9,99 €
Jack Kerouacs epochemachender Roman «On the Road» (deutsch: «Unterwegs») über eine Schar junger Menschen, die auf der Suche nach Wahrheit, der Liebe und dem glückseligen Leben quer durch die USA reisen, hat weltweit Generationen junger Leute inspiriert. Er gehört zu den seltenen Büchern des 20. Jahrhunderts, die nicht nur einen völlig neuen Ton anschlugen, sondern vom Geist einer neuen Zeit kündeten: Nahezu im Alleingang schuf «On the Road» mit der Beat-Generation eine der ersten großen amerikanischen Jugendbewegungen und inspirierte deren geistige Nachkommen, die Hippies. Kerouac tippte das Manuskript in drei schlaflosen Wochen mit Hilfe von viel Kaffee und Benzedrin auf eine vierzig Meter lange Papierrolle. Beim Verlag wurde es später stark bearbeitet, gekürzt und anonymisiert. Die hier zum ersten Mal auf Deutsch vorliegende Urfassung ist ein einziger, von Jazz und Marihuana inspirierter Energiestoß. Die Sprachmusik darin ist roher als in der Druckfassung, der Sex expliziter, die Figuren (u. a. Allen Ginsberg, William S. Burroughs und der heimliche Held des Romans, der geniale Autodieb und Lebenskünstler Neal Cassidy) erscheinen mit Klarnamen. Übertragen wurde die Urfassung von Ulrich Blumenbach, der seit seiner Übersetzung von David Foster Wallace' Roman «Unendlicher Spaß» zu den wohl renommiertesten deutschen Literaturübersetzern gehört. The beat goes on, und der wilde Rausch, den er erzeugt, verfehlt auch nach 50 Jahren nicht seine Wirkung. Dieses Buch war und ist ein «literarisches Ereignis» (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 818
Jack Kerouac
Die Urfassung
Jack Kerouacs epochemachender Roman «On the Road» (deutsch: «Unterwegs») über eine Schar junger Menschen, die auf der Suche nach Wahrheit, der Liebe und dem glückseligen Leben quer durch die USA reisen, hat weltweit Generationen junger Leute inspiriert. Er gehört zu den seltenen Büchern des 20. Jahrhunderts, die nicht nur einen völlig neuen Ton anschlugen, sondern vom Geist einer neuen Zeit kündeten: Nahezu im Alleingang schuf «On the Road» mit der Beat-Generation eine der ersten großen amerikanischen Jugendbewegungen und inspirierte deren geistige Nachkommen, die Hippies.
Kerouac tippte das Manuskript in drei schlaflosen Wochen mit Hilfe von viel Kaffee und Benzedrin auf eine vierzig Meter lange Papierrolle. Beim Verlag wurde es später stark bearbeitet, gekürzt und anonymisiert.
Die hier zum ersten Mal auf Deutsch vorliegende Urfassung ist ein einziger, von Jazz und Marihuana inspirierter Energiestoß. Die Sprachmusik darin ist roher als in der Druckfassung, der Sex expliziter, die Figuren (u.a. Allen Ginsberg, William S. Burroughs und der heimliche Held des Romans, der geniale Autodieb und Lebenskünstler Neal Cassidy) erscheinen mit Klarnamen.
Übertragen wurde die Urfassung von Ulrich Blumenbach, der seit seiner Übersetzung von David Foster Wallace’ Roman «Unendlicher Spaß» zu den wohl renommiertesten deutschen Literaturübersetzern gehört.
The beat goes on, und der wilde Rausch, den er erzeugt, verfehlt auch nach 50 Jahren nicht seine Wirkung. Dieses Buch war und ist ein «literarisches Ereignis» (Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Jack Kerouac wurde 1922 in Lowell/Massachusetts geboren und besuchte die Columbia University. Während des Zweiten Weltkriegs diente er in der Handelsmarine, trampte später jahrelang als Gelegenheitsarbeiter kreuz und quer durch die USA und Mexiko und wurde neben William S. Burroughs und Allen Ginsberg der führende Autor der Beat-Generation, veröffentlichte zahlreiche Romane und Gedichte. Er starb am 21. Oktober 1969 in St. Petersburg/Florida.
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel «On the Road: The Original Scroll» bei Viking Penguin, New York
Redaktion Thomas Überhoff
Die Nachworte übersetzte Michael Kellner
«Gesang von der offenen Straße» von Walt Whitman wird zitiert in der Übersetzung von Jürgen Brôcan aus «Grasblätter», München, Hanser 2009
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2010
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«On the Road: The Original Scroll»
Copyright © John Sampas, Literary Representative, the Estate of Stella Sampas Kerouac;
John Lash, Executor of the Estate of Jan Kerouac;
Nancy Bump; and Anthony M. Sampas, 2007
Copyright der Nachworte © Howard Cunnell, Joshua Kupetz, George Mouratidis; and Penny Vlagopoulos, 2007
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther/Barbara Hanke
Umschlagabbildung masterfile
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-498-03550-1 (1. Auflage 2010)
ISBN E-Book 978-3-644-00791-8
www.rowohlt.de
Die Urfassung von On the Road wurde mit dem Vorsatz lektoriert, einen Text zu präsentieren, der so nahe wie möglich an dem ist, was Kerouac zwischen dem 2. und 22. April 1951 hervorgebracht hat.
Die Urfassung, getippt auf einer in die Maschine gespannten, ca. 40 Meter langen Rolle aus zusammengeklebten Bögen Zeichenpapier, ist ein durchaus ordentliches Typoskript, und für ein Manuskript dieser Länge – gar nicht zu reden von der Geschwindigkeit, mit der Kerouac arbeitete – gibt es darin verhältnismäßig wenig Fehler. Kerouac korrigierte und berichtigte den Text handschriftlich im Hinblick auf eine überarbeitete Fassung. In einem Brief schrieb er am 22. Mai 1951 an Neal Cassady: «Natürlich bin ich seit dem 22. April am Überarbeiten und neu Abtippen. 30 Tage allein dafür.» Es ist zwar nicht deutlich, ob Kerouac hier von Änderungen spricht, die er auf der Rolle vorgenommen hat, und damit hätte er ja zu jedem möglichen Zeitpunkt anfangen können, aber sicher ist, dass die Korrekturen an jenem zuerst verfassten Text vorgenommen wurden. Ich habe diese Korrekturen und Überarbeitungen wieder zurückgenommen und den durchgestrichenen Schreibmaschinentext restauriert, ausgenommen solche Fälle, wo das handschriftlich ergänzte Wort offensichtlich fehlt, meist ein Bindewort. Von Kerouac ausge-ixte Zeilen habe ich nicht wieder aufgenommen. Punkte (…) und Gedankenstriche (-) erscheinen wie im Manuskript. In der gesamten Urfassung verwendet er Abkürzungen und Komposita. Entgegen der Legende ist die Zeichensetzung in den größten Teilen der Urfassung konventionell. Einige Ausnahmen habe ich unkorrigiert belassen.
Vor fast 40 Jahren teilte Kerouacs Agent Sterling Lord seinem Klienten mit, das Manuskript sei «brüchig», und an ein paar Stellen ist das Papier tatsächlich eingerissen. Wie zu erwarten, betrifft dies den Anfang des Textes, da die oberen Schichten der Rolle für Beschädigungen besonders anfällig sind. Meist war eindeutig zu erkennen, welches Wort oder welcher Buchstabe fehlte. An den wenigen Stellen, wo dies nicht der Fall war, habe ich Kerouacs folgende Fassungen und die Druckfassung zu Rate gezogen.
Howard Cunnell
Brixton, London, 2007
Gewidmet dem Andenken an
Neal Cassady und Allen Ginsberg
Camerado, ich reiche dir meine Hand!
Ich reiche dir meine Liebe, kostbarer als Geld,
Ich reiche dir mich selber, noch vor Predigt oder Gesetz;
Willst du dich mir reichen? willst du mit mir wandern?
Sollen wir zusammenbleiben, solange wir leben?
Walt Whitman
Zum ersten Mal traf ich Neal, kurz nachdem mein Vater gestorben war … Ich hatte gerade eine schwere Krankheit hinter mir, von der ich gar nicht groß reden will, bloß dass sie mit dem Tod meines Vaters zu tun hatte und mit dem scheußlichen Gefühl, dass alles tot war. Mit Neals Auftauchen begann so richtig der Teil meines Lebens, den man mein Leben auf der Straße nennen kann. Vorher hatte ich immer davon geträumt, nach Westen zu gehen, das Land zu sehen, hatte immer vage Pläne gemacht, war dann aber nie wirklich losgekommen und so. Neal ist der ideale Mann für die Straße, weil er sogar auf der Straße geboren wurde, als seine Eltern auf dem Weg nach Los Angeles 1926 mit ihrer Rostlaube durch Salt Lake City kamen. Hal Chase war der Erste, der von Neal erzählte und mir Briefe zeigte, die Neal ihm aus einem Erziehungsheim in Colorado geschrieben hatte. Ich fand die Briefe ungeheuer interessant, weil Neal Hal so naiv und treuherzig darum bat, ihm alles über Nietzsche und die tollen intellektuellen Sachen beizubringen, für die Hal zu Recht so berühmt war. Einmal unterhielten Allen Ginsberg und ich uns über diese Briefe und fragten uns, ob wir den seltsamen Neal Cassady wohl je kennenlernen würden. Das ist alles ewig her, als Neal noch nicht so wie heute war, sondern ein junger, geheimnisumwobener Knacki. Dann erfuhren wir, dass er aus dem Erziehungsheim entlassen worden war und zum ersten Mal nach New York kommen würde; außerdem hieß es, er habe gerade eine 16-Jährige namens Louanne geheiratet. Eines Tages hing ich auf dem Campus der Columbia University herum, und Hal und Ed White erzählten, Neal sei gerade angekommen und wohne in der Kaltwasserbude eines Typen namens Bob Malkin in East Harlem, also Spanish Harlem. Neal war am Vorabend angekommen, zum ersten Mal in NY mit seiner schönen kleinen Sahneschnitte Louanne; sie waren an der 50th St. aus dem Greyhound ausgestiegen, um die Häuser gezogen, um irgendwo was zu essen, und direkt bei Hector’s gelandet, und seitdem war Hector’s Cafeteria für Neal immer ein großes Symbol für NY. Sie gaben ihr Geld für Windbeutel und herrliche Kuchen mit dickem Zuckerguss aus. Neal erzählte Louanne die ganze Zeit Sachen wie, «also, Schatz, jetzt sind wir hier in Ny, und ich hab dir zwar noch nicht alles erzählt, was mir durch den Kopf gegangen ist, als wir durch Missouri gekommen sind und besonders an der Besserungsanstalt von Booneville vorbei, die mich an mein Gefängnisproblem erinnert hat, aber wir müssen diese ganzen ollen Kamellen, die unsere persönlichen Liebesdinge angehen, jetzt unbedingt zurückstellen und sofort überlegen, wie wir Arbeit und Leben unter einen Hut kriegen …» und so weiter, eben so, wie das anfangs seine Art war. Ich ging mit den Jungs zu seiner Bude, und Neal war in Shorts, als er aufmachte. Louanne sprang schnell aus dem Bett; anscheinend waren sie gerade am Ficken gewesen. Das machte er immer so. Der andere, dem die Wohnung gehörte, dieser Bob Malkin, war auch da, aber Neal musste ihn in die Küche abkommandiert haben, wahrscheinlich zum Kaffeekochen, während er seine Liebesprobleme in Angriff nahm … für ihn war Sex das einzig Heilige und Wichtige im Leben, obwohl er sich krumm und lahm schuftete, um über die Runden zu kommen und so. Mein erster Eindruck von Neal war der eines jungen Gene Autry – gepflegt, schmale Hüften, blaue Augen und ein echter Oklahoma-Dialekt. Er hatte auch gerade auf einer Ranch gearbeitet, bei Ed Uhl in Sterling, Colorado, bevor er L. geheiratet hatte und nach Osten gekommen war. Louanne war ein hübsches, süßes kleines Ding, aber dumm wie Brot und zu fürchterlichen Sachen imstande, wie sich später zeigen sollte. Ich erwähne das erste Treffen mit Neal nur wegen seiner Aktionen. Wir tranken an dem Abend alle Bier, ich war am Ende ziemlich zugebrezelt und brabbelte irgendwas, schlief dann auf dem zweiten Sofa, und als wir am nächsten Morgen stumm herumsaßen und im grauen Licht des trüben Tages die Kippen aus den Aschenbechern aufrauchten, sprang Neal nervös auf, lief nachdenklich durchs Zimmer und entschied schließlich, Louanne müsse jetzt Frühstück machen und den Boden fegen. Dann ging ich. Das war anfangs alles, was ich von Neal wusste. In der Woche danach vertraute er Hal Chase aber an, dass er unbedingt das Schreiben von ihm lernen müsse; Hal sagte, ich sei Schriftsteller, und er solle sich doch an mich wenden. Neal hatte inzwischen Arbeit auf einem Parkplatz gefunden und mit Louanne in ihrer Wohnung in Hoboken, weiß der Geier, warum sie da hingezogen waren, Zoff bekommen, und sie war so verrückt und tief drinnen so nachtragend, dass sie ihn bei der Polizei anzeigte, irgendeine erstunkene und erlogene hysterische Beschuldigung, aber jedenfalls musste Neal aus Hoboken raus. Also hatte er keine Wohnung mehr. Er kam direkt nach Ozone Park, wo meine Mutter und ich wohnten, und als ich eines Abends an meinem Buch arbeitete oder malte oder wie man das nun nennen will, klopfte es an der Tür, und Neal stand vor mir, verbeugte sich, scharrte im dunklen Korridor verlegen mit den Füßen und sagte, «hal-lo, kennst du mich noch? Neal Cassady. Ich möchte dich bitten, mir zu zeigen, wie man schreibt». – «Und wo ist Louanne?», fragte ich, und Neal sagte, die habe anscheinend ein paar Dollar zusammengehurt, irgendwas in der Art, und sei nach Denver zurück … «die Nutte!» Wir gingen also ein paar Bier trinken, denn bei meiner Mutter, die im Wohnzimmer saß und ihre Zeitung las, konnten wir ja nicht frei reden. Sie hielt Neal schon auf den ersten Blick für plemplem. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass auch sie mal mit ihm durch die verrückte amerikanische Nacht fahren würde. In der Bar meinte ich zu Neal, «Herrgott, ich weiß doch genau, dass du nicht bloß zu mir gekommen bist, weil du Schriftsteller werden willst, und außerdem, was weiß denn ich schon davon, außer dass man mit der Energie eines Bennie-Süchtigen bei der Stange bleiben muss», und er sagte, «ja, klar, ich weiß genau, was du meinst, und genau das hab ich mich auch schon gefragt, aber was ich wirklich will, ist die Erkenntnis dieser Faktoren, sollte man sich auf Schopenhauers Dichotomie einlassen und jede innerlich erkannte …» und so weiter und so fort, Dinge, von denen ich nicht die leiseste Ahnung hatte und er genauso wenig, aber worauf ich raus will, ist, damals wusste er wirklich nicht, wovon er redete, soll heißen, er war ein junger Knacki, der sich in die wundervolle fixe Idee verrannt hatte, ein echter Intellektueller zu werden, und er verfiel gern in den Tonfall und benutzte die Worte, aber ganz verschwurbelt, so wie er «echte Intellektuelle» hatte reden hören, obwohl er wohlgemerkt in anderen Bereichen längst nicht so naiv war, und er brauchte dann auch nur ein paar Monate mit Leon Levinsky, bis er die ganzen Begriffe und Phrasen und den Stil der Intellektualität intus hatte. Ich mochte ihn trotzdem wegen seiner Verrücktheit, und wir versackten in der Linden-Bar bei mir hinterm Haus, und ich hatte nichts dagegen, dass er erst mal bei mir wohnte, bis er Arbeit gefunden hatte, und außerdem vereinbarten wir, irgendwann in den Westen zu fahren. Das war im Winter 1947.
Kurz nachdem ich Neal kennengelernt hatte, fing ich an, mein riesiges Town and City zu schreiben oder zu malen, und hatte ungefähr vier Kapitel geschafft, da lehnte er sich eines Abends, wo er bei uns gegessen und schon einen neuen Parkplatzjob in New York hatte, den beim Hotel NYorker in der 34th Street, bei mir über die Schulter, während ich volle Kanne drauflostippte, und sagte, «komm schon, Mann, die Mädchen warten nicht, mach zu», und ich sagte, «nur noch fünf Minuten, wenn ich mit dem Kapitel fertig bin, komm ich sofort mit», und das war eins der besten Kapitel im ganzen Buch. Dann zog ich mich um, und wir düsten nach NY, um Mädchen aufzugabeln. Ihr wisst bestimmt, von Ozone Park ist man nach New York rein eine Stunde lang mit Hoch- und U-Bahn unterwegs, und als wir da oben über den Dächern von Brooklyn langjuckelten, lehnten wir aneinander, fuchtelten mit den Armen, grölten und schwatzten aufgeregt, und Neal steckte mich langsam an. Das Leben erregte ihn nun mal wahnsinnig, und auch wenn er ein Schwindler war, schwindelte er doch nur, weil er unbedingt leben und mit Menschen zusammenkommen wollte, die ihn ansonsten wie Luft behandelt hätten. Er wickelte mich in gewisser Weise ein, und ich wusste das, und er wusste, dass ich es wusste (das ist immer die Grundlage unserer Beziehung gewesen), aber das war mir egal, und wir kamen prima miteinander klar. Nach und nach lernte ich genauso viel von ihm wie er wahrscheinlich von mir. Was meine Arbeit anging, sagte er, «weiter so, du machst das alles großartig». Wir fuhren nach New York rein, und was genau ablief, weiß ich nicht mehr, irgendwas mit zwei Mädchen – aber da waren keine Mädchen, sie hatten ihn treffen sollen oder so, und sie waren nicht da. Wir gingen zu seinem Parkplatz, wo er noch ein paar Sachen erledigen musste – sich hinten im Verschlag umziehen und sich vor dem gesprungenen Spiegel darin ein bisschen auf Vordermann bringen und so, und dann zischten wir los. Und an dem Abend lernte Neal Leon Levinsky kennen. Etwas Tolles geschah, als Neal Leon Levinsky kennenlernte … ich meine natürlich Allen Ginsberg. Die beiden Starkstromgeister lagen ruckzuck auf der gleichen Wellenlänge. Zwei scharfe Augenpaare durchbohrten einander … der heilige Schwindler und der große, leiderfüllte, lyrische Schwindler namens Allen Ginsberg. Von dem Tag an bekam ich Neal nur noch sehr selten zu Gesicht, und das tat mir ein bisschen leid … Ihre Energien prallten frontal aufeinander. Damit verglichen war ich eine Transuse; mit ihnen konnte ich nicht mithalten. Das ganze verrückte Chaos all dessen, was dann kam, fing damals an und verwirbelte alle meine Freunde und letzten Angehörigen in einer großen Staubwolke über der amerikanischen Nacht – sie redeten von Burroughs, Hunkey, Vicki … Burroughs in Texas, Hunkey auf Riker’s Island, Vicki, die damals mit Norman Schnall abhing … und Neal erzählte Allen von Leuten im Westen wie Jim Holmes, dem buckligen Poolhai, Kartenspieler und komischen Heiligen … er erzählte ihm von Bill Tomson, Al Hinkle, seinen Kindheits- und Straßenkumpeln … sie hetzten zusammen die Straße runter und zogen sich alles auf ihre frühe Weise rein, die später so viel trauriger und scharfsichtiger wurde … aber damals kobolzten sie wie die Kielkropfe die Straße runter, und ich schlurfte hinterher, wie ich das mein Leben lang bei Menschen gemacht habe, die mich interessieren, denn die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen. Allen war schwul und probierte sich damals aus bis zum Gehtnichtmehr, und Neal, der ehemalige Jugendstricher aus Denvers Nächten, sah das, und da er von ganzem Herzen lernen wollte, Gedichte wie die von Allen zu schreiben, überfiel er ihn sofort mit dieser großen, liebenden Seele, wie sie nur ein Schwindler haben kann. Ich war im selben Zimmer, ich hörte sie in der Dunkelheit, wunderte mich und sagte mir, «hmm, da hat was angefangen, aber ich will nichts damit zu tun haben». Und dann, rund zwei Wochen lang, in denen sie ihre Beziehung bis zum Wahnsinn zementierten, sah ich sie nicht. Schließlich kam die große Zeit des Reisens, der Frühling, und jeder aus der verstreuten Schar bereitete sich auf den einen oder anderen Trip vor. Ich arbeitete fleißig an meinem Roman, und als mein Manuskript nach einer Fahrt mit meiner Mutter zu meiner Schwester in den Süden halb fertig war, bereitete ich mich darauf vor, zum ersten Mal in den Westen zu reisen. Neal war schon vorausgefahren. Allen und ich hatten ihn am Greyhound-Bahnhof in der 34th Street verabschiedet. Oben kann man sich da für einen Vierteldollar fotografieren lassen. Allen nahm die Brille ab und sah finster drein. Neal posierte im Profil und sah schüchtern in die Gegend. Ich ließ eine normale Aufnahme machen, auf der ich, wie Lucien meinte, wie ein 30-jähriger Italiener aussah, der jeden umbringen würde, der ein Wort gegen seine Mutter sagte. Dieses Foto trennten Al und Neal mit einem Rasiermesser säuberlich in der Mitte durch, und jeder steckte eine Hälfte in die Brieftasche. Ich habe die Hälften später gesehen. Neal trug für die große Rückreise nach Denver einen richtigen Geschäftsanzug, wie er im Westen üblich ist; sein erster Ausflug nach New York war bereits Vergangenheit für ihn. Ich sage Ausflug, dabei hatte er sich nur auf Parkplätzen ein Bein ausgerissen, der phantastischste Einparker der Welt; er kann einen Wagen mit gut sechzig km/h im Rückwärtsgang in eine schmale Lücke steuern und ihn haarscharf vor der Backsteinmauer zum Stehen bringen, rausspringen, sich zwischen den engstehenden Kotflügeln hindurchschlängeln, ins nächste Auto springen, es mit achtzig Sachen auf engstem Raum wenden, schalten, mit ein paar Zentimetern Platz auf beiden Seiten in eine winzige Parklücke zurücksetzen und im selben Augenblick schwungvoll zum Stehen kommen, in dem er die Handbremse hochreißt; schnurstracks sprintet er zur Parkscheinbude, gibt den Schein weiter, springt in den Wagen eines Neuankömmlings, der noch kaum ausgestiegen ist, schiebt sich buchstäblich unter ihn, während der andere aussteigt, fährt mit offener Tür los und braust zum nächsten freien Parkplatz. Und so arbeitet er pausenlos, acht Stunden die Nacht, im Berufsverkehr am Abend und im Stoßverkehr nach den Theatervorstellungen, in speckigen Alkihosen, ausgefranster Pelzjacke und ausgelatschten Schuhen, die vorn schon aufflappen. Jetzt hatte er sich für die Heimfahrt einen neuen Anzug gekauft; blau mit Nadelstreifen, Weste und allem Drum und Dran, mit Uhr und Uhrkette, und außerdem eine Reiseschreibmaschine, auf der er in irgendeinem Wohnheim in Denver zu schreiben anfangen wollte, sobald er dort Arbeit gefunden hatte. Wir trafen uns zu einem Abschiedsessen aus Würstchen mit Bohnen in einem Riker’s an der 7th Avenue, und dann stieg Neal in den Bus, auf dem Chicago stand, und brauste in die Nacht davon. Ich nahm mir fest vor, ihm zu folgen, sobald der Frühling das Land in seiner ganzen Pracht erblühen ließ. Da fuhr er hin, unser Cowboy. Und genau da begannen meine ganzen Straßenerfahrungen, und die späteren Ereignisse waren zu phantastisch, als dass ich sie für mich behalten könnte. Ich habe Neal nur erst so vorläufig erwähnt, weil ich damals bloß dies bisschen von ihm wusste. Über seine Beziehung zu Allen weiß ich nicht Bescheid, und wie sich später zeigte, bekam Neal die Sache schnell satt, besonders das mit dem Schwulsein, und fiel in seine eigenen Gewohnheiten zurück, aber das spielt keine Rolle. Als ich im Juli 1947 gut die Hälfte meines Romans geschafft und von meiner alten Veteranenrente rund fünfzig Dollar gespart hatte, schickte ich mich an, zur Westküste zu fahren. Mein Freund Henri Cru hatte mir aus San Francisco einen Brief geschrieben und gesagt, ich solle rüberkommen und mich mit ihm zusammen zu einer Reise um die Welt einschiffen. Er schwor, er könne mir Arbeit im Maschinenraum eines Dampfers verschaffen. Ich schrieb zurück, jeder Seelenverkäufer sei mir recht, wenn ich nur ein paar lange Pazifikreisen unternehmen und mit genug Geld zurückkommen könne, um im Haus meiner Mutter über die Runden zu kommen und mein Buch abzuschließen. Er sagte, er habe eine Bude in Marin City, und ich hätte alle Zeit der Welt, dort zu schreiben, während wir uns auf die mühselige Suche nach einem Schiff machten. Er lebe mit einem Mädchen namens Diane zusammen, die eine fabelhafte Köchin sei, und alles sei geritzt. Henri war ein alter Freund von der Prep School, ein in Paris und Frankreich aufgewachsener Franzose, und richtig verrückt – wie verrückt, ahnte ich damals noch gar nicht. Und ich sollte in zehn Tagen bei ihm sein. Ich schrieb ihm, bestätigte das … und ahnte nicht, was mir unterwegs alles passieren würde. Meine Mutter billigte meine Fahrt in den Westen voll und ganz, sie sagte, das werde mir guttun, ich hätte den ganzen Winter über so schwer gearbeitet und sei zu wenig aus dem Haus gekommen; sie hatte nicht mal große Einwände, als ich meinte, ich müsse teilweise trampen, was ihr normalerweise Angst machte, aber jetzt werde mir das guttun. Ihr war nur wichtig, dass ich heil zurückkam. Also ließ ich mein dickes, halbfertiges Manuskript auf dem Schreibtisch liegen, machte eines Morgens zum letzten Mal mein gemütliches Bett, packte das Allernötigste in einen Reisesack, schrieb meiner Mutter, die zur Arbeit gegangen war, einen Zettel und machte mich wie ein wahrhaftiger Ishmael mit fünfzig Dollar in der Tasche zum Pazifik auf. Und im Handumdrehen saß ich in der Patsche. Wenn ich heute daran zurückdenke, kann ich kaum fassen, wie ich so saublöd sein konnte. In Ozone Park hatte ich mich monatelang in Karten der USA vertieft, Bücher über die Pioniere gelesen, mir Namen wie Platte und Cimarron auf der Zunge zergehen lassen und so weiter, und auf der Landkarte zog sich eine lange rote Linie namens Route 6 ganz deutlich von der Spitze von Cape Cod bis nach Ely, Nevada, und bog dann nach unten Richtung Los Angeles ab. «Ich bleib einfach bis Ely auf der 6», sagte ich mir und machte mich getrost auf den Weg. Um zur 6 zu kommen, musste ich zum Bear Mountain, New York, hoch. Während ich mir ausmalte, was ich in Chicago, in Denver und schließlich dann in San Fran alles machen würde, fuhr ich mit der U-Bahn entlang der 7th Avenue bis zur Endstation an der 242nd Street, ganz in der Nähe der Horace Mann Prep School, wo ich Henri Cru kennengelernt hatte, den ich jetzt besuchen wollte, und von dort mit der Straßenbahn nach Yonkers; im Zentrum von Yonkers stieg ich in eine andere Straßenbahn um, mit der ich bis an den Stadtrand am Ostufer des Hudson River fuhr. Stellt euch vor, ihr werft an dessen geheimnisvoller Quelle oben bei Saratoga eine Rose in den Hudson River, und dann denkt an all die Orte, an denen sie auf ihrer endlosen Reise aufs Meer hinaus vorbeischwimmt … stellt euch das prächtige Hudson Valley vor. Da trampte ich also hinauf. Fünf verschiedene Fahrer brachten mich zur ersehnten Bear Mountain Bridge, wo die Route 6 aus Neuengland dazukam. Ich hatte Visionen von ihr gehabt, mir aber nicht träumen lassen, dass sie so aussehen würde. Erstens mal regnete es in Strömen, als ich dort abgesetzt wurde. Es war bergig. Die 6 kam aus der Wildnis, wand sich um einen Kreisel (also nach Überquerung der Brücke) und verschwand wieder in der Wildnis. Nicht nur gab es keinen Verkehr, es schüttete auch wie aus Kübeln, und ich konnte mich nirgends unterstellen. Ich suchte Schutz unter ein paar Kiefern, aber das half nicht viel; ich fing an zu heulen und zu fluchen und schlug mir an den Schädel, weil ich so ein Vollidiot gewesen war. Ich steckte sechzig Kilometer nördlich von New York, die ganze Fahrt hier hoch hatte ich mich geärgert, weil ich mich an diesem meinem großen Eröffnungstag nur nach Norden bewegte und nicht in den gewünschten, den heißersehnten Westen.
Jetzt saß ich in der nördlichsten aller Sackgassen fest. Ich lief einen halben Kilometer zu einer pittoresken verlassenen Tankstelle im englischen Stil und stellte mich unter den tropfenden Dachvorsprung. Von hoch über meinem Kopf schickte der große haarige Bear Mountain Donnerschläge herab, die mich das Fürchten lehrten. Ich sah nichts als dunstverhangene Bäume und eine düstere Wildnis, die bis zum Himmel reichte. «Was zum Teufel hab ich hier oben zu suchen?», fluchte ich und schrie nach Chicago …, «die hauen jetzt alle auf die Pauke, die unternehmen was, und ich komm da nicht hin, wann komm ich da endlich hin?» und so weiter … Endlich hielt ein Wagen an der verlassenen Tankstelle, der Mann und die beiden Frauen darin beugten sich über eine Karte. Ich ging zu ihnen und gestikulierte im Regen; sie überlegten; ich sah natürlich wie ein Verrückter aus mit meinen triefenden Haaren und den quatschnassen Schuhen … meine Schuhe, ich Blödmann hatte mexikanische Huaraches an, die, wie später jemand in Wyoming meinte, garantiert keimen würden, wenn man sie in die Erde steckte – pflanzenartige Siebe, die für Amerikas Regennacht und die ganze nasskalte Straßennacht einfach nicht geschaffen waren. Aber sie ließen mich einsteigen und fuhren mich nach Newburgh zurück, was für mich das kleinere Übel war im Vergleich dazu, die ganze Nacht in der Wildnis am Bear Mountain festzusitzen. «Außerdem», sagte der Mann, «gibt es keinen Durchgangsverkehr auf der 6 … wenn Sie nach Chicago wollen, nehmen Sie lieber den Holland-Tunnel in NY und stellen sich dann Richtung Pittsburgh auf», und damit hatte er natürlich recht. Mein Traum war einfach Murks, diese dämliche, am Kamin geborene Schnapsidee, wie toll es doch wäre, einer einzigen dicken roten Linie quer durch Amerika zu folgen, statt mich an verschiedene Straßen und Wege zu halten. Das war meine tragische Route 6 – und es sollten noch mehr kommen. In Newburgh hörte es auf zu regnen, ich ging zum Fluss runter, und dann musste ich mir auf der Rückfahrt nach NY den Bus auch noch mit einer Abordnung von Lehrern teilen, die ein Wochenende in den Bergen verbracht hatten – plapperplapper, blabla, ich verfluchte mich, weil ich so viel Zeit und Geld zum Fenster rausgeworfen hatte, und sagte mir, «ich wollte nach Westen, und stattdessen bin ich den ganzen Tag und die ganze Nacht rauf und runter, nach Norden und Süden gefahren wie einer, der einfach nicht in die Gänge kommt». Und ich schwor mir, morgen würde ich Chicago erreichen, und damit das auch klappte, nahm ich den Bus dorthin und gab dafür den größten Teil meines Geldes aus, was mir aber scheißegal war, solange ich nur am Tag darauf in diesem blöden Chicago ankam. Um 2 Uhr morgens fuhr der Bus vom Busbahnhof an der 34th Street ab, sechzehn Stunden, nachdem ich auf meinem Weg zur Route 6 mehr oder weniger daran vorbeigekommen war. Belämmert ließ sich mein Schwachmatenarsch nach Westen karren. Aber wenigstens war ich endlich unterwegs. Die Fahrt nach Chicago muss ich nicht groß beschreiben, das war eine normale Busfahrt mit schreienden Babys, manchmal heißer Sonne und Landeiern, die in Pennsylvania von Stadt zu Stadt zustiegen, bis wir endlich die Ebene von Ohio erreichten und richtig vorankamen, oben an Ashtabula vorbei und die ganze Nacht lang quer durch Indiana nach Chicago. Dort kam ich ziemlich früh am Morgen an, bekam ein Zimmer im Y, ging ins Bett und hatte wegen meiner Hirnverbranntheit nur noch ein paar Dollar in der Tasche. Nachdem ich den ganzen Tag durchgeschlafen hatte, zog ich mir Chicago rein. Den Wind vom Lake Michigan, die Bohnen, den Bop im Loop, lange Streifzüge durch South Halsted und North Clark und nach Mitternacht dann einen langen Spaziergang in den Asphaltdschungel, wo mir ein Streifenwagen folgte, dem ich verdächtig vorkam. Damals, 1947, verbreitete sich der Bop in Amerika wie wahnsinnig, hatte sich aber noch nicht zu dem entwickelt, was er heute ist. Die Burschen im Loop bliesen ihn zwar, aber auf eine müde Weise, weil Bop noch irgendwo zwischen Charlie Parkers «Ornithology»-Phase und einer anderen Phase feststeckte, die eigentlich erst mit Miles Davis richtig losging. Und während ich dasaß und dieser Musik der Nacht lauschte, deren Inbegriff sie inzwischen für uns alle geworden war, dachte ich an meine Freunde vom einen Ende des Landes zum anderen und wie sie sich eigentlich alle in demselben riesigen Hinterhof tummelten und so hektisch hienieden herumhetzten. Und am nächsten Nachmittag machte ich mich zum ersten Mal im Leben nach Westen auf. Es war ein warmer und schöner Tag fürs Trampen. Um den aberwitzigen Komplikationen von Chicagos Verkehr zu entkommen, fuhr ich mit dem Bus nach Joliet, Illinois, kam dort am Knast vorbei, stellte mich direkt hinter der Stadtgrenze auf, nachdem ich die belaubten Schlaglochpisten entlanggegangen war, und hielt den Daumen in meine Richtung. Die ganze Strecke von New York nach Joliet war ich in Wahrheit per Bus gefahren, und ich hatte noch rund 20 Dollar übrig. Als Erstes wurde ich von einem Dynamitlaster mit roter Fahne mitgenommen, ungefähr fünfzig Kilometer ins große grüne Illinois hinein; der Trucker zeigte mir die Stelle, wo die Route 6, auf der wir waren, die Route 66 kreuzte, bevor sich beide über unglaubliche Entfernungen hinweg nach Westen spannten. Nach Apfelkuchen und Eiscreme in einer Raststätte hielt nachmittags gegen drei eine Frau in einem kleinen Coupé für mich. Vor Freude bekam ich ein Ständerziepen, als ich dem Wagen nachrannte. Aber sie war nicht mehr die Jüngste, hatte sogar Söhne in meinem Alter und suchte jemanden, der ihr bei der Fahrt nach Iowa half. Ich war hin und weg. Iowa! Nicht weit von Denver, und wenn ich erst in Denver war, konnte ich mich entspannen. Die ersten Stunden fuhr sie; einmal wollte sie unbedingt irgendeine alte Kirche besuchen, als wären wir Touristen, danach übernahm ich das Lenkrad, und obwohl ich kein großer Fahrer bin, fuhr ich die restliche Strecke durch Illinois und über Rock Island nach Davenport, Iowa. Und da sah ich zum ersten Mal im Leben meinen geliebten Mississippi – trocken im Sonnenglast, niedriger Wasserstand, und er stank ranzig nach Amerikas ungeschlachtem Körper, weil er den wäscht. Rock Island – Gleisanlagen, Baracken, eine kleine City; und über die Brücke nach Davenport, eine ganz ähnliche Stadt, und in der warmen Sonne des Mittleren Westens roch alles nach Sägemehl. Hier musste die Dame eine andere Route zu ihrer Heimatstadt in Iowa nehmen, und ich stieg aus. Die Sonne sank. Nach ein paar kalten Bieren wanderte ich zum Stadtrand, und das war ein langer Weg. Die Männer fuhren alle von der Arbeit nach Hause … mit Eisenbahnermützen, Baseballmützen, allen möglichen Mützen, ein Feierabend wie in jeder anderen Stadt auch. Einer davon fuhr mich die Anhöhe hoch und setzte mich an einer einsamen Straßenkreuzung am Rand der Prärie ab. Es war wunderschön dort. Auf der anderen Straßenseite stand ein Motel, das erste von vielen Motels, die ich im Westen sehen sollte. Die einzigen Wagen, die vorbeikamen, gehörten Farmern, alle sahen mich scheel an und schepperten weiter, unterwegs zu ihrer Venus vom Silo. Kein Laster. Ein paar Autos sausten vorbei. Ein Jugendlicher kam in einem frisierten Wagen vorbei, und sein Halstuch flatterte hinter ihm her. Die Sonne ging endgültig unter, und ich stand in der dunkelroten Nacht. Jetzt bekam ich Angst. Im ländlichen Iowa gab es nicht mal Straßenlampen; in einer Minute würde mich niemand mehr sehen. Zum Glück nahm mich ein Mann, der nach Davenport zurückwollte, in die City mit. Nur stand ich damit wieder genau da, wo ich angefangen hatte. Ich ging zum Busbahnhof, um zu überlegen. Ich aß noch einen Apfelkuchen mit Eis, und das war praktisch alles, was ich auf dem Weg durchs Land aß, ich wusste, es war nahrhaft, und außerdem schmeckte es. Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen. Nachdem ich im Café des Busbahnhofs eine halbe Stunde lang der Kellnerin nachgestarrt hatte, stieg ich in der City von Davenport in den Bus und fuhr zum Stadtrand, hielt mich diesmal aber an die Tankstellen. Hier dröhnten die großen Laster vorbei, rums, und nach nicht mal zwei Minuten stieg einer für mich in die Eisen. Ich rannte ihm nach, und meine Seele jauchzte. Und was für ein Fahrer … ein großer, schwerer Trucker mit lebhaft blitzenden Augen und heiserer Reibeisenstimme, der nur so die Gänge reinhaute und aufs Gaspedal trat, seinen Sattelschlepper auf Touren brachte und mich praktisch ignorierte, sodass ich die müde Seele baumeln lassen konnte … Eine der größten Plagen für Anhalter ist es ja, dass man mit Unmengen von Menschen reden und ihnen den Eindruck vermitteln muss, dass es kein Fehler war, einen aufgelesen zu haben; man ist zu ihrer Unterhaltung da, was ein tierischer Stress ist, wenn man weite Strecken vor sich hat und nicht in Hotels schlafen will. Der Typ überbrüllte das Dröhnen einfach, und ich musste bloß zurückbrüllen, und das war total locker. Und er ballerte die Kiste bis nach Rapid City, Iowa, durch, brüllte mir echt witzige Geschichten zu, wie er in jeder Stadt mit unfairem Tempolimit die Gesetzeshüter zum Narren hielt, und wiederholte immer wieder, «mir werfen die Cops keine Knüppel zwischen die Beine». Er war wunderbar. Und er half mir dann auch wunderbar. Kurz bevor wir nach Rapid City reinkamen, sah er hinter uns einen zweiten Laster, und weil er nach Rapid City abbiegen musste, blinkte er für den anderen Trucker mit dem Rücklicht und bremste, sodass ich mit dem Reisesack rausspringen konnte, und der andere Laster bestätigte den Wechsel, hielt für mich an, und schwuppdiwupp saß ich in der nächsten hohen Kabine, hatte Hunderte Kilometer durch die Nacht vor mir, und Junge, war ich glücklich! Und der neue Lasterfahrer war genauso verrückt wie der erste und brüllte genauso viel, und ich konnte mich zurücklehnen, die Seele baumeln lassen und weiterfahren. Jetzt sah ich, wie sich Denver undeutlich vor uns abzeichnete wie das Gelobte Land, weit da draußen unter dem Sternenhimmel, hinter der Prärie von Iowa und den Ebenen von Nebraska, und in noch weiterer Ferne sah ich die noch größere Vision von San Francisco aufschimmern wie Juwelen in der Nacht. Er kachelte drauflos und erzählte stundenlang Geschichten, und dann, in Stuart, wo Neal und ich Jahre später angehalten wurden, weil man uns verdächtigte, in einem gestohlenen Cadillac unterwegs zu sein, schlief er ein paar Stunden am Lenkrad. Ich schlief ebenfalls, ging dann ein wenig spazieren, an einsamen Backsteinmauern entlang, die von einer einzigen Laterne erhellt wurden, am Ende jedes Sträßchens brütete die Prärie, und der Maisgeruch hing wie Tau in der Nacht. Mit der Dämmerung fuhr er hoch. Wir dröhnten weiter, und nach einer Stunde stieg der Rauch von Des Moines über den grünen Maisfeldern auf. Er musste frühstücken und wollte es ruhig angehen lassen, also machte ich mich zu Fuß auf und wurde die restliche Strecke nach Des Moines, rund sechs Kilometer, von zwei Burschen von der Univ. of Iowa mitgenommen; ein komisches Gefühl, in ihrem brandneuen, gemütlichen Wagen zu sitzen und zuzuhören, wie sie über Prüfungen sprachen, während wir ohne Stocken in die Stadt einfuhren. Jetzt wollte ich einen ganzen Tag schlafen und dann nach Denver weiter. Ich fragte also im Y nach einem Zimmer, aber da gab es keins; instinktiv lief ich zu den Gleisanlagen runter – die gibt’s in Des Moines wie Sand am Meer –, endete in einem trübseligen alten Präriegasthaus unten beim Lokwendeschuppen und verschlief einen herrlichen langen Tag in einem großen, sauberen, harten, weißen Bett; neben dem Kopfkissen waren schmutzige Sprüche in die Wand geritzt, und vor der verrauchten Szenerie des Rangierbahnhofs hatte ich die klapprige Jalousie herabgezogen. Als ich aufwachte, wurde die Sonne schon rot; und das war der einzige Moment in meinem Leben, der seltsamste aller Augenblicke, wo ich eindeutig nicht wusste, wer ich war … ich war weit weg von zu Hause, geplagt und müde vom Reisen, in einem billigen Hotelzimmer, das ich noch nie gesehen hatte, hörte die Dampfloks draußen zischen und die alten Holzböden des Hotels knarzen, Schritte im Stockwerk über mir und all die kläglichen Geräusche, und ich sah zur rissigen Decke hoch und wusste bestimmt fünfzehn seltsame Sekunden lang nicht, wer ich war. Ich hatte keine Angst, ich war bloß jemand anders, ein Fremder, und mein ganzes Leben war ruhelos, das Leben eines Geistes … ich hatte halb Amerika durchquert, stand an der Wasserscheide zwischen dem Osten meiner Jugend und dem Westen meiner Zukunft, und vielleicht geschah es genau darum da und dann an jenem seltsamen roten Nachmittag. Aber ich musste weiter und das Jammern lassen, also schnappte ich mir den Reisesack, sagte dem alten Hotelier, der neben seinem Spucknapf saß, tschüs und ging essen. Ich aß Apfelkuchen mit Eis – je weiter ich nach Iowa reinkam, desto besser wurde er, der Kuchen größer und das Eis sahniger. Wohin ich in Des Moines an jenem Nachmittag auch sah, ich erblickte die schönsten Mädchenscharen – sie gingen aus der Highschool nach Hause, aber ich hatte jetzt keine Zeit für solche Gedanken und nahm mir für Denver wilde Ausschweifungen vor. Allen Ginsberg war schon in Denver; Neal war dort, Hal Chase und Ed White waren dort, es war ihre Heimatstadt; Louanne war dort; die Rede ging von einer großen Gruppe, zu der auch Bob Burford gehörte und seine bildschöne blonde Schwester Beverly; zwei Krankenschwestern, die Neal kannte, die Schwestern Gullion; und sogar Allan Temko war dort, mein alter Schreibgenosse von der Uni. Ich freute mich auf sie alle. Also lief ich an den schönen Mädchen vorbei, und die schönsten Mädchen der Welt leben in Des Moines, Iowa. Ein Verrückter mit einer Art Werkzeugschrank auf Rädern, einem Lieferwagen voller Werkzeuge, den er wie ein moderner Milchmann im Stehen fuhr, nahm mich mit den langen Hügel hoch; oben wurde ich sofort von einem Farmer und seinem Sohn aufgelesen, die nach Adel in Iowa unterwegs waren. Dort lernte ich unter einer großen Ulme in der Nähe einer Tankstelle einen anderen Anhalter kennen, der mich den Großteil der restlichen Strecke begleiten sollte. Er war noch dazu ein typischer New Yorker, ein Ire, der die meiste Zeit seines Berufslebens einen Wagen für die Post gefahren hatte und jetzt zu einem Mädchen in Denver und einem neuen Leben unterwegs war. Ich glaube, er lief vor irgendwas in NY weg, wahrscheinlich dem Gesetz. Er war ein junger, vielleicht 30-jähriger Spritter mit roter Nase und hätte mich normalerweise angeödet, nur war ich jetzt gerade scharf auf jede Art von menschlicher Bekanntschaft. Er trug einen zerschlissenen Pulli und eine Schlabberhose und hatte kein Gepäck dabei – nur eine Zahnbürste und Taschentücher.
Er schlug vor, wir sollten zusammen weitertrampen. Ich hätte ablehnen sollen, weil er so abgerissen aussah. Aber wir blieben zusammen und wurden von einem wortkargen Mann nach Stuart, Iowa, mitgenommen, eine Stadt, in der ich richtig stranden sollte. In Stuart standen wir vor dem Fahrkartenkiosk am Bahnhof und warteten auf Verkehr Richtung Westen, bis die Sonne unterging, gut fünf Stunden lang … erst schlugen wir mit Geschichten über uns die Zeit tot, dann erzählte er Schmuddelgeschichten, und schließlich kickten wir nur noch Kieselsteine durch die Gegend und gaben alberne Geräusche aller Art von uns. Wir langweilten uns; ich beschloss, ein Bier auszugeben; wir gingen in einen lärmerfüllten Macho-Saloon in Stuart und genehmigten uns ein paar. Er betrank sich wie nur je in einer Ninth-Avenue-Nacht zu Hause und brüllte mir fröhlich all die schmutzigen Träume seines Lebens ins Ohr. Irgendwie mochte ich ihn; nicht weil er ein netter Kerl war, was er später auch beweisen sollte, sondern weil er so begeisterungsfähig war. In der Dunkelheit stellten wir uns wieder an die Straße, aber natürlich hielt keiner, und es gab auch kaum noch Verkehr. Das ging bis drei Uhr morgens so; eine Weile versuchten wir, auf der Bank vor dem Fahrkartenschalter zu schlafen, aber der Telegraph tickte die ganze Nacht, und wir konnten nicht schlafen, und draußen machten große Güterzüge Krach. Wir wussten nicht, wie man richtig auf einen schnellen Güterzug aufspringt, hatten so was noch nie gemacht, wussten nicht, ob sie nach Osten oder Westen fuhren, wie man das rausfinden konnte, welche Güterwagen sich eigneten und so weiter. Und als dann kurz vor Tagesanbruch der Bus nach Omaha durchkam, stiegen wir in den ein und gesellten uns zu den schlafenden Reisenden – dafür gab ich fast mein ganzes restliches Geld aus, für sein Fahrgeld und meines. Er hieß Eddie. Er erinnerte mich an einen angeheirateten Vetter aus Brooklyn. Deshalb blieb ich mit ihm zusammen. Es war, als hätte man einen alten Freund dabei … einen dämlich grinsenden, gutmütigen Kerl, mit dem man herumalbern konnte. Als die Sonne aufging, erreichten wir Council Bluffs; ich sah hinaus; den ganzen Winter über hatte ich von den vielen Planwagen gelesen, die sich hier versammelt hatten, bevor der Treck nach Oregon und Santa Fe begann; jetzt gab es natürlich nur noch schnuckelige Vorstadthäuschen, die in der tristen grauen Dämmerung alle gleich scheußlich aussahen. Dann Omaha und bei Gott mein erster richtiger Cowboy, der an den trostlosen Mauern der riesigen Fleisch-Lagerhallen entlangging, einen großen Zehngallonenhut auf dem Kopf und texanische Stiefel an den Füßen. Er sah genauso aus wie jeder verlotterte Typ morgens an den Backsteinmauern im Osten, wäre da nicht die Aufmachung gewesen. Wir stiegen aus dem Bus und gingen direkt den Hügel hoch, den langgestreckten Hügel, den der mächtige Missouri im Lauf der Jahrtausende gebildet hatte, an dessen Flanken Omaha erbaut wurde, kamen aufs Land und streckten den Daumen aus. Ein kurzes Stück bis zur nächsten Kreuzung nahm uns ein reicher Rancher mit einem Zehngallonenhut mit, der sagte, das vom Platte gebildete Tal von Nebraska wäre genauso groß wie das Niltal in Ägypten, und während er das sagte, sah ich in der Ferne die großen Bäume am gewundenen Flussbett und die weiten grünen Felder um sie her und war fast zu seiner Ansicht bekehrt. Während wir dastanden und Wolken aufzogen, rief uns ein anderer Cowboy, eins achtzig groß und mit einem bescheidenen Halbgallonenhut, und wollte wissen, ob einer von uns fahren könne. Eddie konnte natürlich fahren, und er hatte einen Führerschein und ich nicht. Der Cowboy hatte zwei Autos dabei, die er nach Montana zurückfahren wollte. Seine Frau schlief in einem Motel in Grand Island, und wir sollten den einen Wagen dorthin fahren, wo seine Frau ihn übernehmen würde. Er würde von dort nach Norden weiterfahren, deshalb konnten wir nicht weiter mitkommen. Aber das waren bestimmt 300 Kilometer nach Nebraska rein, und wir waren natürlich sofort dabei. Eddie fuhr allein, der Cowboy und ich folgten, und kaum hatten wir die Stadt hinter uns, jagte Eddie seinen Wagen aus purem Übermut auf 140 km/h hoch. «Herrschaften, was macht der Bengel denn da!», rief der Cowboy und raste hinterher. Es wurde fast ein Wettrennen. Erst dachte ich, Eddie wolle mit dem Wagen abhauen – und vielleicht hatte er das auch vor. Aber Old Cowboy ließ nicht locker, holte ihn ein und hupte. Eddie bremste. Der Cowboy hupte erneut, damit er stehen blieb. «Verdammt, Junge, du holst dir noch n Platten, wenn du so rast. Kannst du nicht ein bisschen langsamer fahren.» – «Ich werd nicht mehr, bin ich echt hundertvierzig gefahren?», sagte Eddie. «Hab ich auf der schnurgeraden Straße hier gar nicht gemerkt.» – «Lass es einfach ein bisschen ruhiger angehen, dann kommen wir auch alle heil in Grand Island an.» – «Geht klar.» Und wir fuhren weiter. Eddie hatte sich beruhigt, vielleicht wurde er sogar müde. Wir fuhren also 300 Kilometer quer durch Nebraska und folgten dem gewundenen South Platte mit seinen grünen Feldern. «In der Depression», erzählte der Cowboy, «bin ich mindestens einmal im Monat auf Güterzügen mitgefahren. Damals gab es Hunderte von Männern, die auf Flachwagen oder in Kastenwagen mitfuhren, und das waren nicht bloß Landstreicher, das waren alle möglichen Arbeitslosen, die hier und da neue Jobs suchten oder einfach so auf Wanderschaft waren. Das ging im ganzen Westen so. Die Bremser haben einen damals nie belästigt. Keine Ahnung, wie das heute ist. Nebraska kann mir gestohlen bleiben. Mitte der Dreißiger war die Gegend hier nichts als eine große Staubwolke, so weit das Auge reichte. Man konnte kaum atmen. Der Boden war schwarz. Ich hab’s selbst erlebt. Von mir aus können sie Nebraska den Indianern zurückgeben. Ich hasse diese Walachei mehr als jede andere Gegend der Welt. Heute bin ich in Montana zu Hause, Missoula. Komm da mal hin, und du siehst Gottes Land.» Später am Nachmittag, als er genug erzählt hatte – er konnte fesselnd erzählen –, schlief ich ein und konnte mich erholen. Wir hielten an der Straße, um auszuruhen und einen Happen zu essen. Der Cowboy ließ einen Ersatzreifen flicken, und Eddie und ich setzten uns in einen einfachen Imbiss. Ich hörte ein schallendes Lachen, das tollste Lachen der Welt, und dann kam so ein alteingesessener raubeiniger Farmer aus Nebraska mit einem ganzen Trupp junger Burschen in den Imbiss; sein heiseres Geschrei war über die ganze Ebene zu vernehmen, über ihre ganze graue Welt an diesem Tag. Alle stimmten in sein Lachen ein. Er kannte keine Sorgen und respektierte trotzdem jeden. Ich sagte mir, «Donnerwetter, hör dem Mann beim Lachen zu. Das ist der Westen, hier bin ich im Westen». Dröhnend betrat er den Diner und rief schon von weitem nach Maw, und Maw backte den besten Kirschkuchen von ganz Nebraska, und ich aß welchen mit einer gigantischen Kugel Eis obendrauf. «Maw, mach mir mal schnell was zu essen, bevor ich mich selbst roh verspachteln muss oder irgend so was Blödes», und er plumpste auf einen Hocker und machte «Har har har har! Und schmeiß gefälligst Bohnen rein». Es war ganz einfach der Geist des Westens, der da neben mir saß. Ich hätte zu gern sein ganzes raues Leben gekannt und gewusst, was zum Teufel er all die Jahre gemacht hatte, außer so zu lachen und zu brüllen. «Mannomann», machte meine Seele, und der Cowboy kam zurück, und weiter ging’s nach Grand Island. In null Komma nichts waren wir da. Er holte seine schlafende Frau ab und fuhr den weiteren Wechselfällen seines Lebens entgegen, und Eddie und ich setzten unseren Weg fort. Wir wurden von jungen Leuten mitgenommen, von Viehtreibern, Teenagern, Jungen vom Lande in alten Klapperkisten, und irgendwo an der Strecke im Nieselregen wieder ausgesetzt. Dann nahm uns, Gott weiß warum, ein alter Mann mit, ein großer Schweiger, und brachte uns nach Preston, Nebraska. Hier stand Eddie verlassen auf der Straße, vor sich eine gaffende Gruppe gedrungener Omaha-Indianer, die da rumstanden wie bestellt und nicht abgeholt. Auf der anderen Seite der Straße verliefen Gleise, und auf dem Wassertank stand «Preston». «Ich werd nicht mehr», sagte Eddie verblüfft, «die Stadt kenn ich doch. Das ist Jahre her, aber im Scheißkrieg bin ich irgendwann spätabends, als alle gepennt haben, zum Rauchen auf den Bahnsteig raus, und da standen wir am Ende der Welt, alles rabenschwarz, und ich seh hoch und da steht ‹Preston› auf dem Wassertank … unterwegs zum Pazifik, alle schnarchten, bis zum letzten Volltrottel, und wir standen nur ein paar Minuten und haben bekohlt oder so, und schon ging’s weiter. Scheiße, Mann, dies Preston! – Seitdem hass ich das Kaff!» Und jetzt saßen wir in Preston fest. Genau wie in Davenport, Iowa, gehörten irgendwie alle Wagen Farmern; ab und zu mal ein Auto mit Touristen, was noch schlimmer war, weil die alten Männer fuhren und ihre Frauen ihnen die Sehenswürdigkeiten zeigten oder Landkarten studierten, und alle saßen da wie in ihren Wohnzimmern in ganz Amerika und machten misstrauische Gesichter. Der Nieselregen wurde stärker, und Eddie fror; er hatte herzlich wenig an. Ich zog ein kariertes Wollhemd aus dem Reisesack, und er warf es über. Da fühlte er sich etwas besser. Ich war erkältet. In irgendeinem windschiefen Indianerladen kaufte ich Hustenbonbons. Ich ging zu dem kleinen Postamt aus Holzlatten und schrieb meiner Mutter eine Penny-Postkarte. Wir gingen zurück an die graue Straße. Plötzlich sahen wir ihn vor uns, den Schriftzug «Preston» auf dem Wassertank. Der Rock-Island-Express raste vorbei. Wir sahen die verschwommenen Gesichter der Reisenden in den Pullman-Waggons. Der Zug pfiff über die Ebenen zum Ziel unserer Sehnsucht. Es regnete immer stärker. Aber ich wusste, dass ich hinkommen würde. Ein großer, schlaksiger Mann mit einem Gallonenhut hatte seinen Wagen auf der falschen Straßenseite angehalten und kam zu uns herüber; er wirkte wie ein Sheriff. Im Stillen bereiteten wir unsere Ausreden vor. Er ließ sich Zeit. «Jungs, seid ihr irgendwohin unterwegs, oder seid ihr einfach bloß unterwegs?» Wir verstanden seine Frage nicht, dabei war es eine verdammt gute Frage. «Warum?», fragten wir. «Na, ich hab ein paar Kilometer die Straße runter einen kleinen Jahrmarkt aufgebaut, und ich suche Burschen, die anpacken können und Lust haben, ein bisschen Kasse zu machen. Ich hab ne Roulette-Lizenz und ne Ringwurf-Lizenz, die Sorte, die man nach Puppen wirft und damit sein Glück versucht. Wenn ihr für mich arbeiten wollt, bekommt ihr 30 % der Einnahmen ab.» – «Kost und Logis?» – «Ihr könnt ein Bett haben, aber kein Essen. Verpflegen müsst ihr euch in der Stadt. Wir sind viel unterwegs.» Wir überlegten. «Ist ein gutes Angebot», sagte er und wartete geduldig ab, wie wir uns entscheiden würden. Wir kamen uns blöd vor, wussten nicht, was wir sagen sollten, und ich zumindest hatte keine Lust, bei einem Jahrmarkt hängenzubleiben, wo ich es doch so eilig hatte, zu den Freunden in Denver zu stoßen. Ich sagte, «ich weiß nicht, ich hab’s wahnsinnig eilig und hab dafür eigentlich keine Zeit». Eddie sagte dasselbe, und der alte Mann winkte, schlenderte lässig zu seinem Wagen zurück und fuhr davon. Und damit hatte es sich. Wir lachten eine Weile und malten uns aus, wie das wohl gewesen wäre. Ich stellte mir dunkle Staubnächte in der Prärie vor, die Gesichter von vorbeiziehenden Familien aus Nebraska, meistens Provinzler, deren rosige Kinder ehrfürchtig alles bestaunten, und ich wusste, ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich sie mit all den billigen Rummelplatztricks betuppt hätte, die einem da so beigebracht werden … und das Riesenrad hätte sich in der Dunkelheit des Flachlands gedreht, und Herrgott, die traurige Musik des Karussells, und ich wollte doch bloß an mein Ziel … und hätte in einem vergoldeten Wohnwagen auf einem Bett aus Sackleinen geschlafen. Eddie stellte sich als ziemlich zerstreuter Straßenkumpan heraus. Ein komisches altes Gefährt rollte heran, gefahren von einem alten Mann, das war aus einer Art Aluminium, viereckig wie ein Karton, zweifellos ein Trailer, aber ein verrückter selbstgebauter Nebraska-Trailer, und er fuhr ganz langsam und hielt an. Wir liefen hin; er sagte, er könne nur einen mitnehmen; ohne ein Wort sprang Eddie auf einen Blick von mir hinein und juckelte auf und davon, in meinem alten karierten Wollhemd, genau dem, in dem ich die erste Hälfte meines Buchs geschrieben hatte. Na ja, hin ist hin, sagte ich mir und schrieb das Hemd in den Wind, es hatte sowieso nur ideellen Wert, und außerdem sollte ich es weiter die Straße hinab zurückbekommen, obwohl ich das noch nicht wusste. Lange Zeit wartete ich in diesem gottserbärmlichen Preston, mehrere Stunden; ich dachte immerzu, es würde Nacht, aber in Wirklichkeit war es noch früher Nachmittag, wenn auch schon dunkel. Denver, Denver, wie sollte ich je nach Denver kommen. Ich wollte gerade aufgeben und mich mit einem Kaffee in einen Imbiss setzen, als ein ziemlich neuer Wagen stehen blieb, in dem ein junger Mann saß. Ich rannte wie verrückt. «Wo wollen Sie hin?» – «Denver.» – «Da kann ich Sie hundertsechzig Kilometer weit mitnehmen.» – «Großartig, Sie sind mein Lebensretter.» – «Ich bin früher auch getrampt, deshalb nehm ich jeden mit.» – «Würd ich auch machen, wenn ich ein Auto hätte.» So kamen wir ins Reden, er erzählte von seinem Leben, das nicht besonders spannend war, und ich schlief ein und wachte kurz vor der Stadt North Platte wieder auf, wo er mich absetzte. Und ich dachte an nichts Besonderes, als die beste Mitfahrgelegenheit meines Lebens des Weges kam, ein Kleinlaster mit offener Pritsche, auf der sich schon sieben Burschen ausstreckten, und die Fahrer, zwei junge blonde Farmer aus Minnesota, nahmen einfach jeden mit, den sie an der Straße fanden – das lachendste, fröhlichste Paar stattlicher Hinterwäldler, das man sich nur wünschen konnte, beide in Baumwollhemden und Overalls, sonst nichts, beide muskulös und aufrichtig, mit breitem Wie-geht’s-Lächeln für alles und jeden, der ihnen über den Weg lief. Ich rannte hin und fragte, «gibt’s noch Platz?» Sie sagten, «klar, immer rauf, da ist Platz für alle». Ich kletterte hinauf. Ich war überrascht von der Leichtigkeit der ganzen Sache, war noch gar nicht ganz auf der Pritsche, da brauste der Laster schon los, ich taumelte, ein Mitfahrer packte mich, und ich setzte mich. Jemand ließ eine Flasche mit einem Rest Fusel rumgehen. Im wilden, lyrischen Geniesel von Nebraska trank ich einen großen Schluck. «Jippieh, weiter geht’s!», johlte ein Junge mit Baseballmütze, und sie jagten den Laster auf hundertzehn hoch und überholten alle auf der Straße. «Wir sind seit Omaha mit den Kerlen unterwegs. Die Jungs halten nirgends. Ab und zu musst du ‹Pinkelpause› brüllen, sonst musst du in die Luft pissen und dich dabei festhalten, Bruder, immer schön festhalten.» Ich sah mir die Gesellschaft an. Da waren zwei Farmerjungen aus North Dakota in roten Baseballmützen, was in North Dakota die Standardkopfbedeckung für Farmerjungen ist, und die waren zur Ernte unterwegs: Ihre alten Herren hatten sie einen Sommer lang auf Wanderschaft geschickt. Dann waren da zwei junge Städter aus Columbus, Ohio, Footballspieler von der Highschool, die Kaugummi kauten, blinzelten, im Fahrtwind sangen und sagten, sie würden den Sommer lang durch die USA trampen. «Wir fahren nach LA!», riefen sie. «Was wollt ihr denn da?» – «Na, Mensch, keine Ahnung. Wen interessiert’n das?» Dann war da ein großer, schlanker Mann, der Slim hieß und aus Montana kam, wie er sagte, und der hatte was Verschlagenes. «Kommst’n her?», fragte ich; ich lag neben ihm auf der Ladefläche, sitzen konnte man nicht, ohne runtergeschuckelt zu werden; Klappen gab es nicht. Und er drehte sich langsam zu mir, machte den Mund auf und sagte, «Mon-ta-na». Und schließlich waren da Mississippi Gene und sein Schützling. Mississippi Gene war ein kleiner dunkler Typ, der auf Güterzügen durchs Land fuhr, ein vielleicht dreißigjähriger Hobo, aber von so jugendlichem Aussehen, dass sich sein Alter nur ungefähr schätzen ließ. Der saß im Schneidersitz auf den Brettern und ließ über Hunderte von Kilometern seinen Blick über die Felder schweifen, ohne ein Wort zu sagen, aber schließlich wandte er sich doch an mich und fragte, «willst’n hin?» – «Denver», sagte ich. «Da hab ich ne Schwester, hab ich aber schon seit Jahren nich gesehn.» Er sprach klangvoll und langsam. Er hatte Geduld. Sein Schützling war ein sechzehnjähriger großer Blonder, ebenfalls in Hoboklamotten, das heißt, sie trugen Lumpen, die vom Ruß der Eisenbahnen, dem Dreck der Güterwagen und dem Schlafen auf der Erde schwarz geworden waren. Der blonde Jugendliche war ebenfalls still und schien vor irgendwas abzuhauen, und das dürfte das Gesetz gewesen sein, so stur, wie er geradeaus sah und sich bedrückt mit der Zunge über die Lippen fuhr. Sie saßen nebeneinander, stille Kumpane, und sprachen mit keinem sonst ein Wort. Die Bauernjungen und die Jungs von der Highschool langweilten sie; Montana Slim allerdings sprach sie manchmal mit sarkastischem und vielsagendem Grinsen an. Die beiden überhörten das einfach. Slim hatte was Verlogenes. Ich hatte Angst vor seinem langen Trottelgrinsen, das er einem ins Gesicht bleckte und fast schon schwachsinnig aufrechterhielt. «Hast du Geld?», fragte er mich. «Nee, Mann, es reicht vielleicht grade für ein Pint Whiskey, bis ich in Denver bin. Und du?» – «Ich weiß, wo ich was auftreiben kann.» – «Wo denn?» – «Überall. Man kann doch immer einen Mann in eine Gasse locken, oder?» – «Ja, nehm ich mal an.» – «Ich steh da nicht drüber, wenn ich dringend Knete brauch. Will nach Montana zu meinem Vater. In Cheyenne muss ich von der Karre runter und anders weiterkommen, die beiden Irren hier fahren nach Los Angeles.» – «Durch?» – «In einem Rutsch – wenn du nach L.A. willst, hast du die richtigen gefunden.» Das ließ ich mir durch den Kopf gehen, und die Vorstellung, die Nacht über durch Nebraska und Wyoming zu karriolen, am Vormittag durch die Wüste von Utah und am Nachmittag dann wahrscheinlich durch die von Nevada, hätte wegen der realen Chance, in absehbarer Zeit in Los Angeles, Kalifornien, anzukommen, fast meine Pläne über den Haufen geworfen. Aber ich musste nach Denver. Ich musste also auch in Cheyenne runter und von dort aus die 140 Kilometer nach Süden bis Denver trampen. Ich war froh, als die beiden Farmerjungen aus Minnesota vorn im Führerhaus zum Essen in North Platte anhielten; ich wollte sie mir mal ansehen. Sie stiegen aus der Kabine und grinsten uns an. «Pinkelpause!», sagte der eine. «Essen fassen!», sagte der andere. Sie waren aber die Einzigen von uns mit Geld für eine richtige Mahlzeit. Wir alle dackelten hinter ihnen her in ein von einem Haufen Frauen geführtes Restaurant und gönnten uns Hamburger, während sie riesige Mahlzeiten verdrückten, ganz als säßen sie daheim in Mutters Küche. Sie waren Brüder, transportierten Landwirtschaftsmaschinen aus Los Angeles nach Minnesota und machten damit richtig Asche. Und auf den Leerfahrten an die Küste nahmen sie dann alle mit, die an der Straße standen. Das hatten sie jetzt rund fünfmal gemacht und fanden einen Heidenspaß daran. Alles gefiel ihnen. Sie lächelten ununterbrochen. Ich wollte mit ihnen reden – eigentlich ein blöder Versuch, mich mit den Kapitänen unsres Schiffs anzufreunden, und ich hatte auch keinen Grund, denn sie behandelten die ganze Mannschaft mit dem gleichen Respekt –, aber die einzige Reaktion, die ich bekam, bestand aus zwei zu sonnigem Lachen verzogenen Mündern mit großen weißen, maisgenährten Zähnen. Alle hatten sich im Restaurant zu ihnen gesetzt bis auf die beiden Hobos Gene und seinen Jungen. Als wir zurückkamen, saßen sie immer noch einsam und verlassen auf dem Laster. Es wurde dunkel. Die Fahrer rauchten; ich wollte die Gelegenheit nutzen und eine Flasche Whiskey kaufen, um mich im kalten Fahrtwind der Nacht zu wärmen. Sie grinsten, als ich ihnen Bescheid sagte. «Mach, aber beeil dich.» – «Ihr könnt auch was abhaben!», versicherte ich ihnen. «O nein, wir trinken nicht, aber mach ruhig.» Montana Slim und die beiden Highschool-Jungs kamen mit durch die Straßen von North Platte, bis wir einen Whiskeyladen gefunden hatten. Sie steuerten was bei, Slim auch, und ich kaufte eine Flasche. Finstere, hochgewachsene Männer sahen uns aus Häusern mit Pseudofassaden nach; die Hauptstraße wurde von viereckigen Wohnkartons gesäumt. Jede einzelne triste Straße gewährte Ausblick auf die unendliche Prärie. Ich spürte, dass in der Luft von North Platte irgendwas anders war, kam aber nicht drauf, was. Fünf Minuten später wusste ich’s. Wir kehrten zum Laster zurück und brausten davon, wieder mit der gleichen Geschwindigkeit. Es wurde schnell dunkel. Alle genehmigten sich einen Schluck, und plötzlich sah ich hoch: Die grünen Felder des South Platte verschwanden, und an ihre Stelle trat flaches Ödland aus Sand und Salbei, das sich bis zum Horizont erstreckte. Ich war perplex.
«Was zum Teufel ist das denn?», rief ich Slim zu. «Hier fängt das Weideland an, Junge. Gib mal was zu trinken.» – «Jippieh!», brüllten die Highschool-Jungen. «Columbus, mach’s gut! Was würden Sparkie und die Jungs sagen, wenn die hier wären. Hurra!» Die Fahrer vorne hatten gewechselt; der frische Bruder trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Auch die Straße änderte sich; bucklig in der Mitte, mit unbefestigten Randstreifen und daneben metertiefen Gräben, und der Laster holperte und schlingerte von einer Seite zur anderen, auf wundersame Weise aber nur, wenn uns gerade keine Autos entgegenkamen, und ich dachte, wir würden uns noch überschlagen. Aber die beiden waren phantastische Fahrer. Auf der ganzen Strecke von Minnesota nach Los Angeles mit seinen Palmen wechselten sie sich am Steuer ständig ab, ohne je länger als zehn Minuten Essenspause zu machen. Wie der Laster die vorspringende Ecke von Nebraska überwand! – die Ausbuchtung, die über Colorado hinausragt. Und bald wurde mir klar, dass ich tatsächlich über Colorado war, offiziell noch nicht ganz drin, aber doch mit Blick nach Südwesten Richtung Denver, das nur noch ein paar hundert Kilometer entfernt lag. Ich jubelte vor Freude. Wir ließen die Flasche kreisen. Die hellfunkelnden Sterne kamen heraus, und die weit zurücktretenden Sandhügel verblassten. Ich fühlte mich wie ein Pfeil, der über die ganze Strecke hinwegschießen konnte. Und plötzlich wandte sich Mississippi Gene aus seiner geduldigen Traumverlorenheit im Schneidersitz an mich, machte den Mund auf, beugte sich ganz nah zu mir und sagte, «die Ebenen hier erinnern mich an Texas». – «Kommst du aus Texas?» – «Nein, Sir, ich komme aus Green-vell, Muzz-sippy», so sprach er das aus. «Und wo kommt der Junge her?» – «Der hat in Mississippi irgend n Mist gebaut, und ich hab angeboten, dass ich ihm aus der Klemme helf. Der Junge war noch nie allein