On oder off - Oliver Kretz - E-Book

On oder off E-Book

Oliver Kretz

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Beschreibung

Gerade hatte er eine attraktive neue Stelle als Arzt und Wissenschaftler am Universitätsklinikum Hamburg angetreten, als sich herausstellt, dass seine chronischen Nackenschmerzen nicht harmlos, sondern ein erstes Symptom des M. Parkinson sind. Ein Schicksalsschlag, doch er hat Glück, in den nächsten fünf Jahren lässt ihn die Erkrankung in Ruhe. Aber dann verändert sich alles innerhalb einer Woche. Eben noch voll berufstätig und mitten im Leben, verschlechtert sich nach einer Grippe sein Parkinson radikal. Er wird zum Pflegefall und ist an den Rollstuhl gefesselt. In seinem Buch beschreibt Oliver Kretz einerseits sehr ernsthaft und emotional, aber auch humorvoll und amüsant, seinen mühsamen und oft hoffnungslos erscheinenden Weg zurück ins Leben. Sein langer Aufenthalt in einer Rehaklinik ist aber auch voll von unfreiwillig lustigen und erfüllenden Momenten und endet unerwartet positiv.

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INHALT

Vorwort

Gehhilfe

Aus und vorbei

Tauschhandel

Der Duracellhase

Schlüsselerlebnis

Finger im Ohr

Bingo

Du bist doch Arzt, oder?

Das wahre Leben

Lagerkoller

Drüber

Raus aus der Blase

Nachwort

für Christiane

VORWORT

Im Januar 2024 warf mich eine Lungenentzündung aufgrund einer Influenzainfektion völlig aus der Bahn. Nicht nur, dass meine körperliche Fitness danach auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen war, noch schlimmer empfand ich es, dass mein M. Parkinson sich durch die Infektion rapide verschlechtert hatte. Mitten aus dem normalen Alltagsleben gerissen, war ich plötzlich zum Pflegefall geworden. Dieser Zustand führte dazu, dass ich insgesamt über sieben Wochen in einer Parkinsonspezialklinik verbringen musste. Zur Entlassung bekam ich von einer Physiotherapeutin ein kleines Büchlein geschenkt, in dem ein anderer Patient vor Jahren seine Erlebnisse in der Klinik niedergeschrieben hatte. Bei der Lektüre kam mir sofort der Gedanke, das auch tun zu wollen. Ich wurde derart von dieser Idee erfasst, dass ich den vorliegenden Bericht innerhalb weniger Tage verfasste. Nicht alles, was ich dort erlebt habe, ist in diesem Buch enthalten. Manches habe ich insbesondere da, wo es Dritte allzu sehr betroffen hätte, weggelassen. Alles, was ich hier schildere, ist jedoch tatsächlich passiert. Gelegentlich mag mich mein Gedächtnis im Stich gelassen haben, was die ganz genaue zeitliche Einordnung von Ereignissen angeht. Ein anderes Mal habe ich Erlebnisse bewusst in einem anderen zeitlichen Kontext dargestellt, um den Lesefluss nicht unnötig kompliziert zu gestalten. Auch habe ich mir hier und da die schriftstellerische Freiheit genommen, einiges noch ein ganz klein wenig zu überspitzen. Manches mag als Kritik aufgefasst werden können und so sei denen, die es so auffassen oder sich angesprochen fühlen gesagt, es ist Kritik. Meine Hoffnung ist, dass sie konstruktiv aufgenommen wird.

Viel wichtiger aber ist das Positive, das ich erfahren durfte. Das Ergebnis meines Aufenthalts war weit besser, als ich es je am Tag meiner Aufnahme zu hoffen gewagt hätte. Allen daran Beteiligten gilt mein aufrichtiger und tief empfundener Dank.

GEHHILFE

Als ich das Krankenhaus betrat, stieß ich in der Lobby als Erstes auf eine relativ ungeordnete Ansammlung von Rollstuhlfahrern. Mir ging es eh schon schlecht und dieses Bild war nun auch nicht gerade aufbauend. Die Mitpatienten, ich nahm ganz selbstverständlich an, dass es sich nicht um Mitarbeiter handeln konnte und unterlag damit schon gleich meinem ersten Vorurteil, die wahrscheinlichen Mitpatienten standen also kreuz und quer herum, als hätte sie das Schicksal aus einem großen Würfelbecher hier hingeworfen. Sie unterhielten sich nicht und machten insgesamt einen apathischen und verlorenen Eindruck. Trotz fehlender Kommunikation gelang es Ihnen dennoch ziemlich erfolgreich, sämtliche Wege durch die Lobby nahezu vollständig zu blockieren. Das musste die Schwarmintelligenz sein, von der immer die Rede war. Worauf warteten die hier alle? „Auf den Tod“, schoss es mir durch den Kopf. Ich war wirklich nicht gut drauf! Vielleicht hatte man die alle hier vergessen? Unwahrscheinlich! War das ein Stau vor dem Aufzug oder eine Demo? Ein „drive-in“ sozusagen? Zumindest schienen sie ansteckend zu sein. War ich gerade noch halbwegs aufrecht durch die elektrische Schiebetür geschlichen, nahm ich das Angebot der Rezeptionistin, eine Gehhilfe - am besten wohl den Notfallrollstuhl - zu benutzen, sofort dankbar an.

Eine Minute später hatte sich meine Perspektive auch schon verändert und ich dachte betrübt darüber nach, dass ich wohl ein Notfall sein musste, wenn ich schon in einem gleichnamigen Rollstuhl saß. Das könnte länger dauern hier, wurde mir langsam klar. Notfall hin oder her zunächst wollte der Papierkram erledigt werden. Immerhin, auf die deutsche Bürokratie konnte man sich verlassen und tatsächlich gab mir das ein absurdes, aber angenehmes Gefühl der Vertrautheit in dieser ansonsten doch so fremden und erschreckenden Umgebung. Papiere tauschten ihren Besitzer in beide Richtungen, eine Unterschrift hier bitte, ein paar persönliche Daten dort bitte. Zum Schluss wurde ich gefragt, ob ich gerne einen Internetzugang hätte? Lustig, was kommt als nächstes, „wollen sie während ihres Aufenthalts bei uns etwas zu essen haben?“ Ich bejahte die Frage nach dem Internet und nahm den Fernsehzugang gleich mit dazu.

Als wir mit den Formalitäten fertig waren, bemerkte ich, dass ein Rollstuhl ja eine tolle Sache ist, wenn man nicht mehr sicher stehen kann. Allerdings wäre dafür auch ein Stuhl völlig ausreichend. Zur Fortbewegung in meiner neuen Gehhilfe war ich nämlich gänzlich unfähig. Gehhilfe, war das überhaupt der richtige Begriff, man ging doch gar nicht mit ihm, sondern fuhr, zumindest theoretisch. „Sie müssen die Fußstützen hochklappen, dann können sie sich mit den Füßen abstoßen“, riet einer der Mitpatienten, der nicht völlig apathisch zu sein schien. Konnte ich nicht. „Nehmen sie die Arme zur Unterstützung!“ hörte ich es aus einer anderen Richtung sagen. Ging auch nicht. Ich stellte fest, dass die Fertigkeiten, die ich in meinem neuen Leben brauchen würde, bislang in meiner Ausbildung vernachlässigt worden waren. Ich war einigermaßen frustriert, was man mir offenbar auch ansah. „Es kommt sie gleich jemand holen, sie müssen in den ersten Stock“, rief mir die Rezeptionistin quer durch die Halle zu. Da stand ich nun selbst im Rollstuhl mitten in der Eingangshalle herum, blockierte höchstwahrscheinlich den allerletzten freien Weg und blickte zu Boden, da ich feststellte, dass ich nun ansonsten nur die Alternative hatte, zu den Gesunden aufzublicken. Jetzt ging es mir nicht nur schlecht, jetzt war ich auch noch im wahrsten Sinne des Wortes erniedrigt.

Wenige Minuten später schob mich eine freundliche Schwester Richtung Aufzug. Noch ganz in Gedanken über das, was mich hier erwarten würde, schrak ich plötzlich hoch und stieß reflexartig einen Warnruf aus. Der Schwester gelang im letzten Moment eine Vollbremsung und so vermieden wir den Zusammenstoß mit einer Mitpatientin, die uns den Weg abschnitt und in einer für diese Umgebung unglaublich erscheinenden Geschwindigkeit in den Lift fuhr. Dies gelang ihr so spielerisch mühelos, da sie im Gegensatz zu mir über eine elektrifizierte und offenbar hoch motorisierte Version meines neuen Fortbewegungsmittels verfügte. Scheinbar gab es auch in dieser Welt Klassenunterschiede, bemerkte ich verwundert. „Wir nehmen einfach den nächsten“, sagte meine Schwester gelassen.

AUS UND VORBEI

Während in der Eingangshalle Rollstühle das Bild beherrschten, dominierte hier auf der Parkinsonstation eindeutig der Rollator. Ich musste kurz vor dem Stationszimmer warten und ertappte mich dabei, dass ich die gebückt hinter ihrem Gefährt her schlurfenden Leidensgenossen beneidete. Ich wollte auch so ein Ding, dann wäre ich wenigstens wieder auf Augenhöhe. So schnell veränderten sich also meine Lebensziele. „Ihr Zimmer ist schon fertig“, hörte ich einen der Pfleger sagen. Er schob mich den Gang hinunter zu meinem neuen Zuhause. Ich hatte um ein Einzelzimmer gebeten, da ich jetzt alles gebrauchen konnte, nur keine Menschen in zu großer Nähe, eine Entscheidung, die rückblickend weise und gut investiertes Geld war. Der Pfleger hatte sich vorgestellt, aber ich, wie immer im entscheidenden Augenblick, nicht richtig zugehört. Der Versuch, sein Namensschild zu entziffern, scheiterte, da die Schrift zu klein für meine Augen war. Egal, das kann ich später nochmal herausfinden. Er half mir noch freundlich vom Rollstuhl aufs Bett und verabschiedete sich zunächst mit der Ankündigung seiner baldigen Wiederkehr zur Pflegeaufnahme.

Hier lag ich nun also. Mein erster Blick ging zum Fenster. Bei einer Rehaklinik hätte man erwartet, dass man aufs Meer, die Berge oder wenigstens in einen Park schaut. Ich blickte auf das riesige Flachdach des Erdgeschosses. Über die Jahre hatte sich hier selbstständig eine Dachbegrünung breit gemacht, gut gedüngt durch Zigarettenkippen, die wohl Patienten höherer Stockwerke auf diesem Wege entsorgten. Unzählige Rabenkrähen inspizierten dieses Biotop nach Fressbarem. Mein Blick schweifte durchs Zimmer. Nichts Ungewöhnliches, außer vielleicht der Tapete, auf der rosarote Rosen im Großformat abgebildet waren. Diese Wanddekoration setzte sich vor der Zimmertür im Gang fort. Schon bei der Fahrt durch den Korridor war mir diese für ein Krankenhaus ungewöhnlich bunte Raumgestaltung aufgefallen. Dabei zierte jedes Zimmer eine Tapete mit einer anderen Blumensorte, was für eine überwältigende Farbenvielfalt im Flur sorgte. Ich war erstaunt, den wahren Grund sollte ich erst viel später erfahren. Geistig verwirrten, dementen Mitpatienten wurde so das Wiederfinden ihres Zimmers erleichtert.

Gut, dass ich das damals noch nicht wusste, meine Stimmung war auch so schon im Keller. Noch vor zwei Monaten stand ich halbwegs mitten im Leben. Wie hatte mein Neurologe noch Ende November gesagt: „Wenn sie über das Gelände laufen“ – er meinte den Campus des Universitätsklinikums, an dem wir beide arbeiten – „wenn sie so über das Gelände laufen, würde ihnen nicht mal ein Neurologe ansehen, dass sie Parkinson haben.“ Dabei hatte ich die Diagnose schon vor fünf Jahren bekommen. Bisher war die Motorik aber kaum eingeschränkt, ein wenig Schulter-Nacken-Schmerzen links und wenn es ausnahmsweise mal ganz schlimm war, pendelte der linke Arm beim Gehen nicht mehr so schwungvoll mit wie beim Gesunden.

Und jetzt – alles aus und vorbei. Im Januar hatte mich eine Influenza A Infektion erwischt. Was zunächst recht harmlos anfing, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zur Lungenentzündung. Meine Kollegen in der Notaufnahme hatten alle einen recht sparsamen Gesichtsausdruck, als ich nachts dort auftauchte. Meine Atemgeräusche hörten sich an, als ob eine ganze Armee Orks im Anmarsch wäre und trotz reichlicher Sauerstoffzufuhr bekam ich kaum Luft. Gut, das hatte ich zum Glück überstanden, hätte auch böse ausgehen können. Aber innerhalb dieser zwei Wochen Lungenentzündung hatte sich mein Parkinson so stark verschlechtert, wie er es gewöhnlich in zwei Jahrzehnten zu tun pflegt. Plötzlich fiel mir nicht nur das Gehen schwer, ich konnte nicht mehr aus dem Sessel oder gar dem Bett aufstehen, selbst das Umdrehen im Bett war oft ein Ding der Unmöglichkeit. Jetzt war ich bei allem auf fremde Hilfe angewiesen. Fertig, alles aus, dachte ich, das wars dann, auf dich warten jetzt nur noch Pflegebedürftigkeit und Demenz.