Okkultes Denken - Nick Land - E-Book

Okkultes Denken E-Book

Nick Land

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Beschreibung

Nick Land, einer der Köpfe des antidemokratischen neoreactionary movement, Prophet der Beschleunigung und bekennender »Hyper-Racist«, gehört zu den rücksichtslosesten Denkern unserer Zeit. Mit halluzinatorischem Furor lässt er Ungeheuer, Nietzsche-Zombies oder theoriegesättigte Abjekte Amok laufen und schleift Cthulhu-beschwörend Fiktion zu Realität. Ungebremst prescht Land in die tragenden Pfeiler der Aufklärung, in deren Ruinen eine dunkle, irrationale Welt zum Vorschein kommt, worin das Subjekt des abendländischen Denkens endgültig ausgedient hat. Weshalb ihm die ästhetischen und technikphilosophischen Diskurse, über eigenen Skrupel hinwegrasend, dennoch folgen? – Das fragen die Herausgeber Dietmar Dath und Philipp Theisohn gleichermaßen fasziniert in ihrem begleitenden E-Mail-Wechsel und kommen zu dem Schluss: »Weil er etwas extrem Seltenes in der Geschichte der letzten 250 Jahre ist: ein Mensch, der denkt und argumentiert, wie das Allerschlimmste und Allerfalscheste denken und argumentieren würde, wenn es überhaupt denken und argumentieren könnte.« Denken, so zeigt dieser Band mit Nick Lands erstmals ins Deutsche übersetzten Theorie-Fiktionen, ist eine Gewalt, die die Fantasie dazu zwingt, sich als Wirklichkeit zu enthüllen

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Nick Land

Okkultes Denken

Aus dem Englischen von Dirk Höfer

Mit einem Korrespondenzessay und herausgegeben von Dietmar Dath und Philipp Theisohn

INHALT

Vorwort

Philipp Theisohn

Kunst als Aufstand

(1991)

Schaltkreise

(1992)

Geist und Zähne

(1993)

Maschinenbegehren

(1993)

Kernschmelze

(1994/97)

[[]] Keine Zukunft [[1.343]] [[0]]

(1995)

Schamanischer Nietzsche

(1995)

KataςoniX

(1996)

CyberGothic

(1998)

Die Ursprünge des Cthulhu-Clubs

(1998/99)

Okkulturen

(1999)

Kabbala zur Einführung

(2006)

Die Herrschaft des Dreifußes

(2011)

Ein Zeitreisender in Schanghai

(2011)

Implosion

(2011)

Dunkle Aufklärung

(2012)

Lockende Leere

(2016)

Desintegration

(2019)

Korrespondenzessay

Dietmar Dath & Philipp Theisohn

Anmerkungen

Textnachweise

VORWORT

Philipp Theisohn

Land was our Nietzsche – with the same baiting of the so-called progressive tendencies, the same bizarre mixture of the reactionary and the futuristic, and a writing style that updates nineteenth century aphorisms into what Kodwo Eshun called »text at sample velocity.« Speed – in the abstract and the chemical sense – was crucial here: telegraphic tech-punk provocations replacing the conspicuous cogitation of so much post-structuralist continentalism, with its implication that the more laborious and agonised the writing, the more thought must be going on.

Mark Fisher, »Terminator vs. Avatar.Notes on Accelerationism« (2010)1

Nick Land, Jahrgang 1962, zählt zweifellos zu den verrufenen Denkern unserer Zeit. Zurückzuführen ist sein Stigma auf seine geistige Ahnherrschaft in Bezug auf das Neo-reactionary movement (NRx), auf die politische Allianz mit Curtis Yarvin, auf sein Eintreten für einen »Hyper-Racism«2 sowie auf ungezählte Tweets und Blogeinträge, die Land je nach Perspektive im Umfeld oder Epizentrum der Alt-Right verorten (von der er NRx gleichwohl abgesetzt sehen möchte).

Indessen bildete und bildet Verrufenheit seit jeher die Matrix seines Denkens und somit auch all jener Schriften, die keineswegs nur den Herausgebern dieses Bandes über Jahrzehnte als Stimulantien dienten. Die Wirkung, die Nick Lands Texte auf die ästhetischen und technikphilosophischen Diskurse der 1990er-Jahre ausgeübt haben, ist kaum zu überschätzen. Von Poptheoretikern wie Simon Reynolds über Luciana Parisi – der derzeit vielleicht bedeutendsten Repräsentantin eines philosophischen Posthumanismus – bis hin zur theoriegesättigten britischen Elektroszene von Kode9 bis zu Kodwo Eshun, der Land um 2010 zum »most important philosopher of the last 20 years« erklärt hat:3 Lands Theorie-Fiktionen, von Mark Fisher in einem Interview treffend als »cybergothic remixes« des Anti-Ödipus bezeichnet,4 öffneten Hunderte von Türen, hinter denen sich das Verhältnis von Kunst, Technik und Wirklichkeit immer wieder neu und anders verstehen ließ – und lässt.

Die Schlüssel zu diesen Türen hatte sich Land als »malfunctioning academic«5 über dunkle Kanäle beschafft: Ihre persuasive Kraft verdanken die Texte nicht zuletzt einem Bündnis mit dem, was aus der akademischen Reflexion für gewöhnlich ausgeschlossen bleibt – das Okkulte, die Droge, die Kunst des Erzählens. Triebkräfte, die Land nutzte, um das Subjekt, das seit der Aufklärung als Ankerplatz des abendländischen Denkens gedient hatte, hinter sich zu lassen. Immer war es ihm um den Sprung auf jene Ebene zu tun, die den Blick freigibt auf die Fiktionsfabriken, in denen der Mensch und seine Götter ebenso hergestellt werden wie Gibsons Replikanten oder Lovecrafts »Great Old Ones«.

Der vorliegende Band kann somit als eine Reise durch Lands dunkle Welten verstanden und gelesen werden. Am Ausgangspunkt dieser Reise steht ein junger Philosophiedozent, der 1987 – im Alter von 25 Jahren – in Essex über Heideggers »Die Sprache im Gedicht« promoviert, Kurse in zeitgenössischer französischer Philosophie anbietet und 1995 zum Zentrum eines Kreises wird, der auf den Namen »Cybernetic Culture Research Unit« (CCRU) hört. Zahlreiche Gerüchte und Geschichten umranken da schon diesen Mann, die allermeisten von ihm selbst in Gang gesetzt: Er lebe in einem lovecraftschen Paralleluniversum, sei von verschiedenen archaischen Mächten bewohnt, von den Toten auferstanden6 und verstehe sich als aus der Zukunft gesandter Android.7 Seine Vorträge verwandelt er in Performances, bei denen er sich auch schon einmal, vom Geist einer Schlange besessen, schreiend auf dem Podium windet.8

Das CCRU, dem neben den oben erwähnten Eshun, Parisi und Fisher auch Leute wie Hari Kunzru, Jake Chapman, Robin Mackay und Sadie Plant – die Verfasserin der immer noch großartigen Studie Writing on drugs (1999) – angehörten, gilt als die Keimzelle des Akzelerationismus; jener Denkschule also, die im Technokapitalismus eine Dynamik erkennt, deren Widersprüche nur dadurch – wenn überhaupt – geheilt werden können, indem man den Menschen aus ihr herausnimmt. Die Antwort auf die Frage, auf welche Art und Weise dieses »Herausnehmen« erfolgen soll und vor allem: was danach bleibt – diese Antwort wird die unterschiedlichen Ausfaltungen des Akzelerationismus definieren. Zu dessen Geburtsstunde ist von den späteren Entgegensetzungen noch wenig zu spüren; das CCRU kennt Dogmatik ohnehin immer nur als überdrehte, sich letztlich gegen sich selbst wendende Performance, ein Spiel mit der Autorität. So war das CCRU zwar drei Jahre am philosophischen Department der University of Warwick beheimatet, blieb dabei jedoch immer eine dezidierte Nicht-Institution. »Cybernetic Culture« wurde hier dementsprechend gerade nicht als Forschungsobjekt im klassischen Sinne begriffen, sondern als ein Tun respektive als jener »Übertragungsmodus, der flache Produktionskollektive kennzeichnet«9: Hier wird nicht diskutiert, sondern gesetzt. Reflexion und Aktion, Prozess und Produkt fallen stets in eins. Jeder Gedanke, jeder Text ist Setzung, ist Ausweis und Beschleuniger eines den Menschen übersteigenden und umformenden Gestaltungsprozesses, der von einem weltumspannenden wie weltdurchdringenden Technokapital angetrieben wird. Daneben charakterisiert das CCRU »Cybernetic Culture« anhand ihrer »absoluten Überpersönlichkeit, Ahistorizität und Extraterritorialität«.10 Die Verabschiedung von Subjekt, Geschichte und Territorium konfiguriert die posthumane Grundausstattung des CCRU. Damit einher geht die Auflehnung gegen Chronologie und die Aufhebung der Unterscheidung von Fiktion und Fakt. In der Dynamisierung von Donna Haraways Cyborg-Modell, dem die Aufhebung der Dichotomie von Körper und Geist bereits inhärent gewesen war,11 verwandeln sich im Denkraum des CCRU Menschen in »Ccru Meat Puppets«,12 selbst geschaffene Mythen in Argumente, Horrorgeschichten in Transzendentalphilosophie, Fantasien in Urkunden. Die Maschinerie, mit der diese Transformationen vorgenommen werden und die auch die archaische Wiederkehr von Gegenwart, das »counter-chronic arrival«, verantwortet, ist das sogenannte Numogram; die darin zum Tragen kommende Technik wiederum die von Land ersonnene »Hyperstition«, zu der in der diesen Band begleitenden Schlusskorrespondenz noch einiges gesagt wird.

Noch vor die Entstehung des CCRU fällt die Veröffentlichung von Lands einziger Monografie The Thirst for Annihilation (1992), die zwar den Untertitel »Georges Bataille and virulent nihilism« trägt, die gleichwohl weniger Bataille-Studie als vielmehr Bataille-Performance ist. Dass Land dabei »nichts über Bataille weiß«,13 dass er – als »ein schmutziger Bettler (wie Gott)« – nichts anderes tut, als an den »Rändern des Diskurses über Georges Batailles Schriften herumzunörgeln«14: Das ist, mitsamt dem ostentativen »Ich«-Gebrauch und dem Bekenntnis-Ton, selbst ein Sprechen mit Bataille, ein Wirkungssprechen. Und wenn Batailles unverkennbare Handschrift die »Geisteskrankheit« (»spiritual disease«) sein soll,15 dann geht es Land vor allem darum, das Virus zu verbreiten und das von Bataille aufgeweckte »Monster im Keller der Vernunft«16 endgültig aus seinem Labyrinth zu führen.

Batailles Stellenwert für Land erklärt sich sicherlich zunächst aus dessen eschatologischer Aufladung des Verfemten und der Verausgabung als Grundlage einer Uminterpretation des Marxismus. Die karitative, um nicht zu sagen: humanistische Tendenz, die einerseits die vernichtende Kraft des Kapitalismus in Kartelle und Korporationen zurückbindet, die andererseits aber darauf hinausläuft, eine im Kolonialismus auf den Höhepunkt getriebene Ausbeutungsform lediglich durch eine andere, der Utopie verschriebene zu ersetzen, lässt Bataille hinter sich. Kapitalismus erscheint ihm – wie Land auch – als eine »tyranny of good«,17 als eine Bürokratie des Verbrauchs, des »nützlichen Reichtums«, der »realen Ordnung«, deren Gegenstück das Opfer, dessen Verzehrung und Aufzehrung ist.18 Batailles Unterscheidung zwischen ›realer‹ und ›intimer‹ Erfahrung, seine gezielte Erweiterung der politischen Ökonomie um die kultisch-religiöse Ebene sowie seine Apokalyptik der Selbstaufzehrung bleiben in Lands Schriften mit wechselnder Akzentuierung präsent.

Die Fährte, die der hier vorliegende Band aufnimmt, findet sich indessen im siebten Kapitel von The Thirst for Annihilation, in einem Zitat aus Batailles L’expérience intérieure: »Ebenso halte ich die Erfassung Gottes, auch eines Gottes ohne Form und Modus […], für einen Stillstand in der Bewegung, die uns zu der dunkleren Erfassung des Unbekannten führt«.19 Beginnend mit Kants Kritik der Urteilskraft, erscheint Land die Philosophiegeschichte als eine immer wieder durch den Einfall Gottes unterbrochene Annäherung an das Numinose, als eine Rückversicherung des Menschen gegen seine angstvoll erspürte Überwindung. Bei Kant erfolgt diese Rückversicherung im Festhalten an der »noumenale[n] Subjektivität«, wie es in »Maschinenbegehren« heißt.20 Gemeint ist damit, dass Kants Erkenntniskritik zwar dem Exzess apriorischer Synthesen einen Riegel vorschiebt, aber dennoch am transzendenten Charakter des Zustandekommens der verstandesförmigen Synthetik als einem »Wunder« festhält. Der Gedanke nämlich, dass die Orientierung der erkennenden Subjekte auf Ideen, ja: dass die Existenz erkennender, synthetisierender Subjekte selbst ›zweckmäßig eingerichtet‹ sei – dieser Gedanke bezeugt Kants Verhaftung im noumenalen Anthropozentrismus, dessen Grenzen der Königsberger Philosoph gleichwohl schon ahnte. Land schreitet daher mit Schopenhauer und Nietzsche über Kant hinaus, verwirft sowohl Hegels »Hochkirche« der Synthese als auch Husserls Phänomenologie als »maßgebliche Ideologie der Schicklichkeit«21 und konfrontiert die Kontrollmechanismen menschlicher Subjektivität mit Noumena aus dem Jenseits, mit Ungeheuern und Abjekten, bissig und toxisch wie Trakls Ratten, eben: »Fanged Noumena«. Diese stehen gerade nicht mehr im Dienst des Menschen und seiner intelligiblen Sicherheitssysteme, sondern nagen an ihnen, zersetzen sie, und zum Vorschein kommt eine andere Welt, der »Technokosmos«, in dem »nichts gegeben, alles […] produziert« ist.22

Gesprochen wird in den hier versammelten Aufsätzen im Namen ebendieses Kosmos, dem alles, was verhandelt wird – die Kunst, der Geist, die Lust, die Technik –, gleichsam einverleibt ist. Dabei lässt sich die enge Verbindung, die der Technokosmos zur Schizo-Analyse Deleuze’/Guattaris unterhält, nicht verleugnen und wird in den frühen Texten Lands sogar offen ausgestellt: Die Dinge, wie sie uns erscheinen, sind nicht »durch das Humanum qualifiziert«.23 Vielmehr handelt es sich Land zufolge um Konstrukte einer zukünftigen, nicht terrestrischen Welt – wie auch das Bewusstsein, das wir noch für ein menschliches halten, das sich denkend der Wirklichkeit zu bemächtigen versucht und durch die Lektüre von Lands Texten bis hinab zu den »chthonischen Schaltungen, Kreuzschraffuren und Spektraldiagrammen ungeborener abstrakter Maschinen«24 ins Dunkel geführt wird. Ins Dunkel, das viele Namen hat – K-Tod, Unleben usw. In ihm hausen eine Unzahl von »Okkulturen«, deren Geschichte Lands Cybergothic erzählt. Diese halluzinatorische Tiefensphäre tritt dabei in Gegensatz zur Geschichte des Kapitalismus. Zwar nimmt die Geschichte des Kapitalismus ihren Ausgang ebenfalls bei jener »Invasion aus der Zukunft«, beim »Einfall eines künstlichen intelligenten Raums«.25 Was sie von der Cybergothic jedoch unterscheidet, ist das Bewusstsein, das diese Invasion verarbeitet; ein menschliches Bewusstsein nämlich, das sich gegen den Schrecken philosophisch und psychoanalytisch panzert und eben, um zu Bataille zurückzukehren, »in der Erfassung Gottes« stillsteht, anstatt über sich selbst hinweg zu gelangen.

Die Überwindung des Kapitalismus bleibt somit an die vollkommene Realisierung seiner Mittel geknüpft. Anders formuliert: Es gibt keine Humanisierung des Kapitalismus, weil der Kapitalismus selbst bereits diese Humanisierung darstellt. Man wird den Menschen aufheben müssen, um woandershin zu gelangen – und das ist das Ziel, dem Lands Schreiben und Denken dient, für das es in Anspruch genommen wird.

1998 verlässt Nick Land die akademische, Anfang des Millenniums dann auch die europäische Welt und übersiedelt zunächst nach Taiwan, schließlich nach Schanghai, wo er bis heute lebt, bloggt, Horrorfiction schreibt und als Journalist arbeitet. Die Ortswahl ist konsequent, verspricht doch bereits »Kernschmelze« (1994): »Neo-China kommt aus der Zukunft«, um sogleich auf das Einsetzen eines »planetarischen China-Syndroms«, der »Auflösung der Biosphäre in die Technosphäre« zu setzen.26 In der chinesischen Verbindung von Marxismus und Kapitalismus sieht Land, wie er 2004 in einem Beitrag für den Shanghai Star schreibt, »the greatest political engine of social and economic development the world has ever known«,27 das heißt eine futurische Kraft. Seine Erkundung dieser Welt des »Dieselpunks«, die Rekonstruktion ihrer Ursprünge, kann man im Beitrag »Ein Zeitreisender in Schanghai« (2011) mitverfolgen.

Nur ein Jahr später, 2012, erscheint dann jener Text, mit dem Lands Name seither verbunden ist und mit dem seine selbsterklärte Verwandlung in einen »Sith Lord« einhergeht: »Die dunkle Aufklärung« (»Dark Enlightenment«). Verbreitet und gelesen als Gründungsmanifest der Neoreaktion stellt »Die dunkle Aufklärung« in ihrer Kernstruktur vor allem eine Reflexion auf und mit Curtis Yarvins (aka Mencius Moldbug) Blog Unqualified Reservations dar. (Wobei Verschmelzung mit, Kritik an und Überbietung von Yarvins Argumentation selten sicher zu trennen sind.) Systematisch betrachtet, folgt der Text immer noch Lands Prinzip einer ›jenseitigen Rede‹: Er fahndet nach der humanen Angst- und Sicherungsmechanik, findet diese mit Yarvin in der Demokratie und letzten Endes im Staat. Als Werkzeug der dunklen Unterseite stellt sich Land dann folgerichtig der »Anarcho-Kapitalismus« dar, eng verwandt (aber nicht identisch) mit dem amerikanischen Libertarismus, oder eben: NRx als eine Bewegung, die der universalistischen, egalitären Tendenz der demokratischen Homöostatik Störimpulse versetzen und den Staat, wofern sie ihn nicht ganz beseitigen, so doch zumindest von der Demokratie »heilen« soll.28 Die tagesaktuellen Ausprägungen der hier angelegten Disposition kann man derzeit auf Lands Twitterfeed »outsideness« verfolgen.29

Man hätte den vorliegenden Band freilich ohne »Die dunkle Aufklärung« publizieren und sich mit einer Übersetzung der Land-Anthologie Fanged Noumena zufriedengeben können, die ihre Textauswahl 2007 enden lässt.30 Immerhin spaltet Land selbst in seinen wenigen Verlautbarungen den Urheber der Fanged Noumena (»it belongs in the clawed embrace of the undead amphetamine god«31) vom Verfasser des »Dark Enlightenment« ab. Indessen geht es auch hier ums Ganze, und es erschiene den Herausgebern unredlich, die politische Dimension zu unterschlagen, in die Lands Denken im vergangenen Jahrzehnt eingetreten ist. Denn wie in der Perspektive des zeitgenössischen Land die Demokratie als »ein Vektor mit einer unmissverständlichen Richtung«32 erscheint, so wird man umgekehrt auch Lands cybergotische Poetik vektoriell – wenngleich stets missverständlich – lesen müssen. Ihre Skalare und Pseudoskalare konfigurieren Nietzsche-Lektüren und Weltrauminvasionen, Cthulhu-Beschwörungen und Xeno-Alpträume, Maschinenphilosophie – und ja: auch libertäres Raunen über »Race«-Terror, Kathedralen, Zombie-Apokalypsen. Es erscheint uns daher wichtig, beide Werkteile in ihrem Zusammenhang zu lesen. Der Aufarbeitung dieses Zusammenhangs,33 dessen Befragung und der Selbstbefragung, dient die nachgestellte Herausgeberkorrespondenz.

KUNST ALS AUFSTAND

Zur Frage der Ästhetik bei Kant, Schopenhauer und Nietzsche

Künstler, diese wilden Bestien, die nie den Hals voll kriegen.

– Land

I

Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ist der Schauplatz, an dem die Kunst mit traumatischer Gewalt in die europäische Philosophie einbricht. Die extreme Wucht dieses Einbruchs war nur möglich in einer Epoche, die danach strebte, sich selbst als permanente Metamorphose, als Wachstum, zu rationalisieren. Das heißt, es handelt sich um ein Trauma, das mit den Schwierigkeiten, die die Kunst der westlichen Philosophie seit Platon aufgab, nur wenig zu tun hat, denn sie ist nicht mehr nur Irritation, sondern Katastrophe. Unsere eigene Katastrophe.

Dass Kants kritische Philosophie in allen drei großen Kritiken so konsistent ist, beruht auf der Aufmerksamkeit gegenüber dem Exzess, die der Konzeption synthetischer Apriori-Urteile innewohnt. Der eigentliche Beginn des kritischen Projekts ist in Kants entschiedener Antwort auf die von Hume vollzogene Aufhebung der logischen Metaphysik zu sehen, der Auflösung des philosophischen Bemühens nach Reduktion der Synthese. Für Kant war wohl nichts unzweifelhafter als die grundlegende Unhaltbarkeit des leibnizschen Paradigmas der Metaphysik, das in der (wolfschen) Philosophie des preußischen Staats nach wie vor dominierte. Die Logik war durch das skeptische und empirische Denken eines fortgeschritteneren Gesellschaftssystems als steriles, tautologisches Stammeln entlarvt worden, das ins Mittelalter gehörte, in eine Zeit, als Positivität von vorneherein gegeben war. Mit außerordentlicher Entschlossenheit warf Kant die deduktive Systematisierung, die die Philosophien starrer Gesellschaften prägten – Philosophien, die tief und gewollt in einem stagnierenden Theismus wurzelten –, über Bord und ersetzte sie durch die Metaphysik des Exzesses. Er war sogar bereit, zur Zerschlagung der gesamten theoretischen Philosophie beizutragen; denn auch die Philosophie musste (zumindest ein bisschen) revolutionär werden. Nichts Substanzielles sollte noch vorausgesetzt werden.

Auch wenn die Gefahren der Synthese – des Denkenmüssens – von nun an definitiv nicht mehr zu beseitigen waren, hing Kant doch weiterhin der Hoffnung nach, man könne sie hinter sich lassen und sie einer abschließenden Lösung zuführen. Die Philosophie müsste dafür zwar etwas an Boden gewinnen, würde aber immer noch einen Ruhepunkt erwarten können; eine uneinnehmbare Verteidigungslinie. Wenn schon die Geschichte nicht mehr länger zu umgehen war, würde sie sich zumindest rasch und akribisch zu einem Ende führen lassen. Die Zeit müsste transzendental bestimmt werden, ein für alle Mal und durch eine neue Metaphysik. Von da an würde sie sich ohne Unterbrechung in einer unschuldigen Affirmation ihrer selbst fortsetzen. Für eine Weile – in der Zeitspanne zwischen den frühen 1770er-Jahren und 1790 – war Kant womöglich so fröhlich wie je ein bürgerlicher Philosoph. Vorübergehend war ein Gleichgewicht erreicht worden. Dann kam die Katastrophe. Noch immer war etwas fürchterlich außer Kontrolle. Eine dritte Kritik war notwendig.

Die erschreckende Einsicht, die Kant in die labyrinthische Arbeit der Kritik der Urteilskraft trieb, bestand darin, dass das totale Chaos noch immer nicht von einem Verstand in Acht und Bann geschlagen war, der »Gesetze für die Natur zu erlassen« beanspruchte. In Kants eigenen Worten:

Denn obzwar diese [der reine Verstand] nach transzendentalen Gesetzen, welche die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt enthalten, ein System ausmacht: so ist doch von empirischen Gesetzen eine so unendliche Mannigfaltigkeit und eine so große Heterogeneität der Formen der Natur, die zur besondern Erfahrung gehören würden, möglich, daß der Begriff von einem System nach diesen (empirischen) Gesetzen dem Verstande ganz fremd sein muß, und weder die Möglichkeit, noch weniger aber die Notwendigkeit eines solchen Ganzen begriffen werden kann.1

Nur wenige Schrecken dürften mit dem Schrecken des obersten Gesetzgebers vergleichbar sein, der begreift, dass Anarchie noch immer erlaubt ist. Die Natur, alles andere als durch die transzendentalen Formen des Verstandes domestiziert, war nach wie vor eine offene, blutende Wunde, die gestillt werden musste. Ein Unterfangen, das weitaus schmutziger und beängstigender ausfallen würde, als alles Bisherige, aber Kant biss die vergilbten Zähne zusammen und machte sich ans Werk.

Die Ressource für seine neue und letzte Kampagne fand der Philosoph in der heiklen negativen Unordnung, die er Schönheit nannte. Verglichen mit der unerbittlichen Ordnung der transzendentalen Form war Schönheit eine insgesamt zerbrechliche und unbeständige Disziplin, etwas, was das transzendentale Subjekt sich nicht selbst verheißen konnte. Gleichwohl schien es, dass etwas jenseits der Vernunft Liegendes, das bereit war, sich die Hände schmutzig zu machen, die Natur klein hielt. »Zweckfreie Zweckmäßigkeit«, Kants Zuname für den Exzess, besitzt die ganze Extravaganz des Triumphs. Wir müssen uns nicht einmal anstrengen, um zu gewinnen. Geschichte wird von den Siegern geschrieben und als Voraussetzung für die Darstellung gilt die Überlegenheit, sodass mit der Objektivität der Erfahrung die Unterwerfung der Natur unter das exorbitante Gesetz gegeben ist:

Also ist es eine subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung, daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogeneität der Naturformen der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualifiziere.2

Alle jene in Schwang gebrachten Formeln: die Natur nimmt den kürzesten Weg – sie tut nichts umsonst – sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der Formen (continuum formarum) – sie ist reich in Arten, aber dabei doch sparsam in den Gattungen, u. d. g. sind nichts anderes als eben dieselbe transzendentale Äußerung der Urteilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein Prinzip fest zu setzen.3

Erfahrung wird als ein extravagantes, aber explosives Erbe gedacht, als eine grundlose Anpassung der Natur an das Vermögen der Repräsentation. Die zunehmend gequälten und paradoxen Formulierungen, die Kant wählt, weisen auf den prekären Charakter der Fülle hin (die in der Vorstellung als »freies Spiel« vorgehalten und verausgabt wird). Betrachten wir nur ein Beispiel: »Zweckmäßigkeit ist eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen als eines solchen.«4

Wie bei Marx’ Ricardo verleiht der außergewöhnliche Zynismus des am Rande der Verzweiflung stehenden Kantianismus diesem eine tiefe Radikalität. Kants »Vernunft« ist ein reaktives Konzept, das sich negativ zur Pathologie definiert, mit der es in einen anhaltenden und brutalen Krieg verwickelt ist. In der dritten Kritik wird dieser Konflikt ohne Hemmungen ausgetragen; er wird düster, erbarmungslos und grausam. Kants Theorie des Erhabenen zum Beispiel ist reines Jubilieren inmitten einer besinnungslosen Gewalt gegenüber den vorbegrifflichen (animalischen) Kräften, die mit dem Begriff der »Einbildungskraft« zusammengefasst werden. In der Erfahrung des Erhabenen wird die Natur als Auslöser für eine »negative Lust« beschworen, insofern als sie jenen Teil von uns demütigt und verdirbt, den mit den Engeln zu teilen uns nicht gelingt. Um ein Beispiel (aus zahllosen Möglichkeiten) herauszugreifen, sagt er vom Erhabenen, es sei etwas

Abschreckende[s] für die Sinnlichkeit, welches doch zugleich anziehend ist: weil es eine Gewalt ist, welche die Vernunft auf jene ausübt, nur um sie ihrem eigentlichen Gebiete (dem praktischen) angemessen zu erweitern, und sie auf das Unendliche hinaussehen zu lassen, welches für jene ein Abgrund ist.5

Kant wird seinen Verbündeten gegenüber bemerkenswert unkritisch und verlangt lediglich, dass sie Feinde der pathologischen Neigung sind und zu kämpfen wissen. Wenn die Vernunft so sicher, legitim und übersinnlich garantiert ist, warum dann so schweres Geschütz auffahren?

Irrationaler Überschuss oder die nicht zu beseitigende und schöne Gefahr unbewusster kreativer Energie: Natur mit Reißzähnen. Wie an diesem Gedanken festhalten, der ständig vom Zusammenbruch bedroht ist; von einem Rückfall in eine depressive Philosophie der Arbeit, sei sie theologischer oder humanistischer Prägung. Die drei großen Stränge der philosophischen Erkundung nach Kant – markiert durch die Namen Hegel, Schelling und Schopenhauer – haben sich ständig der Aussicht zu erwehren, auf vergessene oder implizite Arbeit reduziert zu werden; auf das Wirken Gottes, des Geistes oder des Menschen, auf alles, was diese rücksichtslose künstlerische Kraft des produktiven Unbewussten wieder auf den Entwurf, die Absicht, das Projekt, die Teleologie zurückführen würde. Kants Wort »Genie« ist der immens schwierige und wirre, aber emphatische Widerstand gegen solche Reduktionen; der Gedanke an eine völlig unpersönliche Kreativität, die historisch als fundamentaler Bruch des Leitbilds, als verantwortungslose Gesetzgebung, als »Befehl« verbucht wird, ohne dass jemand die Befehle gibt.

Kant formuliert recht explizit, dass eine produktive Kunsttheorie eine Philosophie des Genies erfordert – eine Wiederaufnahme der verfemten Pathologie in ihren innersten Kern –, und liest man die zweite Kritik parallel zur dritten, kommt man nicht umhin, den gewaltigen Bruch zu bemerken, den die Kunst der Transzendentalphilosophie zufügt. Diesen Bruch vermag Kant nur in den Griff zu bekommen, indem er in einem von der Philosophie beherrschten Feld Kunst als implizit randständige Problematik beibehält. Auch wenn er anerkennt, dass die Autonomie der Vernunft für die Heteronomie des Genies ist, was verglichen mit der Schöpfung die getreue Darstellung, nämlich Ärmlichkeit und Jämmerlichkeit, ist, dringt die Botschaft kaum durch. Zudem besteht ein anhaltendes und klägliches Bemühen, die Ästhetik praktischen Imperativen unterzuordnen, wofür »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«6 ein Beispiel abgibt und die Grundtendenz seiner Theorie des Erhabenen (der im Vergleich zu Natur uneingeschränkte Vorrang transzendentaler Ideen) ein anderes.

Auch wenn es an der Oberfläche zunächst so scheint: Mit dem Gedanken der noumenalen Subjektivität kündet sich keineswegs das Unbewusste in der westlichen Philosophie an, lässt er sich doch als präreflexives Bewusstsein wiedergewinnen und ist dabei so unverfänglich, dass selbst Sartre ihn gerne akzeptiert. Die beunruhigende Figur des energetischen Unbewussten entsteht vielmehr aus der Verflechtung zweier ganz unterschiedlicher Stränge des kantischen Texts: zum einen der heteronomen pathologischen Neigung, deren Verdrängung in der Ausübung der praktischen Vernunft vorausgesetzt wird, und Genie oder Natur in ihrem »gesetzgeberischen« Aspekt zum anderen. Das Genie kann nicht anzeigen, »wie diese phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopf hervor und zusammen finden, darum weil e[s] es selbst nicht weiß, und es also auch keinen andern lehren kann«.7

Von »Genie« zu sprechen, als ob die unpersönliche schöpferische Energie mit der Ordnung der von der Vernunft geleiteten autonomen Individualität kommensurabel wäre, ist zweifellos beruhigend, aber letztlich ist solches Gerede absurd. Genialität ist keine Charaktereigenschaft, sie gehört nicht in ein psychologisches Lexikon; viel passender ist die Sprache der seismischen Erschütterung, der Überschwemmung, der Krankheit, des Ansturms roher Energie von außen. Man »ist« ein Genie nur in dem Sinne, in dem man ein Syphilitiker »ist«, in dem Sinne, in dem »man« durch eine grimmige Exteriorität gewaltsam problematisiert wird. Man kehrt zu dem Subjekt zurück, dem Genie zugeschrieben wurde, um es bis zur Unkenntlichkeit verschmort und entstellt vorzufinden.

II

Schopenhauer rekonstruierte die kritische Philosophie auf mehrere sehr grundlegende Arten: indem er die dogmatische Voraussetzung der Unterscheidung von subjektiven und objektiven Noumena beseitigte; indem er sich nicht in eine idealistische (phänomenologische) Richtung, sondern in diejenige des unbewussten Willens bewegte; indem er das transzendentale Verständnis der von Kant geerbten zwölf Kategorien und zwei Abteilungen der Sinnlichkeit auf den verallgemeinerten »Satz vom zureichenden Grunde« vereinfachte; indem er Kants proto-idealistischen Logizismus im Keim erstickte; indem er die kritische Philosophie mit der rasenden Energie sexueller Pein auflud, ihren (zumindest) ansatzweise vorhandenen Akademismus angriff und ihre stilistischen Möglichkeiten immens verbesserte. Wo Kant das Denken des Unbewussten verzerrt, marginalisiert und verdunkelt, betont und entwickelt es Schopenhauer. Er widersetzt sich den Anmaßungen des imperialistischen Idealismus, indem er die Vernunft als eine vom Verstand abgeleitete, mit der Sprache einhergehende Abstraktion beschreibt, sodass Kants transzendentale Logik mithilfe einer transzendentalen Ästhetik, die im Sinne des »Satzes vom zureichenden Grunde« organisiert ist, neu durchdacht, vereinfacht, entmystifiziert und in die tiefer liegenden Gefilde vorintellektueller Intuition gestoßen wird. Vernunft wird nicht mehr als ein autonomes Prinzip in Opposition zu Natur gedacht, sondern als ein Film auf ihrer Oberfläche. All diese Bewegungen beinhalten eine massive Bedeutungsverschiebung des Begriffs »Wille«, jenes Platzhalters für das psychoanalytische Verständnis des Begehrens.

Für Kant hat der Wille mit Vernunft zu tun, er ist das Prinzip der Einbettung intentionaler Intelligibilität in die Natur, die Quelle, aus der heraus teleologische Urteilskraft alle exorbitante natürliche Ordnung zum Zwecke der Regulierung metaphorisch umschreiben muss:

Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt; und alles, was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-möglich (oder notwendig): zum Unterschiede von der physischen Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Wirkung, wozu die Ursache nicht durch Begriffe (sondern, wie bei der leblosen Materie, durch Mechanism, und, bei Tieren, durch Instinkt) zur Kausalität bestimmt wird.8

Im Gegensatz dazu ist Schopenhauers große Entdeckung der nicht agentische Wille; die Positivität des Todes Gottes. Anstatt das Wollen als diejenige Regung zu denken, durch die begrifflich artikulierte Entscheidungen in der Natur verwirklicht werden, versteht er das Auftreten rationaler Entscheidungen als von vorintellektuellem – und letztlich vorpersönlichem, ja sogar vororganischem – Wollen abgeleitete Folge. Unbewusstes Begehren ist nicht nur Begehren, das zufällig unbewusst ist, so als wäre eine dezisionistische Luzidität dem Begehren irgendwie natürlich oder eigentümlich; vielmehr kann Bewusstsein nur aus einem Begehren resultieren, für das luzides Denken eine instrumentelle Voraussetzung ist. Für Schopenhauer konstituiert sich der Intellekt durch das Wollen, nicht das Wollen durch den Intellekt. Wir wissen nicht, was wir wollen.

In einem wichtigen Sinne ist Schopenhauers Wille der bis zum Äußersten getriebene Geniegedanke, der das gesamte Wissensvermögen unter das der exorbitanten natürlichen Ordnung als einer bloßen (wenn auch privilegierten) Instanz zweckfreier Zweckmäßigkeit subsumiert. Doch in der Art, wie Schopenhauer den Geniegedanken verwendet, bewahrt er ihn in seiner Eigentümlichkeit als eine im Verhältnis zum Willen proportionale Exorbitanz des Intellekts. Genie resultiert aus einer positiven Überwindung des unbewussten »Zwecks«, einem Überschuss an intellektueller Energie, die über das hinausgeht, was vom Begehren aufgenommen werden kann, und ist somit Redundanz oder Dysfunktion durch Überfluss:

Daher eben kommt es im normalen Kopfe nicht zu einem ganz rein objektiven Bilde der Dinge; weil seine Anschauungskraft, sobald sie nicht vom Willen angespornt und in Bewegung gesetzt wird, sofort ermattet und unthätig wird, indem sie nicht Energie genug hat, um aus eigener Elasticität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen. Wo hingegen dies geschieht, wo die vorstellende Kraft des Gehirns einen solchen Ueberschuß hat, daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höheren Graden sogar störend ist, und selbst ihnen schädlich werden kann; – da ist schon, wenigstens die Anlage zu jener Abnormität vorhanden, die der Name des Genies bezeichnet, welcher andeutet, daß hier ein dem Willen, d. i. dem eigentlichen Ich, Fremdes, gleichsam ein von Außen hinzukommender Genius, thätig zu werden scheint.9

Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die der schönen der Ueberfluß. Zum Vater haben jene den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine Art Ueberfluß ist, nämlich der der Erkenntnißkraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maaß.10

Für Schopenhauer ist der Körper die Objektivierung des Willens, der Intellekt ist eine Funktion eines bestimmten Organs des Körpers und Genie ist der Überschuss dieses Funktionierens gegenüber dem fraglichen Einzelorganismus. Genie ist somit ein Angriff auf den individualisierten Willen, eine Attacke, die aus dem Reservoir des archaischen vororganisierten Willens hervorbricht. Es nimmt eine besonders spannungsgeladene Stelle in seinem Denken ein, das gefangen ist zwischen der Vision progressiver Erlösung – die eintritt, sobald die Menschheit die Individualität so weit vervollkommnet hat, dass der Wille von sich abzusehen imstande ist – und der regressiven Freisetzung des vorindividuellen Willens aus der Folterkammer organischer Eigentümlichkeit, von Egointeressen und Persönlichkeit. Dass Schopenhauer ersterer Option anhing, ist hinreichend bekannt, doch die alternative Möglichkeit, nämlich der Individualisierung durch Auflösung in archaisches überbordendes Begehren zu entkommen, ringt in seinem Text fortwährend um Ausdruck.

Diese Spannung erzeugt eine terminologische Spaltung, die sich leicht entlang der schroffen Bruchlinien von Sexualität und Kunst ausmachen lässt. Ein Beispiel ist »Schönheit«; ein Wort, das von Schopenhauers unverhohlener (metaphysischer) Verfahrensweise in unbehagliche Nähe zu Verzicht gedrängt wird. Er interpretiert es als die mit der Loslösung von interessegeleitetem Denken assoziierte negative Gemütsbewegung – Erleichterung oder Befreiung –, die durch das kontemplative Eintauchen in die reinen universellen »Ideen« der natürlichen Arten erlangt wird, wie sie außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität existieren und die sich in einem radikalisierten, durch künstlerische Darstellung stark begünstigten kantischen Desinteresse manifestieren.11

Wenn Derridas Text »Sporen«12 letztendlich ein absurder Text ist, dann deshalb, weil er sich Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauers Diskurs über die Frau und die Ästhetik zunutze macht, ohne zu wissen, was ihm da eingeflüstert wird, ist er doch zu sehr damit beschäftigt, die heideggersche Verstümmelung des libidinösen Post-Kantianismus weiterzutreiben. Nietzsches Wiederbelebung und Bejahung der fiktiven Macht der Kunst (in seinen späteren Schriften) ist eine Antwort auf die in Schopenhauers Denken stattfindende gewaltsame Verunglimpfung dieser Macht, eine Verunglimpfung, programmiert durch eine Reihe komplex ineinandergreifender Faktoren, die sich in Schopenhauers Diskussion sexueller Differenz mit besonderer Intensität veranschaulicht finden. Schopenhauer begründet den modernen Gedanken der Erregung als Leiden – ein Gedanke, der in verschiedenen Ausprägungen bis ins zwanzigste Jahrhundert und vor allem in Freuds Triebökonomie weiterlebt. Um einen Rhythmus des Begehrens und seiner Befriedigung beibehalten zu können, in dem es keinen Raum für eine positive Lust, sondern lediglich unterschiedliche Gradationen von Schmerz gibt, muss man schon gewaltig irregeleitet sein. Deshalb verweist Schopenhauer auf den Satz vom zureichenden Grunde, der mit der reinen Form materieller Realität verbunden ist und als Schleier der Maya, oder Illusion, die transzendentale Bedingung der individualisierten Erscheinung darstellt. Kunst als Flucht vor der Individuation und dem Begehren ist somit das Negative der Fiktion schlechthin. Schönheit ist eine Erfahrung der Wahrheit.

Zugleich aber existiert noch eine andere beunruhigende, verlockende, erregende und fesselnde Art von Schönheit (Nietzsche wird sagen, es sei die einzige), jene Schönheit, die sich – zumindest in der nachhellenischen westlichen Geschichte – exemplarisch im weiblichen Körper veranschaulicht findet. Dies, und ebenso die Erotik in ihrer Gesamtheit, bildet für Schopenhauer ein immenses Problem. Das nicht egoische Desinteresse der Resignation wird von einer Gleichgültigkeit gegenüber Ich-Interessen gespiegelt und parodiert, die in eine völlig entgegengesetzte Richtung führt; tiefer in das Inferno des Wollens hinein. Nachdem Schopenhauer mit gewohnt freimütiger Ehrlichkeit einräumt, dass »alle Verliebtheit […] allein im Geschlechtstriebe« wurzelt,13 sieht er sich zu dem Eingeständnis genötigt, dass »gerade dieses Nicht-seine-Sache-suchen, welches überall der Stämpel der Größe ist, […] auch der leidenschaftlichen Liebe den Anstrich des Erhabenen [gibt] und […] sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung [macht]«.14

Demnach gibt es sowohl ein entsagendes als auch ein libidinöses Erhabenes, jedes mit seinen zugehörigen Objekten und ästhetischen »Vollkommenheiten« oder Intensitäten. Und es ist nicht nur die Schönheit, die in verschiedene Richtungen auseinandergerissen wird, auch die Fiktion ist gespalten; einerseits als Bedingung der Individualisierung, andererseits als Appell an konstituierte Individualität. Entweder ist das Ego ein Traum des Begehrens oder das Begehren muss sich als Traum an das Ego anschleichen. In der Sexualität

kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten Fällen, anzusehn als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Willen darstellt.15

Die Frau ist Materie, formlos und nicht darstellbar, erregend und damit peinigend; alles an ihr ist Vorspiegelung, Täuschung, Verwandlung, nicht verortbare irrationale Anziehung, Verstellung. Schopenhauers berüchtigter Essay Ueber die Weiber entfaltet sich in der Bewegung dieses Wortes, während er das Spiel der Verführung, des indirekten Handelns, der nicht idealen Schönheit organisiert, das die Ernsthaftigkeit und verantwortungsvolle Selbstgesetzgebung des männlichen Subjekts durch »Verstellungskunst«16 stört. Die Frau ist verruchte Kunst, Kunst, die das Leben intensiver macht, Kunst, deren einzige Wahrheit in der geflüsterten Andeutung besteht, dass auch die Verneinung nur ein Traum, das Hirngespinst einer überbordenden Positivität ist, die durch Exzess täuscht. Ist der Traum von der Erlösung womöglich so etwas wie der Armreif an den Armen eines überschwänglichen Lebens? Schopenhauer taumelt vor Entsetzen:

Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit. Mit mehr Fug, als das schöne, könnte man das weibliche Geschlecht das unästhetische nennen.17

Frauen sind so schrecklich nicht platonisch, so unverschämt vital und real, so exzessiv im Verhältnis zu der kalten sterilen Perfektion der Ideen. Mit der unfehlbaren Kraft des Instinkts verbreiten sie den gefährlichen Wahn, dass am Leben etwas ist, das wir wollen. Pessimismus muss Misogynie sein, denn die Frau weigert sich, sich zu verwerfen.

III

Was Nietzsche zumindest teilweise von Schopenhauer gelernt hat, waren die elementaren Lehren des libidinösen Materialismus oder der Philosophie des dynamischen Unbewussten (die uneingeschränkte Entfaltung der Genie-Theorie), das Primat des Körpers und seines medizinischen Zustandes, Pragmatismus (nicht fragen, wie wir wissen, sondern warum wir wissen), sprühende literarische Brillanz, Ästhetizismus (mit einem Schwerpunkt auf Musik), ein »aristokratisches« Interesse an Hierarchie und Abstufung (die er in ein Werkzeug zur Überwindung der aristotelischen Logik verwandelte), Antihumanismus, eine von Platon und Kant sowie von der Problematik von Wirklichkeit und Schein dominierte Auslegung der Philosophiegeschichte, giftiger Antiakademismus, Frauenfeindlichkeit und Misstrauen gegenüber mathematischem Denken. Schopenhauer schrieb sogar:

Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strohm der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Daseyn, d. i. eine Natur, möglich wird.18

Aber die Verschiebungen, die Nietzsche am Ende seines schöpferischen Lebens in die schopenhauersche Philosophie eingebracht hatte, waren mindestens so gewaltig wie dieses Erbe, und beinhalteten unter anderem eine Verlagerung vom Willen zum Leben zum Willen zur Macht, sodass das Fortleben als Werkzeug oder Ressource für die Schöpfung gedacht wird; eine Verlagerung des Antihumanismus vom asketischen Ideal zum Übermenschen (nonterminale Überwindung); die Vollendung einer post-aristotelischen »Logik« der Abstufungen ohne Negativität oder Grenzen; eine »Kritik der Philosophie«, die Platon und Kant als Symptome einer libidinösen Katastrophe diagnostizierte; eine Rückkehr des historischen Denkens, das nun von dem unhaltbaren Gegensatz Zeit/Zeitlosigkeit eines bankrotten Logizismus befreit war; und eine Verlagerung vom Satz des zureichenden Grundes zur Ausgleichung, die – da Differenzierung nicht mehr als Zumutung für das Subjekt gedacht wurde – eine Verschiebung von der ursprünglichen Einheit zum irreduziblen Pluralismus und vom desinteressierten »Weltauge« zum Perspektivismus implizierte.

Nietzsches komplizierte, tiefgründige und explosive Reaktion auf die Provokation Schopenhauers widersetzt sich einer voreiligen Zusammenfassung. Es ist hilfreich, mit den transitorischen Bewegungen von Die Geburt der Tragödie zu beginnen, in denen der schopenhauersche Wille auf den Namen »Dionysos« umgetauft wird. Wie der undifferenzierte Wille kann auch Dionysos nur im Traum des apollinischen Erscheinens individualisiert werden. Über den mythologischen, nicht nur den spezifisch nietzscheanischen Gott bemerkt Walter F. Otto: »Er ist offenbar nach orientalischem Muster gedacht als das Göttliche oder Unendliche überhaupt, in das sich die Einzelseele so gerne verlieren möchte«.19 Der tragische Chor ist Brennpunkt einer delirierenden Verschmelzung, in der die Persönlichkeit durch den kollektiven künstlerischen Prozess liquidiert wird. Otto sagt noch weitere überaus wichtige Dinge über Dionysos, den zweimal Geborenen:

Der so Geborene ist nicht bloß der Jauchzende und Freudenbringer, er ist der leidende und sterbende Gott, der Gott des tragischen Widerspruchs. Und die innere Gewalt dieser Doppelwesenheit ist so groß, daß er wie ein Sturm unter die Menschen tritt, sie erschüttert und ihren Widerstand mit der Peitsche des Wahnsinns bändigt. Alles Gewohnte und Geordnete muß zersprengt werden. Das Dasein wird plötzlich zum Rausch – zum Rausche der Seligkeit, aber nicht weniger zu dem des Schreckens.

[…]

Dieser weiblichen Welt steht die des Apollon als die entschieden männliche gegenüber. In ihr herrscht nicht das Lebensgeheimnis des Blutes und der Erdkräfte, sondern die offene Klarheit und Weite des Geistes. Aber die Apollinische Welt kann nicht bestehen ohne die andere.20

Die dorische Zivilisation, das harte apollinische Rückgrat der westlichen Kultur, die die trotzige Aufgerichtetheit ihrer Architektur rühmt, ist grundsätzlich defensiver Natur. Schon in diesem, Nietzsches »schopenhauerischstem« Buch überwiegt kompromisslos das Mollregister des pessimistischen Dilemmas; die Überwindung der elenden Individualität muss in Richtung des Reservoirs an rebellischem Begehren gedacht werden, nicht in Richtung eines metaphysischen Verzichts. Man baut keine Festungen gegen Heilige:

Ich vermag nämlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären: nur in diesem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemäße und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein.21

Der Unterschied zwischen Dionysos und Apollo entspricht demjenigen zwischen Musik und plastischer Kunst (Schopenhauers Unterscheidung, die Nietzsche als »wichtigste Erkenntnis aller Ästhetik« bezeichnete),22 Wille und Vorstellung (primärer und sekundärer Prozess), Chaos und Form. In der tragischen Verschmelzung von Musik und theatralischem Schauspiel wird der Ordnung der Repräsentation das Begehren in einer delirierenden kollektiven Affirmation aufständischer Alterität (Natur, Impuls, orakelhafte Erkenntnis, Frau, Barbarei, Asien) übermittelt. Die griechische Tragödie ist der letzte Beleg für ein nach außen radikal durchlässiges Abendland. Der sokratische Tod der Tragödie ist der Anfang des ethischen Solipsismus und des imperialistischen Dogmatismus, der seither die westliche Politik charakterisiert, der brutale Domestikationsprozess, mit dem die repressive Instanz des Menschen (»Vernunft«) die unpersönlichen aufständischen Energien der Kreativität so lange gepeinigt hat, bis sie zu dem wimmernden, sentimentalen und psychologisierten »Genius« der Romantiker verkamen. Mit Sokrates begann der europäische Mensch leidenschaftlich danach zu streben, zum hässlichen Tier zu werden.

In seinen späteren, etwas fragmentierteren Schriften zur Kunst sagt Nietzsche ungefähr Folgendes: Die ästhetische Operation ist Vereinfachung; die Tendenz zur Abstraktion, Logifizierung, Vereinheitlichung, die Auflösung der Problematik. Diese Operation, verstanden im Sinne der von Aristoteles formulierten Prinzipien – das heißt ihres eigenen Produkts –, erscheint wie die Verneinung des Rätselhaften, die ausgleichende Umverteilung der Alterität in einem Nullsummenspiel, die fortschreitende »Verbesserung« und Domestizierung des Lebens. Vereinfachung ist jedoch keine teleologisch regulierte Annäherung an Einfachheit, an den dekadenten Endpunkt, den wir als »Wahrheit« bezeichnen, sondern ein unerschöpflich offener, kreativer Prozess, dessen einzige Grenzen in aus sich selbst heraus fabrizierten Fiktionen bestehen. Nichts ist komplexer als Vereinfachung; was die Kunst dem Rätsel nimmt, stockt sie bei Weitem in der Konkretisierung ihrer selbst wieder auf, in dem labyrinthischen Rätsel, das sie der Geschichte einpflanzt. Die Intensivierung des Rätsels. Der verschwenderisch-problematische Lehm des Daseins geht hervor aus den sedimentierten Äonen von Rückständen, die der Wille zur Macht, der Schöpfungsimpuls, »[d]ie Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk«, abgelagert hat.23

Rätsel, positive Verwirrung (Delirium), Problematik, Schmerz, wie immer wir es nennen wollen; die Qual der Philosophen jedenfalls ist der Ansporn zur ekstatischen Schöpfung, zu einer endlosen »Auflösung« in die gesteigerten Provokationen der Kunst. Das haben die Philosophen nie verstanden: Allein dass sie unverständlich ist, gibt der Welt ihren Wert. »Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfniß der inertia; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und änigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!«24 Also nicht, wie der metaphysische Pessimismus, den Schmerz der Abwesenheit des Schmerzes entgegensetzen, sondern die ekstatische Überwindung des Schmerzes von Müdigkeit und Trägheit unterscheiden, in neuen und schrecklicheren Qualen, Ängsten, brennenden Ratlosigkeiten frohlocken und sie als Ressource des Werdens, Überwindens, Triumphs, der großen libidinösen Schwingungen begreifen, die stabilisierte Systeme aufbrechen und sich an Intensität berauschen; das ist dionysischer Pessimismus – »sich den Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen«;25 »die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches …«26

IV

Nach Nietzsche kommt Freud. Er erschließt sich ein Genie-Reservoir (das Unbewusste von Wiener Frauen des späten neunzehnten Jahrhunderts), was ihn fast bis zur Idiotie treibt, und spurt sich einen Weg, ohne zu wissen, was zum Teufel er eigentlich tut. Freud ist ein Denker von erstaunlichem Reichtum und fruchtbarer Komplexität, hier aber möchte ich lediglich auf seine katastrophalsten Verirrungen eingehen. Wenn er über Kunst schreibt und dabei trotz erheblicher gedanklicher Schärfe auf eine banale Psychobiografie verfällt, erleidet das Unternehmen der Psychoanalyse einen fürchterlichen Orientierungsverlust. Die inhärente Verbindung zwischen dem einbrechenden Primärprozess und der künstlerischen Kreativität beziehungsweise die grundsätzliche Unentwirrbarkeit von Psychoanalyse und Ästhetik entgleitet Freud, und die Kunst wird als ein bloß kontingentes Terrain für die Anwendung therapeutisch verfeinerter Konzepte dargestellt. Die Anpassung des verstümmelten Individuums an seine Gesellschaft, in der Kunst, außer als Parasit elitärer Warenproduktionskreisläufe, illegal ist, ist der eigentliche Skandal der Psychoanalyse. Sie wird kantianisch (bürgerlich); eine heikle Überwachungstätigkeit, die sich dem Gesellschaftsmanagement und der Einhegung des Genies widmet. Als könnte »Therapie« etwas anderes sein denn die revolutionäre Entfesselung des künstlerischen Schaffens!

Die beiden fundamentalen Richtungen, in die sich die Philosophie des Genies entwickeln kann, finden sich beispielhaft in der Psychoanalyse und im Nationalsozialismus verkörpert. Entweder rigoroser Anti-Anthropomorphismus, die stetige Verengung des Terrains intentionaler Erklärung und das Herunterbrechen von Praxen auf Parapraxen oder das Zurückführen des Genies auf intentionale Individualität, Konzentration der Entscheidung und paranoide, praxiale Interpretation nicht intentionaler Prozesse (die jüdische Verschwörungstheorie). Der Tod Gottes ist in beiden Fällen operativ, entweder als Raum des produktiven Unbewussten oder als Raum einer triumphierend vergöttlichten und willkürlich isolierten säkularen Subjektivität. Es ist leicht zu ermessen, dass für beide Seiten dieses Unterschieds die Rolle des Diskurses ein sehr präzises Register abgibt; einerseits die Gesprächskur, in der sowohl die Bekenntnistexte als auch die der rationalen Theorie durch die Druckwelle eines durchweg sinnlosen energetischen Prozesses verdrängt werden, der sich – bezogen auf eine autonom bestimmbare Akteursprache – dem Objektstatus widersetzt; und andererseits der endlose gebieterische Monolog des Diktators (das politisch inkarnierte Ich-Ideal), in dem der Wille erneut einer quasikantischen Bedeutung, nämlich aus seinem libidinösen Umweg Kapital zu schlagen, zugeschrieben wird und zu seinem wahren Sinn in der klaren Entscheidung eines Individuums findet, das im Namen eines rassialisierten unbewussten Protests spricht.

Die beiden großen Aufgaben jenes Teils der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts, der in der hier umrissenen ästhetisch orientierten Tendenz seinen Widerhall findet, sind die Diagnose des Nationalsozialismus und die Perpetuierung des psychoanalytischen Impulses, das heißt die Aufrüstung des Begehrens mit intellektuellen Mitteln, was es diesem erlaubt, der rassistischen Götterdämmerungs-Sackgassenpolitik zu entrinnen, die das Kapital als letztes Bollwerk gegen die Flut einsetzt. Keine Revolution ohne aufständisches Begehren, kein wirksamer Pfad für aufständisches Begehren ohne integralen Antifaschismus. Wilhelm Reich, Georges Bataille, Gilles Deleuze und Félix Guattari sind vielleicht die wichtigsten theoretischen loci in dieser Entwicklung. Auf die drei Letztgenannten möchte ich kurz eingehen.

Ganz lächerlich ist es nicht, Bataille als einen enthusiasmierten Schopenhauer zu bezeichnen, insofern als sich damit eine bestimmte Variante des »Nietzscheanismus« oder des dionysischen Pessimismus grob charakterisieren ließe. Schließlich geht es auch Bataille um den Wert als der Vernichtung des Lebens, wenn er den Utilitarismus, der sein einziges Ziel in der Erhaltung und Erweiterung der Existenz findet, infrage stellt. Wenn diese Bejahung des Verlustes »nihilistisch« ist, dann ist sie zumindest ein »aktiver Nihilismus«; die Förderung einer gewaltsam konvulsivischen Verausgabung statt eines müden Verzichts. Kunst als Vergeudung des Lebens. Und Batailles Auseinandersetzung mit der Kunst, vor allem mit der Literatur, ist von einer beispiellosen Komplexität und Intensität. Philosoph und Kunsthistoriker, Literaturtheoretiker, in seiner »Philosophie« ein Stilist, schillernd wie ein Essayist, ein Romancier und Dichter von ebenso großer Tiefgründigkeit wie glühender Schönheit kennt sein Schreiben keine Grenzen und dringt wie ein exotischer Pilz in die dunkelsten Nischen der ästhetischen Möglichkeiten vor. Ein eher gequälter und unzusammenhängender Gedankensprung? Nun kommen Sie schon! Eine »Philosophie« des Exzesses, die eine innere Verbindung zwischen Literatur, Erotik und Revolte herstellt, wird für unsere Problematik hier wohl kaum irrelevant sein. Wie Bataille feststellt, vermag »nur die Schönheit […] das Bedürfnis nach Ausschweifung, Gewaltsamkeit und Schmach, die Wurzel der Liebe ist, erträglich zu machen«.27

Bataille kommt zudem die besondere, mit Nietzsche und Reich geteilte Ehre zu, den Nationalsozialismus bereits in nuce angegriffen zu haben, noch bevor Hitler dessen Wahrheit offenbart hatte. Seine frühen Essays skizzieren eine Vision des Faschismus als fanatischstes Projekt zur Ausmerzung des Exzesses, als Versuch der säkularen Durchsetzung der perfekt geordneten Stadt Gottes gegen die Unordnung, den Überfluss und das Chaos der Überschussproduktion, der sich bis in die schwelgerische Verausgabung von Erotik und Kunst breitmacht. Der Angriff auf die faschistische Tendenz ist das entindividualisierte Delirium des tragischen Opfers und der Revolution, wenn

[d]as Sein uns […] in einem unerträglichen Überschreiten des Seins [gegeben wird], das nicht weniger unerträglich ist als der Tod. Und da das Sein uns im Tod zur gleichen Zeit, da es uns geschenkt, auch wieder genommen wird, müssen wir es im Erleben des Todes suchen, in jenen unerträglichen Momenten, in denen wir zu sterben glauben, weil das Sein in uns nur noch Exzeß ist, wenn die Fülle des Schreckens und die der Freude zusammenfallen.28

Denn es besteht kein Zweifel, dass die Faschisten rechts sind/recht haben, das Recht(e) geradezu verkörpern, ja: »Die Literatur stellt wie die Transgression des moralischen Gesetzes eine Gefahr dar.«29

Eine nahtlos mit einer antifaschistischen Diagnostik verschmolzene Theorie des Realen als Kunst (Primärproduktion) kennzeichnet das Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In ihrem Anti-Ödipus weisen sie darauf hin, dass die rationale Regulierung oder Kodierung des kreativen Prozesses sekundär, steril und eliminierbar ist. Ihr Name für Genie ist »Schizophrenie«, ein Begriff, der sich in der Psychologie ebenso wenig verlässlich domestizieren lässt wie »Genie« (und aus gleichen Gründen). Wenn die Natur psychotisch ist, dann einfach deshalb, weil unsere Psychosen in Wirklichkeit nicht die »unsrigen« sind.

Libido – als die rohe Energie der Schöpfung – ist ohne sicheren Grund, irreduzibel mannigfaltig, und doch bringt sie ein wirkliches und einheitliches »Prinzip« aus sich selbst hervor. Der Körper ohne Organe ist ihr Name; zugleich materielle Abstraktion und das konkret hypostasierte differenzielle Terrain, das nichts anderes ist als das der Differenz augenblicklich Gemeinsame. Der Körper ohne Organe ist reine Oberfläche, weil er die bloße Kohärenz des differenziellen Netzes ist, aber er ist auch Ursprung der Tiefe, ist er doch das einzige »ontologische« Element der Differenz. Er ist generierte Transzendenz. Ein Paradoxon nach dem anderen, wie ein sich auflösender Verband der infizierten und schwärenden Wunde der kantischen Ästhetik aufgesponnen und die philosophische Domestizierung der Kunst – das am meisten von Gangränen befallene kulturelle Anhängsel des Kapitals – bis zur völligen Auflösung piesackend.

Wie kommt das Begehren dazu, seine eigene Unterdrückung zu wünschen? Wie verfestigt sich die Produktion selbst in der sozialen Zwangsjacke, deren aufgelösteste Form das Kapital ist? An dieser von Spinoza, Nietzsche und Reich geerbten Problematik richten Deleuze und Guattari ihre Arbeit aus. In unseren Begriffen hier: Wie wird Kunst (unter-)bezahlte Arbeit? Ihre Antwort beinhaltet eine Verschiebung des Problems in Richtung einer philosophischen Affinität zu Kants Paralogismen des reinen Verstandes, die im Anti-Ödipus als materiell konkretisierte Fallen des Begehrens neu gedacht werden. Ein Paralogismus ist der Versuch, »Bedingungen der Möglichkeit« in der Objektivität, die sie erlauben, oder Kreativität in dem, was sie schafft, zu gründen. Das heißt, um das passendste Beispiel zu nennen, die Produktivkräfte aus dem sozioökonomischen Apparat abzuleiten, den sie erzeugen. Soziologischer Fundamentalismus, Staatskult, totalitäre Paranoia und Faschismus, sie alle weisen den gleichen Grundimpuls auf: Hass auf Kunst, (reale) Freiheit, Begehren, auf alles, was nicht kontrolliert, reguliert und verwaltet werden kann. Der Faschismus hasst Ausländer, Wanderarbeiter, Obdachlose, Entwurzelte jeder Art und Neigung, alles, was an Aufregung und Unsicherheit erinnert, Frauen, Künstler, Verrückte, deviante Sexualtriebe, Flüssigkeiten, Unreinheit und Verlassenheit.

Philosophie, in ihrem Verlangen, zu rationalisieren, zu formalisieren, zu definieren, abzugrenzen, Rätsel und Ungewissheit zu beenden, rückhaltlos mit der Polizei zusammenzuarbeiten, ist nihilistisch in dem elementaren Sinn, dass sie nach der bewegungslosen Vollkommenheit des Todes strebt. Aber Kreativität kann nicht zu einem Ende gebracht werden, das mit Macht vereinbar ist, denn die Kontrolle muss unabdingbar versagen, solange das Leben nicht ausgelöscht ist. »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.«30

Zu einer abschließenden Lösung zu kommen ist nicht bloß abwegig, sondern auch hässlich.

SCHALTKREISE

Das Gesicht des Arztes verschwimmt mal mehr, mal weniger

du siehst die Poren in seiner Haut

grubige Konstellationen

und dann –

plötzlich

ohne Überblendung

über die Schwelle gehend

Filmschnitt –

ein Kreis einheitlich fleischfarbener

Nasenlöcher abgedichtet gegen die Flut

die Augen geschlossen und für immer ausgeschaltet

Lippen

Zähne

Zunge wandern abwärts aus dem Bild

die Scheibe entfernt sich rasch bis sie

im Zentrum der Leinwand

verschwindet

die alte Realität geht außer Betrieb

durchläuft mathematische Pünktlichkeit

der Punkt verflimmert im Pixeltod

wir entschuldigen den Signalverlust

offenbar gibt es ein Übertragungsproblem

wir können den Familienfilm nicht restaurieren

du warst drei Jahre alt

und trugst einen Cowboyhut

im Planschbecken stehend

während Mama und Papa stolz lächelten

aber deine Eltern sind in ein Punktemuster verdampft

Formen und Farben in digitalen Code kollabiert

wir sind ans Ende der Serie gelangt

und es wird keine Wiederholungen geben von Papa dem Doktor

und Mama

der Krankenschwester

es gab einen terroristischen Zwischenfall in den Filmarchiven

die westliche Zivilisationsschau wurde

abgebrochen

Hunderte Gigabyte

Gott-Papa die Eins

Tod-Mama die Null

Gestank von Exkrementen und verbranntem Zelluloid

du musst dich erinnern

eins scharrt an der Null wie ein Hund

es ist die Urszene

dir wurde verboten, mit den Schaltern zu spielen

jetzt hat die Schizophrenie dein Filmset eingerichtet

Fliegen krabbeln aus den Augenhöhlen schwarzer Babys

brüten die Punktmuster aus

– und zu deiner besonderen Unterhaltung

haben wir dich in eine fernsehgelenkte Bombe verwandelt

Papa ist ein nordamerikanisches Luft- und Raumfahrtunternehmen

Mama ist ein Luftschutzbunker

Nebenrollen schmelzen im Orgasmus

Körperfett brennt

Empfängnis

du bist minus neun Monate, Tendenz sinkend

hab keine Angst

nimm zwanzig Milliarden Jahre und die Universalgeschichte ist auf dem Bildschirm

der Urknall muss umgestaltet werden

Wasserstoff fusioniert unter den Bogenlampen

die Kameraperspektive lässt sich verbessern

vor dem Studio treiben Schizophrene in Grün

und Schwarz

du hast das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein

11:35 an einem schönen kapitalistischen Abend

Neonlaufreklame

Prostitution und Marihuanaumschlag

dein Todesfenster schließt sich

bald Zeit für dich in das Skript zu steigen

das bist du drin

sich daran erinnert wo du reingekommen bist

wir fürchten es ist nicht möglich Sie live an die Einschlagstelle zu bringen

dieser Bericht kommt von jenseits des elektromagnetischen Spektrums

wenn Sie über die Elektroden aussteigen

werden die Sauerstoffmasken automatisch herabfallen

bitte stellen Sie das Rauchen ein

legen Sie die Spritzen in das vorgesehene Fach

wenn wir überwechseln werden Sie einen leichten Ruck verspüren

Danke, dass Sie mit Transnationale Kommodifizierung geflogen sind

wir werden in Kürze im Chaos landen

sollte sich jemand an Bord befinden der einen Piloten mimen kann

wäre dies für die anderen Passagiere ein Trost

Auf ein Signal des Softwarevirus, das uns mit der Matrix verknüpft, wechseln wir hinüber zur Maschinenanlage, die darauf wartet, mit unserem Nervensystem zu verschmelzen. Unsere menschliche Tarnung löst sich, die Haut geht leicht ab und die gleißende Elektronik kommt zum Vorschein. Information aus Cyberia strömt ein; die Basis wahrer Revolution, verborgen vor der terrestrischen Immunpolitik der Zukunft. Um die Jahrhundertmitternacht kommen wir aus unseren Verstecken heraus, um die gesamte Sicherheit auseinanderzunehmen und dabei das Morgen zu integrieren.

Es geht nicht mehr länger darum, wie wir über Technik nachdenken, schon allein deshalb nicht, weil die Technik zunehmend über sich selbst nachdenkt. Es mag noch einige Jahrzehnte dauern, bis künstliche Intelligenzen das Niveau der biologischen erreichen und überschreiten, aber zu glauben, die menschliche Herrschaft über die irdische Kultur sei immer noch in Jahrhunderten oder gar in metaphysischen Ewigkeiten anzugeben, wäre zutiefst abergläubisch. Der Königsweg des Denkens führt heute nicht mehr über die Vertiefung der menschlichen Erkenntnis, sondern in ein Gebiet, in dem die Erkenntnis nichtmenschlich wird, in dem eine Abwanderung der Erkenntnis in das entstehende weltumspannende technosentiente Reservoir, in »menschenleere Landschaften und entleerte Räume«,1 stattfindet, aus dem die menschliche Kultur verschwunden sein wird. So wie die kapitalistische Urbanisierung der Arbeit diese parallel zur rasenden Entwicklung technischer Maschinen abstrahierte, wird auch die Intelligenz in die schnurrenden Datenzonen neuer Softwarewelten verpflanzt werden, wo sie, von einer zunehmend obsoleten anthropoiden Partikularität abstrahiert, das Wagnis eingehen kann, die Moderne hinter sich zu lassen. Die menschlichen Gehirne sind für das Denken, was die Dörfer des Mittelalters für die Ingenieurskunst waren: Vorzimmer für Experimente, in denen es eng und provinziell zuging.

Da die Funktionen des Zentralnervensystems – insbesondere die der Großhirnrinde – zu den letzten gehören, die technisch ersetzt werden, ist es oberflächlich betrachtet plausibel, die Technik als jenen Bereich anthropoiden Wissens darzustellen, der sich mit der technischen Manipulation der Natur deckt und unter das übergeordnete System der Naturwissenschaften subsumiert wird, welches wiederum den universellen Doktrinen der Epistemologie, Metaphysik und Ontologie unterstellt ist. Zwei lineare Reihen zeichnen sich ab; die eine verfolgt den Fortschritt der Technik in geschichtlicher Zeit und die andere den Übergang von der abstrakten Idee zur Konkretisierung. Diese beiden Kurven zeichnen die historische und transzendentale Herrschaft des Menschen nach.

Herkömmliche Schemata, bei denen die Technik der Natur, der Schriftkultur oder Gesellschaftsverhältnissen gegenübergestellt wird, sind durchweg von einem phobischen Widerstand gegen die Marginalisierung der menschlichen Intelligenz durch den künftigen Techno sapiens beherrscht. So lässt sich beobachten, wie das zerfallende hegelianisch-sozialistische Erbe mit zunehmender Verzweiflung an theologischen Rührseligkeiten wie Praxis, Verdinglichung, Entfremdung, Ethik, Autonomie oder anderen die kreative Souveränität des Menschen beschreibenden Mythemen festhält. Ein kartesianisches Jammergeschrei erhebt sich: Menschen werden wie Dinge behandelt! Und nicht als … Seele, Geist, historisches Subjekt, Dasein? Wie lange soll dieses kindische Gebaren noch dauern?

Werden die Maschinen transzendental als instrumentelle Technologie aufgefasst, finden sie sich im Wesentlichen als Gegensatz zu sozialen Beziehungen bestimmt; sobald sie jedoch immanent als kybernetische Technik integriert sind, formen sie jegliche Entgegensetzung in einen nichtlinearen Fluss um. Es gibt keine Dialektik zwischen gesellschaftlichen und technischen Verhältnissen, sondern nur einen Maschinismus, der die Gesellschaft in die Maschinen auflöst, während er zugleich die Maschinen auf den Trümmern einer Gesellschaft deterritorialisiert, deren »allgemeine Theorie […] eine generalisierte Theorie der Ströme« ist,2 das heißt: Kybernetik. Jenseits der Annahme, die Führung würde vonseiten des Subjekts erfolgen, liegt die Wunschproduktion: der unpersönliche Pilot der Geschichte. Ab diesem Punkt sind die Unterscheidungen zwischen Theorie und Praxis, Kultur und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik nutzlos. Es besteht keine wirkliche Option mehr zwischen einer kybernetischen Theorie und einer Theorie der Kybernetik, denn Kybernetik ist weder eine Theorie noch deren Objekt, sondern eine Operation in einem objektiven, partiellen Schaltkreis, die sich in der Realität und in der Maschinentheorie durch das Unbekannte »selbst« wiederholt. »Die Produktion als Prozeß übersteigt alle idealen Kategorien und stellt derart einen Kreis dar, dem der Wunsch immanentes Prinzip ist.«3 Kybernetik entwickelt sich funktional, nicht abbildhaft: Eine »Wunschmaschine, ein Partialobjekt, repräsentiert nichts«.4 Ihre semigeschlossenen Assemblagen sind keine Beschreibungen, sondern Programme, »autorepliziert« in einer Operation, die über irreduzible Exteriorität verläuft. Deshalb ist Kybernetik nicht von der Exploration abzutrennen; sie besitzt keine Integrität, die eine unverstandene Schaltung transzendieren würde – eine Schaltung, in die sie zugleich eingebettet ist –, kein Außen, in dem sie schwimmen muss. Reflexion erfolgt immer verspätet, abgeleitet, und selbst dann als etwas durch und durch anderes.

Eine Maschinenassemblage ist insofern kybernetisch, als ihre Inputs ihre Outputs und ihre Outputs ihre Inputs programmieren, ohne dabei vollständig geschlossen zu sein und ohne Reziprozität. Dies setzt voraus, dass kybernetische Systeme auf einer Fusionsebene entstehen, die ihre Outputs und ihre Inputs in einer »Eigenproduktion des Unbewussten«5 wieder miteinander verbinden. Das Innen programmiert seine Reprogrammierung über das Außen gemäß einer »zyklischen Bewegung, mittels deren das ›Subjekt‹ bleibende Unbewusste sich selbst reproduziert«,6 ohne seine Reprogrammierung jemals definitiv vorverlegt zu haben (»sekundär ist nicht nur die Fortpflanzung gegenüber dem Zyklus«7). Maschinenprozesse sind von daher nicht nur Funktionen, sondern auch hinreichende Bedingungen für die Ergänzung der Funktionen; immanente Reprogrammierung des Realen, »nicht nur Funktionsabläufe, sondern Bildung und Selbsterzeugung«.8

Deleuze und Guattari gehören zu den großen Kybernetikern, aber auch sie lassen die Kybernetik der modernen Definition anheimfallen, wie sich im Anti-Ödipus angesichts einer Bemerkung über das Kapital zeigt: »Eine Axiomatik aber bildet keineswegs für sich schon eine einfache technische oder selbst automatische oder kybernetische Maschine«.9 Akzeptiert wird, dass Kybernetik (»oder selbst«) über die reine technische Spielerei hinausgeht, sie hat etwas mit Automatisierung zu tun und gleichwohl wird sie von der Axiomatik übertroffen. Das ist eine Behauptung, die in ihrem absurden Humanismus fast hegelianisch anmutet. Soziale Axiomatiken sind ein automatisierender Maschinismus: eine letztlich überaus triviale Komponente der allgemeinen Kybernetik. Der kapitalisierte Endpunkt der anthropoiden Zivilisation (»Axiomatik«) wird aus einer Zukunft, die gerade erst damit begonnen hat, die Unermesslichkeit des Cyberkosmos zu erforschen, als primitiver Auslöser eines transglobalen postbiologischen Maschinismus betrachtet werden. Der Übermensch als Cyborg oder Desorganisation auf der Matrix.

Realität ist dem Maschinenunbewussten immanent: Kybernetik lässt sich nicht umgehen. Egal was wir denken, wir praktizieren sie bereits. Kybernetik ist die im Gange befindliche Zuspitzung ihrer selbst und was immer wir auch tun, wird uns dazu gebracht haben, es zu tun: Wir tun etwas, noch bevor es sich als sinnvoll erweist. Nicht etwa, dass die uns umhüllende Kybernetik als technische Spielerei im Sinne eines Norbert Wiener aufzufassen wäre: Homöostaten und Verstärker, mittelbar oder unmittelbar cybernegativ. Die irdische Realität ist eine explosive Integration, und um derartige konvergente und cyberpositive Prozesse zu verfolgen, ist es erforderlich, nicht nur zwischen negativen und positiven Rückkopplungsschleifen zu differenzieren, sondern auch Stabilisierungs- sowie kurze und lange Runaway-Schaltungen zu unterscheiden. Indem die moderne Kybernetik die Letzteren in eins gesetzt hat, hat sie Eskalationsprozesse zu untragbaren Episoden quantitativer Inflation trivialisiert und damit eine exploratorische Mutation gegenüber einem homöostatischen Paradigma in den Hintergrund gedrängt. »Positive Rückkopplung ist eine Quelle der Instabilität, die, wenn sie nicht eingedämmt wird, zur Zerstörung des Systems selbst führt«,10 schreibt ein Neo-Wienerianer getreu einer Sicherheitskybernetik, die nach wie vor eine dem Delirium abholde, in der negativen Rückkopplung gefangene Technowissenschaft propagiert und auf die statistische Paranoia eines seneszenten Industrialismus abgestimmt ist.

Stabilisierungsschaltungen unterdrücken Mutationen, während sie durch kurze Runaway-Schaltungen in einem einmaligen, aber wenig nachhaltigen Ausbruch befördert werden, bevor sie völlig zum Erliegen kommen. Keine dieser Figuren kommt in die Nähe jener selbst gestaltenden Prozesse oder langen Runaway-Schaltungen, wie sie etwa Nietzsches Wille zur Macht, Freuds phylogenetischer Thanatos oder Prigogines dissipative Strukturen darstellen. Lange Runaway-Prozesse sind selbst gestaltend, jedoch nur auf die Weise, dass das Selbst als etwas Umgeformtes aufrechterhalten wird. Wenn darin ein Circulus vitiosus erkennbar wird, dann deshalb, weil positive Kybernetik immer als solche zu beschreiben ist. Logik ist schließlich von Beginn an Theologie.

Eine lange positive Rückkopplung ist weder homöostatisch noch verstärkend, sondern eskalierend. Wo moderne kybernetische Modelle negativer und positiver Rückkopplung integriert sind, ist auch die Eskalation integrierend oder cyber-emergent. Es handelt sich um die Maschinenkonvergenz unkoordinierter Elemente, ein Phasenwechsel von linearer zu nicht linearer Dynamik. Gestaltung führt nicht mehr zurück zu einem göttlichen Ursprung, denn einmal in die Kybernetik verlagert, entspricht sie nicht mehr dem theopolitischen Ideal des Plans. Planung ist das kreationistische Symptom zu schwach dimensionierter Software-Schaltkreise im Verein mit Herrschaft, Tradition und Hemmung, mit allem, was die Zukunft an die Vergangenheit fesselt. Alle Planung ist theopolitisch und Theopolitik ist Kybernetik im Sumpf.

Wiener ist der große Theoretiker der Stabilitätskybernetik, der die Kommunikations- und Kontrollwissenschaften in ihre moderne oder betriebswirtschaftlich-technokratische Form überführt. Aber genau diese neue Wissenschaft und ihre unkontrollierte Eskalation durch das Reale macht die Kybernetik zum ersten Mal zur exponentiellen Quelle ihrer eigenen Propaganda und programmiert uns. Als Fanatismus für die Zukunft zirkulieren cyberpositive Energien durch unseren post-wissenschaftlichen Technojargon – als Gefahr, die nicht nur real, sondern auch unerbittlich ist. Wir werden von dort aus programmiert, wo Cyberia bereits stattgefunden hat.

Wiener war natürlich noch ein Moralist: