Operation Werwolf - Blutweihe - Uwe Klausner - E-Book

Operation Werwolf - Blutweihe E-Book

Uwe Klausner

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Beschreibung

Berlin im Juli 1941. Ein Serienmörder versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Die Opfer werden grausam verstümmelt und obwohl die Fahndung auf Hochtouren läuft, tappen die Ermittler im Dunkeln. Um ihn bloßzustellen, wird Tom von Sydow, Kommissar bei der Mordinspektion Berlin, von seinem Vorgesetzten genötigt, den Fall zu übernehmen. Dabei deckt er Verbindungen des Täters auf, die um keinen Preis nach außen dringen dürfen. Verbindungen, die bis in die Reihen der Gestapo reichen, und die den Jäger zum Gejagten werden lassen …

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Uwe Klausner

Operation Werwolf – Blutweihe

Kriminalroman

Zum Buch

Ehrenkodex Berlin im Juli 1941, knapp zwei Jahre nach Kriegsbeginn. Ein Serienmörder versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Die Opfer werden grausam verstümmelt und obwohl die Fahndung der Kripo auf Hochtouren läuft, ist ein Ende der „Operation Werwolf“ nicht in Sicht. Um den renitenten Kollegen bloßzustellen, wird Tom von Sydow, Ermittler bei der Mordinspektion Berlin, von seinem Vorgesetzten genötigt, den brisanten Fall zu übernehmen. Dank seiner Verbindungen zur Halbwelt gelingt es dem Ermittler dann auch bald, dem gewieften Psychopathen auf die Spur zu kommen, dessen Opfer sich aus Fahrgästen der S-Bahn-rekrutieren. Dabei deckt er Verbindungen des Täters auf, die um keinen Preis nach außen dringen dürfen. Mit dem Ergebnis, dass Sydow nicht nur bei seinen Vorgesetzten, sondern auch bei Gestapo-Chef Heydrich ins Fadenkreuz gerät. Der Jäger wird zum Gejagten. Nicht lange, und Sydows Leben hängt am seidenen Faden.

Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt Uwe Klausner mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter „Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder“, „Prophet der letzten Tage“, „Mensch, Martin!“ und erst jüngst „Anonymus“, ein Zweiakter über die Autorenschaft der Shakespeare-Dramen, der 2019 am Martin-Schleyer-Gymnasium in Lauda uraufgeführt wurde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-6646-5

Vorbemerkung

Die Idee für den Roman entstand während der Lektüre von Sachbüchern zum Thema »Serientäter im Dritten Reich«, unter ihnen der als »S-Bahn-Mörder von Berlin« bekannt gewordene und des Mordes in acht Fällen für schuldig befundene Paul Ogorzow (1912-1941).

An der Fiktionalität der Handlung änderte dies jedoch nichts.

Die Namen der Mordopfer und der Ermittler aus den Reihen der Kripo Berlin wurden geändert.

Personen der Zeitgeschichte werden unter ihren angestammten Namen aufgeführt.

FIKTIVE CHARAKTERE

(alphabetisch)

 

Eberhard Derpa, Revierleiter

Paul Hanke, Polizeibeamter

Max Jakubeit, Unterscharführer des SD der SS

Erich Kalinke, Kriminalassistent und Sydows rechte Hand

Hertha Krause alias ›Bijou‹, Animierdame im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Emil Leschek, genannt Hantel-Emil, Türsteher im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Hagen Mertz, Kriminalobersekretär der Gestapo

Herbert Michalski, Kriminalassistent und stellvertretender Leiter der Spurensicherung

Adele Mürwitz, Pensionärin

Adolf Peschke, Frührentner

Erna Pommerenke alias ›Tante Lola‹, Grande Dame der Berliner Halbwelt

Karl Prittwitz, Oberbahninspektor

Friedbert Schultze-Maybach, Sydows Vorgesetzter und Leiter der Kriminalgruppe M der Kripo Berlin

Ava Schumann, Revue-Tänzerin

Tom von Sydow, Kommissar der Kripo Berlin

Theodor Wattke, Leiter der Spurensicherung

Heinz Wischulke, Sanitätsgefreiter

REALE CHARAKTERE

Reinhard Heydrich (1905–1942), Chef des RSHA

Heinrich Himmler (1900–1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der Deutschen Polizei

DIE BERLINER S-BAHN 1931

 

ERSTES BUCHBLUTWEIHE

»Die Nazi-Partei duldete keine kriminellen Banden neben sich. Sie machte Berlin zur Kommandozentrale von Verbrechen einer ganz neuen Dimension: der staatlich gedeckten Entwürdigung, Freiheitsberaubung, Ausplünderung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen.«

(Michael Bienert / Elke Linda Buchholz, Die Zwanziger Jahre in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt, Berlin 2018, S. 255)

KYRIE

Requiem aeternam dona eis, domine,

Ewige Ruhe gib ihnen, Herr,

Ad te omnis caro veniet.

Zu dir wird kommen alles Fleisch.

Kyrie eleison,

Herr, erbarme Dich,

Christe eleison,

Christus, erbarme Dich,

Kyrie eleison.

Herr, erbarme Dich.

(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem in d-Moll [KV 626])

*

»Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer sich selbst von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.«

(Adolf Hitler in einer Rundfunkansprache am 1. September 1939)

FREITAG, 8. SEPTEMBER 1939

1

Ostoberschlesien, Region Kattowitz

09:15 Uhr

»Ich zähle jetzt bis drei. Entweder du kommst raus, oder die Bude fliegt dir um die Ohren!«

Die Drohung verhallte ungehört. Kein Laut, auch nicht das leiseste Geräusch. Jetzt war guter Rat teuer. Auf die Tour kam er hier nicht weiter.

Aber egal. Er konnte auch anders. Die Rotzgöre würde sich noch wundern. Wenn sie nicht spurte, na wenn schon. Dann war es das eben gewesen. Wie du mir, so ich dir. Da kannte er nichts. Auch wenn sich das Luder querstellte, er saß am längeren Hebel. Wer nicht für die SS war, der war gegen sie.

Hopp oder topp.

Sie hatte die Wahl.

An der unsichtbaren Front, das würde die Kleine noch zu spüren bekommen, herrschten andere Gesetze. Ihn nach Strich und Faden verarschen, das würde ihr so passen. Da musste sich das Miststück einen Dümmeren suchen.

Die Schlampe war reif, so reif wie noch was.

Aber gewieft bis zum Gehtnichtmehr. Ein Grund mehr, vor ihr auf der Hut zu sein.

»He, du da drin, bist du taub, oder was?« Nichts ging mehr. Die Mühe hätte er sich sparen können. Aus dem Kühlschuppen, wo sich das gerissene Weibsstück verbarrikadiert hatte, drang kein Laut zu ihm nach draußen. »Mach kein Theater, du hast sowieso keine Chance!«

Der Uniformierte in Feldgrau, laut Ärmelraute Unteroffizier des SD der SS, nahm Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Egal wie, für die Frechheit würde das Luder büßen. Erst machte es ihm schöne Augen, und dann, nachdem die Masche nicht funktioniert hatte, kratzte es einfach die Kurve.

Der 26-jährige Blondschopf, Arier wie aus der Rassekundefibel, fluchte halblaut vor sich hin. Das hatte er nun davon. Peinlich, wenn er sich von so einer hinters Licht führen ließ. Absolut peinlich. Aber was konnte man von Juden auch erwarten. Im Guten kam man bei dem Pack nicht weiter.

»Mach keine Zicken, die Nummer zieht bei mir nicht!« Von wegen Leute wie du und ich. Das Gesocks hatte es faustdick hinter den Ohren. Egal wo, es lief überall aufs Gleiche raus. Die Juden verstanden nur eine Sprache, nämlich die des Stärkeren. Wer das Gegenteil behauptete, der war bekloppt.

Mitleid?

Auch nicht die Spur davon.

Wenn er eins gelernt hatte, dann dies: Vor dem Abschaum musste man sich in Acht nehmen. Sonst landete man auf der Schnauze.

Am besten, er machte Nägel mit Köpfen, fackelte nicht lange, trat die Tür ein und zeigte dem Flittchen, was Sache war. Falls es sich noch nicht herumgesprochen hatte, mit der SS war nicht zu spaßen.

Und mit ihm, dem Unterscharführer z.b.V., schon gar nicht. Je eher die Göre das einsah, desto besser. Falls nicht – nun ja, auch egal. Die Kleine würde den Kürzeren ziehen.

So oder so.

Und dort landen, wo sie hingehörte – hinter Gittern. Aber nur, wenn sie Glück hatte.

Wenn nicht, ihr Problem.

Ein Schuss aus seiner 08, aus kürzester Distanz, im Idealfall schräg von oben. Ohne viel Tamtam – und ohne groß zu überlegen. Hart bleiben, kontrolliert handeln, die Emotionen auf den Gefrierpunkt runterfahren. Und Skrupel, so es sie gab, ignorieren.

So weit also Regel Nummer eins.

Falls das nichts half, auf Pervitin war Verlass. Es hieß zwar, es gäbe Leute, bei denen das, was hier ablief, keine Spuren hinterließ. Mag sein, da war etwas dran, aber wozu sich den Kopf zerbrechen, wenn es einfacher ging. Ein, zwei Pillen, und die Welt sah wieder anders aus. Ein Lob auf den Herrn Stabsarzt, die Dinger hatten es in sich. Wirkten wahre Wunder, je größer die Dosis, desto weniger Fracksausen. Und falls mal keine zur Hand waren, ein Schluck aus dem Flachmann tat es auch. In der Not fraß der Teufel bekanntlich Fliegen – und der Landser soff sich einen an.

Oder pumpte sich bis zum Anschlag mit Drogen voll.

Im Dienst oder nicht, betäubt lebte es sich nun mal besser.

So weit, Herr Unterscharführer, Regel Nummer zwei.

»Na schön, du miese kleine Hure, ich habe dich gewarnt.« Hart sein, den inneren Schweinehund überwinden, die Befehle ohne Wenn und Aber ausführen. Ob besoffen oder unter Drogen, da musste er durch. Schwächlinge waren hier absolut fehl am Platz.

»Wart’s ab, dir werde ich die Flausen austreiben.« Allmählich hatte er die Faxen dicke. Befehl war schließlich Befehl. Ärger hatte er schon genug am Hals.

Regel Nummer drei: Besser, du heulst mit den Wölfen. Dann sparst du dir eine Menge Scherereien.

Na dann mal los, bringen wir es hinter uns.

Exekution per Genickschuss, und die Sache ist geritzt.

Wäre doch gelacht, wenn er mit der Zicke nicht fertigwerden würde. Und überhaupt: Eine Tote mehr, wen juckte das schon. Dies war der dritte Einsatz innerhalb von acht Tagen, eine Aktion der besonderen – oder besser: der heiklen – Art. Das Kommando war überall dort aufgetaucht, wo es brenzlig wurde, und was die Zivilisten betraf, die dabei draufgingen, das ging ihm sonst wo vorbei. Allein heute, acht Tage nach dem Einmarsch, waren es Dutzende, wenn nicht gar Hunderte gewesen, darunter Frauen und Kinder, Letztere in der Mehrzahl. Wozu dann das Kopfzerbrechen, im Krieg herrschten andere Gesetze. Eine Tote mehr oder weniger, darauf kam es doch nun wirklich nicht mehr an.

Ein Judenbalg, der dran glauben musste. Wen außer ein paar Klageweibern interessierte das schon.In ein paar Tagen würde kein Hahn mehr nach der Kleinen krähen.

Jede Wette.

»Na schön, du hast es so gewollt!« Dann eben nicht. Er konnte auch anders. Nur noch zwei, drei Handgriffe, ein kurzer, aber heftiger Ruck an der Abrissschnur, Deckung auf der Kellertreppe, damit er nichts abbekam, in Erwartung des Feuerzaubers von zehn zurück bis null zählen – und der Göre würde Hören und Sehen vergehen.

Stilhandgranaten waren doch was Feines, für knifflige Fälle wie geschaffen.

Und überhaupt, die Polen. In dem Punkt hatte er noch eine Rechnung offen. Er war sich im Klaren, was auf ihn zukam, anders als so mancher, der zu naiv war, um eins und eins zusammenzuzählen. Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Rücken der kämpfenden Truppe, insbesondere Spionageabwehr, Festnahme von politisch unzuverlässigen Personen, Beschlagnahme von Waffen, Sicherstellung von geheimen, militärisch bedeutsamen Unterlagen – so weit zumindest Heydrich, Chef der SIPO und des SD, Himmlers Hirn und nimmermüder Dämon. Was der Mann, vor dem selbst der Reichsführer kuschte, damit meinte, nun ja, das konnte man sich denken. Die Jagd war eröffnet, und was katholische Pfarrer, den Adel, Kommunisten und die sogenannten Intellektuellen betraf, mit denen wurde kurzer Prozess gemacht. Alles Abschaum, der es nicht verdiente, dass man sich mit ihm abgab, die Juden – um den Todfeind beim Namen zu nennen – nicht zu vergessen. Im Ganzen an die 60.000 Reichsfeinde, die wie Freiwild zu Tode gehetzt wurden, mit Billigung von ganz oben, damit auch alles seine Richtigkeit hatte.

Mit anderen Worten, es gab viel zu tun.

Eine Jüdin unter vielen, wen kümmerte das schon.

Eins durfte man nämlich nicht vergessen. Die Polen hatten seinen Vater auf dem Gewissen. Im entscheidenden Moment war der Leiter der Musikhochschule in Danzig am falschen Ort gewesen und in eine Schießerei zwischen der Bürgerwehr und polnischen Milizen geraten. Das hatte ihn das Leben gekostet, einfach so, weil er per Zufall zwischen die Fronten geraten war. Der gestrengen Mutter, Klavierlehrerin und heimliche Herrscherin im repräsentativen Domizil am Dominikanermarkt, war daraufhin nichts anderes übriggeblieben, als die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Eine Weile hatte sie sich und die vierköpfige Familie über Wasser halten können, doch nur wenige Jahre später, nach dem Zusammenbruch der Börse in New York, war es mit rasender Geschwindigkeit bergab gegangen. Die Schüler blieben aus, und nur noch ein paar Wenige, darunter Nachbarn, Freunde und Bekannte, konnten es sich leisten, ihre Kinder zum Musikunterricht zu schicken.

Vor zehn Jahren, kurz vor seinem 19. Geburtstag, brach seine Welt endgültig zusammen. Aufgrund des Votums eines jüdischen Sachverständigen hatte der Magistrat der Freien Stadt Danzig dem privaten Institut die Anerkennung entzogen. Für das Konservatorium bedeutete das den finanziellen Ruin, für seine Mutter den Anfang vom Ende ihres Lebens. Exakt ein Jahr nach dem Tag des Zorns hatte die stets spröde und distanziert wirkende Tochter aus alteingesessenem Haus Suizid begangen. Tod durch Erdrosseln, herbeigeführt mithilfe einer Klaviersaite, wie sollte es auch anders sein.

Er selbst hatte sich wieder hochgerappelt, mühsam zwar, doch mit unermüdlicher Energie. Vergessen war die Heimsuchung jedoch nicht – bis heute, mehr als ein Jahrzehnt danach. Der Tag der Abrechnung war gekommen, und es gab niemanden, der ihm jetzt, wo es ans Eingemachte ging, in die Quere kommen würde.

Ein Juden-Flittchen, das um Gnade winselte, schon gar nicht.

Die Handgranate scharf machen, von zehn rückwärts bis null zählen und abwarten, was passierte.

Um der Göre eine Lektion zu erteilen.

Und zwar eine, die sie nicht vergaß.

Na dann mal los, die Zeit drängte. Viel Feind’, das wussten schon die Altvorderen, viel Ehr’.

Ein Schluck aus dem Flachmann, dann konnte es losgehen.

Zehn, neun…

Und außerdem, eins durfte man nicht vergessen. Er und die Kameraden vom »Kommando Werwolf«, nur knapp drei Dutzend Auserwählte, in puncto Kaltblütigkeit jedoch ohne Beispiel, alle miteinander mussten sie ihren Mann stehen. Denn einer musste die Dreckarbeit ja machen, wenn schon nicht die Generalstäbler in Zossen, dann eben die Treuesten der Treuen, Himmlers Eingreiftruppe hinter der Front. ›Meine Ehre heißt Treue‹, so stand es auf der Gürtelschnalle der SS geschrieben. Egal, was passierte, ob abseits des Kampfgeschehens oder in vorderster Linie. Was das betraf, waren die Rollen klar verteilt. Hier die vier Einsatzgruppen, wenn es hochkam, maximal 3.000 Mann, bis in die Zehenspitzen motiviert, darunter SD, Zielfahnder der Kripo, SIPO oder Waffen-SS. Und weiter vorn, bei der kämpfenden Truppe, die Bilderbuch-Soldaten, sprich: all jene, die es nicht abwarten konnten, in die Wochenschau zu kommen. Die nicht genug Mumm besaßen, reinen Tisch zu machen, und sich obendrein für etwas Besseres hielten. Für nichts und wieder nichts in den Schlagzeilen, so gut hätte er es mal haben sollen. Um im Anschluss, als Belohnung für ihre Ruhmestat, mit dem Ritterkreuz dekoriert zu werden.

So einfach war das.

Ein Orden, das wäre es gewesen. Eichenlaub mit Schwertern und Brillanten zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.

Acht, sieben …

Aber davon, wie von einem Auftritt in der Wochenschau, im Hintergrund das Schmettern der Siegesfanfaren, konnten er und der Rest der Truppe nur träumen. Was hier ablief, das hatte mit Landser-Romantik nichts zu tun. Nicht im Geringsten. Geheime Reichssache, das sagte ja schon alles. Als ob man den Einsatz, der unweigerlich in ein Massaker ausarten würde, auf Dauer hätte verheimlichen können. Hier, auf einem tristen Hinterhof in einer noch tristeren Kleinstadt im polnisch besetzten Teil von Schlesien, wo knapp die Hälfte Juden waren, hier wurde nicht lange gefackelt. Hier wurden Nägel mit Köpfen gemacht, und wem das nicht passte, für den würde es ein böses Erwachen geben.

Sofern er die Blutweihe überlebte.

Sechs, fünf …

Ein Judenflittchen mehr oder weniger, wen kümmerte das schon.

Die Hand am Futteral seiner 08, atmete er hastig durch. Der Tag, an dem er es den Polacken zeigen würde, war gekommen, und kein Hahn würde danach krähen. Schon gar nicht die Briten und Franzosen, die zwar groß rumgetönt, bislang aber keinen Finger gerührt hatten. Im Westen Sitzkrieg, und im Osten Blitzkrieg, so lautete die Losung für den Tag.

Und wenn sie sich noch so sehr ins Zeug legten, die Polacken würden den Kürzeren ziehen. Nur noch ein, zwei Wochen und die Sache war gelaufen.

Jede Wette.

Vier, drei …

Aus sicherer Entfernung, die Mauser DRP 98 im Anschlag, richtete er den Blick nach vorn. Die Wolken, rußfarben wie der Putz, der von den Wänden der baufälligen Mietshäuser abblätterte, spiegelten sich auf dem mit Öllachen übersäten Hof, und aus der Ferne hallten Schreie und Gewehrsalven an sein Ohr. Weiter nördlich, unweit des Flusses und dem Gekreische nach zu urteilen nur eine Querstraße entfernt, musste die Synagoge liegen, und es bedurfte keiner Fantasie, um sich das, was dort ablief, vor Augen zu führen. Am renitentesten, das zum Thema Erfahrung, waren nicht etwa die Vogelscheuchen im Kaftan, in der Mehrzahl Graubärte, die sich wie Vieh zur Schlachtbank treiben ließen. Mit wenigen Ausnahmen, das lehrte die Erfahrung, wussten die Betbrüder mit den Ringellocken Bescheid. Gott Jehova, so es ihn denn gab, hatte sie im Stich gelassen. An Widerstand war nicht zu denken, und wer nicht auf den Kopf gefallen war, wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Und fügte sich in sein Schicksal. Die Frauen freilich, die Judengöre im Kühlschuppen eingeschlossen, waren aus gänzlich anderem Holz geschnitzt.

Zwei, eins …

Veranstalteten ein Tamtam, dass dir Hören und Sehen verging.

Zogen sämtliche Register, um dem Teufel von der Schippe zu springen.

Nur noch mal kurz Luft holen, dann ging es zur Sache. Getreu dem Befehl, hart durchzugreifen, würde er nicht lange fackeln. Und im Anschluss möglichst schnell die Fliege machen. Schließlich wusste man ja nie, er wäre nicht der Erste, den man wegen Übergriffen auf Zivilisten vor den Kadi gezerrt hätte. Aber was soll’s, damit musste er in seiner Situation rechnen. So war nun mal der Lauf der Welt, und wer keine Scheuklappen trug, der wusste, wie der Hase lief. Einmal angenommen, der Krieg ginge verloren – schwer vorstellbar, wenngleich nicht gänzlich auszuschließen –, dann würden sie für das, was sie hier anrichteten, zur Verantwortung gezogen werden.

Und dann Gnade ihnen Gott.

Eins und die …

Verflucht, jetzt wurde es aber langsam Zeit.

Mag sein, er bildete sich das nur ein, aber wie er so auf der verrußten Kellertreppe kauerte, da war ihm, als läge Blutgeruch in der Luft, vermischt mit dem Gestank, der aus der Tür der Metzgerei ins Freie drang.

Koscheres Fleisch, zum Abgewöhnen.

Also wirklich, diese Brut hatte den Leibhaftigen im Leib. Am besten, man jagte das ganze Viertel in die …

Null!

Die Explosion, die wie der Einschlag eines Blitzbündels von den Wänden widerhallte, war stärker als erwartet, und es dauerte, bis sich der beißend scharfe Qualm verzog. Wie erwartet war der Hof von Trümmerteilen übersät, und um zum Schuppen zu gelangen, musste er über verkohlte Balken, Schutt und Backsteinhaufen klettern. Die Luft, eine Mischung aus Staub, verbranntem Fleisch und Rußpartikeln, die wie Schneeflocken auf ihn herabrieselten, raubte ihm fast den Atem, und wie der Blick auf eine zerborstene Fensterscheibe bewies, waren die Schweißringe unter der Uniformjacke nicht zu übersehen.

Und seine Atemzüge, die von einer Turbulenz in die nächste taumelten, nicht zu überhören.

Es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wider sonstige Gewohnheiten hatte er Muffe. Und das wahrhaftig nicht zu knapp. Warum gerade hier und nicht irgendwo anders, konnte er sich nicht erklären.

An der Schlampe, die ihn mit schreckgeweitetem Rehblick musterte, konnte es jedenfalls nicht liegen. Dem Anschein nach zu urteilen war die Kleine höchstens 17, wenn nicht gar jünger. Ihrem Aussehen, das ihn an eine Orientalin erinnerte, tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Je länger er die im Erblühen begriffene Schönheit betrachtete, die sich laut hustend vom staubbedeckten Boden aufrappelte, wie von Sinnen vor ihm zurückwich und den Rücken an die schwarz-weiß gekachelte Wand presste, desto ungestümer der Drang, der von ihm Besitz ergriff. Und desto heftiger das Pulsieren in den Lenden, gegen das kein Kraut gewachsen schien. Es war schon eine Weile her, seit er eine Frau an Land gezogen hatte – nichts Ernstes, ein harmloses Techtelmechtel. Der übliche Ringelpietz mit Anfassen, zu mehr war die Dame nicht bereit gewesen.

Warum sich also nicht ein wenig amüsieren, bevor er dem Weibsbild eine Kugel durch den Kopf jagte. Was sein Nachholbedürfnis betraf, kam ihm die Unschuld vom Lande wie gerufen.

Dunkles, im Dämmerlicht wie Ebenholz glänzendes Haar, das auf die schmalen und vor Angst zusammengezogenen Schultern fiel. Bedeckt von einem dunklen Kleid mit weißem Spitzenkragen, das ihn an die Uniform eines Mädchenpensionats erinnerte. Die Augen, ebenfalls schwarz und von sanft geschwungenen Lidern unter wie Pagoden anmutenden Brauen überwölbt, nicht zu vergessen.

Eine richtige Schönheit, die Kleine. Und viel zu hübsch, um wie die fettleibigen Matronen an die Wand gestellt zu werden.

Unehrenhaft oder nicht, ab und zu musste man auch an sich denken.

Na los, wenn schon, denn schon.

So schnell kommt die Gelegenheit nicht wieder.

»Na, wen haben wir denn da!«, hörte er sich mit erstickter Stimme hecheln, während er sich zögernd, aber wachsam heranpirschte, die Rinderhälften im Blick, die von der Decke des verwüsteten Kühlschuppens baumelten. Merkwürdig genug, dass sie nichts abbekommen hatten, aber jetzt, da er in den Genuss von Frischfleisch käme, absolut trivial. Sollten die Juden doch in sich reinstopfen, was sie wollten, die Henkersmahlzeit sei den Bastarden gegönnt.

Der eine mochte es gern zart, der andere lieber zäh. Egal wie, Hauptsache, man kam auf seine Kosten.

So jung, und schon so verführerisch. Um nicht zu sagen aufreizend.

Um nicht zu sagen scharf.

Im Bann der verschüchterten Schönheit, für die es jetzt, wo er sie wie eine Ware taxierte, kein Entrinnen gab, entledigte er sich seines Karabiners, lockerte den Hemdkragen und heftete sich an die Fersen seines Opfers, hinter den Fleischhälften, von wo aus ihm der Geruch von geronnenem Blut entgegenschlug, nur noch in Umrissen zu erkennen. Der Kühlschuppen war größer, als es von außen den Anschein hatte, die Luft stickig, abgestanden und schal. Aber das, genau wie die Staubpartikel, die wie ein Vorhang an den gekachelten Wänden klebten, tat der Vorfreude, die ihn ergriff, keinen Abbruch. Ungeachtet der Konsequenzen, ob Endstation Knast oder Arbeitslager, den Spaß ließ er sich nicht verderben. Die Herren Offiziere, allen voran der Sturmbannführer, die konnten ihn alle mal. Die Sippschaft im Palais Prinz Albrecht eingeschlossen. Ohne Nervenkitzel, für ihn das Salz in der Suppe, konnte man den Einsatz an der Front vergessen. Kein Wunder, wenn man dazu vergattert wurde, für den Rest der Truppe die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Wie pflegten die alten Römer doch zu sagen: Carpe diem – nutze den Tag.

Und amüsiere dich, so oft es geht.

Am Kopfende des Schuppens angelangt, stützte er sich auf einen Hacktisch, durchzogen von tiefen Rillen, die von regem Gebrauch durch die Benutzer kündeten. Die Blutflecken, die einen neueren Datums, die anderen matt und fahl, waren nicht zu übersehen, aber das kümmerte ihn einen Dreck. Das Pochen in seiner Schläfe, beim Anblick der jungen Frau heftiger denn je, steigerte sich zu einem wilden Klopfen, und wie er sie so musterte, schoss ihm der Schweiß wie ein Sturzbach über den Rücken.

Die Kleine war reif, so reif wie noch etwas.

Dachte er zumindest.

Die Hand auf dem Hacktisch, schoss ihm das Blut fontänenartig in den Kopf, von jetzt auf nachher, wie Lava vor der Eruption. Die Sicht verschwamm ihm vor den Augen, und er hatte Mühe, auch nur halbwegs klar zu denken. Fakt war, käme das, was er im Sinn hatte, heraus, dann wäre er die längste Zeit bei der SS gewesen. Die Juden in Scharen abzuknallen, das konnte ja noch angehen. Dazu war er ja schließlich hier, mit Billigung von höchster Stelle. Aber sich mit einer ihrer Frauen einzulassen, noch dazu mit einem halben Kind, das war schlimmer, als wenn man mit Stalin auf Sauftour ging. Und überhaupt, was hieß da schlimm, es war ein Unding. Es gab auch ein Wort dafür, dass wusste er nur zu gut. Nämlich »Rassenschande«, mit Betonung auf den letzten beiden Silben. Etwas Widersinnigeres, um nicht zu sagen Abartigeres, konnte es für einen SS-Mann nicht geben, und dementsprechend harsch würde man mit ihm umspringen. Käme heraus, was er sich geleistet hatte, könnte er von Glück sagen, wenn er in ein KZ verfrachtet wurde.

Und durfte sich nicht wundern, wenn man ihn an die Wand stellte.

Scheiß auf die Ehre, dafür kann man sich nichts kaufen.

Dann mal los. Man musste das Eisen schmieden, solange es heiß war.

Eine Melodie auf den Lippen, die er seit frühester Jugend kannte, flog ein zynisches Lächeln über sein Gesicht. Damals, bei der Aufführung des Requiems in der Marienkirche, als sein Vater den gemischten Chor dirigierte, damals war seine Welt noch heil gewesen. Tag der Tränen, Tag der Wehen, da vom Grabe wird erstehen zum Gericht der Mensch voll Sünden, lass ihn, Gott, Erbarmen finden.

Doch selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte die Uhr nicht mehr zurückdrehen.

Erbarmen zeigen, das kam überhaupt nicht infrage. Das war etwas für Schwächlinge. Für Leute, die zu feige waren, bis zum Äußersten zu gehen.

Auge um Auge. Im Umgang mit Juden genau das Richtige, die Sprache würden sie verstehen. Und was den alten Herrn da droben betraf, den man Gott oder sonst wie zu nennen pflegte, seine Tage waren ohnehin gezählt.

Ach was, sie waren vorbei.

Für immer.

Die Hand noch immer an der gleichen Stelle, horchte er verärgert auf. Auf dem Hof waren eilige Stiefeltritte zu hören, und er musste nicht lange herumrätseln, um wen es sich bei dem Spielverderber handelte. »Ach hier steckst du also!«, hörte er die Stimme in seinem Rücken plärren, zunächst mit Erleichterung, aber dann, beim Anblick der jungen Frau, zwischen Verunsicherung und Angst hin- und hergerissen. »Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank? Die Filetstücke sind für den Sturmbannführer reserviert, das weißt du so gut wie ich, also Finger weg, sonst kriegen wir den Wind von vorn!«

»Tu mir den Gefallen und kümmere dich um deinen eigenen Kram, verstanden?«

»Und was, wenn uns jemand verpfeift? Dir ist doch hoffentlich klar, was passiert, wenn …«

»Wenn was?«, fiel er seinem Stubenkameraden ins Wort, der den Mund vor Überraschung nicht zubekam, drehte den Kopf und funkelte ihn zähnefletschend an. Nicht schon wieder, schoss es ihm durchs Gehirn, und schon gar nicht jetzt, im Augenblick des Triumphs. Sanitätsgefreiter Heinz Wischulke, kurz »Qualle« genannt, hatte die Angewohnheit, immer dann aufzukreuzen, wenn man anderweitig beschäftigt war. Nicht unbedingt der Abgebrühteste unter der Sonne, und, das kam erschwerend hinzu, mit einer sentimentalen Ader ausstaffiert. »Darf man fragen, was dich das angeht, du alter Klugschei…«

Hätte er die Hand, die wie die Klaue eines sprungbereiten Raubtiers anmutete, nicht an Ort und Stelle gelassen, sein Leben wäre komplett anders verlaufen. Da er es aber nicht für nötig hielt, sich um 180 Grad zu drehen, musste er mit den Konsequenzen seines Leichtsinns leben.

Mehr schlecht als recht, aber das stand auf einem anderen Blatt.

Die Strafe folgte auf dem Fuß, so plötzlich, dass er glaubte, er befände sich in einem Traum.

Doch dem war nicht so. Obwohl er sich nichts Sehnlicheres wünschte.

Der Schmerz, der seinen angewinkelten rechten Arm durchzuckte, fühlte sich wie die Berührung einer Starkstromleitung an, und ihm war, als nähme die Tortur kein Ende. Nach Luft ringend, riss er den Mund sperrangelweit auf, doch der Schrei, von dem er sich Linderung erhoffte, blieb ihm in der Kehle stecken. Nie zuvor hatte er ein derartiges Martyrium durchlebt, ein Lodern, das ihn von Kopf bis Fuß erfasste. Alles um ihn herum, der gekachelte Boden, die Rinderhälften an der Wand, die Schlachtmesser auf dem Beistelltisch am Fenster, die Lampe, die wie ein Pendel von der Decke herabbaumelte, die Knorpelreste, Knochensplitter und Tierhaare auf dem Boden – all das geriet mit einem Mal ins Wanken, wie bei einem Erdbeben, vor dem es keine Zuflucht für ihn gab.

Und dann, beim Versuch, irgendwo Halt zu finden, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Blutlache auf dem Tisch, die sich in Sekundenschnelle ausbreitete, sie sprach eine allzu deutliche Sprache.

Der Mischmasch aus Knochen, Fingernägeln, Hautfetzen und zermanschtem Fleisch, dieser Brei war einmal seine rechte Hand gewesen. Abgetrennt von einem Hackmesser, das in Sichtweite vor ihm auf den Bodenfliesen lag.

Von dem Flittchen dagegen, das sich in Luft aufgelöst zu haben schien, keine Spur.

Und von Wischulke auch nicht, wie konnte es anders sein.

Der Ohnmacht nah, bäumte er sich entschlossen auf, die Uniform, dereinst sein Ein und Alles, mit Blutspritzern übersät.

Dafür würde die Kleine büßen, und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat. Ach woher, dafür würden ihm alle Frauen büßen.

Wen genau er sich vorknöpfte, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an.

DIES IRAE

Welch ein Zittern, welch ein Beben,

wenn zu richten alles Leben,

sich der Richter wird erheben!

(Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)

FREITAG, 20. SEPTEMBER 1940

2

Berlin-Köpenick, S-Bahnhof Rahnsdorf

23:18 Uhr

»Ist da noch frei, gnädiges Fräulein?«

Da war etwas in ihr, was sie zögern ließ. Eine Art Vorahnung, flüchtig und nur schwer in Worte zu kleiden.

Der Waggon war leer, wozu also das Getue. Von wegen gnädiges Fräulein. Die Zeiten waren längst vorbei. Wenn der Kerl mit ihr anbandeln wollte, den Zahn würde sie ihm ziehen. Von Männern hatte sie die Nase voll, und zwar ein für alle Mal. Egal wer, die konnten ihr gestohlen bleiben. Im Moment wollte sie nur noch eins, auf direktem Weg nach Hause. Ein, zwei Bissen essen und vor dem Zubettgehen eine rauchen. Zu mehr war sie heute Abend nicht imstande. Einfach nur heim, ab in die Falle, Augen zu und nichts mehr sehen oder hören. Und wenn es Willy Fritsch persönlich gewesen wäre, sie hätte ihrem Idol einen Korb gegeben.

Vielleicht lag es ja am Alter, aber nach der Spätschicht kam sie sich wie gerädert vor. Was Wunder auch, wenn man tagtäglich bis zum Umfallen malochte. Die Männer im Betrieb hatten einrücken müssen, die Ledigen zuerst, als Nächstes die Familienväter und zuletzt die Kollegen um die dreißig, also genau nach Plan. Ersatz war nicht in Sicht, und was die Fremdarbeiter aus den Ostgebieten betraf, die dachten nicht daran, sich aus Anhänglichkeit zum Führer ein Bein auszureißen. Wären auch schön dumm gewesen, wenn man es neutral betrachtete.

Und so war es gekommen, wie die Kolleginnen und sie es vorausgesehen hatten. Das Gros der Arbeit blieb natürlich an ihnen hängen, wie zu Hause, so auch am Fließband in der Fabrik. Jeder an seinem Platz, die Frauen an vorderster Front, und sei das Rad im Getriebe der Kriegsmaschinerie auch noch so klein. Allzeit bereit, um Führer, Volk und Vaterland zum Sieg über das perfide Albion zur verhelfen. Selbst dann, wenn man vor Müdigkeit kaum noch geradeaus gehen oder sich auf das, was um einen herum vorging, konzentrieren konnte.

Schuften an der Heimatfront, für gerade einmal 32 Reichsmark die Woche, Nachtzuschlag inklusive. Krankenversicherung selbstredend nicht.

Das hatte sie sich immer schon gewünscht.

»Ich störe doch nicht, oder?«

Obwohl, von Gefahr konnte keine Rede sein. Im Schein der Notlampen, die das Abteil in mattblaues Zwielicht tauchten, konnte sie den Mann auf dem Mittelgang zwar kaum erkennen. Aber das wollte nicht viel heißen, wer weiß, vielleicht war er ja ganz nett. Und was die abgedunkelten Fenster betraf, derentwegen man sich wie im Zoo vorkam, Vorschrift war nun mal Vorschrift. Ob es einem in den Kram passte oder nicht, die Devise lautete, friss oder stirb. Wenn es eine Lektion gab, die sie nach acht Jahren Nazi-Diktatur gelernt hatte, dann diese.

Und überhaupt, die ganze hirnlose Propaganda, und das, ginge es nach Goebbels, von der Wiege bis ins kühle Grab. »Der Feind sieht Dein Licht – verdunkeln!«, so stand es auf den Plakaten im Wartesaal geschrieben. Oder, noch einfühlsamer: »Licht ist Dein Tod!« Mit Verlaub, das war ja wohl ziemlich daneben, wenn nicht gar makaber. Die Luftwaffe über London, und dann so etwas. Wer da nicht stutzig wurde, bei dem war alles zu spät. Entweder es stimmte und die Nazis waren auf der Siegerstraße, oder es handelte sich um billige Parolen. Wahr oder nicht, im Sprücheklopfen waren die Parteibonzen Meister, das musste ihnen der Neid lassen. Auch wenn es kein Mensch mehr hören konnte, sie selbst am allerwenigsten.

Eins ließ sich nicht bestreiten, ob mit oder ohne rosa Brille. Der Krieg war längst noch nicht gewonnen, und wenn sich Goebbels auf den Kopf stellte, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Eines nicht allzu fernen Tages würde der Mephisto des Dritten Reiches die Quittung für das Blendwerk bekommen, darauf ging sie jede Wette ein.

Gedämpftes Licht, so weit das Auge des Betrachters reichte. Und nur handtellergroße Gucklöcher, um einen Blick aus dem Abteilfenster zu werfen. Merkwürdig, dass sie gerade jetzt, kurz vor dem Einnicken, den Wunsch nach Kontakt zur Außenwelt verspürte. Das sollte mal jemand verstehen, zumal sie jeden Quadratmeter entlang der Strecke kannte. Der Mond, hier und da ein paar Sterne, eine Limousine mit Abblendlicht, wie ein Trugbild von der Dunkelheit verschluckt, Umrisse von Lagerhallen, Fabrikschloten und Mietskasernen, warmes Licht hinter notdürftig abgedunkelten Fenstern, mehr wäre nicht zu erspähen gewesen. Und trotzdem war da dieser Drang, aus dem hermetisch abgeschotteten Abteil zu verschwinden, in Karlshorst oder wo auch immer auszusteigen und den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen.

An sich war der Gedanke absurd, denn wer weiß, was für Typen sich da draußen rumtrieben. Ob an dem Gerücht, ein Serienmörder laufe immer noch frei herum, etwas dran war, nun ja, das wollte sie nicht herausfinden.

Schuld an dem Schlamassel war der Krieg, mit der Meinung stand sie nicht allein. Selbst hier, in einem Abteil 2. Klasse auf der Strecke zwischen Erkner und dem Ostkreuz, hinterließ der Schlamassel seine Spuren. Um gegen Angriffe aus der Luft gefeit zu sein, so die Flut an Propagandaplakaten, dürfe kein Fitzelchen Licht aufblitzen. So weit, so gut. Das Gleiche galt für ihre Datsche, unweit des Betriebsbahnhofes in Rummelsburg gelegen und nur einen Katzensprung von der Haltestelle entfernt. Raus aus der S-Bahn, im Eiltempo durch die Unterführung, über die Fußgängerbrücke und den asphaltierten Weg am Rand des Bahndamms entlang. Und schon war sie in Nullkommanichts zu Hause. Dort, in der spartanisch möblierten Wohnlaube, hatte sie sich nach ihrer Scheidung mit den Kindern verschanzt, der Not gehorchend – und aus Angst, von einem Choleriker im Suff halb tot geprügelt zu werden.

»Ihnen ist doch nicht etwa schlecht, oder?«

Sie verneinte, und beim Klang der sonoren Stimme, Reminiszenz an den Kavalier alter Schule, löste sich ihr Unbehagen in Wohlgefallen auf. Der Mann würde ihr schon nichts tun, und wenn doch, sie würde sich ihrer Haut zu wehren wissen.

»Bitte!« Zu mehr und einer halbherzigen Geste konnte sie sich nicht durchringen, und als habe er mit nichts anderem gerechnet, nahm der Mann auf der gepolsterten Sitzbank Platz.

Gepflegte Manieren, stattlich, um nicht zu sagen attraktiv, vom Akzent her zwischen Masuren und Baltikum anzusiedeln, Arier wie aus dem Bilderbuch, dunkle Handschuhe, die Uniform der Reichsbahn tadellos in Schuss, kurzum: die Seriosität in Person. Von finsteren Absichten, geschweige denn Mordlust, keine Spur.

Hinter allem und jedem den Teufel vermuten, das sah ihr wieder mal ähnlich. Nicht jeder Mann, der mit der S-Bahn fuhr, hatte es auf Frauen abgesehen. Und nicht jeder Mann war so brutal wie das versoffene Wrack, auf das sie vor achteinhalb Jahren reingefallen war.

Das nur zum Thema Ängste, von denen sie ganze Arien schmettern konnte. Dass es jedoch Männer gab, die ihre schlimmsten Befürchtungen übertrafen, darauf wäre sie nie gekommen.

Auch jetzt nicht, trotz ungutem Gefühl.

Um auf Distanz zu gehen, warf sie einen Blick auf die Uhr. Im kalten Zwielicht, das dem Ambiente einen bizarren Beigeschmack verlieh, konnte sie die Ziffern zwar kaum erkennen. Doch die Geste erfüllte ihren Zweck.

Zumindest vorübergehend.

Schwarze Handschuhe, und das bei milden Temperaturen. Die rechte Hand deutlich größer als die linke, spitz wie die Klauen eines Wolfs. Und dann erst dieser Blick, fast wie bei Peter Lorre im Film »M«. Es war zwar schon ziemlich lange her, seit sie ihn im Kino gesehen hatte, doch an die Glubschaugen des Mörders konnte sie sich noch genau erinnern. Damals hatten sie ihr eine Höllenangst eingejagt, so sehr, dass sie Albträume davon bekam.

Welchen Untertitel hatte der Film doch gleich gehabt?

Genau.

»Eine Stadt sucht einen Mörder«.

Und jetzt das.