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Warum ist die Scheidungsrate in Deutschland so hoch und die Geburtenrate so niedrig? Warum gibt es Ehrenmorde und warum ist die Prostitution das älteste Gewerbe der Welt? Warum ist Doppelmoral so weit verbreitet? Und in welchem Zusammenhang stehen Kapitalismus und sexuelle Revolution? Auf diese und andere Fragen gibt Gérard A. Bökenkamp verblüffende Antworten und zeigt die rationalen Ursachen vordergründig unvernünftiger Entscheidungen. Anhand der Theorien der Österreichischen Schule der Nationalökonomie erklärt er, wie Menschen auf Beziehungsmärkten ihre Vorteile maximieren und ihre Nachteile minimieren.
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Seitenzahl: 284
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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1. Auflage 2015
© 2015 by FinanzBuch Verlag
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Redaktion: Matthias Michel
Korrektorat: Monika Spinner-Schuch
Umschlaggestaltung: Maria Wittek
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-89879-881-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-610-6
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-611-3
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Einleitung
1 Theorien zur Ökonomie der Sexualität
Der methodische Individualismus der Austrian Economics
Der Homo Strategus
Die Entkoppelung von Sex und Reproduktion
Präferenztheorie und methodischer Individualismus
Konstruktivismus und Individualismus
Es gibt keine Geschlechter, es gibt nur Individuen
Anlage, Umwelt, Arbeitsteilung
Ungleichheiten und Subjektivismus
2 Verhandlungen auf Beziehungsmärkten
Sex als Tauschbeziehung
Der Beziehungsmarkt und seine Teilmärkte
Verhandlungen in der Familie und im Haushalt
Verhandlungspositionen auf dem Teilmarkt für Familiengründung
Verhandlungen auf dem Teilmarkt für Gelegenheitssex
Wie Liebe die Verhandlungsposition beeinflusst
Die Kalkulation von Chancen und Risiken der Sexualität
3 Politische Ökonomie der Sexualität
Paradoxe Allianzen und unbeabsichtigte Konsequenzen
Ursachen und Wirkungen der Verbotspolitik
Doppelmoral als Strategie und Sittlichkeit als Geschäftsmodell
Bevölkerungspolitik vom alten Rom bis zur Berliner Republik
Die Geburtendiktatur in Rumänien
Pille und Abtreibung in Japan
Prohibition und Prostitution – Verbotspolitik in Schweden
4 Kapitalismus und liberale Sexualethik
Das Grundgesetz der sexuellen Freiheit
Die Geburt der liberalen Sexualethik aus dem Geist des Kapitalismus
Marktwirtschaft und sexuelle Revolution
Sozioökonomischer Wandel und politische Anpassung
Sexuelle Freiheit und kultureller Kollektivismus
Die sexuelle Freiheit des Westens und der politische Islam
5 Sexuelle Freiheit und liberale Gesellschaftspolitik
Die normative und die praktische Seite
Von der Staatsehe zur privaten Notariatsehe
Sexarbeit in der freien Gesellschaft
Selbstbesitz und Abtreibung
Pflegschaft, Verhandlungsfreiheit und Adoptionsrecht
Wer darf adoptieren und wer soll das entscheiden?
Literatur
Nachweise
Stichwortverzeichnis
Menschen sind ausgesprochen interessant. Alles, was sie tun, und wie sie es tun, ist spannend, besonders wenn man einen zweiten oder einen dritten Blick wagt. Es kann faszinierend sein, einen Ameisenhaufen oder einen Bienenstock zu beobachten und schließlich hinter dem Gewusel eine Ordnung zu entdecken. Noch faszinierender ist es, das Gewusel der Menschen mit ihren im Unterschied zu Bienen und Ameisen völlig konträren Zielen, Wünschen, Hoffnungen und Absichten zu betrachten und hinter dem Chaos eine spontane Ordnung zu finden. Wir gehen davon aus, dass Menschen Ziele haben, ausgesprochene und verschwiegene, um ihr persönliches psychisches Einkommen zu maximieren, und nach Mitteln und Wegen suchen, um diese Ziele auch zu erreichen. In ständig ablaufenden Prozessen von Versuch und Irrtum passen sie ihre Strategien den Umständen an und versuchen durch Überzeugung, Überredung und Tausch andere Menschen dazu zu bewegen, sich so zu verhalten, dass es der Erreichung ihrer Ziele dienlich ist. Wenn wir das im Blick haben, dann wird die Ordnung des sozialen Handelns verständlich. Genau diesen Blickwinkel wollen wir verfolgen, um ein zentrales Thema des Menschen zu betrachten: die Sexualität und was mit ihr zusammenhängt.
Die Welt lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, und je nachdem, welche ich wähle, erscheint sie in einem anderen Licht. Diese Perspektiven sind nicht zwangsläufig richtig oder falsch, so wenig eine Fledermaus mit ihrem Radarsystem oder der Hund mit seiner Nase die Welt unbedingt besser oder schlechter wahrnehmen als wir. In diesem Buch werden wir uns vor allem an einem Paradigma orientieren: dem methodischen Individualismus der Österreichischen oder Wiener Schule der Nationalökonomie, zu deren Vertretern große Ökonomen wie Carl Menger, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Murray Rothbard gehören. Diese klassisch liberale Schule der Volkswirtschaftslehre erklärt menschliches Handeln aus dem subjektiven Wertnutzen der Individuen. Die »Österreicher« gehen prinzipiell davon aus, dass Verhandlungen zwischen freien Individuen zu besseren Ergebnissen führen als Gewalt und Zwang. Einvernehmliche Lösungen sind allemal aufgezwungenen vorzuziehen.
Von diesen Annahmen ausgehend schreiten wir dann das Feld der Sexualität und der romantischen Beziehungen in verschiedene Richtungen ab. Die Theorien der Österreichischen Schule – oder Austrian School of Economics, unter welchem Namen sie in den USA berühmt geworden ist – sind in ihrer Geltung nämlich nicht auf das Feld von Wirtschaft und Finanzen beschränkt. Die »Austrians« haben versucht, eine allumfassende Theorie des menschlichen Handelns, der sozialen Kooperation und der ethischen Normen zu entwickeln. Hier wird also lediglich den vielen von ihnen bearbeiteten Feldern ein weiteres hinzugefügt; es soll eine Ökonomie der Sexualität entwickelt werden. Wenn das Paradigma seinem allumfassenden Erklärungsanspruch gerecht werden soll, dann muss es sich selbst auf diesem Feld, das nur wenige Menschen spontan mit der Ökonomie in Verbindung bringen, bewähren. Dabei wäre es Hybris, auch nur ansatzweise den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es geht hier um das Setzen von Schlaglichtern, die Zusammenhänge erhellen und Sachverhalte klarer erscheinen lassen. Wir müssen den Weg nicht bis in alle Winkel weiterverfolgen; für unseren Erkenntnisgewinn genügt es zu zeigen, dass der Weg gangbar ist.
Dieses Buch gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil stellen wir den methodischen und ethischen Individualismus der Österreichischen Schule vor und beziehen in einem zweiten Schritt andere sozialwissenschaftliche Positionen in die Betrachtung mit ein, wir untersuchen, inwieweit sie ganz oder in Teilen mit den »österreichischen« Auffassungen übereinstimmen. Im zweiten Teil wird gezeigt, wie Angebot und Nachfrage die Verhandlungspositionen der Individuen bestimmen und welche Auswirkungen das auf die Verteilung der Hausarbeit, Chancen auf Sex und die individuelle Möglichkeit zur Gründung einer Familie hat. Im dritten Teil wollen wir uns mit den Auswirkungen staatlicher Verbots- und Interventionspolitik befassen. Im vierten Teil beschäftigen wir uns mit dem ethischen Individualismus und beschreiben die Genese der liberalen Sexualethik aus dem Geist und der Geschichte des Kapitalismus heraus. Im fünften und letzten Teil ziehen wir aus den zuvor entwickelten ethischen Normen Schlussfolgerungen für die Gesellschaftspolitik. Am Ende obliegt es natürlich dem Leser zu entscheiden, ob es dem Autor gelungen ist, deutlich zu machen, dass das Paradigma des methodischen und ethischen Individualismus auch auf dem Feld der Sexualität zu neuen Einsichten und nachvollziehbaren Schlussfolgerungen geführt hat.
Wie unterscheiden sich der Ansatz und der Standpunkt der Österreichischen Schule von der Herangehensweise neoklassischer Ökonomen? Der Wirtschaftswissenschaftler Javier Aranzadi hat in seiner Studie mit dem sprechenden Titel Liberalism against Liberalism über die Handlungstheorien von Ludwig von Mises und Gary S. Becker insgesamt 19 signifikante Unterschiede herausgearbeitet.1 Einige davon sollen hier erwähnt werden: Becker geht aus von der Modellvorstellung vom Homo Oeconomicus, der gemäß gegebener Informationen und Ziele durch eine Auswahl gegebener Optionen seinen Nutzen rational maximiert. Er beschreibt den Wettbewerb in Kategorien des Gleichgewichtes. Für Ludwig von Mises hingegen ist Wettbewerb ein dynamischer Entdeckungsprozess; diesen Ansatz hat sein Schüler Friedrich August von Hayek noch genauer ausgearbeitet. Der Markt befindet sich vielmehr in einem dynamischen Ungleichgewicht. Mises geht vom kreativen und unternehmerischen Handeln der realen Menschen aus. Informationen sind nicht gegeben, sondern subjektives, praktisches Wissen, das sich im Nachhinein auch als falsch herausstellen kann. Während Präferenzen bei Becker stabil sind, verändern sich bei Mises die Präferenzen der Individuen im Zeitverlauf. Zeit selbst ist nicht nur die physikalische Zeit, die durch Uhren messbar ist und unabhängig vom Individuum existiert, sondern der Zukunftsentwurf des Individuums ist die Ursache seiner Handlungen in der Gegenwart. Beckers Beschreibung der Wirklichkeit beruht auf mathematischen Modellen und Statistik. Mises geht von allgemeinen, logischen Aussagen a priori aus. Er unterscheidet Theorie, Geschichte und Ethik; eine solche Unterscheidung trifft Becker nicht. Diese kurzen Anmerkungen sollten ausreichen, um die grundsätzlichen Differenzen zwischen der Österreichischen Schule und der Neoklassik aufzuzeigen.
Als Vater der Österreichischen Schule der Nationalökonomie gilt Carl Menger (1840–1921).2 Vor Menger gingen die klassischen Ökonomen von Adam Smith bis Karl Marx davon aus, dass sich der »Wert« eines Gutes aus der geleisteten Arbeit ergibt, die in dieses Gut einfließt. Sie glaubten also an eine objektive Wertlehre. Menger arbeitete nun heraus, dass nicht die bei der Produktion eines bestimmten Gutes aufgewendete Arbeit dessen Preis bestimmt, sondern der subjektive Nutzen, den die Konsumenten dem Gut beilegen. Güter und Dienstleistungen haben keinen objektiven Wert, sondern nur einen subjektiven, und aus diesem subjektiven Wert ergibt sich der Preis. Es mag noch so viel Arbeit bei der Produktion eines bestimmten Gutes aufgewendet werden – wenn es am Ende niemanden gibt, der dieses Gut erwerben möchte, dann kann das Gut nur noch verramscht oder verschenkt werden, gleichgültig, wie viele Produktionsschritte für seine Herstellung nötig waren. Die wichtigste Fähigkeit des Unternehmers besteht also darin, die Wünsche der Konsumenten richtig vorauszusagen. Ein Unternehmer, der diese Wünsche richtig vorhersagt, wird einen Gewinn erzielen können. Der Unternehmer, der das nicht vermag, wird auf seinen Produkten sitzen bleiben und in die Pleite gehen.
Die Bedeutung dieser Verschiebung von der objektiven zur subjektiven Wertlehre lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Sie verändert die gesamte Perspektive, aus der nicht nur die ökonomischen Prozesse im engeren Sinne, sondern Welt, Leben und Politik im Ganzen betrachtet werden. Durch die Beobachtungen von Nikolaus Kopernikus rückte die Sonne in das Zentrum, nachdem zuvor die Erde als Mittelpunkt betrachtet worden war. Durch die von Menger ausgelöste »kopernikanische Wende« rückte das kalkulierende, handelnde und bewertende Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ludwig von Mises entwickelte daraus eine allgemeine Lehre des menschlichen Handelns, die er als Praxeologie bezeichnet hat.3 Mises’ Methode ist deduktiv und tautologisch. A priori ist alles menschliche Handeln rational. Menschen bewerten die Welt nach ihren eigenen subjektiven Präferenzen. Da Zeit und Ressourcen knapp sind, können sie nicht alle Ziele gleichzeitig verwirklichen. Sie müssen darum Prioritäten setzen. Die Reihenfolge ihrer Prioritäten zeigt sich in ihrem Handeln. Menschen handeln, weil sie einen bestimmten Zweck, der zu diesem Zeitpunkt die höchste Priorität besitzt, verfolgen. Dass dieser Zweck diese höchste Priorität besitzt, zeigt sich darin, dass sie sich für diese Handlung entschieden haben. Das ist eine Tautologie und weil es eine Tautologie ist, ist es a priori richtig.
Der Mises-Schüler Murray Rothbard hat diese Theorie weitergeführt.4 Jeder Mensch müsse handeln, denn auch Nichthandeln sei letztlich Handeln. Im Mittelpunkt jeder Handlung stehe, dass die Kosten geringer sind als der Nutzen. Der »Nutzen« ist jedoch keine Größe, die sich quantitativ bemessen ließe, wie die Utilitaristen des 19. Jahrhunderts und viele neoklassische Ökonomen bis heute glauben. Es geht nicht um finanzielles, es geht um psychisches Einkommen. Jede Handlung bringt psychische Kosten mit sich in Form von Anstrengung und Aufwand und schafft einen psychischen Gewinn. Jede Handlung geschieht deshalb, weil das Individuum davon ausgeht, dass die psychischen Kosten geringer sind als der psychische Gewinn und das daraus resultierende psychische Einkommen größer ist als bei der Umsetzung der anderen vorhandenen Handlungsoptionen. Menschen kooperieren miteinander, indem sie tauschen. Jeder Tausch zwischen Individuen erfolgt deshalb, weil sich beide Seiten davon eine Maximierung ihres psychischen Einkommens erwarten. Jeder Tausch umfasst einen Vertrag der Individuen miteinander, der festlegt, zu welchen Bedingungen welche Güter getauscht werden.
Menschen handeln nur, wenn sie sich davon ein psychisches Einkommen erwarten; wenn sie kein psychisches Einkommen erwarten, dann handeln sie nicht. Jede Handlung ist das Ergebnis davon, dass ein Mensch ein bestimmtes psychisches Einkommen einem anderen psychischen Einkommen vorzieht. Alles menschliche Handeln hat eine einzige Ursache und einzigen Zweck: psychisches Einkommen. Um nichts anderes geht es und um nichts anderes kann es gehen. Will man die Handlungen eines Menschen verstehen, dann muss man immer fragen, worin besteht sein psychisches Einkommen. Es gibt keine Handlung ohne ein psychisches Einkommen, also ohne eine Motivation, die die Glieder bewegt und den Körper in Bewegung setzt. Der Zweck besteht darin, das psychische Einkommen zu erhöhen; das Mittel ist die individuelle Handlung. Hinter jeder Entscheidung für eine Handlung steht immer eine Hypothese über eine kausale Beziehung und eine Kalkulation von Risiken und Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich menschliches Handeln beobachte, dann weiß ich, dass dieses Handeln durch das Streben nach einem psychischen Einkommen motiviert ist. Kurz: kein psychisches Einkommen – kein Handeln.
»Psychisches Einkommen« ist nicht gleichzusetzen mit Glück. Menschen können auch dem Gefühl Stolz gegenüber dem Gefühl Glück den Vorzug geben, oder auch dem Selbstmitleid, oder sogar dem Schmerz. Möglicherweise geht es dem Menschen gar nicht darum, dass das Gefühl positiv ist, sondern dass es intensiv ist. Oder Menschen tun etwas, weil sie ein schlechtes Gewissen haben und ein noch größeres schlechtes Gewissen vermeiden wollen. Mit Gefühlen ist es wie mit Farben und mit Tönen – aus einer begrenzten Palette oder Klaviatur lässt sich eine fast unendlich große Zahl von Kombinationen erstellen: das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit; das Empfinden angenehmer physischer und sinnlicher Empfindungen; das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit; das Gefühl von Heiterkeit und Komik; Freude an bestimmten Tätigkeiten; das Gefühl von Bewunderung und Anerkennung; das Gefühl von Stolz und Ruhm; die Linderung von Angst und Sorge; Die Vermeidung von Schmerz; die Bekämpfung der Langeweile; die Erzeugung von Spannung und Erregung; das Gefühl von Dominanz und Überlegenheit; die Bestätigung der eigenen Ideale und Vorurteile; das Vermeiden von schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen. Es gibt eine fast unendlich große Zahl handlungsleitender Motive, die uns ein psychisches Einkommen versprechen.
Das Individuum ist weder allwissend, noch sind seine Erwartungen immer zutreffend, noch stehen seine Präferenzen ein für alle Mal fest. Das Individuum hat immer nur ein begrenztes Wissen über die Welt und bewegt sich in einem Umfeld der Unsicherheit. Sein »Wissen« über die Zukunft ist eine Spekulation. Das Individuum sucht aktiv Informationen darüber, wie es seine Wünsche verwirklichen kann. Die Zukunft ist von entscheidender Bedeutung, sogar noch mehr als die Vergangenheit. Das Individuum verfolgt ein bestimmtes Ziel und hat eine Theorie darüber, wie es dieses Ziel in der Zukunft erreicht. Von dem gedanklich vorweggenommenen, in der Zukunft liegenden Ziel ausgehend verfolgt es eine Kette von notwendigen Handlungen zurück in die Gegenwart. Das erreichte Ziel in der Zukunft ist die Wirkung und sein eigenes Handeln in der Gegenwart soll die Ursache dafür sein: Ich stelle mir einen zukünftigen Zustand vor und die Gefühle, die ich bei Erreichen dieses Zustands haben werde. Die Erwartung dieser Gefühle für die Zukunft erzeugen Gefühle in der Gegenwart, also im Hier und Jetzt. Diese Gefühle sind handlungsleitend.
Die Handlung eines Menschen mag mir noch so unsinnig, unverständlich, irrational, absurd oder sogar geschmacklos oder unmoralisch erscheinen – ich komme nicht umhin zu akzeptieren, dass die Handlung für den Handelnden unter den gegebenen Umständen und mit seinen spezifischen Erfahrungen und Kenntnissen immer die beste Handlung ist, für die sich der Handelnde entscheiden konnte. Sonst hätte er sich für eine andere Handlung entschieden. Wenn ich das nicht erkenne, dann liegt das daran, dass ich Informationen als allgemein bekannt voraussetze, die der andere nicht hat. Oder aber er verfügt über Informationen, die ich nicht habe. Dazu gehört immer das Wissen über die Bedürfnisse und Gefühle des Handelnden, die der Beobachter nicht kennt, aber der Handelnde umso mehr. Ich kann einen anderen Menschen nur zu einem Handeln in meinem Sinne bewegen, wenn ich in ihm die Erwartung auf ein psychisches Einkommen wecken kann, das heißt die Erwartung eines emotionalen Zustandes, der in ihm eine Motivation schafft, sich so verhalten, wie ich es wünsche. Wenn ich das nicht kann, dann kann ich sein Handeln nicht beeinflussen. Fehlentscheidungen und Fehleinschätzungen beruhen auf der irrtümlichen Objektivierung des Subjektiven. Das heißt, ich halte bestimmte Handlungen für selbstverständlich und erwarte sie auch von anderen, obwohl es dabei nicht um ein objektives, allgemeines Ziel geht, das für alle verbindlich ist, sondern eben um mein Streben nach Erhöhung meines eigenen psychischen Einkommens. Wenn ich an jemand anderen eine Forderung stelle, dann muss ich mir die Frage stellen, was der andere davon hat.
Wenn Verhalten nun a priori immer rational ist und immer der Maximierung des psychischen Einkommens des Individuums dient, wird diese Aussage dann nicht zu einer Trivialität? In der Tat sind die Aussagen trivial und tautologisch – das heißt allerdings nicht, dass sie nicht hilfreich sind. Extreme intellektuelle und praktische Irrtümer werden oft deshalb begangen, weil bei der Entwicklung komplexer theoretischer Gebäude schon am Anfang sehr triviale Wahrheiten vergessen und ignoriert werden. Der menschliche Verstand ist nicht von solcher Art, dass ihm triviale und tautologische Grundwahrheiten immer präsent wären. Ganz im Gegenteil bedarf es einer nicht unerheblichen intellektuellen Disziplin, seine Denkprozesse immer wieder an triviale Grundannahmen rückzukoppeln. Wenn wir »wissen«, dass Menschen unter den Gegebenheiten der ihnen zugänglichen Informationen und ihrer subjektiven Bewertung von Zielen immer rational handeln, dann eröffnet uns das tatsächlich neue Perspektiven.
Wir werden dann weniger dazu neigen, den anderen für krank, irrational, verrückt, unaufgeklärt und dumm zu erklären, wie wir das oft schnell und unbedacht tun, ohne zu bemerken, dass wir im Grunde ein Geschmacksurteil fällen, welches auf unseren eigenen subjektiven Werturteilen beruht. Wir werden uns stattdessen die Frage stellen, welchen subjektiven Wertnutzen der Betreffende anstrebt, welche Informationen und Ressourcen ihm zur Verfügung stehen und welche Strategie er verfolgt, um auf der Basis seiner Informationen mit dem Einsatz seiner Ressourcen sein Ziel zu erreichen, das ihm aufgrund seiner persönlichen subjektiven Wünsche erstrebenswert erscheint, weil er sich davon das größtmögliche psychische Einkommen erwartet. Wer mit diesen trivialen tautologischen Aussagen im Gepäck die Welt sieht, der sieht sie anders, denn er stellt andere Fragen.
Wir neigen dazu, Menschen zu dämonisieren, sie für böse oder krank zu erklären, sie als Opfer der Umstände zu betrachten. Gerade im Bereich des Sexuellen waren und sind diese Tendenzen sehr stark. Je nach ideologischem Standpunkt werden Schwule als krank, Prostituierte und Hausfrauen als hilflose, passive Opfer des Patriarchats, Scheidung und Geburtenrückgang als Folgen kollektiver Dekadenz oder dunkler Verschwörungen gesehen. Demnach sind Menschen entweder Opfer oder Täter, irre oder fehlgeleitet, passiv leidend und getrieben, statt aktiv planende und ihre Umwelt bewusst gestaltende Individuen. Selten kommt man auf die Idee, dass Menschen das tun, was sie tun – unabhängig davon, wie man dieses Tun von seinem eigenen Standpunkt aus bewerten mag –, weil sie es eben tun wollen, weil sie gute Gründe für ihr Tun haben. Mögen wir selbst auch diese Gründe nicht nachvollziehen können oder für falsch und verwerflich halten, dann bedeutet das noch lange nicht, dass es keine nachvollziehbaren Gründe sind. Gerade wenn wir ein Verhalten nicht »verstehen«, müssen wir uns möglichst wertneutral und vorurteilsfrei der Frage zuwenden, was das Individuum antreibt und welche Art von psychischem Einkommen es durch sein Handeln zu erzielen beabsichtigt und welche Strategie es dabei verfolgt.
Ludwig von Mises wurde oft vorgeworfen, dass er die Erkenntnis auf Deduktion, also auf rein logische und tautologische Aussagen reduziere. Das ist nicht richtig. Mises verstand Ökonomie im engsten Sinne als ein System deduktiver Aussagen, aber er ging nie davon aus, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnisgewinnung sei. In der Methode der Geschichts- und Geisteswissenschaften sah Mises einen zentralen Zugang zur Erkenntnis, nämlich im nachvollziehenden »Verstehen« einer bestimmten Handlung. Wenn ich weiß, dass jemand mit seinen Handlungen sein psychisches Einkommen maximieren will, dann weiß ich noch nicht, worin dieses angestrebte psychische Einkommen besteht. Ich weiß nicht, welche Informationen er hat, auf deren Grundlage er seine Entscheidungen fällt, ich kenne seine Strategien und Kalkulationen nicht. Genau darum geht es beim »Verstehen« der Geschichts- und Geisteswissenschaften: Wenn wir versuchen, eine konkrete, historisch bestimmbare Handlung eines Menschen zu verstehen, dann versuchen wir innerlich nachzuvollziehen, worin er sein psychisches Einkommen findet und welche Strategie er zu diesem Zwecke verfolgt. Wir versuchen die Gedankengänge nachzuvollziehen, die zu einer bestimmten Strategie führen, die dann in konkrete Handlungen umgesetzt wird. Wir versuchen auch, uns in andere hineinzuversetzen, die auf diese Handlung reagieren, und zu verstehen, wie Menschen mit unterschiedlichen subjektivem Wertnutzen ihre Handlungen möglichst zum gegenseitigen Vorteil aufeinander abstimmen. Wir erkennen in der Interaktion zwischen Menschen eine nicht enden wollende Kette von Vereinbarungen, Deals, Arrangements, Abstimmungen und Kompromissen, um zu einem Ausgleich der verschiedenen subjektiven Interessen zu gelangen. Der Zweck persönlicher Beziehungen zwischen Menschen, deren Handlungen mir auf den ersten Blick irrational und unverständlich erscheinen, tritt zutage, wenn ich die subjektiven Wünsche, Strategien und Ziele hinter diesen Arrangements erkenne.
Von der neoklassischen Ökonomie ausgehend haben sich die Gegensatzpaare rational – irrational, egoistisch – altruistisch und materialistisch – idealistisch in den Sozialwissenschaften verbreitet. Unendlich viele Papers wurden darüber geschrieben, ob ethnische und religiöse Konflikte nicht »in Wirklichkeit« ökonomische Konflikte sind und ob Religion und Ideologie eigenständige Erklärungsfaktoren darstellen. Das Verdienst der »Österreicher« besteht darin, diese Gegensatzpaare aufgelöst zu haben. Nach Ludwig von Mises handeln alle Menschen rational, allerdings rational im Hinblick auf ihre eigenen subjektiven Ziele. Es geht nicht um das Geld, sondern um die Wünsche, die mit dem Geld verwirklicht werden können. Präferenzen und Prioritäten sind nicht statisch, sondern verändern sich dynamisch im Zeitverlauf. Wir passen unsere Wünsche beständig unseren Möglichkeiten an und revidieren sie aufgrund neuer Erfahrungen und veränderter Kalkulationen. Stellen wir fest, dass Wünsche, die wir uns erfüllt haben, uns nicht das erwartete Maß an Lust und Erfüllung gegeben haben, revidieren wir unsere Ansicht darüber und unser Urteil.
Gerade im Zuge der letzten Finanzkrise sind Ökonomen für ihren »Glauben« an den Markt kritisiert worden. Angriffen unterlag besonders ihre Annahme, dass alle relevanten Informationen den Marktteilnehmern bekannt seien. Der subjektive Standpunkt der Österreichischen Schule führt auch zu einer alternativen Vorstellung vom Markt. Das Individuum bewegt sich auf seiner Suche nach den richtigen Strategien zur Maximierung seines psychischen Einkommens in einem Zustand der Unsicherheit über die Zukunft und ist permanent auf neue, aber immer unvollständige Informationen angewiesen. Der Markt ist der Raum, in dem Individuen sich permanent auf neue Gegebenheiten einstellen müssen, um sich der Realität anzunähern. Der Mises-Schüler Friedrich August von Hayek kritisiert das gängige Modell vom Markt mit vollkommenem Wissen und vollständigen Informationen auf folgende Weise: »Wenn irgend jemand all das wüsste, was die ökonomische Theorie als ›Daten‹ bezeichnet, so wäre Wettbewerb gewiß eine höchst verschwenderische Methode zur Herbeiführung einer Anpassung an die Tatsachen.«5 Der Wettbewerb auf dem Markt ist nach Hayek ein Entdeckungsverfahren. Millionen von Marktteilnehmern suchen nach Strategien zur Lösung ihrer individuellen Probleme und verbinden sich mit anderen Individuen. Aus diesen dezentralen Aushandlungsprozessen zwischen Individuen entsteht kein permanentes »Gleichgewicht«, sondern eine spontane Ordnung, in der die Präferenzen, Ideen, Informationen und Strategien aller Marktteilnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Ausdruck kommen.
Mises’ Praxeologie und Hayeks Modell des Wettbewerbes als Entdeckungsverfahren und des Marktes als einer spontanen Ordnung versuchen zu erklären, warum bestimmte Regeln und Handlungen zu bestimmten Ergebnissen führen. Diese Beschreibung ist wertneutral. Sie macht grundsätzlich keine normativen Aussagen über die Legitimität oder mangelnde Legitimität der Ziele und Regeln. Mises und Hayek versuchten jedoch im zweiten Schritt, normative Grundsätze aus den Annahmen abzuleiten, dass die große Mehrheit der Menschen Frieden und Wohlstand dem Zustand von Krieg und Armut vorziehen würde. Da aber nicht ausgeschlossen werden kann und die Kulturgeschichte sogar tatsächlich zeigt, dass immer wieder aus ideologischen und religiösen Gründen durchaus auch das Gegenteil propagiert worden ist – dass Ruhm auf dem Schlachtfeld, Opfer und religiöse Askese dem Streben nach privatem Glück und einem friedlichen Miteinander vorgezogen wurden –, gab es Bemühungen, dem methodischen Individualismus einen ethischen Individualismus beizustellen. Ethischer und methodischer Individualismus sind nicht identisch, aber doch gut kompatibel und scheinen intellektuell dieselbe Wurzel zu haben.
Die zentralen Grundannahmen, die die meisten Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie teilen, lauten, dass erwachsene Individuen frei über sich selbst und ihr Eigentum verfügen und miteinander Verträge schließen können. Das wird einerseits rein ökonomisch begründet, nämlich daraus, dass Verhandlungslösungen auf einem freien Markt zu besseren Ergebnissen führen als Lösungen, die durch zentral gesteuerten Zwang zustande kommen. Es wird aber durchaus auch ethisch und politisch begründet, etwa durch die Betonung der Begrenzung politischer Macht durch eine Verfassung der Freiheit und durch die Erneuerung des Naturrechts von John Locke, der das Selbsteigentum am eigenen Körper und davon abgeleitet das Recht auf das durch Einsatz dieses Körper erarbeitete Eigentum postulierte. Übertragen auf unser Thema, die Ökonomie der Sexualität, bedeutet dies, dass erwachsene Menschen eben auch im sexuellen Bereich frei über ihre Körper verfügen und einvernehmliche Verträge schließen dürfen und dass diese Freiheit in Übereinstimmung mit ethischen Grundsätzen steht. Das heißt, die Individuen entscheiden selbst, auf welche Beziehungen sie zu welchen Bedingungen eingehen, welche sexuellen Akte sie mit wem aus welchen Motiven heraus ausführen. Die liberale Sexualethik lässt sich also ziemlich bruchlos aus der liberalen Naturrechtsethik und dem ethischen Individualismus der Österreichischen Schule der Nationalökonomie ableiten. Auf derselben Basis, auf der Menschen wirtschaftliche Verträge frei miteinander aushandeln können, können sie auch Beziehungen und sexuelle Verhältnisse frei miteinander aushandeln.
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie stellt das denkende, planende, bewertende und handelnde Individuum ins Zentrum ihrer ökonomischen Theorien und ins Zentrum ihrer ethischen Betrachtungen. Aus dem bisher Gesagten lassen sich fünf Annahmen ableiten, die für die gesamte weitere Darstellung grundlegend sein werden:
Individuen streben nach der Maximierung ihres psychischen Einkommens.Individuen verfügen nur über begrenzte Informationen, Ressourcen und Zeit. Individuen entwickeln mit diesen begrenzten Informationen und Ressourcen Strategien, um ihr psychisches Einkommen zu maximieren.Individuen führen permanent Verhandlungen mit anderen Individuen, um durch Tausch und Abstimmung mit diesen ihre Ziele zu erreichen. Jedes einvernehmliche Verhandlungsergebnis zwischen freien Individuen ist legitim. Alles ist verhandelbar.Daraus lässt sich für die Ökonomie folgendes Modell ableiten: Menschen sind sich selbst mit Blick auf die Zukunft entwerfende, Strategien entwickelnde, aktiv planende und ihre Umwelt kreativ gestaltende, soziale kooperierende und ihr psychisches Einkommen maximierende Individuen. Die Gesamteinheit einer Situation bestimmt sich durch die Summe individueller Präferenzen und Handlungen. Sex ist eine Handlung. Eine Handlung wird in Erwartung auf ein psychisches Einkommen ausgeübt. Sie besitzt daher den höchsten Wert auf der subjektiven Werteskala und ist rational, was auch immer Außenstehende davon halten mögen. Sie dient dem Individuum zur Maximierung seines psychischen Einkommens. Individuen folgen bestimmten Strategien, um mögliche Sexualpartner zu finden und diese zu überzeugen, und die Sexualität selbst ist ein Teil einer langfristigen Strategie zur Maximierung von psychischem Einkommen. Jede einvernehmliche sexuelle Handlung war unter den gegebenen Umständen und unter den zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Informationen und Erwartungen per Definition die beste Entscheidung, die das Individuum zu diesem Zeitpunkt treffen konnte, da das Individuum sie allen anderen möglichen Optionen vorgezogen hat. Um Sex zu haben, müssen Individuen mit anderen Individuen kooperieren und die Bedingungen für die gemeinsamen sexuellen Handlungen aushandeln. Sex ist eine Form von Tausch. Der freiwillige Tausch zwischen Individuen ist immer zum gegenseitigen Nutzen, weil der Tausch sonst nicht zustande käme. Frei ausgehandelte sexuelle Handlungen zwischen Individuen sind legitim. Individuen müssen Zeit und Ressourcen aufwenden, um Tauschpartner wie Ehe-, Liebes- und Sexualpartner zu finden. Menschen sammeln Informationen und betreiben eine aktive Informationspolitik. Dieser Suchvorgang folgt einem Entdeckungsverfahren aus Versuch und Irrtum. Die Strategien in diesem Such- und Aushandlungsprozess werden den Umständen angepasst. Die Vielzahl von Handlungen und Verhandlungen zwischen Individuen bilden einen Markt, einen Markt für Sex, Intimität und romantische Beziehungen. Die Verhandlungspositionen auf diesem Markt ergeben sich aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage.
In diesen Betrachtungen werden aber auch die Berührungspunkte und Überschneidungen mit anderen theoretischen Schulen wie der Soziobiologie, der Gender-Theorie, der Präferenztheorie und dem Kulturmaterialismus ausgelotet. Unsere Betrachtung ist dabei eher einschließend als ausschließend. Wir wollen Gemeinsamkeiten herausarbeiten und suchen nach Übereinstimmungen, Ergänzungen und Parallelen zum methodischen und ethischen Individualismus der Österreichischen Schule. Wir betrachten diese als ein fach-, schulen- und diskursübergreifendes Element, von dem wir zeigen wollen, dass es für die unterschiedlichsten Schulen und Forschungsbereiche gewinnbringend angewendet werden kann. Die Österreichische Schule der Nationalökonomie hat sich selbst ausdrücklich nicht auf die Erklärung rein ökonomischer Sachverhalte beschränkt, vielmehr ging es ihren Vertretern darum, einen Gesamterklärungsansatz für menschliches Handeln an sich zu bieten.
Ludwig von Mises betont, dass Menschen rational und auf einen Zweck ausgerichtet handeln. Er behandelt das als logischen Zusammenhang a priori, ohne diesen empirisch herzuleiten. Diese deduktive Methode hat vieles für sich, aber sie stand natürlich auch in der Kritik. Grundsätzlich kann man beide Zugänge wählen: die logisch-deduktive Herangehensweise, aber auch die empirisch-sozialwissenschaftliche. Die Konflikttheorie des Sozialanthropologen Georg Elwert ist deshalb in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sie von dem Standpunkt der empirischen Sozialwissenschaft zu einem ähnlichen Paradigma gelangt wie Ludwig von Mises. Elwert befasste sich vor allem mit Konflikten in der sogenannten Dritten Welt. Diese Konflikträume beschrieb er als »Gewaltmärkte«. Gewalt sei nicht einfach spontan, eruptiv und irrational, sondern in ihrer kollektiven Form rational und zweckgerichtet. Kriegerische Handlungen würden eher von Gehorsam und Angst als von spontaner Aggression vorangetrieben. Ohne Logistik und Organisation lässt sich kein Heer im Feld halten, und in Armeen geht es vielmehr darum, Soldaten zu disziplinieren und einer Ordnung zu unterwerfen, als ungesteuerte Emotionen zu entfesseln. Es gibt zwar unreflektierte Formen von Gewalt, etwa spontanen Vandalismus oder das instinktive Handeln des Kämpfers nach dem Beginn der direkten physischen Auseinandersetzung. Der eigentliche Akteur sei jedoch nicht der Kämpfer, der für eine gewisse Zeit unreflektiert und motorisch handelt, sondern der kühl planende Stratege, der über Kommandoketten überhaupt erst die Situation herbeiführt, in der sich der Kämpfer seinen Instinkten überlassen kann.6
Elwert gehörte zu den Sozialwissenschaftlern, die es nicht für sinnvoll halten, grundsätzlich zu leugnen, dass die genetische Evolution Effekte auf verschiedene Verhaltensmuster hat. So sieht er in dem Umstand, dass normwidriges Verhalten wie Mord, Totschlag und Körperverletzung bei jungen Männern in so vielen und so unterschiedlichen Gesellschaften statistisch signifikant ist, einen klaren Hinweis auf ein genetisches Programm. Der Zusammenhang ist allerdings komplexer. Die stärkere Gewaltneigung von jungen Männern ist aus dieser Perspektive eher als Nebeneffekt der Neigung zu größerer Risikobereitschaft und des stärker ausgeprägten Strebens nach Prestige zu sehen. Mit der Österreichischen Schule könnte man sagen, die größere Gewaltbereitschaft ist dem größeren psychischen Einkommen geschuldet, das sich gerade junge Männer vom Prestige erwarten. Die höhere Gewaltrate unter Männern hätte demnach dieselbe Wurzel wie der höhere Anteil von Männern unter den Unternehmensgründern und in Führungspositionen. Entscheidender jedoch als dieser Hinweis auf die Verbindung von Risikobereitschaft und Gewalt ist Elwerts Lesart der Erkenntnisse der Verhaltensforschung und der ethnologischen Feldforschung. Tiermodelle können uns viel über die Entstehung von Emotionen im Verlauf der Evolution zeigen, aber der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass Emotionen und Verhalten lockerer miteinander gekoppelt sind als bei Tieren. Das, was den Menschen im besonderen Maße von anderen Spezies unterscheidet, das sei seine Fähigkeit, »kühl« zu kalkulieren, der Welt nicht nur mit Furcht, sondern auch mit Neugier entgegenzutreten, sich vernetzen und planen zu können. Die Evolution hat eine Fähigkeit zum Wahrnehmen und Denken hervorgebracht, die es dem Menschen ermöglicht, nicht mehr primär instinktgesteuert, sondern zweckrational zu handeln und strategisch in die Zukunft zu planen.7
Interessant an diesen Überlegungen ist für unsere Zwecke zweierlei. Einmal bietet Elwert einen Erklärungsansatz, der sich von der empirisch-sozialwissenschaftlichen Herangehensweise kommend den deduktiv-logischen Positionen von Ludwig von Mises und von Murray Rothbard annähert. Sowohl bei Elwert als auch bei den Ökonomen der Österreichischen Schule schält sich ein Menschenbild heraus, das man in Abgrenzung vom Homo Oeconomicus und vom Homo Sociologicus als Homo Strategus bezeichnen könnte. Menschen handeln strategisch und zweckrational. Sie sind keine instinktgesteuerten Automaten, ebenso wenig sind sie einfach Spielball gesellschaftlicher Zwänge und Rollenerwartungen. Sie sind vielmehr kreative, aktiv planende und ihre Umwelt gestaltende Individuen. Sie bewerten ihre Umwelt, Chancen und Risiken nach ihrem subjektiven Wertnutzen und streben danach, entsprechend dieser Bewertung ihr psychisches Einkommen zu maximieren. Elwert stellt durchaus die Bedeutung kultureller und symbolischer Ziele als Anreiz für den einzelnen Akteur heraus, wodurch sich seine Vorstellung vom Nutzen im Grunde in die Richtung eines »psychischen Einkommens« bewegt, also eines subjektiven Wertnutzens statt eines objektiven materiellen Nutzens.
Zum Zweiten lässt sich Elwerts Ansatz eben auch auf den sexuellen Bereich übertragen. So wie Elwert Gewaltmärkte beschreibt, so lassen sich auch Märkte für Sex, Heirat und Beziehungen beschreiben, die durch Angebot und Nachfrage, Ressourcenknappheit, Zeitpräferenzen, Aushandlungsprozesse, Verträge, individuelle Optionen und subjektive Prioritäten strukturiert sind. So wie es bei Elwert den Kämpfer gibt, der in einer Situation, die durch Planung und Kalkulation herbeigeführt wurde, sich seinen Instinkten und seiner Motorik überlassen kann, so können sich auch die Partner beim Geschlechtsakt ganz ihrem Instinkt und ihrer unreflektierten Lust hingeben, wenn sie sich dem sexuellen Höhepunkt nähern, befinden sie sich doch in einer ebenfalls durch einen Prozess der Annäherung, Aushandlung und Planung herbeigeführten Situation. So wie es den unreflektierten, fast automatischen Akt der Gewalt gibt, gibt es die unreflektierte, fast automatische sexuelle Handlung. Den Rahmen sowohl für das soziale Phänomen der Gewalt als auch der Sexualität bieten jedoch Planung, Struktur und Strategie. Menschen entwickeln Strategien, um Sex zu bekommen, und sie setzen Sex strategisch ein, um andere Ziele zu erreichen. Heute ist im Westen die Vorstellung verbreitet, dass Sex, Lust und Liebe zusammengehören oder zusammengehören sollten. Deshalb werden sexuelle Beziehungen, in denen es um andere Ziele als um die Befriedigung der sexuellen Lust beider Partner und romantischer Gefühle geht, kritisch gesehen. Das betrifft sowohl sexuelle Dienstleistungen als auch die Versorgungsehe oder überhaupt die Vorstellung, dass Sex gegeben wird, um etwas anderes dafür zu bekommen. Sex kann jedoch genauso ein Mittel zum Zweck sein wie alle anderen Handlungen und Sex kann deshalb auch Teil weitreichender sozialer, finanzieller, politischer Strategien sein, was er auch immer schon war. Es ist sogar so, dass Sex in langen Phasen der Geschichte eher unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen ist als aus unserem heutigen Verständnis heraus.
Dass Sex von Menschen strategisch eingesetzt wird, um bestimmte Ziele zu erreichen, das zeigt schon die Art und Weise, wie Menschen mit dem Ziel umgehen, das eigentlich mit dem Geschlechtsakt verbunden ist: der Zeugung von Kindern. Solange Kinder nicht im Reagenzglas gezüchtet werden wie in Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt