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Kathrin Hartmann zeigt, wo die Klimapolitik in Deutschland falsch abgebogen ist. Als sich die Staaten der Welt zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels verpflichteten, das Bundesverfassungsgericht feststellte, dass die Klimapolitik der Merkel-Regierung verfassungswidrig ist und die Grünen mit fliegenden Fahnen in die Regierung einzogen, war eigentlich klar: Jetzt passiert etwas! Stattdessen: Weltklimakonferenzen in Ölstaaten, LNG-Terminals vor deutschen Küsten und eine grüne Regierung, die kein Geld für Bus und Bahn hat, aber für die Subvention von Dienstwagen. Also alles weiter wie bisher? Die renommierte Journalistin Kathrin Hartmann zeigt, was Klimapolitik bei ständigem Wirtschaftswachstum bedeutet. Längst sind nicht mehr Klimaleugner das Problem, sondern jene, die mit dem Klimawandel das große Geschäft wittern. Und das sind vor allem die fossilen Energiekonzerne: Jetzt gibt es angeblich «sauberes» Flüssigerdgas, man träumt von grünem Wasserstoff, steigert auf dem Weg dahin den CO2-Ausstoß jedoch und greift zu gefährlichen Scheinlösungen wie «Carbon Management». Es ist die bittere Wahrheit: Was momentan passiert, verschärft die Erderwärmung. Anstatt das Klima zu schützen, wird Öl ins Feuer gegossen. «Öl ins Feuer» ist eine aufrüttelnde Analyse unserer unzureichenden Bemühungen, etwas gegen Klimaerwärmung und zunehmende Naturkatastrophen zu tun.
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Seitenzahl: 355
Kathrin Hartmann
Wie eine verfehlte Klimapolitik die globale Krise vorantreibt
Kathrin Hartmann zeigt, wo die Klimapolitik in Deutschland falsch abgebogen ist.
Als sich die Staaten der Welt zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels verpflichteten, das Bundesverfassungsgericht feststellte, dass die Klimapolitik der Merkel-Regierung verfassungswidrig ist, und die Grünen mit fliegenden Fahnen in die Regierung einzogen, war eigentlich klar: Jetzt passiert etwas! Stattdessen: Weltklimakonferenzen in Ölstaaten, LNG-Terminals vor deutschen Küsten und eine grüne Regierung, die kein Geld für Bus und Bahn hat, aber für die Subvention von Dienstwagen. Also alles weiter wie bisher?
Die renommierte Journalistin Kathrin Hartmann zeigt, was Klimapolitik bei ständigem Wirtschaftswachstum bedeutet. Längst sind nicht mehr Klimaleugner das Problem, sondern jene, die mit dem Klimawandel das große Geschäft wittern. Und das sind vor allem die fossilen Energiekonzerne: Jetzt gibt es angeblich «sauberes» Flüssigerdgas, man träumt von grünem Wasserstoff, steigert auf dem Weg dahin jedoch den CO2-Ausstoß und greift zu gefährlichen Scheinlösungen wie «Carbon Management».
Es ist die bittere Wahrheit: Was momentan passiert, verschärft die Erderwärmung. Anstatt das Klima zu schützen, wird Öl ins Feuer gegossen. «Öl ins Feuer» ist eine aufrüttelnde Analyse unserer unzureichenden Bemühungen, etwas gegen Klimaerwärmung und zunehmende Naturkatastrophen zu tun.
Kathrin Hartmann, geboren 1972 in Ulm, begann nach ihrem Studium in Frankfurt/Main bei der Frankfurter Rundschau als Journalistin für Nachrichten und Politik. Von 2006 bis 2009 arbeitete sie als Redakteurin für die Neon. 2009 erschien ihr erstes Buch «Das Ende der Märchenstunde». Seitdem beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Themen, bei denen sich Umweltschutzpolitik und die Interessen der Wirtschaftskonzerne überschneiden. Fünf weitere Bücher erschienen, darunter die Bestseller «Aus kontrolliertem Raubbau» und «Die grüne Lüge». Zudem war sie 2017 Teil des Weltparlaments General Assembly von Milo Rau und wirkte bei Werner Bootes Dokumentarfilm «Die grüne Lüge» mit.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH
Copyright © Kathrin Hartmann
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
ISBN 978-3-644-02004-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Vorwort Auf dem Weg in die klimaneutrale Klimakatastrophe
I.Im Bauch der Bestie Eine Reise in den Abgrund der Öl- und Gasindustrie an der Golfküste
II.Sabotage Flüssigerdgas auf Kosten von Menschen, Klima, Natur und Demokratie
1. Wilhelmshaven: Rammschläge für den Schweinswal
2. Lake Charles: Gift am Golf von Mexiko
3. Stade und Brunsbüttel: Alles für die Industrie
4. Freeport: Umweltrassismus und Profit
5. Rügen: Deutschlandgeschwindigkeit versus Demokratie
III.Phantom-Klimaschutz Wie technologische Scheinlösungen die Krise vorantreiben
1. Neue Monster: CO2-Speicherung, klimaneutrales Öl und Geoengineering
2. Zurück in die Zukunft: Das Comeback des Atomkraft-Zombies
IV.Die Klimaschutz-Katastrophe Grünes Wachstum und Wasserstoff für das Wolkenkuckucksheim
1. Grüner Extraktivismus: Plünderung im Namen der Weltrettung
2. Der Mythos von der Entkopplung
V.Klimaschutz? Nein danke! An den Fronten der Krise: Je näher die Einschläge, desto stärker die Abwehrstrategien
VI.Kohlenstoff-Kolonialismus Klima-Profite auf Kosten von Menschenrechten und Biodiversität
1. Kompensation: Das große Geschäft mit dem Recht auf Dreck
2. CO2: Die Währung des grünen Kapitalismus
Nachwort. Jenseits der Opferzone Wie ein Bauer in Sambia und eine ehemalige Lehrerin in Louisiana die fossile Industrie das Fürchten lehren und was wir von ihnen lernen können
Danke
Für Oliver
«Norwegische Öl- und Gasindustrie erwartet für 2024 einen Anstieg der Investitionen.»
«Perenco UK hat ein neues Gasfeld in Ravenspurn South entdeckt.»
«Petrobras, Shell und Chevron sichern sich Konzessionen in Brasiliens neuem Explorationsgebiet.»
«Größte Raffinerie der Welt in Nigeria nimmt Produktion auf.»
«Shell übernimmt 100 % des Kaikias-Feldes im US-Golf von Mexiko.»
«OPEC sieht gesundes Wachstum der weltweiten Ölnachfrage 2024.»
Schlagzeilen in den 24 Stunden nach der Klimakonferenz in Dubai[1]
Es ist ein Herbstnebel der besonderen Art, der sich über Dubai wie ein düsterer Vorbote der Zukunft legt, die hier im Dezember 2023 gerade beschlossen wird. Als sich die Weltgemeinschaft dort am Ende des heißesten Jahres seit Beginn der Wetteraufzeichnungen zur 28. UN-Klimakonferenz trifft, wird die Wüstenstadt von der dort ansässigen Ölindustrie in dichten Smog gehüllt. Es liegt so viel Feinstaub in der Luft, dass die Gesundheit der internationalen Gäste gefährdet ist. Die Menge der Partikel PM2,5, die so winzig sind, dass sie in die Blutbahn und tief in die Lunge gelangen, ist an diesem Tag in den Vereinigten Arabischen Emiraten fast dreimal so hoch, wie es die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als gerade noch verträglich erachtet. Das Land gehört zu den Top Ten der ölproduzierenden Länder. Hier stehen sieben der weltweit größten Projekte zur Förderung fossiler Brennstoffe. Entsprechend miserabel ist die Luftqualität.[2] Als Anfang 2022 bekannt wird, dass die Vereinigten Arabischen Emirate die Klimakonferenz (COP) ausrichten werden und Sultan Ahmed al-Dschaber, Industrieminister und Chef des staatlichen Ölkonzerns Adnoc, diese eröffnen soll, schlagen Journalistinnen und Kommentatoren in den Medien die höchsten Töne der Empörung an. Ein Ölmanager! Eröffnet die Klimakonferenz! In Dubai! Ausgerechnet! Was für ein Widerspruch! Realsatire!
Dabei braucht es eigentlich keinen Ölstaat als Tagungsort, um zu verstehen, wie absurd das Schauspiel ist, das seit mehr als 30 Jahren verlässlich aufgeführt wird: Einmal im Jahr trifft sich die Staatengemeinschaft, um sich öffentlich einzugestehen, schon wieder an den selbst gesetzten Klimazielen gescheitert zu sein. Seit beim Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 beschlossen wurde, die Klimakrise abzuwenden, sind die Treibhausgasemissionen weltweit um 70 Prozent gestiegen. Diesmal aber geht es in Dubai vor allem um eine Bilanz des historischen Abkommens von Paris aus dem Jahr 2015, das vorsieht, die globale Erderwärmung unter zwei Grad, am besten bei 1,5 Grad, zu halten. Doch die sogenannte globale Bestandsaufnahme ist verheerend: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssten bis 2030 zusätzliche 24 Gigatonnen CO2 eingespart werden. Das ist mehr als die Hälfte der jährlichen Emissionen aller Länder.[3]
2023, als ein Hitzerekord den nächsten jagt, sind auch die Emissionen aus Öl, Gas und Kohle mit 36,8 Milliarden Tonnen auf einem historischen Höchststand.[4] Es ist also keinesfalls abwegig, dass die COP28 in einem Ölstaat abgehalten wird. Im Gegenteil, es zeichnet ein klares Bild vom Status quo des Klimaschutzes: Er besteht vor allem auf dem Papier. Somit ist die Klimakonferenz in Dubai eigentlich sogar die ehrlichste aller Zeiten. Denn viele Länder, die bei den Verhandlungen offiziell den Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle unterstützen, planen in Wahrheit neue große fossile Industrieprojekte, die bis 2030 mehr als doppelt so viele fossile Brennstoffe produzieren werden, als es mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist.[5] Laut der Datenbank Global Oil and Gas Exit List (GOGEL) suchen oder erschließen 96 Prozent der 700 dort erfassten Förderunternehmen neue Öl- und Gasfelder.[6] 2022 sind die Subventionen für fossile Brennstoffe weltweit auf einen Rekordwert von sieben Billionen US-Dollar gestiegen. Das ist mehr Geld, als weltweit in Bildung fließt.[7]
Präsident Biden, der sich den Anschein des Klimaschützers gibt und noch im Wahlkampf 2020 versprochen hat, keine Ölbohrungen auf Land zu erlauben, das dem Bund gehört, erteilt mehr Bohrgenehmigungen auf staatlichem Grund als sein ölbesessener Vorgänger Trump. Besonders umstritten: das Willow-Projekt im Nordwesten Alaskas. Dort soll der Konzern ConocoPhillips mehr als dreißig Jahre Öl fördern. Dafür sollen mitten in Alaskas ursprünglicher Natur Bohrplattformen, Straßen, Pipelines und Flugplätze gebaut werden. Der britische Premier und Multimillionär Rishi Sunak will neue Öl- und Gasbohrlizenzen in der Nordsee vergeben, sein Klimaminister Graham Stuart behauptet völlig ironiefrei, dass dies «gut für die Umwelt» sei. «Sie helfen uns, Netto-Null zu erreichen.»[8] Und auch Deutschland will mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz und bis zu elf Terminals für den Import von Flüssigerdgas eine auf Jahrzehnte ausgelegte fossile Infrastruktur errichten, angeblich als «Brückentechnologie» zur Wasserstoffwirtschaft. Dabei ist der Treibhausgasausstoß von importiertem Flüssigerdgas vermutlich noch höher als bei der Verbrennung von Kohle.[9]
In dieser Situation kommt ein klimaschützender Ölmagnat als Projektionsfläche gerade recht. Vor dem Gipfel kündigt al-Dschaber bereits neue Gasförderungen an. Dann sagt er, es gebe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse und kein Szenario, die besagen würden, dass durch den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden könnte. Es geht außerdem das Gerücht um, dass er die Konferenz für neue Öl- und Gasdeals nutzen will. Und natürlich gerät die Klimakonferenz zum Festival der fossilen Industrie: Fast 2500 Lobbyistinnen und Lobbyisten der Öl-, Gas- und Kohleindustrie tummeln sich in Dubai, fast viermal so viele wie im Jahr zuvor beim Klimagipfel im ägyptischen Sharm El-Sheikh. Da waren es 636, und das galt schon als Rekord. Die fossile Lobby hat sehr viel mehr Repräsentanten nach Dubai geschickt als die Delegationen der zehn am stärksten von der Klimakrise betroffenen Nationen zusammen.[10] Schließlich taucht auch noch ein Brief der OPEC auf, in dem Präsident Haitham al-Ghais die Minister der Erdöl exportierenden Länder dazu aufruft, eine Einigung abzuwenden, die die Produktion von und den Handel mit fossilen Brennstoffen gefährden würde. Bis zum Schluss blockieren Ölstaaten wie Saudi-Arabien, dass im Abschlussdokument der Klimakonferenz der verbindliche Ausstieg aus fossilen Brennstoffen festgehalten wird. Der erste Entwurf, den al-Dschaber vorlegt, enthält überhaupt keinen Verweis darauf. Nach zähen Verhandlungen einigt sich die Weltgemeinschaft schließlich äußerst vage auf den «Übergang weg von fossilen Energieträgern in den Energiesystemen, auf eine gerechte, geordnete und faire Weise». Diesem sogenannten «VAE-Konsens» stimmen schließlich alle zu.
Es mag an der Fallhöhe dieses Dramas liegen, dass dieses Ergebnis der Öl-COP anschließend sogar als revolutionär gefeiert wird. Al-Dschaber nennt es «historisch» und bescheinigt sich selbst, einen «Paradigmenwechsel» herbeigeführt zu haben. Und siehe da: Die Empörung («ausgerechnet ein Ölstaat schmeißt die Klimakonferenz!») weicht der Begeisterung («ausgerechnet ein Ölstaat läutet das Ende von Öl und Gas ein!»). Nicht zuletzt deshalb, weil nun alle gut dastehen, vor allem die, die es mit dem Klimaschutz nicht allzu ernst meinen.
Ja, es ist das erste Mal nach fast drei Jahrzehnten, dass im Abschlussbericht einer UN-Klimakonferenz Öl, Gas und Kohle überhaupt erwähnt werden. «Aber wie ist es möglich, dass achtundzwanzig Verhandlungssitzungen notwendig waren, um sich auf etwas zu einigen, was die ganze Zeit über offensichtlich war, nämlich, dass die Bewältigung des Klimawandels den Ausstieg aus oder die Abkehr von fossilen Brennstoffen erfordern wird?», fragt die renommierte Umwelt-Journalistin Elizabeth Kolbert im New Yorker.[11] Wenn sich die Zerstörer als Retter gerieren, dann sollten wohl grundsätzlich die Alarmglocken klingeln. Denn in Wahrheit ist das Ergebnis dieses Klimagipfels kein Meilenstein für das Klima, sondern eine Katastrophe: Die fossile Industrie hat es in Dubai geschafft, ihr Kerngeschäft zu retten, Expansionen abzusichern, mit neuen Narrativen von der Dringlichkeit des Ausstiegs aus den Fossilen abzulenken und sich gleichzeitig als wichtigste Klimaschützerin zu inszenieren.
Die Abschlusserklärung ist vollgepackt mit Schlupflöchern und gefährlichen technologischen Scheinlösungen, die von fossilen Lobbygruppen schon seit Jahren propagiert werden. Jetzt ist es ihnen gelungen, diese schriftlich zu zementieren: Hinter den dort erwähnten «emissionsarmen» Technologien, die für diesen «Übergang» beschleunigt entwickelt werden sollen, verbergen sich vor allem das Einfangen und Speichern oder das Nutzen von CO2 (Carbon Capture and Storage – CCS, beziehungsweise Carbon Capture and Utilization – CCU). Al-Dschaber hat sich als Chef des staatlichen Ölkonzerns Adnoc mehrfach für CCS zur Lösung der Klimakrise ausgesprochen und investiert selbst in ein CCS-Projekt. Dabei gibt es keinen Nachweis dafür, dass CO2-Speicherung wirklich dem Klimaschutz dient oder dass dies technisch überhaupt langfristig möglich ist. Die allermeisten Pilotanlagen jedenfalls, auch vielversprechende, sind bislang gescheitert. Und der allergrößte Teil des bereits eingefangenen CO2 wurde anschließend in die Erde gepresst, um noch mehr Öl aus dem Boden herauszuholen. Öl auf diese Weise «klimaneutral» fördern zu können, das ist der wohl größte Sieg für die Ölindustrie. Selbst Kohlekraftwerke dürfen weiterbetrieben werden, solange sie ihr ausgestoßenes CO2 einfangen.
Sogenannte «Übergangskraftstoffe», eine Erfindung der Industrie und nur ein anderes Wort für Gas, LNG und Biosprit, haben es ebenfalls in die Abschlusserklärung geschafft. Genauso der «emissionsarme» Wasserstoff, der aus Erdgas unter Verwendung von CCS hergestellt wird. Selbst der alte Zombie Atomkraft steht im Dokument.
Es sind die reichen Länder, die dieses Ergebnis bejubeln. Jene also, die von der fossilen Industrie am meisten profitieren und deshalb den größten Teil der Klimakrise zu verantworten haben. Sie sind es auch, die uns glauben lassen, ein Grüner Kapitalismus könnte uns retten: einer, der auf Technologien und Marktmechanismen beruht, die den Status quo halten, Profite generieren und Wachstum klimaneutral machen können. Doch es sind gefährliche Pläne B, C und D, die Plan A verhindern, nämlich real und radikal weniger CO2 zu verursachen und tatsächlich aus der fossilen Energie auszusteigen. Aber genau das scheint nicht mehr im Fokus der globalen Klimapolitik zu stehen. «Carbon Management» heißt die neue Strategie. Im Wesentlichen versteht man darunter Abscheidungs- und Speichertechnologien wie CCS. Oder «Direct Air Capture», bei der CO2 aus der Luft gezogen werden soll. Als könnte man der Klimakrise mit dem Staubsauger beikommen und den Dreck einfach unter der Erde verbuddeln. Als wäre es besser, die Katastrophe zu verwalten, anstatt sie zu verhindern. Als könnte dann alles bleiben, wie es ist.
Ebenso wird versprochen, dass schon bald grüner und blauer Wasserstoff ermöglichen würde, dass weiterhin Kreuzfahrtschiffe in See stechen, Flugzeuge in den Himmel abheben, Hochhäuser und Einkaufszentren aus dem Boden wachsen und weiter riesige Autos gebaut werden können. Viele Länder träumen davon, dass Mini-Atomkraftwerke ihren Energiehunger «klimaneutral» stillen könnten, andere hoffen darauf, dass Düsenjäger Schwefelpartikel in die Stratosphäre sprühen, um die Sonne zu verdunkeln, damit sich die Erde abkühlt. Je näher die Einschläge rücken, je unerreichbarer die Klimaziele scheinen, je mehr Klimaschutzmaßnahmen als Zumutung wahrgenommen werden und je handlungsunfähiger Regierungen erscheinen, desto stärker verfängt eine solche Öko-Science-Fiction. Das Problem ist nur: Die erwähnten Technologien existieren entweder noch gar nicht, sind bereits gescheitert oder erkennbar zum Scheitern verurteilt – und sie bergen unkalkulierbare Sicherheitsrisiken. An die Stelle des Klima-Leugnens sind heutzutage technologische Scheinlösungen gerückt. Doch die sind nicht minder gefährlich, und sie richten schon heute zusätzliche ökologische und soziale Schäden an. Sie retten nicht das Klima, sondern die fossile Industrie, und gießen damit weiter Öl ins Feuer.
Als ich dieses Buch schreibe, rauschen zwei Horrornachrichten durch die Welt. Die Weltwetterorganisation spricht von «Alarmstufe Rot»: 2023 lag die globale Durchschnittstemperatur 1,45 Grad über dem Niveau vor der Industrialisierung. Die Erwärmung der Ozeane, die Gletscherschmelze, der Rückzug des Meereises erreichten Rekordwerte. Niederländische Forscher haben mittels einer Computersimulation herausgefunden, dass der Golfstrom schon bald zum Erliegen kommen könnte. Damit würde Europa eine Eiszeit drohen. Die Menschen müssten Panik bekommen. Aber es bleibt erstaunlich ruhig. Vielleicht liegt so etwas jenseits der gesellschaftlichen Vorstellungskraft, vielleicht wirken solche apokalyptischen Nachrichten nicht mehr, vielleicht ist es noch immer einfach, die Katastrophe zu ignorieren, auch wenn sie hierzulande bereits deutliche Spuren hinterlässt. Vielleicht ist, nach zermürbenden Jahren einer Pandemie und im Angesicht zweier großer Kriege, «die Sehnsucht nach Wiederherstellung des Alten und Gewohnten, nach Rückkehr der eigenen, heimeligen, anheimelnden Welt», wie der Soziologe Stephan Lessenich schreibt, auch viel zu groß, um die Vorstellung einer weiteren großen Krise zu ertragen.[12] Aber diese Normalität gibt es nicht mehr, und es wird sie auch nicht mehr geben. Klimaforschende sind sich einig, dass wir auf eine Erwärmung von drei Grad zusteuern. Eine solche Welt, schreibt der Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Jens Beckert in seinem Buch Verkaufte Zukunft, «wird verglichen mit der heutigen eine ärmere sein. Es wird mehr Leid geben und es wird höchst ungleich verteilt sein.» Es werde zu «bedeutsamen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verwerfungen» kommen.[13]
Für dieses Buch bin ich in eine Zukunft gereist, die niemand wollen kann. Nicht nach Bangladesch oder Pakistan und auch nicht auf eine dem Untergang geweihte Südseeinsel wie Tuvalu oder Kiribati, sondern in den Süden der USA, nach Texas und Louisiana. Dort schlägt nicht nur das Herz der amerikanischen Ölindustrie, die Golfküste ist auch ein Versuchslabor für Klimascheinlösungen wie CCS, die die Expansion der fossilen Industrie als «emissionsarm» legitimieren sollen. Ich bin die sogenannte Cancer Alley am Mississippi entlanggefahren, an dessen Ufer sich die petrochemischen Anlagen aneinanderreihen und die Nachfahrinnen und Nachfahren der Versklavten schwer krank machen. Ich habe gesehen, wie die immer häufiger und schwerer wütenden Hurrikans im Süden der USA die Orte zermalmt und Menschen zu Flüchtlingen gemacht haben. Und ich habe mitten im Hitzedom eine Ahnung davon bekommen, wie unerträglich sich die Erderwärmung anfühlt. Ich war in «Sacrifice Zones», von Umweltrassismus und Verschmutzung gekennzeichneten «Opferzonen» wie Port Arthur, Freeport und Lake Charles, wo die LNG-Anlagen stehen, die Flüssigerdgas nach Deutschland liefern. Auf Rügen, in Wilhelmshaven und Stade werden dafür in Windeseile LNG-Terminals gebaut. Und ich wurde Zeugin, wie an diesen beiden Enden der Welt wertvolle und geschützte Natur genauso zerstört wird wie die Demokratie. All das, während der LNG- und Fracking-Boom der Gasindustrie mitten in der Klimakrise wachsende Profite beschert. In Sambia, einem der ärmsten Länder auf dem afrikanischen Kontinent, habe ich schließlich Kleinbäuerinnen und Kleinbauern getroffen, die ihre Wälder nicht mehr traditionell nutzen dürfen und ärmer geworden sind, damit die Ölindustrie mittels Zertifikathandel auf ihre Kosten CO2 kompensieren und die Emissionen auf dem Papier verschwinden lassen kann. Kurzum: Ich habe in die Hölle geschaut. Und dort habe ich sie gesehen: die klimaneutrale Klimakatastrophe. Davon handelt dieses Buch.
«For we do not know what beasts the night dreams when its hours grow too long for even God to be awake.»
Robert W. Chambers, The King in Yellow
«Enriching Childhood through play» steht auf einem großen gelben Schild am Eingang des Spielplatzes. Die Kindheit bereichern sollen eine kleine Kletterwand, ein Picknickplatz mit Tischen und Stühlen und ein Spielhaus mit Rutschen, Röhren und Türmen aus quietschbuntem Plastik. Schwarz und grau sind dagegen die Röhren und Türme, die hinter den Spielgeräten in den Himmel ragen. Es sind die Schornsteine, Pipelines und Tanks einer riesigen Chemiefabrik.
«Ich werde eine ganztägige Tour für Sie zusammenstellen, bei der Sie obendrein unsere großartige Küche kennenlernen werden. Von Texas Barbecue und Tex-Mex bis hin zu Cajun und Kreolisch werden Sie dabei ein unvergessliches Vergnügen genießen! Ich freue mich auf Ihre Ankunft und bitte Sie, mir mitzuteilen, wie ich Ihnen helfen kann, Ihren Besuch hier zu einem möglichst produktiven und denkwürdigen Erlebnis zu machen.» Warme Worte, die John Beard aus Port Arthur in Texas per E-Mail an mich richtet. Die Tour, die ich bei ihm buche, werde ich ganz sicher nicht vergessen. Sie heißt «The Belly of the Beast» und führt in eine strahlende Vergangenheit, durch eine verstörende Gegenwart und in eine höllische Zukunft. Denn in Port Arthur, einer kleinen Stadt 140 Kilometer östlich von Houston an der Grenze zum Bundesstaat Louisiana, schlägt das Herz der amerikanischen Öl-, Gas- und Petrochemie-Industrie.
Hier begann im Januar 1901 der texanische Ölboom im Spindletop Field, der die USA zum bis heute größten Ölförderland der Welt machte. Der Fotograf Francis John «Frank» Trost knipste damals das weltberühmte Foto der schwarzen Fontäne, die aus dem hölzernen Bohrturm schießt. Neun Tage lang spuckte der Lucas Gusher 100000 Barrel Rohöl täglich aus der Erde. Kurz darauf wurden die Ölfirmen Texaco und Gulf Oil dort gegründet: zwei der sogenannten «sieben Schwestern», die bis in die Siebzigerjahre den globalen Ölmarkt beherrschen. Beide gehören heute zu Chevron, dem drittgrößten Ölkonzern der Welt. Die Entdeckung auf dem Spindletop Field machte Port Arthur zu einer blühenden Stadt an der Golfküste, mit Luxushotels, mondänen Villen, Banken und Geschäften in pompösen Palästen. Davon ist heute nicht viel mehr übrig als mit Brettern vernagelte Ruinen. Doch was geblieben ist, sind Gift, Öl und Dreck: Rundum fressen sich die petrochemischen Fabriken und Raffinerien bis ins Stadtzentrum hinein.
«Willkommen in Port Arthur, Texas, wo alles begann! Hier gibt es zwei der größten Raffinerien der USA, zahlreiche Chemiefabriken und noch dazu zwei bis drei LNG-Anlagen. Wenn sich irgendetwas in der Öl- und Gasindustrie tut, dann passiert das in Port Arthur!», schreibt mir John Beard, der nach einem Arbeitsleben in dieser Industrie nun als Aktivist gegen sie kämpft. Zwei Wochen später, im Juli 2023, mache ich mich auf den Weg in den Bauch der Bestie. Ins Zentrum der US-amerikanischen Ölindustrie.
Eine lange Autofahrt liegt hinter mir, als ich von der Interstate 10 auf den Highway 73 Richtung Port Arthur abbiege. Ich bin noch immer überwältigt von der Schönheit des Atchafalaya-Beckens, durch das mein Weg von New Orleans aus mich geführt hat. Das Sumpfgebiet im westlichen Mississippi-Delta ist das größte der USA und reicht bis zum Golf von Mexiko. Über 30 Kilometer verläuft die Interstate 10 westlich von Baton Rouge bis Henderson durch schier endlose Sumpfwälder, über verwunschene Bayous[*] und den Lake Bigeaux, aus dem uralte, mit wehenden Flechten behangene Zypressen in den Himmel wachsen. Kurz vor dem Ziel erreiche ich die Rainbow Bridge. Die Brücke, die in den Dreißigerjahren über den Neches River gebaut wurde, ist die größte, steilste und wahrscheinlich unheimlichste in ganz Texas. Kommt man von Osten, sieht sie aus wie senkrecht hochgeklappt. Als ich den höchsten Punkt erreiche, schaue ich rechts über die Lower Neches Wetlands, auf der anderen Seite glitzert der Sabine Lake in der Nachmittagssonne. Die Lagune ist so groß wie der Gardasee und über den Sabine Pass mit dem Golf von Mexiko verbunden.
Auf der anderen Seite der Brücke endet die Idylle so abrupt, dass mir ein Schreck durch die Glieder fährt. Vor mir ragen jetzt dampfende Schornsteine, lodernde Gasfackeln, Metallrohre, Kolonnen[**] und Tanks auf. Sie gehören unter anderem zur BASF Corporation Port Arthur, einem Joint Venture des deutschen Chemieriesen und des französischen Ölkonzerns Total Energies. Hier steht einer der weltgrößten Steamcracker, eine Anlage, die Rohöl und Erdgas in Ethylen, Propylen und andere Vorprodukte für die Herstellung von Plastik, Farben, Lösungsmitteln und Pflanzengiften umwandelt. Direkt daneben befindet sich die Total-Raffinerie; hinter den Sümpfen wuchert der Metallwald weiter bis zum diesigen Horizont. Eine dystopische Szenerie.
Ich fahre weiter in Richtung meines Hotels. Die Stadt Port Arthur wird von zwei riesigen Ölkomplexen eingekeilt: 1903 entstand hier Texacos erste Öl-Raffinerie, die heutige Motiva Refinery. Sie ist mit einer Produktionskapazität von mehr als 600000 Barrel am Tag die größte der USA. Direkt daneben breitet sich die Valero Refinery aus, die weitere 400000 Barrel Erdöl verarbeiten kann. Zusammen nehmen sie eine Fläche so groß wie die Nordseeinsel Borkum ein, die größte der ostfriesischen Inseln. Und noch ein schauriger Superlativ: Port Arthur besitzt die größte Konzentration an Ölraffinerien in den USA. Hinzu kommt noch der riesige Industrie-Komplex von Exxon in Beaumont, der Nachbarstadt. Das Gelände ist fast so groß wie der Berliner Flughafen. Dort betreibt der zweitgrößte Ölkonzern der Welt eine Raffinerie und petrochemische Anlagen, die Rohstoffe für die Plastikproduktion herstellen.
Dazwischen: Wohngebiete, die direkt an die Industrieanlagen grenzen. Dort leben vor allem Schwarze Menschen, Hispano-Amerikanerinnen und solche mit niedrigem Einkommen: Drei Viertel der Bevölkerung in Port Arthur sind People of Color, ein Viertel der Familien ist arm. Die Krebsrate ist um 15 Prozent höher als im texanischen Durchschnitt, die Krebssterblichkeitsrate bei Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern 40 Prozent höher als im Bundesstaat.[14] Die Menschen leiden außerdem an Herz-, Haut-, Atemwegs- und Nierenkrankheiten. Die Kinder haben überdurchschnittlich oft Asthma. Bereits Dreijährige sind auf Medikamente und Atemgeräte angewiesen.
John und ich und der Spielplatz in Port Neches: Hier, in einem Vorort im Norden von Port Arthur, beginnt unsere Tour. Der Spielplatz gehört zur öffentlichen Bibliothek im Stadtpark, der parallel zum Fabrikgelände der TPC Group, ehemals Texas Petroleum Chemicals, verläuft. Rechts und links steht jeweils eine Schule. Zwischen Park und Industrieanlage: die Sportplätze und Tribünen der Port Neches Little League, der Kinder-Baseballmannschaft. Von hier sind es nicht einmal 200 Meter bis zu den Produktionsanlagen, die ich bereits auf der Herfahrt von der Rainbow Bridge sehen konnte. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken, dass diese Kindersportplätze die einzige Pufferzone zu dem petrochemischen Komplex bilden. Erst jetzt fallen mir die kleinen gelben Schilder auf, die unweit des Spielplatzes aus dem gepflegten Rasen ragen. Ich muss nah herangehen, um sie lesen zu können: «Warning! High Pressure Petroleum Pipeline». Ungleich größer ist das Hinweisschild am Spielplatz, das die Eltern ermahnt, auf ihre Kinder aufzupassen, «Play it Safe!» prangt da in riesigen schwarzen Lettern. Allein: Der Hinweis hätte nicht geholfen, hätte sich das Desaster vor vier Jahren nur ein paar Stunden früher ereignet.
Am 27. November 2019 treten aus einem Destillationsturm der TPC-Anlage 23000 Liter 1,3-Butadien aus.[15] Das Gas auf Basis von Erdöl wird in der Kunststoffproduktion verwendet und ist leicht entzündlich. Die Wolke, die sich daraufhin bildet, explodiert binnen Sekunden. «Die Explosion ereignete sich in der Nacht vor Thanksgiving gegen ein Uhr, dafür müssen wir dankbar sein», sagt John, «tagsüber hätte es Tote gegeben.» Die Druckwelle ist so stark, dass in den Häusern, Schulen und Geschäften im Umkreis Fenster bersten, Türen eingedrückt werden, Mauern reißen, Dächer einstürzen. Anlagenteile fliegen durch die Luft und landen auf Wohngrundstücken. Die Explosion bringt die Erde noch in einer Entfernung von 50 Kilometern zum Beben, der Feuerball und dicke schwarze Rauchwolken sind weithin zu sehen. Um 2.40 Uhr ereignet sich eine zweite Explosion. Daraufhin wird die Evakuierung der Menschen, die im Umkreis wohnen, angeordnet. Am nächsten Vormittag wird eine Ausgangssperre verhängt, 60000 Menschen sind betroffen. Am Nachmittag von Thanksgiving: die dritte große Detonation.
Im Auto zeigt mir John auf seinem Smartphone beängstigende Videos von diesem Ereignis. Ich sehe, dass ein abgerissener Turm aus dem Feuerball heraus wie eine Rakete in den Himmel schießt, sich einmal überschlägt und schließlich senkrecht mit einem Feuerschweif wieder auf die Erde zurast.[16] «Schau dir das an! Mit diesem Risiko leben wir jede Minute», sagt John.
Das Feuer brennt länger als einen Monat und hüllt die Gegend in giftigen Rauch. Viele hier leiden seitdem unter Atemwegs- und Augenbeschwerden sowie Kopfschmerzen und haben Angst vor eventuellen Langzeitfolgen. Immer wieder treten krebserregendes Butadien, Asbest und andere Gifte über dem zulässigen Limit aus den Fabriken aus. Mit dem Löschwasser gelangen Öl und Chemikalien über die Kanäle in den Neches River und so in den Golf von Mexiko. Auf fast 600 Grundstücken gab es Schäden. Das Inferno verursachte Kosten von mindestens einer halben Milliarde Dollar. Dabei wäre all das vermeidbar gewesen. Das Unternehmen wusste schon lange von technischen Problemen, die zu einer Explosion führen können, ignorierte sie aber.[17] Da die TPC Group von Hunderten Schadensersatzforderungen überzogen wird, gegen die sie nicht ausreichend versichert ist, meldet sie Konkurs an.[18] Bis heute warten mehrere Tausend Menschen auf Entschädigung für kaputte Häuser, Geschäfte und ihre ruinierte Gesundheit.
Der Fall der TPC Group ist ein Beispiel dafür, wie skrupellos diese lebensgefährdende Industrie agiert – und wie Politik und Behörden sie dabei unterstützen. Die Umweltauflagen und Emissionsstandards sind in Texas niedrig, externe Kontrollen gibt es kaum. Die Unternehmen berichten selbst über ihre Emissionen und toxischen Ereignisse. Stationen zur Messung der Luftverschmutzung gibt es nicht flächendeckend, sondern nur vereinzelt und meist erst dann, wenn NGOs dafür kämpfen. Im Öl- und Gas-Staat Texas, traditionell Hochburg der Republikaner, stehen selbst staatliche Umweltbehörden wie die EPA (Environmental Protection Agency) und insbesondere die Texas Commission on Environmental Quality (TCEQ) traditionell aufseiten der Industrie. Sie erteilen leichtfertig Betriebsgenehmigungen, lassen große Schlupflöcher bei Umweltauflagen und ahnden Verstöße zu spät und zu schwach. Selbst Wiederholungstäterinnen wie die TPC Group haben kaum Konsequenzen zu befürchten: Über mehr als zwanzig Jahre verstieß der Konzern gegen den Clean Air Act, das Bundesgesetz zur Luftreinhaltung. Seit 2000 musste die TPC Group insgesamt eine Million Dollar Strafe für zwei Dutzend Verstöße zahlen, vor allem wegen der Freisetzung von Butadien und anderer gesundheitsschädlicher Chemikalien über dem erlaubten Limit. Das sind umgerechnet 3500 Dollar pro Monat. Ein Schnäppchen im Vergleich zu den Kosten, die eine Umrüstung und bessere Kontrollen bedeutet hätten. Obwohl die TPC Group vorsätzlich gegen Sicherheitsvorschriften verstieß, die 2019 zu dem Desaster führten, muss sie nur eine halbe Million Dollar Strafe zahlen, wegen Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.[19]
«Und das ist nur eine Fabrik», betont John, als wir unsere Tour fortsetzen. Dreizehn große fossile Industrieanlagen drängen sich hier auf einer Fläche nicht ganz so groß wie Köln. Im ganzen Jefferson County gibt es 32 Öl- und Chemiefabriken. Die American Lung Association gibt dem Bezirk für die Luftqualität die Note F, auf einer Skala von A bis F. Am schlimmsten ist es in Port Arthur: mit 2500 toxischen Emissionsereignissen pro Jahr gehört die Stadt laut David R. Boyd, UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, zu den 50 schmutzigsten Orten der Welt.[20] Für diese Orte gibt es einen Namen, der die Brutalität auf den Punkt bringt: «Sacrifice Zones», Opferzonen. Sie sind ein wesentlicher Grund dafür, dass zu viele Menschen immer noch falsche Vorstellungen davon haben, was die fossile Industrie im Kern ausmacht. Wer dort nicht lebt oder arbeitet, der verirrt sich nicht dorthin. «Die Kohlenstoffdemokratie ist bestrebt, der privilegierten Öffentlichkeit die massenvernichtende Schlagseite fossiler Brennstoffe weitestgehend zu verheimlichen, sei es mittels unterirdischer Pipelines, Flächennutzungsplänen, die die Schwerindustrie unmittelbar neben von Armut betroffenen Communitys sowie People of Color ansiedeln, oder sei es vermittels der Vorstellung, Dinge tatsächlich wegwerfen zu können», schreibt die amerikanische Politikwissenschaftlerin Cara New Dagget in ihrem Essay Petromaskulinität. Fossile Energieträger und autoritäres Begehren.[21] Das macht es leicht, weiterhin der fatalen Idee anzuhängen, diese Industrie brächte Fortschritt und Wohlstand. Sie stoße zwar leider zu viele Treibhausgase aus, aber das könne man doch irgendwie technisch in den Griff bekommen, so die weiterverbreitete Meinung. Doch diese Industrie lässt sich nicht einhegen oder verbessern. Sie ist ein autoritärer, menschenverachtender und skrupelloser Machtkomplex, der ausschließlich deshalb bestehen und wachsen kann, weil er Leben, Lebensgrundlagen und Zukunft zerstört.
In Orten wie Port Arthur, wo zu viele Menschen zu arm, zu krank, zu abgehängt und zu verzweifelt sind, um sich gegen diese gewalttätige Industrie zu wehren, siedelt sie sich mit Vorliebe an. «Genau das habe ich einmal einen Konzernboss sagen hören: Wir gehen den Weg des geringsten Widerstands», erzählt John. «Die Leute hier können sich ja nicht einmal eine Krankenversicherung leisten, wovon sollten sie teure Anwälte bezahlen?»
John Beard ist Afroamerikaner und hat sein ganzes Leben in dieser Opferzone verbracht. 1956 wird er hier geboren, sein Elternhaus grenzt an Öltanks. Seine Grundschule steht neben der Valero-Raffinerie. Ständig liegt Gestank in der Luft. «Mein Vater sagte immer: Rümpf nicht die Nase, mein Junge, das ist der Geruch des Geldes.» Er lacht. «Viele Menschen kamen damals hierher in der Hoffnung auf Wohlstand, und es stimmt ja: Eine Weile lang gab es gut bezahlte Arbeit, viele konnten sich ein Haus leisten und die Kinder aufs College schicken.» Wie sein Vater ist auch John in der Ölindustrie beschäftigt, 38 Jahre lang arbeitet er in verschiedenen Raffinerien der Umgebung, unter anderem bei Exxon. Früh aber kommen ihm erste Zweifel: «Wir verdienten gut und wurden über Gefahren aufgeklärt. Wir wussten, worauf wir uns einlassen, und bekamen Schutzkleidung – aber die Menschen außerhalb des Geländes nicht.» Er kennt schon damals viele, die krank sind. Seine Mutter ist herzkrank, die Nachbarin stirbt an Asthma. Heute kennt hier jeder jemanden, der Krebs hat oder daran gestorben ist. Oft mehrere Mitglieder derselben Familie. Mutter und Tochter. Neffe und Cousin. Schwiegersohn und Vater. «Der Geruch des Geldes ist eben immer auch einer des Todes», sagt John. «Es ging zwar vielen gut damals, aber sehr vielen anderen nicht.»
In der Ölkrise 1973 beginnen die Raffinerien, Arbeitsplätze abzubauen. Mit der Automatisierung steigen die Gewinne, die Zahl der Arbeitsplätze sinkt. Seit 1990 ist ein weiteres Drittel der Jobs verloren gegangen. Obwohl die Produktionskapazität der Industrie im Jefferson County zwischen 1990 und 2015 um 85 Prozent wächst, steigt die Anzahl der Jobs dort gerade einmal um 17 Prozent.[22] Seit Jahren ist die Arbeitslosenquote hier mehr als doppelt so hoch wie im texanischen Durchschnitt. «Die Leute, die hier Jobs bekommen, die kommen nicht von hier», sagt John, «du musst dir nur mal die ganzen Kennzeichen anschauen, die sind von überall, nur nicht aus Port Arthur. Ist dir nichts aufgefallen in deinem Hotel?» Ich schaue ihn fragend an. «Wie viele Frauen hast du dort gesehen?», hakt John nach. Tatsächlich bin ich in meiner Unterkunft bislang nur jungen weißen Männern begegnet. «Bauarbeiter, Zeitarbeiter und Gelegenheitsjobber. Die Hotels und Trailerparks hier sind voll von ihnen», sagt John. People of Color bekommen hingegen bis heute kaum Jobs, erst recht keine gut bezahlten. Das gibt die Ölindustrie sogar selbst zu: Laut dem American Petroleum Institute sind drei Viertel der dort Angestellten, insbesondere im Management, weiß.[23] Dennoch ist das Versprechen der Öl- und Chemieindustrie, Arbeitsplätze zu schaffen, immer noch wirkmächtig genug, um zu expandieren, Umweltauflagen und breiten Widerstand dagegen zu verhindern sowie in den Genuss großzügiger Steuererleichterungen zu kommen: Allein die Stadt Port Arthur hat mindestens 28 solcher Deals mit Raffinerien und Chemiefabriken. Die Menschen in Port Arthur profitieren aber überhaupt nicht von dieser Industrie. «Viele leben gerade deshalb immer noch hier, weil sie nie in der petrochemischen Industrie gearbeitet und auch nirgendwo anders genug Geld verdient haben, um irgendwohin zu ziehen, wo es besser und sauberer ist», sagt John. Gerade für sie kämpft der 67-Jährige. 2017, als er in den Ruhestand geht, gründet er das Port Arthur Community Action Network (PACAN), das sich für Umweltgerechtigkeit einsetzt. Seither ist der ehemalige Ölarbeiter ein leidenschaftlicher Umweltaktivist, der sich mit der Industrie und den ihr allzu gewogenen Behörden anlegt.
Wir halten am Straßenrand vor einem niedrigen blauen Gebäude. «Fireworks» ist dort an die Wand gepinselt, verziert mit comicartigen Raketen und Blitzen. Ein vor sich hin rottender rostroter Lkw-Anhänger steht daneben; er sieht aus wie die Zombie-Version des Ladens. «Fireworks» steht auch auf dem Anhänger in weißer, abblätternder Farbe, dazu weiße Kreuze. Ich gehe einmal um den Wagen herum. «Total is not a good neighbor», steht darauf, das «not» ist schwarz durchgestrichen, warum auch immer, von guter Nachbarschaft kann hier keine Rede sein. «Riechst du das?», fragt John. Ich nehme einen leicht scharf-süßlichen Geruch wahr. «Wie ein angezündetes Streichholz», sage ich und schaue besorgt auf den Feuerwerksladen. «Benzol», sagt John und zeigt auf die Total-Raffinerie hinter dem Raketen-Shop, «und das ist der drittgrößte Emittent davon in den USA.»
Total Energies ist eine von fünf Raffinerien in Texas, die das schwer gesundheitsschädliche und krebserregende Gift weit über die erlaubten Mengen hinaus ausstoßen.[24] Mehr als die Hälfte der Menschen, die im Umkreis von fünf Kilometern der Raffinerie und dem BASF-Komplex daneben leben, sind People of Color und Menschen mit niedrigem Einkommen.
Vier Wochen nach meiner Rückreise bricht in der Anlage von BASF Total Energies Petrochemicals ein Feuer aus; ein Turm stürzt ein. Die kollabierte Kolonne war wegen Wartungsarbeiten zum Glück leer. Sonst wären die Auswirkungen ähnlich oder noch schlimmer geworden als beim TPC-Desaster.
Der Weg in den Westteil von Port Arthur führt durch das trostlose Zentrum der Stadt. An der Procter Street bröselt dem leer stehenden Sabine Hotel aus den Zwanzigerjahren die Backsteinfassade weg. Gegenüber, im Museum of the Gulf Coast, steht eine Nachbildung des psychedelisch bemalten Porsches von Janis Joplin, die in Port Arthur geboren ist. Ein Wandgemälde zeigt die Geschichte der Golfküste. Sie beginnt mit Dinosauriern und endet mit dem Ölbohrturm auf dem Spindletop Field. Auch in den umliegenden Straßen wirkt es, als sei seit der Errichtung der Gebäude nicht mehr viel passiert. Downtown Port Arthur sieht aus wie die Filmkulisse einer Geisterstadt, Brachen wechseln sich ab mit Ruinen leer stehender alter Gebäude. In der Austin Avenue steht neben dem Adams Building die alte Post – beide Häuser werden von einem Bauzaun eingerahmt: Die Motiva-Raffinerie hat die beiden historischen Gebäude 2017 gekauft, will sie renovieren und zum Firmensitz umbauen. Sehr viel mehr als Ankündigungen und Computersimulationen gibt es dazu bislang aber nicht. Ganz im Westen endet Port Arthur an der Straße, die sinnfällig Terminal Road heißt. Hier sind wir bereits tief im Bauch der Bestie. Hier beginnen die Gelände der gigantischen Raffinerien von Motiva und Valero. Weiter südlich folgt, wie ein Wurmfortsatz, das Oxbow-Werk, das Abfallprodukte aus den Raffinerien an der Golfküste verarbeitet.
Zwischen 2000 und 2016 emittiert Motiva jedes Jahr illegal 181000 Tonnen Schadstoffe. 2019 stuft die EPA die Raffinerie als «Significant Noncomplier» ein, 2020 als «High Priority Violator». Die Folgen? Gerade mal 56000 Dollar Bußgeld. Auf der anderen Seite wird Motiva von den Behörden sogar fürstlich belohnt: Für ein 3,5 Milliarden Dollar teures Expansionsprojekt in Port Arthur zahlte der Konzern drei Jahre lang keine Steuern und in den Folgejahren nur zehn Prozent der eigentlich fälligen Grundsteuer. Auch die Valero-Raffinerie verstieß in den vergangenen fünf Jahren 600 Mal gegen Emissionsschutzgesetze. Sie setzte hochgiftigen Schwefelwasserstoff, Stickoxide und flüchtige organische Verbindungen über der legalen Höchstgrenze frei.[25] Als es 2017 bei Valero brennt, werden weitere 453 Tonnen Schadstoffe ausgestoßen. Allein 2014 hat Valero mehr als 385 Tonnen Schwefeldioxid emittiert.
Doch das ist noch lange kein Rekord. Das benachbarte Oxbow-Werk, das mir John später zeigt, sieht zwar eher mickrig aus. Doch es stößt zehnmal so viel Schwefeldioxid aus wie Valero, Motiva und Total zusammen, nämlich 10000 Tonnen pro Jahr (nur zum Vergleich: Die jährlichen SO2-Emissionen in ganz Deutschland betragen 250000 Tonnen[26]). Die Anlage gehört dem Milliardär William I. Koch, dem nicht weniger reaktionären Bruder der weltberühmten Klimaleugner-Zwillinge, den Koch Brothers. Sie verarbeitet Petrolkoks zu Vorprodukten für die Aluminiumindustrie. Die Fabrik ist mehr als 80 Jahre alt, und genauso lange verpestet sie bereits die Luft. 2600 Menschen leben im Umkreis von fünf Kilometern zu Oxbow. 98 Prozent davon sind People of Color, zwei Drittel davon arm. Sie werden von der Fabrik mit braunem Dunst und einem Gestank nach faulen Eiern behelligt – und sie leben mit einer Asthma-Rate, die fast 14 Prozent über dem Durchschnitt von Port Arthur liegt.[27]
Das alles ist ganz legal: Oxbow nutzt ein Schlupfloch im Clean Air Act, nach dem alte Anlagen so lange keinen Auflagen unterliegen, bis sie modernisiert werden. Eine Umrüstung würde diese Schadstoffe fast vollständig einfangen, aber 56 Millionen Dollar kosten und danach zehn weitere Millionen pro Jahr. Also verzichtet Milliardär Koch lieber auf eine Modernisierung, und die Behörden lassen ihn gewähren. «Es ist ein wahrer Giftcocktail, den wir hier einatmen», sagt John. Die einzelnen Toxine seien schlimm genug. Aber wie sie in ihrer Kombination auf die Gesundheit wirken, sei noch gar nicht untersucht. Vor allem aber: «Es ist bei diesen vielen Verschmutzern und Schadstoffen fast unmöglich, ein einzelnes Unternehmen herauszupicken und zur Verantwortung ziehen. Was sollen wir also machen? Die Luft anhalten?»
Wie erbarmungslos mit den Menschen hier umgegangen wird, kann man auf der anderen Straßenseite der Terminal Road sehen. Hier beginnt die Westside von Port Arthur. John Beard kommt hier 1956 auf die Welt und wächst dort auf. Bis in die Sechzigerjahre durften Afroamerikanerinnen und -amerikaner in Port Arthur aufgrund rassistischer Gesetze nur in dieser Gegend leben.
Wir stehen vor einer grasbewachsenen Brache. Darauf steht ein gemauertes Podest mit einer schwarzen Tafel, die diesen Ort als historisch ausweist: Carver Terrace. Es ist ein zynisches Denkmal. 1952 baut die weiße Stadtverwaltung diese erste Siedlung mit Sozialwohnungen in Port Arthur genau in das Dreieck zwischen den Raffinerien. Siedlungen wie diese, in denen Menschen Zaun an Zaun mit Industrieanlagen leben, nennt man «Fenceline Communities». Fast 40 Prozent der US-Bevölkerung leben im Umkreis von fünf Kilometern zu risikoreichen Industrieanlagen. Jedes dritte amerikanische Kind besucht eine Schule neben einer Chemiefabrik oder Raffinerie.[28]
2012 wird Carver Terrace schließlich geschlossen, unter anderem wegen hoher Blei- und Asbestwerte, 2016 beginnt der Abriss. Rund 600 Menschen, die in diesen Häusern wohnen, werden umgesiedelt oder bekommen Voucher vom Department of Housing and Urban Development, die es ihnen ermöglichen sollen wegzuziehen. Aber auch heute leben in der Westside noch immer mehrere Tausend Menschen. 95 Prozent von ihnen sind Schwarz. Laut der New Yorker Recherche-Organisation Pro Publica liegt das Risiko, in Port Arthur an einem durch die Industrie verursachten Krebs zu erkranken, in unmittelbarer Nähe zu einer Industrieanlage bei 1:53, also 190-mal höher als das, was die US-Umweltschutzbehörde EPA als akzeptables Risiko betrachtet.[29]
John führt mich zu dem Damm auf der anderen Seite der Terminal Road. Dicke Rohre ragen hier aus dem Boden. Daneben mehr als ein Dutzend kleiner Warnschilder, die auf Pipelines hinweisen, durch die Erdöl, Gas und Chemikalien fließen. Ein Rohr ragt in einen Drainage-Kanal, in dem brackiges Wasser steht. Über solche Kanäle gelangen Regen, aber auch ungeklärtes Abwasser und Gift in den Neches River, den Sabine Lake und schließlich in den Golf von Mexiko.
Um die Westside herum führt ein Güterzuggleis. Anfang 2023 entgleist in East Palestine im Bundesstaat Ohio ein drei Kilometer langer Güterzug, der hochgiftige Chemikalien wie Vinylchlorid und Benzol transportiert. Sie entzünden sich, das Feuer brennt tagelang. «Das kann hier jederzeit auch passieren», fürchtet John. Es wäre das Grauen: An den engsten Stellen rattern die mit Chemikalien, Gas und Öl gefüllten Waggons weniger als 30 Meter entfernt an den Häusern vorbei. John sagt, dass die Züge immer länger werden. Es werden immer mehr Waggons, immer größere Mengen werden transportiert. Deshalb hat er nun auch eine «Toxic Train Tour» im Programm. «Die Gemeinden werden einfach den rücksichtslosen Expansionen der Öl- und Gasindustrie geopfert. Sie machen es uns immer schwerer. Sie wollen, dass wir verschwinden. Das wäre dann die zweite Phase der Sacrifice Zones, die endgültig geopferte Zone», schreit John, so wütend ist er. «Aber sie folgen dir auf dem Fuß. Du ziehst einen Block weiter, da sind sie schon wieder, es werden immer mehr. Es gibt kein Entkommen!»
Tatsächlich wächst die Petrochemie-Industrie rasant: Seit 2012 sind laut der Datenbank von Oil & Gas Watch allein in Texas 348 Projekte zum Bau oder zur Erweiterung von Anlagen angekündigt oder genehmigt worden, die Öl oder Gas zur Herstellung von Chemikalien, Kunststoffen, Plastik, Dünger und Kraftstoffen brauchen. Zehn Prozent davon im Jefferson County, wo Port Arthur liegt. Zusammen haben sie das Potenzial, jährlich mehr als eine Million Tonnen CO2 und zusätzliche 166000 Tonnen Luftschadstoffe auszustoßen.[30]
Die Expansion der petrochemischen Industrie ist eine direkte Folge des Ölbooms. Der Klimakrise zum Trotz werden 2023 in den USA mehr als 13 Millionen Barrel Öl am Tag aus der Erde geholt. So viel wie nie zuvor. Das Zentrum liegt in Texas: Hier werden 40 Prozent mehr Öl als im Vorjahr gefördert. Die fünf größten westlichen Ölkonzerne Exxon, Chevron, Shell, BP