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Spiritistische Sitzungen, übersinnliche Erscheinungen und Geister: Anekdotenreich, rasant und spannungsgeladen erzählt Thomas Knoefel die Geschichte des modernen Okkultismus als eine Faszination, die bis heute nicht nachlässt. Denn was wäre eine Welt ohne Wunder? Während Marx und Engels metaphorisch von einem in Europa umhergehenden Gespenst sprechen, verschafft sich in der Neuen Welt ein vielleicht echter Geist Gehör: Durch Klopfgeräusche erscheint er den Schwestern Margaretta und Catherine Fox, im Haus eines methodistischen Farmers aus Hydesville, im Bundesstaat New York. Etwas nimmt seinen Anfang, das so bald kein Ende mehr nehmen wird. Dabei überwindet der Okkultismus die Grenzen zwischen den sozialen Klassen sowie den Geschlechtern und zeigt sich mithin modern: Die Avantgarden lassen sich in ihrer künstlerischen Arbeit von okkulten Ideen und den Geistern leiten, und selbst wenn ein Medium des Betrugs entlarvt oder pathologisiert wird, tut das seiner Wirkung keinen Abbruch, denn es beschwört dessen ungeachtet weiterhin eine Zeit, in der das Okkulte groß wurde und Glauben und Wissen noch eins waren. Das Medium weiß von ihrer Fortdauer bis in die Gegenwart zu zeugen. "Nie zuvor ist mit so scharfem Geist über die Welt der Geister geschrieben worden, nie wurde das Übersinnliche mit solcher Sinnlichkeit umfasst. Das Okkulte Brevier ist ein Meisterwerk, eine fantastische Entdeckungsreise in die Grenzgebiete zwischen hier und dort." - Jan Schomburg
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Aleister Crowley, circa 1938.
Thomas Knoefel
Ein Versuch über das Medium Mensch
Die Lebenden und die Toten
I
Unendliche Wirbel der Liebe –Die Invasion der Toten
Das Klopfen der Geister – Die Fox-Schwestern – Andrew Jackson Davis: Der »Seher von Poughkeepsie« – Allan Kardec und das Stelldichein mit den Toten – Spiritisten im Deutschen Bund – »Sommerland«: Das Paradies auf Erden
II
»A whitish vapory substance like smoke« – Experimentelle Metaphysik
»Psychologische Gesellschaft« München – Albert Freiherr von Schrenck-Notzing und Carl du Prel – Das Okkulte im Experiment – Licht und Dunkelheit – »Psychische Infektionen« – Intellektuelle Handgemenge – Sir William Crookes und Florence Cook – Zöllners spiritistische Eskapaden – Henry Slade und die vierte Dimension – Die »psychic rods« der Kathleen Goligher – Cesare Lombroso: Ein Irrenarzt kann nicht irren
III
Von Möchtegernmagiern und Schwarzkünstlern – Unter Verdacht
Das Blumenmedium Anna Rothe – Monomania religiosa – »Krimineller Aberglaube der Geisteradepten« – Spuk in Resau – Somnambule Medien – Die »Seherin von Prevorst« – Levitationen und Leuchtphänomene – Musikalische Séancen – Robert Schumanns Visionen – Okkulte Schausteller auf der Bühne – Schrencks »Materialisations-Phänomene« – Die untoten Toten – Vorsicht: Ektoplasma! – Eva C. (Carrière) – Houdini als »Detector of Fraud« – Ira Erastus und William Henry Davenports Raumflüge – Königin der Medien: Eusapia Palladino – colonnes flottantes oder Durvilles astrale Ebenbilder – présence acousmatique – Lichtspiele: Heller als Sonnen – »rapping mania«: die somnambulen Tische
IV
Ein Chor von Stimmen –Animismus und Spiritismus
Das Medium als Medium und das Medium als Autor – Diverse Entrückungen – Dämonologie: Die jenseitigen Parasiten – Behexungen der Neuzeit – A maleficis infectus – Die Bräute Christi – »Memoiren einer Besessenen« – Inkuben und Sukkuben – »Hystero-Epilepsien« und andere Seelenzustände – »Kraftmaschinen« und »feinfühlige Apparate« – Postume Wunder – Discretio Spirituum – Heilige Häretiker – Kollektive Experimente: »Wir alle waren das Medium«
V
»Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern«– Strategien der Selbsterfindung
Madame Blavatsky und die »Wesen mit den großen Seelen« – Okkulte Höhenflüge – Fiktionen und Fakten – Die Akasha-Chronik – »Maha Atma«: Ein weiblicher Messias – Aleister Crowleys »Thelema« – Das »Große Tier 666« – Sexualmagie – Der Magier als »Trickster« – Maskentheater – »Boca do Inferno«: Crowleys gespielter Selbstmord – »Samsara ist gleich Nirwana«
VI
Astrale Femmes fatales– Wahnsinnige Okkultisten
Ludwig Staudenmaiers »Magie als experimentelle Naturwissenschaft« – Die Koitushalluzinationen Strindbergs – Infernojahre – »Wahnsinn und Hexerei« – Die »Entmannungswunder« des Daniel Paul Schreber – Strahlen und »mediumistische Nervenkräfte« – Krankengeschichten: Paranoia und »criminelle Suggestionen«
VII
Die Macht der Verführung –Libido auf Abwegen
Verführte Verführer – Eva Carrières erotische Avancen – Hysterische Krisen – »Die Suggestionstherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns« – Libido und Übersinnliches – Postmortaler Eros – Teleenergetische Entäußerungen – Über die »Dämonie« des Weiblichen – Eusapia Palladinos Erotomanie – »Phalloide Gebilde und flüssige Ejakulate«
VIII
Und die Toten lieben die Fotografie– Technik als Nekromantie
Fluidale Fotografie: Dargets Leuchtspuren – Die »Psychikonen« Baraducs – »Lichtschwingungen und elektrische Winde« – Geister im Bild: William H. Mumler und John Beattie – Konkurrenz der Sinne – Auge versus Ohr – Von Gott gesandt: Acheiropoíeton – Okkultisten als Ingenieure – Technische Televisionen – Der Telegraf und die Toten
IX
Posen, Attacken, Delirien –Unfreiwillige Kunst
Varietés und »Kabinett«-Stückchen im Hause Schrencks – Thomas Manns okkulte Leidenschaften – Gustav Meyrink und das Unheimliche – »L’Hysterie et l’Art« – Die Frauen der Salpêtrière – Chorea germanorum und Morbus daemonicus – Madeleine Le Bouc: Heilige oder Hysterikerin? – Somnambule Gebärdenkunst – Hypnotische Experimente – Verlegung der Sinne – Sigmund Freud und das Okkulte
X
Unter Diktat: »Ich werde geschrieben« –Die Geister der Avantgarde
Der Archeometer Joseph Alexandre Saint-Yves – Hilma af Klints Abstraktionen – Kupkas kosmische Felder – Strahlen, mentale Ausdünstungen, Gedankenwolken – Kandinsky: Botschafter des Mediums Malerei – »Meine Hand: ganz Werkzeug eines fremden Willens« – Kinder des Neuen: Die Futuristen – Ideoplastische Visionen – écriture automatique – Die »Übermittler« des William Butler Yeats – Oscar Wilde aus dem Purgatorium – Rilke und die Geister: Séancen auf Schloss Duino – Pessoas »höhere Wesen« – Heteronyme: Der Autor als Plural – Psychografen und Automatisten – Kafkas Trancen – Kabbalistische Welten – Der »ewige Jude im Buch« – Zungenreden und Sprechgesänge – Die Mars-Sprache der Catherine-Élise Müller – Victor Hugos okkulte Skizzen – Das Wunderbare André Bretons – Surreale Träume – »Entrée des médiums« – Bildnerei der Geisteskranken: Prinzhorns Sammlung – Sternenlos leuchtende Leere
Epilog
Lichtspieltheater – Eine Epoche geht zu Ende
Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
Some are Born to sweet delight
Some are Born to Endless Night
WILLIAM BLAKE
Die immer energischer werdenden Trommeln vermischen sich mit einzelnen Rufen und Schreien. Die Augen einer Frau verdrehen sich, bis nur mehr das Weiß der Skleren zu sehen ist. Es scheint, als wäre ihr junges Gesicht in nur wenigen Minuten in das eines alten Menschen verwandelt – von einer unsichtbaren Kraft bewegt, schleudern ihre Arme nach allen Seiten. Zwei Priesterinnen umarmen, halten die Besessene von hinten, als sie zu »schütteln« beginnt, sich überstreckt und nach vorne fällt, zusammensackt. Schweiß steht auf ihrer Stirn; mit leerem Blick starrt sie in den Himmel der anbrechenden Nacht. Andere Tänzer bilden einen Kreis um die Frau; wie auf einen verborgenen Faden gereiht, pulsieren sie und verschmelzen zu einer einzigen organischen Masse.
John, der oberste Priester, ein kleiner, zierlicher Mann, erlaubt einer Horde von Kindern, am Rand des Heiligtums Platz zu nehmen. Es ist eine der Nächte, in welchen Ayelala gefeiert wird – eine Gottheit aus dem Süden Nigerias, ebenso gefürchtet wie verehrt. John hält mich für würdig, mit dabei zu sein, wenn für Ayelala den ganzen Abend über Ziegen und Hühner sterben: Er behauptet, ich hätte ein »schwarzes« Herz – das Herz eines Afrikaners. Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten. Feine elektrische Schläge laufen über meine Arme. Und ich fühle mich seltsam aufgelöst, als würde ich mich ausdehnen, als würden meine Konturen verschwimmen. Vielleicht ist die trübbraune Flüssigkeit, welche ich am Morgen zur Begrüßung trinken musste, der Grund. Oder das Medikament gegen Malaria, das ich seit Tagen einnehme und mir einen bösen Ausschlag beschert, den ich mit Cortison zu behandeln versuche. Mehr und mehr werde ich gleichgültig dem gegenüber, was mir hier widerfahren könnte.
Seit Tagen schon wechseln meine Stimmungen so schnell, dass es mir selbst unheimlich wird. Bei jeder Gelegenheit suche ich Streit, um im nächsten Moment Geschenke zu verteilen. Als hätte etwas Fremdes in mir angefangen, mit meinen Empfindungen zu spielen; etwas, das mir kaum mehr ähnlich ist: mehr einem Tier gleich, das Beute sucht, das Hunger hat und fressen will, das gierig ist auf rohes Fleisch. Den ganzen Abend über meine ich, das Blut der Opfertiere riechen zu können, fühle ich, wie mich ihre Panik erregt, wenn das Messer der Priester ihre Adern öffnet …
John hat das Veve, das Symbol Ayelalas, mit Maismehl auf die rote Erde malen lassen, die bei Regen zu einem ätzenden, sauren Schlamm aufweicht, welcher die Haut, Haare und Nägel angreift, selbst Eisen zersetzt. Der Legende nach soll Ayelala eine Sklavin gewesen sein, die, als Sühneopfer für den Ehebruch eines Mannes lebendig begraben, mit dem Ausruf: »Die Welt ist schrecklich«, gestorben ist. Später zur Gottheit erklärt, wird sie angerufen, wenn Streitigkeiten zu schlichten sind oder ein Pakt zwischen zwei Parteien geschlossen werden soll. Als strafende Göttin aber verfolgt sie Ehebruch und Diebstahl und vor allem sakrale Vergehen, Inzest und Mord, das Schlachten von heiligen Tieren. Ayelala infiziert die Täter mit Krankheiten, nimmt ihnen den Schlaf und bringt sie um den Verstand.
John gehört zu jenen Priestern, die einen »magischen Abdruck« – Haare, Nägel und Blut – jener Frauen nehmen und aufbewahren, die von ihren Familien für ein »Preisgeld« von Menschenhändlern zur Prostitution nach Europa geflogen werden. Weigert sich eine von ihnen, sich weiter anzubieten, ihren Körper zu verkaufen, wird ein Schadenzauber in Gang gesetzt, um sie willenlos, wieder gefügig zu machen. Mit solcher Magie, argwöhnen fast alle Westafrikaner, kann man untreuen Männern einen Priapismus, eine furchtbare Dauererektion, verpassen oder das Vieh krank machen, kann man Menschen mit falschen Visionen durcheinanderbringen, blenden. Als ein Schrecken geistert Chakuta, die »Afrikanische Pistole« über den Kontinent: Mit ihr schickt man aus der Ferne Scherben, Nadeln und Knochen in die Körper der Opfer.
Einer von Johns Assistenten erzählt mir, dass in der Woche zuvor, im Fundament einer Kirche in Lagos, die Leichname schwangerer Frauen gefunden wurden – auch abgetrennte Haare, Brüste und Schamlippen werden beim Bau der Gotteshäuser mit eingemauert, um eine Art magisches Kraftfeld zu erzeugen. Pfarrer, wohl ehemalige Voodoo-Männer, sollen hier weiter der Magie anhängen, um Spenden einzutreiben und ihre Gläubigen beisammenzuhalten. Die Führer der Erweckungskirchen sagen auch Unfälle und Krankheiten voraus, treiben Geister aus und lassen sich für diese Dienste teuer bezahlen.
Und sie schüren die Angst vor dem Bösen. Viele Väter fürchten sich vor ihren »Zuckerpüppchen«, den süßen kleinen Töchtern, die in der Nacht zu Furien werden, um ihnen die Männlichkeit zu stehlen, Penis und Hoden wegzuzaubern, die sich in Tiere verwandeln und Menschen anfallen. Unruhige, launische Kinder, auch Zwillinge und Albinos werden häufig der Hexerei beschuldigt, sollen besessen sein; man lässt sie Zement trinken, quält sie mit Laugen und Säuren oder schlägt ihnen einige Nägel in den Kopf.
Am Vormittag erzählte mir einer der JuJu-Priester, dass wenige Straßen weiter ein Mann verwirrt und nackt an der Kreuzung stehen würde, der Stunden zuvor den Zorn Johns auf sich gezogen hatte und nun, von unsichtbaren Mächten attackiert, in eine schmerzhafte Starre gefallen ist. Man wird ihn dort zur Strafe einige Stunden stehen lassen. Ein anderer Mann, der sich mit John angelegt hatte, bekam hohes Fieber, fing an zu husten und war wenige Tage später tot.
Das Fest hat seinen Höhepunkt erreicht: Einige weibliche Voodoosi haben mich in die Mitte des Kreises gezogen, reizen mich mit erotischen Gesten – stoßen ihr Becken nach vorne, als würden sie einen Mann beim Koitus nachahmen. Meine Beine sind schwer, aber auch ich beginne, von den Rufen der Menge angetrieben, zu tanzen. Zwei weitere Frauen sind nun »besessen«, werden von ihren »Loas« in Besitz genommen. Man nimmt ihnen Ketten, Armreifen und Ringe ab. Von ihren Göttern »geritten«, springen sie umher, biegen ihren Kopf nach hinten, bäumen sich auf. Zieren sich diese und wollen nicht herabsteigen, nicht reiten, steigern die Trommler ihr Spiel, bis Gott und Menschen verschmelzen. Ich sehe alte, arthritische Frauen, die, leicht wie Mädchen und ohne müde zu werden, über den Platz toben. Wenn sich die Götter vergnügen, sprengen sie jedes menschliche Maß.
Am späten Abend erlaubt mir John, das Haus von Ayelala zu betreten; zwei kahlrasierte Priester öffnen einen düsterroten Vorhang, hinter dem die Gottheit sechsarmig und übermannshoch auf einem Altar thront. Im Raum stapeln sich leere Coladosen, ausgehöhlte Kürbisse, Kalebassen aus Ton; Fettreste schwimmen auf Tellern mit uringelbem Sirup. Neben verblassten Fotos hängen getrocknete Pflanzen und kaputtes Kinderspielzeug, an den weißgestrichenen Wänden blättert die Farbe ab. Bunte Dreiecksfähnchen aus Papier schmücken die hölzernen Balken dicht unter der Decke.
Der ältere Priester spricht ein Gebet. Er schreibt einige Zeichen in die Luft, bevor zwei schwarz-roten Hähnen mit einer schnellen, drehenden Bewegung der Kopf abgerissen wird; sie flattern noch minutenlang über den lehmigen Boden. Bald darauf zerrt man, an einem Strick um den Hals, eine Ziege, einen Bock zu Füßen Ayelalas; das Tier ist panisch, als könnte es seinen bevorstehenden Tod schon riechen, mit einem schrillen Meckern und Schreien versucht es, sich loszumachen. Manche Böcke, so heißt es, sollen vor ihrer Opferung wie Kinder anfangen zu weinen. An den Hörnern, an Vorder- und Hinterläufen festgehalten, enthaupten die Priester den Bock mit einem langen, machetenartigen Messer, trennen dann Zunge und Hoden ab – und schwenken den noch blutenden kopflosen Körper über den Altar. Schichten von altem, geronnenem Blut bedecken den Bauch der Gottheit.
Die Stimmung auf dem Vorhof ist ausgelassen, die Priesterinnen und jungen Mädchen scherzen, brechen alle Minuten in Gelächter aus, Gin-Flaschen und riesige Joints machen die Runde. John stellt mir eine elegant gekleidete Frau vor, die lange in Brasilien gelebt hat und ein gutes Portugiesisch spricht. Ihre schiefen Zähne und zwei Lücken im Gebiss sehen irgendwie komisch aus. Sie trägt spitz gefeilte, dunkelrot lackierte Fingernägel und einen großen, in Silber gefassten Mondstein. Die Schminke um ihre Augen ist in der Hitze zerlaufen und auch der Alkohol hat ihr zugesetzt. Als sie zum Urinieren in die Büsche verschwindet, kann sie sich kaum auf den Beinen halten. Die Frau ist gekommen, um Ayelala zu bitten, einen schon lange schwelenden Streit zwischen Vater und Sohn zu beenden. Wie alle hier ist sie sicher, dass die Magie ihr helfen wird. Sie stammt aus einem Dorf einige Kilometer nördlich von Benin; ihre Mutter, sagt sie mir, sei eine Priesterin Xangós gewesen und erst im Alter von einhundertundvier Jahren gestorben. Die Frau ist schon sehr betrunken, als sie mir von Ritualen, von einer schwarzen Zauberei erzählt, bei der man Leichen die Kleidung von Lebenden anzieht, damit auch sie bald danach schwach und krank werden. Ich erfahre, dass man die Seile, an denen ein Sarg in die Erde gelassen wird, später zu magischen Mustern verknüpft, um Verwünschungen in die Welt zu setzen.
Johns Lächeln wirkt auch immer etwas bedrohlich; von der Schläfe zur Stirn zieht sich eine dahinschlängelnde Arterie, die gespannte, dünne Haut gibt ihm das Gesicht eines zu schnell gealterten Kindes. Am Tag zuvor habe ich John das Parfüm Eros von Versace für eine seiner Frauen geschenkt und bin nicht wenig erstaunt, dass sich der Priester den Duft überaus reichlich selbst aufgetragen hat: Jasmin und Granatapfel, mit einer Spur von Pfingstrose und Moschus, spenden dem zierlichen Priester ein verwirrend weibliches Flair. Dass John hier mit harter Hand regiert, erlebe ich, als er einige Männer zusammenbrüllt und einen der Trommler ohrfeigt; sie hatten sich über ihren geringen Lohn beklagt. Schlagartig ist es still – dann gibt John ein Zeichen und das Fest geht weiter.
Eine der Priesterinnen, in einem scharlachroten Umhang, mit zwei weißen Kreuzen auf Bauchhöhe, bringt einen Brei aus Yamswurzel und gekochtes Huhn; man reicht mir hochprozentigen billigen Gin. Meine Gier nach Alkohol wächst und ich möchte nicht mehr aufhören zu trinken. Inzwischen habe ich jedes Gefühl für Zeit verloren. Als hinge ich an von fremder Hand gezogenen Fäden, bewegt sich mein Körper, wie mir scheint, ohne mein Zutun über den Platz. Ein alter benzinbetriebener Generator produziert Strom, um die über den Baracken gespannten Ketten von Glühbirnen zu versorgen. Auch die Feuerstellen, auf denen gekocht wird, geben etwas Licht. Schwankende, flatternde Schatten kommen aus der Nacht und verschwinden. Ich spüre, wie die Wärme meinen Körper verlässt … Es ist, als wäre ich schon mehr ein Gespenst, unter den Toten, fernab von den Lebenden unterwegs. Als würde ich in einem Traum versuchen aufzuwachen …
Schwärme von Fledermäusen ziehen mit der einsetzenden Dämmerung zum Königspalast von Benin City, verdunkeln den Himmel. Noch ist die Hitze kaum erträglich. Einige Priester sitzen mit nackten Oberkörpern auf dem Vorplatz des Voodoo-Hauses und rauchen Zigaretten, während sich die Frauen in den Hinterhof zurückgezogen haben und am offenen Feuer beginnen, die Abendmahlzeit vorzubereiten. Ich bin nervös, fühle mich etwas zittrig, habe schon drei Nächte kaum geschlafen, wegen der Schwüle und des lärmenden Generators; in meinen Träumen verfolgen mich Kreaturen, die nur aus Zähnen zu bestehen scheinen. Heute soll mein Kopf für Ogum »geöffnet« werden. Ogum ist ein »heißer« Gott, »Krieg und Eisen« sind sein Geschäft. Menschen, die Ogum gehören, sind mit einer herablassenden Männlichkeit unterwegs und bis zur Unhöflichkeit aufrichtig. Die Krieger Ogums werden in der Nähe zum Tod erst ganz lebendig, an vorderster Front, wo die Handgemenge am heftigsten sind.
Immer wieder kommen Kinder vorbei, starren mich an: sie haben noch nie zuvor einen »Ebo«, einen weißen Mann gesehen. Ich gebe ihnen etwas Kleingeld für Süßigkeiten, mit dem sie schnell davonlaufen. Meine wachsende Erregung versuche ich mit Zigaretten zu dämpfen, bis mir leicht schwindlig wird. Mir brennt die Haut und das Hemd klebt am Rücken.
Auf der anderen Seite des nach dem letzten Regenguss aufgeweichten Lehmweges liegt eines der unzähligen protestantischen Gotteshäuser, deren Lautsprecher vom Morgengrauen bis Mitternacht die »frohe Botschaft«, ihre Bibelwahrheiten verkünden. Ihre über die ganze Stadt verteilten Plakate versprechen »Showers of Blessing« – Offenbarungen und Wunder! Wie in einem schlechten Film erscheint ein Prediger mit schwarzem Hut auf dem Kopf und der Heiligen Schrift in der Hand vor dem Haus und will die Priester, die Voodoo-Gläubigen mit seinem missionarischen Eifer auf den rechten Weg bringen. Seine Unterschenkel sind von einem flammend roten Ekzem mit schwarz verkrusteten Rändern befallen, an denen er gelegentlich kratzt. Der Prediger wird von einer fettleibigen Frau mit fleischigen, hängenden Wangen begleitet, die ihre enormen Brüste wie ein Bollwerk nach vorne schiebt. Mit einem weißen Tuch wischt sie sich den Schweiß von der Stirn. Was als leises Geplänkel, als lockeres Wortgefecht beginnt, endet in einem hysterischen Ausbruch: Jeder in diesem Haus, schreit der Prediger, alle, die den alten Göttern folgen, seien bis in alle Ewigkeit verdammt. Der Prediger, von seiner eigenen Rede ergriffen, speichelt ein wenig, spuckt die Worte aus, wirft seinen Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Er wird lauter und lauter, während die Voodoosi, die solches Spektakel schon kennen, über ihn lachen und seine ekstatischen Zuckungen nachäffen. Nach einer halben Stunde wird das »Mundstück Gottes« dann müde und zieht wieder ab.
Inzwischen ist es fast dunkel. Ein schwacher, wechselnder Wind bringt etwas Abkühlung. In der Ecke neben der Eingangstür liegt eine kleine magische Ladung für Exú, den heiligen Narren, den Trickster unter den Göttern; er, der wild und lärmend unterwegs ist, für den an Kreuzungen geopfert wird, der Politik macht, Bewegungen in Schwung bringt, die Wege öffnen soll, darf nur außerhalb des Hauses seinen Altar haben. Exú, der Götterbote, vermittelt zwischen den Menschen und Loas, zwischen den Lebenden und Toten. Und selbst die anderen Gottheiten, so heißt es, fürchten ihn. Nach Lust und Laune stellt er die Welt auf den Kopf, spielt mit den Wünschen und Wahrheiten der Menschen. Wer mit ihm paktiert, riskiert seine Seele, tanzt, wie die ersten Missionare glaubten, mit dem Teufel persönlich. Exú war für die frommen Männer der große Verführer, das Böse. (John, der Priester Ayelalas, hatte mir erlaubt, Exús Refugium zu fotografieren – für mich unbegreiflich: Jedes der drei Bilder war, wie ich später feststellte, unscharf. Während man im Candomblé, in Brasilien, Exú Cachaça, Zuckerrohrschnaps opfert, hüten sich die Afrikaner, ihm Alkohol anzubieten: Ein »trunkener« Gott würde durch Rauschmittel für die Menschen noch unberechenbarer werden.)
Ganz in der Nähe hat man einen Berg Müll angezündet, der sich nun als giftiger, stinkender Rauch über die Gegend legt. Während ich mit einigen der herumstreunenden Kinder spiele – wir treten einen zerbeulten Plastikball über die Straße –, gibt man mir ein Zeichen, dass die Zeremonie, meine Einweihung für Ogum nun anfangen kann. Ich werde in einen abgelegenen kleinen Raum geführt, in dem noch alter Tabakrauch hängt und dessen einziges Fenster mit Säcken verdunkelt ist. Unter unseren Füßen liegen, wie hier traditionell üblich, die Toten der Familie begraben.
Dr. Aba, ein zierlicher, hohlwangiger Mann mit etwas Basedow’schen, glasigen Augen, dessen Züge etwas Kindliches und Unbeholfenes haben, vermeidet es, mich länger anzusehen, und spricht über mich, als wäre ich nicht anwesend. Dr. Aba beginnt das »Ifa«-Orakel zu befragen, will wissen, was Ogum verlangt, um seinen Hunger, seinen Durst zu stillen. Die an der fast einen Meter langen Divinationskette befestigten, nach außen oder innen gewölbten Kapseln ergeben bei jedem Wurf ein Muster, in dem sich die Antwort dann zeigt. Die Männer sprechen Edo, und einer übersetzt für mich ins Englische, auch wenn ich sein Kreol nicht immer verstehe. Die Priester einigen sich darauf, dass meine Probleme schwerwiegend sind und ich zudem durch die unerlaubte Liebe zu einer Frau den Zorn einiger Geister auf mich gezogen habe, die glauben, eigene Rechte an ihr zu besitzen. Das Orakel erinnert an meinen verstorbenen Vater, der zuletzt, mit steifen Lähmungen und Erstickungsanfällen, über Jahre im Bett gelegen und entsetzlich gelitten hat, weil ganze Areale von Hirnzellen einfach verschwanden, und mit dem ich in Unfrieden, ohne Abschied auseinandergegangen bin. Mein Vater, ein geradezu unmusikalischer Mensch, glaubte Wochen vor seinem Tod, ein vielleicht virtuoser Geiger zu sein, und fragte unruhig und verstört, oft mehrmals am Tag, nach seinem Instrument. Wir waren einander so fremd geworden, dass ich ihm beim Sterben nicht länger zuschauen wollte. Nun würde der Vater, sagt das Orakel, nach mir rufen. Was aber noch mehr mein Leben blockiere: Ich sei, wenn ich es richtig verstehe, in der Mutter »stecken« geblieben und nie ganz zur Welt gekommen.
Ein junger Mann mit erstem flaumigem Bartansatz, der mich schon den ganzen Abend über scheu beobachtet, mich nicht aus den Augen lässt, wird losgeschickt, um Materialien und Tiere zu besorgen. Dr. Aba beginnt, auf der Igede-Trommel zu spielen, ein zweiter Spieler setzt ein und wenig später bringen zwei Frauen, die den Raum nicht betreten, auf der Schwelle stehen bleiben, eine riesige eiserne Pfanne mit Hühnerfleisch und Innereien, aus der alle mit den Fingern essen. Dass Ogum Hunde bevorzugt, erfahre ich wenig später, als man einen verängstigten, schwarzbraunen Mischlingswelpen ins Zimmer schiebt: Dr. Aba greift das Tier an den Hinterläufen und schleudert es mit einer weit ausholenden Bewegung auf den Boden. Dann presst er den Kopf des toten Tieres lange an meine Stirn … und wirft den Kadaver in eine Ecke. Dr. Aba streut mir ein Aschepulver, welches mit menschlichem Knochenmehl versetzt ist, in die Handflächen, das ich, mit meinen Wünschen aufgeladen, in die Nacht blasen soll. Dann schneidet er mit einer zerbrochenen Rasierklinge neunmal oberhalb der rechten Ellenbeuge in meinen Arm, wischt das Blut ab und reibt die verkohlte Rinde eines heiligen Baumes unter meine Haut – mit dieser Tätowierung sei sein Geist nun für immer ein Teil von mir und soll mich begleiten, wenn ich mich in der Welt verlaufe. Die Priester beten für Axé, das Lebenselixier.
Kurz kommt Panik in mir auf: Wie von einer durchscheinenden, feinstofflichen Membran getrennt, scheint meine Umgebung mir unerreichbar zu sein. Schwache Vibrationen laufen mir über den Körper, erzeugen einen Ton im Innern, als könnte ich mit meiner Haut hören. Ein Wirbel, eine Krone aus kühlem Wind legt sich auf meinen Scheitel. Zarte leuchtende Flocken taumeln wie ein von Laternen angeleuchteter fallender Schnee durch das Zimmer. Ich möchte weinen, ohne zu wissen, warum. Ich höre die Stimme meiner Mutter, wie sie unter Wehen, den Schmerzen meiner Geburt mit der Hebamme spricht, wie sie schreit. Ich möchte das Licht der Welt für immer vergessen, ich falle ins Dunkel …
Ein Theosoph und Heiler, der in seiner Jugend einige Jahre zur See gefahren ist, erzählt mir vom Wachsfigurenzauber, der Behexung von Gegenständen, den Nachbildungen lebender Menschen, die mit Nadeln traktiert, angezündet oder mit Giften und Säuren eingerieben werden. Diese Atzmänner, sagt er, dienen aber auch der Behandlung von Liebeskummerkranken und Geschlechtsschwäche, man setzt sie ein zur Steigerung der Fruchtbarkeit. Auch vom »Mortpetten«, dem Zu-Tode-Beten unliebsamer Personen, ist er ohne jeden Zweifel überzeugt.
Ich möchte nicht wirklich glauben, dass es möglich ist, einen Menschen mittels Magie sterben zu lassen, wenn er nicht weiß, dass jemand seinen Tod wünscht. Von einem Priester des Palo Mayombe erfahre ich, dass in Berlin in den letzten Jahren nicht wenige Menschen am schwarzen Zauber gestorben sind. Ein Sufi-Meister erzählt mir, dass er Zeuge war, wie einige Schüler Gurdjieffs in Prieuré des Basses Loges in komplizierten Ritualen ein »astrales« Geschöpf herzustellen versuchten; ein überlebensgroßer Schatten sei den Männer erschienen, die es bei dessen Anblick zu Boden gerissen haben soll.
Ich besuche den Heiler einmal in der Woche, fahre in ein Dorf am Rand von Berlin. Nach meinen Behandlungen reden wir immer noch ein, zwei Stunden. Das Zimmer, in dem wir sitzen, ist voll von Kruzifixen, Rosenkränzen, von Shiva- und Buddhafiguren; Schädel von Schafen und Ziegen liegen in kleinen Glasvitrinen, an den Wänden hängen ausgestopfte Vögel und seltsame Peitschen aus Rosshaar. Ich erfahre, dass schon in seiner Kindheit die Toten um ihn herum waren und kleine, kaum einen Meter große, geisterhafte Männchen erschienen, stets mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel, um einen Sterbefall anzukündigen. Wer an einem Johannistag oder zu Fronfasten geboren ist, hätte oft diese besonderen »Gesichte«, sie hören, wie der Volksmund sagt, »das Gras wachsen«. Wenn die Kranken in sein Haus kommen, weiß dieser Mann immer schon, ob er ihnen helfen kann oder sie wieder fortschicken muss. Einmal erschreckt ihn auf der Straße der Schrei eines Kindes – das Minuten später, von einem Auto erfasst und in die Luft geschleudert, auf der Stelle tot ist.
Bereits sein Vater und Großvater hielten Séancen ab, experimentierten mit Tischen, die wie beseelt, schwankend, aber im Takt durch die Stube tanzten. Bilder fielen von den Wänden, kleine, zerbrechliche Madonnenfiguren wechselten ihre Farbe und wanderten in der Wohnung umher. Kindskopfgroße, kreisrunde Lichter, bläulich oder weiß, hingen wie Lampions unter der Decke, wurden größer und heller, lösten sich auf. Oder ein schimmernder, um die Köpfe spielender Glanz zeigte sich auf den Fotos zweier im Krieg gefallener Brüder. Die Geister in diesem Haus gehörten zum Alltag, waren stets mit am Tisch und hielten sich auch mit Ratschlägen nicht zurück. Einige Jahre nach dem Krieg fand man beide Männer in einer Hinterhaus-Altbauwohnung im Wedding, erschlagen, unter dem Bett versteckt – der Mörder wurde nie gefunden.
Inzwischen ist es Herbst geworden und noch immer besuche ich den Heiler, wenn möglich, jede Woche. Den ganzen Tag über, bis in die Nacht, kommen die Menschen: Krebskranke, Trinker, Lebensmüde, an einer verlorenen Liebe Zerbrochene. Sie sitzen im Vorzimmer, im Garten, im Auto, stehen vor der Tür – und warten. Alte Leute kommen, lange verheiratete Ehepaare, bei denen einer den anderen beim Laufen stützen muss, aber auch junge schüchterne Mädchen, die noch zur Schule gehen; sie warten mit Lerntabellen und Grammatikheften auf dem Schoß auf ihre Behandlung. Gelegentlich sehe ich Geschäftsmänner in Anzügen und türkische Frauen mit Kopftuch, die meist zu zweit aus Berlin angereist sind.
Noch auf dem Flur höre ich Frauen, deren Männer eine Affäre haben, Rotlichtviertel und Massagesalons besuchen, weinen und schimpfen – sie wollen den anderen leiden lassen oder ihre Liebe zurück. Und dafür sind sie bereit, jeden, wirklich jeden Preis zu zahlen. Der Aberglaube weiß für diese Unglücklichen von vielen Zaubern: das Verbrennen der Zähne und Haare von Toten soll helfen, oder man schreibt den Namen des Geliebten mit Menstrualblut auf. Mischungen aus Gewürznelken und Geranienessenz werden in die Haut gerieben, Kaneel, mit Wein, Muskat und einigen Tropfen Mandragora heimlich ins Essen gemischt.
Ich erfahre viel über Magie, über die »Techniken der leeren Hand«, bei denen es keine Fetische, Spiegel und Pendel, keine Düfte, keine Räucherungen von Myrrhe, Ambra und Balsam braucht, ein Leben wieder leicht zu machen. Aber es gäbe auch Wünsche, sagt mein Heiler, die sollten sich besser nie erfüllen; sie seien wie hübsche Aufmerksamkeiten, fröhliche Tage, die der Tod uns schenke, die sich schnell verdunkeln, ins Gegenteil wenden, aus anfänglicher Euphorie eine Schwermut werden lässt.
In Berlin gibt es dunkle Orte mit noch dunkleren Geheimnissen, wo sich Bruderschaften im Geheimen treffen und Abramelin-Dämonen auf schlechte Menschen losgelassen, an denen Sigillen durch Orgasmen geladen werden. Orte, die voller Geschichten sind von Dibbuks und Wiedergängern, Orte, welche von geflügelten Göttern mit Stundenglas und Sichel, von Frauen mit Schwertern in goldenen Rüstungen erzählen. Wo Magier in langen, mittelalterlich aussehenden Roben mit Pentagrammen und den Namen der Engel hantieren. Orte, an denen moderne Alchemisten an den Atomen ihres Körpers arbeiten, um jede einzelne ihrer Zellen in Licht zu verwandeln.
Freunde erzählten mir höchst seltsame Geschichten über Bethanien, eine ehemalige Krankenanstalt der Diakonie auf dem Marienplatz in Kreuzberg und später ein Lazarett für die im Krieg Erblindeten, in dem vielleicht die Geister Quartier bezogen haben; hier starben einst hunderte Menschen an Gasbrand und Sepsis. In dem von einem Schüler Schinkels in Hufeisenform entworfenen Gebäude hörten sie in vielen Nächten leise Gesänge und Schritte auf den verlassenen Fluren … Ein Stöhnen und Weinen aus leeren Zimmern. Sie sahen gläserne Kinder in den Sälen des Westflügels Ball spielen und auf unsichtbaren Hickel-Diagrammen kichernd über »Himmel und Hölle« hüpfen. Alte Männer und Frauen in Schlafanzügen schwebten durch die Korridore und verschwanden in den Wänden. In Bethanien, im »Haus des Elends«, am Osthang des Ölbergs, unter Aussätzigen und Bettlern, soll der »Herr« auferstanden sein.
Auch in der verfallenen Lungenheilanstalt Beelitz hören die Besucher Schreie und Schritte, aus den Tunneln unterhalb des Gebäudes, aus den von Schutt und Scherben, von rostenden Lazarettbetten und Müll verstopften Krankensälen. Geisterjäger verbringen hier Nächte, um die Stimmen der Toten auf Tonbändern einzufangen.
Fast auf jedem Friedhof der Stadt kann man an gewissen Tagen, zu besonderen Planetenständen schwarz gekleidete Menschen treffen, die nicht gesehen werden wollen, wenn sie mit Pulvern, kleinen Glocken, mit Wein, Feuer und Metallen und den Anrufungen von Geistern glauben, ihr eigenes Paradies zu erschaffen. Man führt Rituale aus, wo in Berlin über Jahrhunderte Mörder, Brandstifter und Diebe öffentlich gefoltert und angezündet wurden. Wo man im Mittelalter Juden köpfte, welche, mit dem Leibhaftigen im Bund, Zauberformeln ins Ohr der Mächtigen geflüstert haben sollen. Die in den Zwanzigerjahren in Berlin gegründete Loge Fraternitas Saturni und ihr Großmeister Gregor A. Gregorius, die Alchemie betreiben und die Kabbala lehren, spekulieren über einen »astralen Kobold«, den Egregor, ein von Gedanken geformtes, aufgeladenes Kraftfeld, das auf die Lebenden ausstrahlen soll. Anhänger der Bruderschaft finden sich noch heute zusammen.
Ich bin sechzehn Jahre alt, als ich an einem kalten Februartag, im Kofferraum eines alten Mercedes-Benz, die Segnungen des Sozialismus für immer hinter mir lasse. Überwältigt von den Reklamen, den (für mich) pornografischen Zeitschriften in den Schaufenstern der Kioske, eingefangen von den grellbunten Farben des Westens – als hätte man die trüben Linsen meiner Augen durch neue, kristallklare ersetzt – beginnt die Welt um mich herum zu leuchten.
Ein Freund der Familie, ein bekannter Arzt aus Charlottenburg, lässt mich einige Monate bei sich wohnen. Seine geschiedene Frau verbreitet, dass ein winzig kleiner Schrapnellsplitter in seinem Kopf stecken soll, ein Andenken, das er sich als Sanitäter bei einem der letzten Gefechte an der Oder eingefangen habe, was neben Kopfschmerzen zu unkontrollierten Ausbrüchen führe, bei denen er schon mal mit Messern auf unausstehliche, ihn störende Leute losgehe und durch die Gegend schreie. Im Krieg begannen die Freunde, ihn zu fürchten: Man munkelte, er wisse immer genau, wer lebend von der Front zurückkehren würde. Die Soldaten fingen an, ihn zu meiden, ihm aus dem Weg zu gehen.
Schon bald fällt mir auf, dass die Gespräche mit diesem hageren, hochgewachsenen Mann, der Fleisch und Wurstwaren verachtet und Unmengen durch Milchsäuregärung haltbar gemachtes Gemüse verzehrt, von kurzen Absencen überschattet werden. Aber erst nach Wochen bemerke ich, dass mein Gastgeber sich wohl nicht weniger für die Toten als für die Lebenden interessiert. Er sitzt Stunden in seinem von einer riesigen Platane verdunkelten Arbeitszimmer und ist für niemanden zu sprechen. Bücher stapeln sich auf dem Schreibtisch, den Stühlen, in den Ecken, stehen in Regalen. An den Wänden hängen Masken aus Afrika und Asien; manche haben Augen aus Glas und wirken verstörend lebendig; von allen Seiten starren sie mich an, ich fühle ihre Blicke wie lange Strahlen aus Hitze. Hier liest er die Ephemeriden, sucht nach astrologischen Konjunktionen, berechnet Katastrophen, die kommen, will wissen, wann seine Kranken, denen nicht mehr zu helfen ist, sterben. Er erinnert mich an die Alten, an die Priester der Vorzeit, mit ihren Prophezeiungen von kleinen und großen Kriegen, der Vernichtung von Völkern, von zukünftigen Überschwemmungen und Dürren. Einmal vertraut der Arzt mir an, dass er schon seit Jahren auch Willy Brandt behandle, und zeigt mir dessen Horoskop. Dabei gerät er in Aufregung, ein Tick spielt um sein linkes Auge: Es sieht aus, als würde er mir zuzwinkern, ein Geheimnis mit mir teilen. Er weiß mit absoluter Gewissheit, sagt er mit leiser, beschlagener Stimme, dass Brandt in Norwegen, vor seiner Flucht nach Schweden, einen Mann erschlagen habe. Die Planeten hätten ihm das Verbrechen verraten: Brandt sei ein Mörder. An mehr Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern, aber ich bin beeindruckt. Später klärt er mich auf, dass, nach seinen Berechnungen, bei meiner Geburt der Pluto drei Grad vor dem Aszendenten steht, im »Haus der Unsichtbarkeit«, damit werde ich den Toten immer näher sein als mir lieb ist, um sie, formuliert er kryptisch, »ans Licht zu bringen«. Und darüber hinaus würde Plutos Opposition zur Sonne einen explosiven Zug in meinen Charakter legen, der mir alles andere als ein einfaches, leichtes Leben beschere. Mond und Saturn, dicht beieinander, erzeugen ein Gemisch aus Schwermut und Ekstasen, dem ich niemals entkommen werde. Und er nennt mir die Umstände, das Jahr, den genauen Tag meines Todes. Für einen pubertären Jungen ist das eine ganz schöne Packung, die ich verkraften muss.
Die Kluft zwischen seinen Themen und die Leichtigkeit, mit der er sie überwindet, ist enorm: Kaum hat er sich über das mythische Shambhala und einige tibetische Dämonen ausgelassen, beginnt er gleich darauf, von Injektionen aus Zellaufschwemmungen ungeborener Lämmer zu schwärmen, die er wohlhabenden Patienten gegen das Altern verabreicht, oder von geheimen Mixturen, die selbst harte Krebsgeschwüre und Zirrhosen heilen. Von einigen Leuten wird er der »Zauberdoktor«, der »Mann mit den wissenden Händen« genannt. Später gibt er mir okkulte Bücher zu lesen; eines davon habe ich nie vergessen: Dreissig Jahre unter den Toten, geschrieben von Carl Wickland, einem Irrenarzt aus Chicago. Für Wickland sind es Verstorbene, die sich in seine Kranken einnisten, sie zu Alkohol und Notzucht verleiten, in den Wahnsinn treiben. Am unerfreulichsten seien die Selbstmörder unter den Toten. Sie wollen in den Körper zurück – in den eines anderen Menschen. Diese Toten sind also nicht im Geringsten nett. Hat man sie erst einmal am Hals, ist das Leben ein Albtraum! Wickland, von seiner Idee besessen, konstruiert einen Apparat, der den Opfern die astralen Parasiten mit einigen tausend Volt austreiben soll.
Nach einigen Monaten nimmt mich mein »okkulter« Ziehvater dann mit auf seine nächtlichen Streifzüge; wir besuchen alte abgelegene Villen in Dahlem, im Grunewald, treffen Nekromanten, Gesundbeter und Ordensbrüder, die mich ein wenig an die Vermummten des Ku-Klux-Klan erinnern. Bei einem dieser Rituale wird, im Namen von Aratron, Zaphkiel und Adonai, die Urmutter Nahema angerufen, und nach einigen Stunden meine ich, Gestalten zu sehen, die durchscheinend und schwerelos auf mich zu schweben. Kleine, hellgelbe Rauchwolken steigen auf, die nach Phosphor riechen. Ich bin überwältigt, als vor meinen Augen ein ritueller Beischlaf vollzogen wird; es ist das erste Mal, dass ich außer meiner Mutter eine Frau nackt sehe und die Erektion eines anderen Mannes. Ich bin erregt, wenn junge Frauen in langen weißen Gewändern alten Männern zu Seite stehen, die das Schicksal drehen, unsichtbare Kräfte dirigieren, die Gott spielen wollen. Und ich sehe Dinge, vor denen ich mich nie mehr aufgehört habe zu fürchten.
Wir gehen zweimal in der Woche in den Leichensaal der alten Pathologie; in den Räumen liegt der unverwechselbare, beißende Geruch von Formalin, welches die Verwesung, die Fäulnis der toten Gewebe aufhält. Über Wochen präpariere ich den Körper einer alten, ausgemergelten Frau, deren Brustdrüsen der Krebs zersetzt, später Leber und Hirn befallen hat. Schicht für Schicht, von Muskel zu Muskel, arbeite ich mich durch: bis zu den Knochen … Das Formalin hängt in Kleidung und Haaren, selbst auf meiner Haut kann ich es nach Stunden noch riechen. An manchen Tagen tränen meine Augen, der Hals brennt und mir ist schwindelig. Noch heute wird mir übel, wenn ich an die alte, in Formalin getränkte Frau und all die anderen Leichen, unter Neonlicht, auf den polierten, chromglänzenden Tischen liegend, zurückdenke.
An einem tristen Novembertag in Heidelberg laufe ich mit einem Freund, nachdem wir die Toten hinter uns gelassen haben, durch die engen Gassen der Altstadt nahe am Neckar. Angezogen von einem Plakat, auf dem, wenn ich mich richtig erinnere, ein grotesk anmutendes, zwitterhaftes Wesen mit einer breitklaffenden Vulva und nach oben gekrümmtem Phallus zu sehen ist, stehen wir mit einem Mal in einer Ausstellung: Prinzhorn – Bildnerei der Geisteskranken.
Ideenkreis eines Mannes, auf die Außenwelt projiziert heißt eine Zeichnung, auf der Metallstreifen mit Nägeln den Kopf eines steinernen Gottes zusammenhalten, aus dem zarte Frauen, Cherubinen und riesige Raubtiere über die Dächer der Stadt, in den Äther gewirbelt werden. Heinrich Welz, Baron und Doktor der Juristerei, erfahre ich, ist ein Irrenhäusler, der, von Katatonie und Vergiftungswahn geplagt, die Anstalt Neufriedenheim nie mehr lebend verlassen hat. Mit Paraden – wohl eher Parodien – von Purzelbäumen will der ehemalige Jurist den gestörten Magnetismus, die Polarisation seines Körpers korrigieren oder mit Luftsprüngen (immer ostwärts) und wildem Kreiseln gegen die Schwerkraft senkrecht hoch in den Himmel fahren. Welz findet nicht die Kraft, um diese Energien und Motorik in ihm zu bändigen, zu bremsen. Er glaubt, Gedanken zu übertragen, indem er sich auf die Nasenwurzel seines Gegenübers konzentriert, und vollzieht Energietransfers in die Ferne. Welz gewöhnt sich das Reden ab, verstummt mit dem Hinweis, dass er von jetzt an mit der Welt nur noch telepathisch verkehre. Er hört die Stimmen Verstorbener in seinem Innern und auch eine schöne, im fernen Weltraum gespielte Musik. Aus seiner sexuellen Sphäre kommen Erregungen, mit denen er sich verlebendigen, die Starre des Körpers lösen will, um in Schwingung zu kommen und abzuheben. »Vorsicht für andere Gefährlich zu betrachten«: In seinen Zeichnungen geraten Gedankenströme zu Wellen und Kraftlinien formen sich zu komplexen Geometrien, die sich ins Hirn der anderen einbrennen sollen. Welz meint, in Zukunft nicht mehr zeichnen zu müssen: »wird nur das Papier mit Graphit bestreuen und, mit dem Blick darüberfahrend, die Körner zu Linien und Formen zwingen«.1
Ich laufe von Bild zu Bild: gepanzerte Vögel, Gräber, Würgengel, urinierende Nonnen, Monstranzen, Jungfrauen beim lüsternen Schwärmen, Gottes Geist in den Wolken, die Zerstörung Jerusalems, Muttertiere mit ausgefahrenen Flügeln, Harnröhrenöffnungshelme, Frauen im Bett, Frauen mit Elephantenfüßen, Wunderhirten, Weltachsen und Hasen, Meteore, Trunksüchtige in Zwangsjacken, Castrations-Untensilien, Liebesumarmungen, Leichenkarren, Adam und Eva, eine Nacht ohne Morgen … Wie in einer dickwandigen Blase unter Wasser fühle ich mich von der Welt, von allen anderen entfernt. Die Geräusche um mich herum werden dumpf und blass, verlieren ihre Farben und das Atmen fällt mir schwer; meine Beklemmung wird so stark, dass ich wieder raus auf die Straße, ins Freie will.
Ein Künstler, den ich in der Ausstellung treffe, sagt mir, dass Kirchner, Ernst und Kubin, aber auch Arp, Klee und Schlemmer, Picasso und viele andere sich von Prinzhorns Sammlung haben verzaubern lassen. Die Bilder dieser meist, wie es damals hieß, an Dementia praecox leidenden Psychonauten erinnern nicht selten an Offenbarungen, an das Leuchten einer sternenlosen Leere vor dem Anfang von Raum und Zeit. In den nächsten Wochen fange ich an, Krankengeschichten zu lesen. Einer der vermeintlich Irren wird mit der Diagnose Melancholia daemonomaniaca occulta für viele Jahre weggesperrt. Seine Ärzte lässt er wissen, dass unbekannte Agenten ihm magnetische Gifte verabreichen, die sich ausbreiten, als würde »ein elektrisches Seil vom Zenith durch den Leib, bis zum Nadir aufgespannt«.2 Ihm sei, als werde er als »Batterie« missbraucht, um Feindseliges auf die Körper anderer Menschen auszuströmen. Und eine entsetzliche Hitze gehe von ihm aus. Goldgelbe Strahlen schießen aus seiner Fontanelle in den Himmel … Er kann hören, wie seine Ohren zu sprechen anfangen, wie aus ihnen über Stunden, Tage Prophezeiungen oder Schmähreden tönen. Aus dem Wasser steigen Stimmen auf, das Gewächs in den Gärten fängt an zu fluchen, verbreitet Obszönitäten; Tiere sprechen in Rätseln und verkünden Nachrichten. Die Dinge sind nicht mehr, wie sie sein sollen: Rosen riechen nach Fleisch und Blut, der Honig schmeckt bitter und die Vögel in der Luft fangen an zu husten, Menschen zerreißen, Engel werden von Löwen gefressen und die Welt fliegt in Fetzen umher …
Hyacinth Freiherr von Wieser (Heinrich Welz), Willenskurven.
Ein anderer Kranker, Friedrich Krauß, fühlt sich hypnotisch vergiftet, fühlt, wie in der Nacht unbekannte Mächte mittels ferngesteuerter Maschinen in seinem Hirn »herumwühlen«, glaubt, dass ihm böse Kräfte sein »Od« abziehen … spricht von einer »Entlebensgeisterung«. Sein »Fluidum« werde wie eine Dampfwolke aus dem Organismus getrieben. Er würde, berichtet Krauß, langsam »verdunsen« … Wie eine »Schnurpuppe« lasse man ihn gegen seinen Willen hüpfen und zappeln. Er meint, eine »Magnetisirbande« sei hinter ihm her und zwinge ihn, sich lüsternen »Schlampen« anzudienern.3
Ich schlafe nur noch wenige Stunden, bleibe für Tage in meinem Studentenzimmer, rauche Haschisch und schreibe Gedichte. Eine Nesselsucht mit brennender Haut und hochroten Schwellungen quälen mich. Und immer wiederkehrende Gedanken: Ich fürchte, ich könnte, ohne es zu wollen, meine Freundin mit einem Messer attackieren, verletzen. Ich möchte mein Gesicht zerschlagen, mir in die Fingerspitzen und Lippen beißen. Ich habe Angst, verrückt zu werden. Die Bilder aus Prinzhorns Sammlung haben die Tür zu einem kalten, dunklen Raum geöffnet, in dem ich nun gefangen bin.
Meine Großmutter, eine harte Frau, hat viele Kinder geboren und großgezogen, und einige davon sind gestorben. Jüdin war sie nur auf dem Papier, und obwohl mit einem »Arier« verheiratet, lebte sie während des Krieges immer in der Angst, deportiert und vergast zu werden. Ich kann nicht sagen, dass ich sie besonders gemocht habe. Sie schlug mich gelegentlich oder bestrafte mich mit Stubenarrest, wenn sie schlechter Laune war. Und ich ängstigte mich vor ihr, wenn ihr Blick manchmal leer wurde und sie durch mich hindurchsah. Während dieser meist kurzen Abwesenheiten schien sie nicht ansprechbar zu sein oder antwortete sehr zögerlich, mit langen Pausen zwischen den Sätzen, stoppte plötzlich bei einem Wort und begann von Neuem. Als Kind konnte ich mir keinen Reim darauf machen, warum die Großmutter mir mit einem Mal so fremd war, dass ich mit ihr nicht allein sein wollte.
Meine Mutter, eine glühende Atheistin, erzählte mir später von unheimlichen Begebenheiten während ihrer Kindheit in Breslau, in der Hitlerzeit, in der die ersten Verwandten sich zum Transport in die Lager melden mussten. Die Familie war arm und betrieb eine Schankwirtschaft. Meine Großmutter, eine schöne, aber nahezu ungebildete Frau, fing mit zwölf Jahren schon an, als Dienstmädchen zu arbeiten. Ich glaube kaum, dass sie jemals Kontakt zu okkulten Kreisen oder in Büchern über das Übersinnliche gelesen hatte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie die körperlosen Stimmen, die ihr zuflüsterten, für den Zuspruch der Toten hielt. Sie nahm, was ihr widerfuhr, wohl gleichmütig hin, ohne viel darüber zu reden. Dabei mochte sich niemand aus der Familie mit ihren »Gesichten« abgeben; die schwere Arbeit, die Sorge, auch alle Kinder satt zu kriegen, ließ wenig Zeit für Tagträumereien.
Als man verzweifelt den Schmuck einer verstorbenen Großtante suchte, wusste sie zum Erstaunen aller, in welchem Fach einer Kommode mit doppeltem Boden er versteckt und vergessen worden war. Und sie träumte den Tod ihr nahestehender Menschen meist in der Nacht zuvor, hatte Visionen von Leichenzügen, die stumm und langsam an ihr vorbeigingen. Obwohl nicht sonderlich religiös, hörte sie einen Kirchenchor singen und das Läuten von Glocken. Frauen mit gelöstem Haar, schwarzen Klagetüchern aus Seide und Rosmarinsträußen in den Händen zogen an ihr vorüber. Und Kinder mit Kronen aus Draht, in denen Perlen und Flittergold glänzten. Sie lächelten und sagten sinnlose Reime auf. Die Großmutter erzählte von einer Stadt, durch deren Straßen sie lief, in der nur Blinde, Menschen ohne Augen wohnten. Die Tiere dort waren knochenlose Geschöpfe, die sich in alle Richtungen verbiegen konnten; wenn sie sich bewegten, waren sie bald zu schnell für das Auge. Und alle Wege aus dieser Stadt führten in Wüsten aus schwarzem Sand, über die ein kalter stetiger Wind ging. Das Dunkle, Unheimliche folgte ihr wie ein Schatten. Sie wurde sehr krank, nachdem ein fremder Mann sie bedrohte, sich vor ihr aufbaute, größer und größer wurde, dessen Pupillen riesig und wie glimmende Kohlen waren. Etwas später bekam sie wässrige, schwarzblaue Male auf der Stirn und ihre linke Hand wurde heiß und fleckig. Blieb die Großmutter allein im Haus, klopfte es in den Wänden, von der Decke, aus dem Spültisch, der Kommode. Einmal fand der Friedhofsgärtner sie bewusstlos am Grab ihres bei einem Unfall ums Leben gekommenen Cousins; später erinnerte sie sich, ihn im Traum in der Dachkammer eines Hauses, das ganz ohne Fenster war, gesehen zu haben. Der junge Mann hätte, in einer Endlosschleife, mit monotoner Stimme, immer nur einen Satz wiederholt, in einer Sprache, die sie nicht verstand.
Obwohl »Halbjuden«, mussten zwei ihrer Söhne an die russische Front. Oft gab es von ihnen wochenlang keine Nachrichten und niemand konnte wissen, ob sie noch am Leben waren. Als Alfred, der ältere von beiden, auf einen kurzen Heimaturlaub nach Hause kommen sollte, gingen Mutter und Tochter frühzeitig los, um den einfachen Gefreiten Siewczynski abzuholen. Im Fernbahnhof von Breslau, ein im neugotischen Stil erbauter Komplex mit einer hundert Meter langen verglasten Halle, an dessen nördlichem Ende sich ein aufgegebener jüdischer Friedhof befand, liefen die wichtigsten Verkehrslinien der Stadt zusammen. Es war der zentrale Umschlagplatz für Menschen und Material. Die Bahnsteige waren in diesen Tagen von Soldaten, von Verwundeten und Zivilisten überfüllt, es gab kaum ein Durchkommen. Später, als der Kanonendonner der russischen Front schon hörbar war, wurden hier die Kinder und verheirateten Frauen in Viehwaggons gepfercht, in Richtung Schlesien und Sudetengau abtransportiert. Mutter und Tochter warteten einige Stunden, bis über Lautsprecher durchgegeben wurde, dass der Zug des Heimkehrers wegen Tieffliegerbeschuss viele Kilometer vor Breslau liegengeblieben sei, und keiner könne sagen, ob er an diesem Tag noch ankommen würde. Trotz dieser Nachricht war meine Großmutter sich absolut sicher, dass ihr Sohn ganz in der Nähe sei, und weigerte sich, nach Hause zu gehen. Eine halbe Stunde später stand Alfred dann vor ihr und umarmte die beiden – man hatte ihn mit einem anderen Zug Soldaten nach Breslau verfrachtet. Und es war Alfred, der ihr ein Jahr später in einer kalten Dezembernacht erschien: Der Sohn stand neben ihrem Bett, sprach kein Wort und lächelte. Ihm fehlten ein Auge und drei Finger der rechten Hand, und die Großmutter erzählte, dass es nach feuchter Erde roch, nach schmelzendem Schnee und Kiefern. Und sie meinte, ein Akkordeon zu hören, das ein altes Wolgalied spielte. Die Post der Wehrmacht kam einige Wochen später: Alfred Siewczynski, Soldat der 3. Kompanie des Infanterieregimentes 189 sei im Raum Toropez, siebzig Kilometer ostwärts von Welikije Luki gefallen.
In den letzten Kriegstagen, als die Überlebenden der Familie auf dem langen Marsch nach Westen waren, überkamen meine Großmutter abermals ihre »Gesichte«.
Die Fenster sind durch schwarze Plastikfolien verdunkelt, eine Handvoll Geistergläubige sitzt im Kreis um das Medium. Aus der Ferne werden Kinderlärm und das Läuten einer nahen Kirche ins Zimmer getragen. Mir ist leicht übel und ich erschrecke etwas, als ein flimmerndes Skotom von einem Quellpunkt meines rechten Auges in gezackten Rändern langsam von der Mitte zum Rand meines Sehens läuft. Das Parfüm meiner Nachbarin – ich rieche den schweren Duft von Patschuli – weckt kurz Erinnerungen an frühe Hippie-Tage mit afghanischem Haschisch und dem Leben in einer Kommune am Ende der Stadt.
Stewart Alexander, ein schon etwas älterer, großer und hagerer Mann, mit grauweißem Bart und tiefen Falten von den Nasenflügeln zum Mund, soll den Geist Walter Stinsons verkörpern, einen in den Zwanzigerjahren bei einem Eisenbahnunglück verstorbenen Bruder Margery Crandons, im Boston jener Zeit selbst ein bekanntes Medium mit vielen Verehrern.
Ein hauchzartes, melodisches Glockenspiel wandert durch den Raum … Zwei, wie es mir scheint, leicht überdrehte, mädchenhafte Frauen, mit malvenfarbenen Kleidern huschen durch das immer nur für Sekunden von Rotlicht erhellte Dunkel. (Viele Okkultisten glauben, dass die Wellenlängen des weißen Lichtes, im Gegensatz zum roten und violetten, manche der übersinnlichen Phänomene verhindern.) Sie schauen ein wenig verklärt, hantieren betont leise, als wären sie in der Kirche und nicht in einem Basler Hinterhof; sie sollen, nehme ich an, Alexander zur Hand gehen.
Eine der beiden »Trompeten«, trichterförmige Pappschallrohre, denen man Leuchtringe angelegt hat und die zu Füßen des Mediums stehen, schwebt, begleitet von lang gezogenen Seufzern der erwartungsfrohen Runde, in einer schrägen Bewegung langsam hoch zur Decke. Der zweite Trichter zur Verstärkung der Geisterstimmen (?) holpert über den Boden, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu erheben, und rollt ein wenig über das Parkett. Wir warten … Ich höre merkwürdige Geräusche. Ist es die Frau neben mir, die abwechselnd ein Klickern und knurrendes Zischen von sich gibt, wie ein gestrandeter, an Land geworfener Kiemenatmer? Gleich darauf entsteht ein tiefes Brummen, wie von einem riesigen, überdimensionalen Käfer, der auf der Suche nach Pollen und Säften von Blüte zu Blüte schwärmt. Für einen Moment glaube ich, es würde nach Eau de Cologne und Mottenpulver riechen. Ein Gesicht erscheint dicht vor mir, dessen Augen hellglänzend wie die einer Porzellanpuppe sind. An der Decke sehe ich wolkenartige Strukturen, die zu Glas erstarrt scheinen, die, würde ich mit einem Stock gegen sie schlagen, in Scherben zerspringen könnten. Im nächsten Augenblick wird das Zimmer zu einer großen Halle, an deren Wänden sich leblose Menschen wie Maschinenteile stapeln, die hier vor Jahren ausrangiert und vergessen wurden. Eine riesige Bahnhofsuhr über meinem Kopf ist kurz nach Zwölf stehengeblieben. Dann wieder laufe ich durch verschneite Straßen. Mir ist kalt. Fange ich vielleicht an zu halluzinieren? Spielen meine Sinne verrückt? Doch ich bin nüchtern, die letzten Joints und »Pilzreisen« liegen lange zurück, und nach einem schweren Entzug von Tranquilizern, bei dem ich fast gestorben bin, verzichte ich schon seit Monaten auf Alkohol.
Ein absurder Satz verfolgt mich: »Der Tod kommt als schönes Mädchen mit langen Wimpern … der Tod ist der Kuss meiner Mutter nach der Geburt …«; das ist nicht einmal poetisch und klingt irgendwie dumm. Ich müsste jetzt pinkeln und rauchen und beginne zu schwitzen. Wie unter einem Brennglas erhitzt sich die Haut über den Nierenbecken und entlang meiner Wirbelsäule. Jemand spricht ein Gebet auf Englisch. Eine ältere Frau stimmt Lustig ist das Zigeunerleben an; das gemeinsame Singen soll wohl die Geister erfreuen und einladen. Die Dame links neben mir trägt eine weiße hochgeschlossene Gouvernantenbluse und streng nach hinten gekämmtes Haar; ihre Armkettchen klimpern bei jeder Bewegung. Sie scheint nervös, nestelt an ihrem Seidenschal und strömt den Geruch von Kölnischwasser aus. Ihre Hände, die auf den Beinen liegen, zittern ein wenig – ihr festgefrorenes Lächeln irritiert mich und beim Sprechen verschluckt sie einige Silben und die Enden längerer Wörter; vielleicht leidet sie, vermute ich, an der Parkinson’schen Krankheit? Nachdem die Beleuchtung wieder einmal kurz angeht, flüstert sie mir zu, etwas Unsichtbares habe sie am Bein berührt.
Ein Klirren (in meinem Kopf?), als würde in der oberen Etage ein Fenster zerbrechen, schreckt mich auf. Die Luft im Zimmer fühlt sich irgendwie dick an. Wie manche Menschen auf Beerdigungen spüre ich, ohne zu wissen warum, das ungeheure Bedürfnis zu lachen. Ich höre ein schweres, tiefes Atmen, das an der Decke zu hängen scheint. Auf meiner Netzhaut entladen sich Zellen zu einem bogenförmigen Kometen, der im rechten inneren Augenwinkel erlischt. Sind uns die Toten schon nah und bereit, Zeichen zu geben? Eine kindliche Stimme, etwa einen Meter über mir, beginnt leise und etwas verwaschen auf Englisch zu sprechen, wird langsam lauter und klarer, dennoch verstehe ich kaum ein Wort; aber die anderen scheinen sich zu amüsieren und lachen. Aus der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers beschwert sich der Geist einer verstorbenen Frau – ihr Name ist Freda –, dass er durch einen männlichen Körper sprechen muss, und scheint etwas ungehalten, gereizt zu sein. Ich fühle den Hauch einer Berührung, als würde eine winzige Seifenblase an meiner Wange zerplatzen. Wenig später meldet sich eine feine, dünne Stimme, die etwas »Erbauliches« zum Besten und sich als ein Dr. Barnett zu erkennen gibt. Der Tote lässt uns wissen, dass er seine Sätze mithilfe einer »ektoplasmatischen Stimmbox« erzeugt, die sich wenige Zentimeter oberhalb der linken Schulter Alexanders gebildet haben soll.
Ich werde müde, erinnere mich an einen Traum der letzten Nacht, der mir schon den ganzen Tag über folgt: Als ein bereits alter Mann besuche ich den Ort meiner Kindheit, eine sozialistische Plattenbausiedlung im Osten Berlins. Ich stehe im Treppenhaus vor der Tür meiner ersten, vorpubertären Liebe. Nach mehrmaligem Klingeln öffnet Cordula, mein zauberhaftes Mädchen, auf die ich manchmal Stunden wartete, in der Hoffnung, sie würde sich vielleicht am Fenster zeigen. Der ich heimlich folgte, wenn sie zur Schule oder zum Einkaufen ging. Sie ist noch immer dreizehn Jahre alt, wie an dem Tag, als ich sie zuletzt gesehen habe. Lange schaut sie mich an und versucht, in meinen Augen zu lesen, und bittet mich dann zu gehen. Ich weine, als ich mich umdrehe und zum Ausgang laufe. Vor einigen Jahren habe ich gehört, sie sei jung gestorben.
Von Zeit zu Zeit wird die rote Glühlampe angeschaltet. Alexander, das Medium, sitzt auf einem mit Blumendekor bespannten Sessel; man hat ihn mit harten Plastikkabeln an die Armstützen gefesselt; er kann sich kaum rühren, nur Beine und Kopf bewegen, während sein Gesicht seltsame Grimassen wirft. Ich bin mir nicht sicher: Rollen seine Augen unter den Lidern, bewegt sich sein Mund, als würde er kauen?
Wieder sind wir im Dunkel und warten … warten auf den Star des Abends, der, kündigt eine der Assistentinnen an, nun mit etwas Glück erscheinen wird: Walter Stinson. In okkulten Kreisen legendär, soll Stinson, ein wahrer Entertainer unter den Toten, während der Séancen seiner Schwester Margery singend und pfeifend aufgetreten, den lebenden Damen gegenüber, wenig Kavalier, mit tiefer Stimme und schwerem Slang anzüglich geworden sein. Wenn Walter erschien, fielen reihenweise Stühle um, flatterten eilige Vögel durch den Raum. Verschiedene Male hing ein plazentaähnliches Gebilde samt Nabelschnur in der Luft, zeigten sich feuchte schwarz-rote Lungenflügel direkt vor dem Fenster … während das Flexaton mit hellen zarten Tönen wie ein fliegendes, monströs großes Insekt anhob, durch die Luft zu gleiten. Walter hinterließ seine Fingerabdrücke in Dentalwachs und merkwürdige, zylinderförmige Objekte, deren Funktion niemand kannte. Ein Foto zeigt Margery, wie ihr die ektoplasmatische Hand des älteren Bruders aus dem Unterleib, der Vagina wächst. Nun, fast hundert Jahre später, meldet sich Walter zurück.
Mit einem Mal ist seine sehr maskuline Stimme neben dem Medium zu hören; Walter, so nehme ich an, begrüßt die beiden Schönheiten unserer Runde, Beate und Sabine, zwei junge Frauen aus Basel, und beginnt ungeniert, mit ihnen zu flirten, beschreibt die körperlichen Vorzüge der beiden bis ins Detail. Um gleich darauf zu versprechen, dass wir alle an diesem Abend zu Gläubigen werden, wenn uns die Hand eines Toten berührt.
Ein quadratischer, von innen beleuchteter und mit roter, durchsichtiger Folie bespannter Glaskasten steht direkt vor dem Medium. Beate und Sabine sitzen links und rechts davon. Das Dämmerlicht ist stark genug, dass ich die Gesichter unterscheiden kann. Wie von einer brennenden Pechfackel zieht ein tiefschwarzer Rauch über den Leuchtschirm und löst sich, von einem feinen Luftzug weggeweht, wieder auf … Das Schauspiel beginnt von Neuem. Der Rauch bewegt sich in schmalen, wellenartigen Fäden und breitet sich zu größeren, lückenhaften Flächen aus. Dann, als wäre ein unsichtbarer Schöpfer am Werk, als hätten sich ganze Partikelschwärme, Wolken von Atomen zu einem stofflichen Etwas verdichtet, bilden sich die Umrisse einer Hand. Ich kann, ich möchte nicht glauben, was hier vor meinen Augen geschieht. Beate und Sabine sind entzückt und streicheln Walters materialisierten Auswuchs. Ich erinnere mich an okkulte Geschichten, in denen Phantome zu den Lebenden kamen, um Liebe zu machen, ihre Lust zu stillen. Auch Mr Stinson würde wohl, vermute ich, so wie er redet, sich den beiden Verehrerinnen gerne als Liebhaber anbieten. Nach einer halben Stunde scheinen sich aber seine Kräfte zu erschöpfen – er macht den polnischen Abgang und ist, als hätte ihn eine Falltür geschluckt, verschwunden.
Es gab Zeiten, in denen mochte ich von der Welt der Toten, wie sie mir nahegebracht wurde, nichts mehr wissen und ich versuchte, mir mit der Philosophie zu helfen, ein wenig Halt zu geben; ich besuchte die »großen« Männer, deren Bücher mir wichtig waren – Derrida, Sloterdijk, Žižek, Baudrillard –, arbeitete mit Albert Hofmann an den Erinnerungen eines Psychonauten. Eine dieser Begegnungen, ich treffe den Prager Juden Vilém Flusser wenige Wochen vor seinem Tod, halte ich in einem Stück Prosa fest, das ich heute zwei Jahrzehnte später als etwas pathetisch empfinde, mich aber nicht dafür schäme, weil es mir zeigt, in welcher Not ich war:
Das Gesicht des anderen ist unerschlossen, fremd, ein ferner Kontinent, mit unbekannten Linien, Faltungen, Flecken, Tiefen. Nichts wissen wir voneinander. Keine Erinnerung, die uns verbindet, keine gemeinsame Geschichte. Das Licht wird schwächer, die Farben werden blass, die Konturen weich. Alle Dinge scheinen durchsichtig zu werden, an Substanz zu verlieren, an Dichte und Schwere, als wollten sie sich von selbst bewegen und schweben. Wir reden. Nur wir allein im Zimmer; ein alter und ein noch junger Mann. Jugend und Alter berühren sich. Wir reden und haben darüber die Zeit vergessen. Vergessen, was die Lebenden am Leben hält und die heftige Sehnsucht nach Nikotin. Vergessen den Stoff, aus dem die Träume sind, das Bromazepam, welches mir Nacht für Nacht den Schlaf besorgt. Ich vergesse den Regen, den bedeckten, bleiernen Himmel, mein stetig lärmendes Innenohr, das scharf einschießende Reißen im Unterbauch. Vergesse die Frau, die den Rock für mich hebt, um mir eine Freude zu machen; das Fieber des Sohnes ist vergessen und das Lachen der Tochter. Wir reden und reden. Von vielem ist die Rede: dass die Welt im Hirn ist und das Hirn in der Welt und dass diese graue, gefurchte Masse diesen Haufen Zellen: sich selbst bedenkt. Dass wir ausbrechen könnten, aufgehen im Nichts. Denn das Ich, sagt der alte Mann, ist eine Zwiebel – Schale und Schale und weiter dann: nichts. Und die ins Nichts zerfallenden Teilchen, Partikel, Schwärme …
Rede weiter, ich höre dich, höre dir zu. Wir sind die Affen, die einst vom Baum fielen und nun Mensch sein müssen für lange Zeit. Ließe sich, fragt er, ein Fötus lieber abtreiben, wenn er wüsste, was ihn in der Welt erwartet? Über den Selbstmord reden wir, als das unzähmbare Verlangen, nicht mehr »denkende«, sondern »ausgedehnte Sache zu sein«. Über Taenia solium, den gemeinen Schweinebandwurm, doppelgeschlechtlich, mit 50000 Eiern, Spermien, Rostellum und zweifachem Hakenkranz, seinen 1500 Gliedern, diesen Superbegatter und göttlichen Parasiten, der sich in Muskeln und Zwerchfell frisst und auch noch ins Hirn; der von der Arbeit erlöst nur verdaut und genießt, die reine Liebe lebt. Vom Vampyrotheutis infernalis ist die Rede, vom Kannibalen, dem Anarchen, einem Tier aus dem Abgrund. Dies »schleimige, weiche, langsame Tier« aus den Tiefen des Meeres, des Kambriums, mit seinen Antennen, Tentakeln und Saugorganen, mit Eingeweidesack und Mantel, mit Zähnen wie Zangen, angetrieben von kaltem Blut: Ein Tier, an dem alles Geschlecht ist, Kopulation und Ejakulat: der Gegenentwurf, die andere Seite des Menschen. »Seine Hölle ist unser Himmel, sein Himmel unsere Hölle.« Beide, sagt der alte Mann, sind schlecht programmierte Wesen und voller Defekte. Über das Scheitern reden wir, weil wir den Tod nicht abschaffen, nicht aufhalten können. Und darüber, dass, was zu entscheiden, auf Maschinen abgeschoben, uns wieder in Würde Mensch sein lässt. »Ein einziger, riesiger Sabbath wird sich wölben über die künftige Menschheit …« zur reinen Muße und Kontemplation: die ist – Nunc stans – »immer jetzt« und »überall hier«. Dunkelheit senkt sich ins Zimmer. Rede, alter Mann, ich höre dich, höre dir zu. Jeder von uns wird morgen ein anderer sein – verwandelt: In den frischen Schweiß verschmelzender Körper, einen Schlaf, der nicht aufhören will, in den schlecht heilenden Schenkelhalsbruch, eine nutzlose Erektion, verwandelt in das Kichern des Mädchens, dem kürzlich erst Brüste gewachsen sind. In die Hand, die mir schnell einen runterholt, ins helle Orange des schönsten Himmels. Verwandelt in Zysten, Abszesse, in Säuren und Gase. Wir reden, während irgendwo an der Börse die Kurse einbrechen und irgendein Fleisch zu faulen beginnt und ein Herz noch immer das Blut durch zu enge Gefäße treibt und die Nachbarin ihren Geliebten verlässt; wir reden, während ein Weibchen der Goldaugenbremse am Hals eines Warmblüters saugt. Während Kastanienduft aus frisch gewaschenen Haaren strömt und Millionen Viren die Macht übernehmen in einem zu alten Körper. Wir altern und danken ab. Während die Blase nicht den Urin, der Darm kaum noch die Scheiße hält. Während die Knorpel spärlicher werden, die Knochen entkalken und die Zunge noch immer einen Mund zum Küssen sucht. Wir werden uns nicht wiedersehen, unsere gemeinsame Geschichte dauert nur Stunden. Von »Kadosch« redet der alte Mann, der Jude aus Prag: Das Nutzlose und das Heilige – die heilige Nutzlosigkeit und das Elend der Sinnstifterei. Alles ist absurd: Kinder zu machen oder Geld, sich umzubringen ist absurd. So absurd wie das Lächeln stummer Sirenen, wie Hämorrhoiden, die zu bluten beginnen, und eine tote Sprache, die keiner mehr spricht. Absurd, wie ein Automobil ohne Räder, der defekte Buchstabe einer Leuchtreklame, wie kosmetisch gestraffte Schamlippen, ein weggeworfenes Kondom.