverständlich, weshalb der G-20-Gipfel auf dem Hamburger Messegelände an der Grenze zum Schanzenviertel stattfinden soll. Bereits im Vorfeld wird das von vielen Hamburgern als Provokation gesehen, und ich als Anwohnerin kann diese Kritik verstehen. Ich erkläre Marc, was hier stattfinden wird: gewaltbereite Chaoten, viele Tausend Polizisten, aller Voraussicht nach schwere Krawalle.

Bisher hat Marc mir auf Fragen zu seiner Herkunft und Vergangenheit kaum etwas verraten. Da kommt mir eine Idee. Gut möglich, sage ich, dass du in diesem Trubel in Schutzhaft genommen wirst. »Wenn ich dich hier nicht mehr finde, brauche ich deinen Nachnamen, um nach dir zu suchen.« Es klappt. Endlich erfahre ich seinen kompletten Namen. Zu Hause sitze ich fassungslos vor meinem Laptop. Ich habe Marc gegoogelt und eine offene Facebook-Timeline gefunden, der letzte Eintrag stammt von 2015. Die Zeitleiste zeigt ein Video: Marc als Sänger einer Punkband in Indonesien. Der Song heißt »Be Like Water«.

We were put on this earth

To learn, watch, observe and brightly burn

Gimme the mic it’s my turn

Risen from the dead

I return

Wir wurden auf diese Erde gesetzt

Um zu lernen, zu beobachten, zu entdecken und hell zu brennen

Gib mir das Mikrofon, ich bin an der Reihe

Auferstanden von den Toten

Kehre ich zurück