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Von Netzen, Systemen oder Räderwerken spricht der österreichische Komponist Friedrich Cerha (1926–2023) oft, wenn er seine Musik beschreibt. Hinter den Sprachbildern verbirgt sich eine ausgiebige Beschäftigung mit der Kybernetik, einer kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Universalwissenschaft, die auch in der Kunst großflächig Spuren hinterließ. Viele Zeitgenossen sahen in ihr vor allem eine technologische Verheißung, nicht so Cerha: Er spürte den übergeordneten, von der Kybernetik aufgeworfenen Problemen nach: Was hält ein System am Leben? Wie geht es mit Krisen um? Und welchen Veränderungen muss es sich stellen? Die vorliegende Moqnografie geht diesen Fragen nach und vergleicht die diversen, in Klang gesetzten Antwortversuche des Komponisten im Spiegel seiner Entwicklung. Dabei wird zugleich ein reicher Teil der Musikgeschichte nach 1945 beleuchtet. Das ermöglicht neue Perspektiven auf ein Werk, das sich selbst keinem alleinigem System unterwirft.
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Seitenzahl: 509
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Marco Hoffmann
Ordnung und Störung
Archiv der Zeitgenossen –
Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe, Krems
Schriften
Band 9
Zum Geleit – Matthias Henke
Dank
I. Orientierung im „Niemandsland“. Erste Wegweiser
Kybernetik – gestern und heute
Das Schaffen Friedrich Cerhas in neuem Licht
Methodik, Herausforderungen, Aufbau
II. Impulsverarbeitung.Akteure und Ideen der Kybernetik in Cerhas Sichtfeld
Hinter- und Vordergründe
Norbert Wiener und die Prägung der kybernetischen Theorie
System und Organisation als Schlüssel zu Cerhas Lektüre der Schriften Wieners
William Ross Ashby und die Modellierung des Gleichgewichts
Der Homöostat als poetologisches Programm für Cerha
Wolfgang Wieser und die Neubefragung des Organismus
Organizismus und Autopoiesis als Kategorien in Cerhas Synthese von Kybernetik und Kunstwerk
III. Expanded Culture. Die künstlerische Rezeption der Kybernetik in Nähe- und Distanzverhältnissen
Das kollektive Bewusstsein:
Kybernetik in der internationalen Kunstszene um 1960
„This Is Tomorrow“: Frühe kybernetische Kunst in Europa
Variationen: Das Expanded Cinema und die „9 Evenings“-Reihe in den USA
Das Entdeckungsfeld der Ausstellung „Cybernetic Serendipity“
„Kunst ist Störung der öffentlichen Ordnung“:
Zum Verhältnis von Wiener Avantgarde, Kybernetik und Gesellschaftskritik
Kybernetik in Cerhas musikalischem Umfeld
Entfernte Fixpunkte: Karlheinz Stockhausen und John Cage
György Ligetis unausgesprochene kybernetische Formpoetik
Das Wiener Studio für Elektronische Musik und ihr „Hexenmeister“
Ein „Meer von Signalen, Botschaften, Begriffen“: Anestis Logothetis’ Kybernetikon
Anschlussstellen und Spannungsfelder:
Ein Zwischenfazit zu Cerhas Kybernetik
IV. „Zwei Kulturen“ oder ein Urgrund? Kybernetische Phänomene aus Sicht der musikalischen Komposition
Zwischen Prozessplanung und Planprozess:
Positionen zur Beziehbarkeit von Kybernetik und Musikwerk
Konstruktionsversuch einer inszenierten kybernetischen Musik
Struktur der Ordnung: Homöostase
Mechanik der Verstärkung: Positive Rückkopplung
Mechanik der Hemmung: Negative Rückkopplung
Struktur der Störung: Heterostase
Vom „Soll“ und „Ist“. Abschließender Kommentar
V. Balanceakte. Cerhas Musik im Spiegel der Kybernetik
Eine kybernetische Werkgruppe?
Zum Entstehungszusammenhang einiger zentraler Kompositionen
Versuch und Irrtum? Intersecazioni für Violine und Orchester (1959/73)
Entwurf eines Systems? Zeit- und Klangzonen als strukturelles Gefüge
Kreuz und quer: Sprunghaftigkeit als Form
Diskussion des kybernetischen Gehalts
Die Idee des Superorganismus. Fasce für großes Orchester (1959/74)
Zum Verhältnis des Kleinsten zum Größten
Ausgangsbedingung und Urkonflikt
Selbstverstärkungsprozesse
Ausgleichprozesse
Diskussion des kybernetischen Gehalts
Ordnungen „in krisenhafter Auseinandersetzung“.
Exercises und Netzwerk (1962–67 / 77–79)
Musik als „vernetztes System“
Unterirdisches Geflecht:
Der Ursatz als doppelt inszenierte Systemschicht
Integration des Fremden:
Die Subsysteme und ihre Wechselwirkungen
Höhere Ordnungen?
Zum ‚Telos‘ der regulierten, musikalischen Organisation
Diskussion des kybernetischen Gehalts
VI. Musikgeschichtsschreibung als Spiegelbild – Zwei Ausblicke
Musik, die sich selbst beobachtet?
Cerhas „kybernetische“ Werkgruppe in diskursiver Reflexion
Ausweg aus der Sackgasse?
Zum historiografischen Potenzial des parallelen Lesens von Kybernetik- und Musikgeschichte
Verzeichnisse
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
Verzeichnis der Primärquellen
Alphabetisches Verzeichnis der weiteren Quellen
Mich interessiert nicht das perfekte Kunstwerk, das untadelige Funktionieren, die unausgesetzte Abwicklung eines Systems, sondern die Formung von Organismen, die imstande sind, auf veränderte Bedingungen zu reagieren, Störungen aufzufangen und Veränderungen in neue Ordnungen zu integrieren.
Friedrich Cerha, 1966
Die 2020 vollendete Dissertation von Marco Hoffmann „Ordnung und Störung. Kybernetische Strategien in der Musik Friedrich Cerhas“ verdankt ihre Existenz nicht zuletzt den „Sommerkolloquien Wachau“. Deren Ziel war es, Studierenden das ebenso umfangreiche wie vielschichtige Werk von Friedrich Cerha nahezubringen, sie aber auch im Umgang mit Archivalien zu schulen. Zu ebendiesem Zweck hatte sich das in Krems beheimatete, der Universität für Weiterbildung angehörende Archiv der Zeitgenossen, das den Vorlass des Komponisten betreut, mit dem Department Musik der Universität Siegen verbündet – ein erfolgreicher Schulterschluss, darf man sagen, gingen aus der Kooperation doch etliche akademische Abschlussarbeiten und Dissertationen hervor, die Cerhas Werk in den Mittelpunkt rückten. Motivierend für die jungen AutorInnen dürfte auch das Interesse gewesen sein, das ihnen der Komponist und seine Gattin Gertraud entgegenbrachten: Sie ließen es sich nicht nehmen, bei den Kolloquien stets anwesend zu sein und auf die Fragen der TeilnehmerInnen ausführlich einzugehen.
Angeregt durch die „Wachau“ stellte sich Marco Hoffmann vor einiger Zeit dem Vorhaben, eine Promotionsschrift über Cerha und die Kybernetik zu verfassen. Seine Entscheidung möchte man ohne Zögern eine mutige nennen. Denn einerseits hatte die Musikwissenschaft sich zwar mehrfach des Themas angenommen, aber insgesamt betrachtet doch eher marginal; andererseits war (und ist) der Gegenstand aufs Engste mit den verschiedensten Fächern verbunden, sodass es galt, ein nur schwer zu durchschauendes Geflecht von methodischen Ansätzen und Wissensbeständen zu durchforsten, die hier etwa historischer, dort naturwissenschaftlicher, andernorts wiederum philosophischer Natur sind. Schließlich und hauptsächlich aber wollte das erklommene Erkenntnisplateau auf seine Tauglichkeit überprüft sein: Sind die ermittelten Fakten, die georteten Zusammenhänge dem Verständnis von Cerhas Kompositionspraxis und seinem speziellen Verständnis von Schöpfertum dienlich? Bei der Beantwortung gerade dieser Frage hat Hoffmann Hervorragendes geleistet, indem er die vielen Argumentationsstränge seiner Arbeit und die aufgezeigten Horizonte konsequent engführte. Im letzten Drittel seiner Untersuchung stellt er eine „kybernetische Werkgruppe“ vor: drei Orchesterwerke Cerhas, Intersecazioni (1959/73), Fasce (1959/74) und Exercises (1962–67) sowie das aus Letzteren hervorgehende Bühnenstück Netzwerk (1978–80) – mit dem Ziel, deren „kybernetischen Gehalt“ zu sichten, also zu prüfen, ob die einschlägigen, zuvor eingehend behandelten Phänomene wie Rückkopplung, Störung oder Stabilitätskonzepte sinnvoll auf die gewählten Partituren anwendbar sind. Hier kommt dem Autor seine tiefe Vertrautheit mit dem Vorlass des Komponisten zugute, mit einem Quellen-material, innerhalb dessen die Skizzen eine aufschlussreiche Schicht bilden. Folglich gelingt es Hoffmann nicht nur, Cerhas mehrfach geäußertes Bekenntnis zur Kybernetik zu verifizieren, sondern auch darzulegen, wie kreativ dessen Umgang mit ihr war: Schließlich offenbaren die genannten Werke, so der Autor, einen immer wieder anderen Umgang mit den Ordnung-Störung-Prinzipien der Kybernetik, sodass man meinen könnte, Cerha habe auf seine Weise dem ‚Wiederholungsverbot‘ der Wiener Schule entsprochen.
Marco Hoffmann hat mit seiner Untersuchung einen tragenden Baustein der Cerha-Forschung geschaffen, der künftigen MusikwissenschaftlerInnen als Motivationsschub und Wegweiser dienen möge, ebenso wie das vom Land Niederösterreich geförderte, unter meiner Leitung stehende Projekt Cerha Online (es ging 2021 ans Netz), bei dem er ein unverzichtbarer Mitarbeiter war. Wie tragfähig sich die Achse zwischen dem Archiv der Zeitgenossen und der Universität Siegen erwies, spiegelt sich auch, das darf hier nicht verschwiegen werden, in der Verleihung der Ehrendoktorwürde (2017) an Friedrich Cerha durch die Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste) wider.
Matthias Henke, im Januar 2023
Die wenigsten Dissertationen sind Spontangeburten und so hat auch der vorliegende Text eine längere Vorgeschichte. Den entscheidenden Anstoß für eine vertiefte wissenschaft-liche Auseinandersetzung mit dem Komponisten Friedrich Cerha gab – nunmehr vor fast zehn Jahren – Prof. Dr. Matthias Henke (Historische Musikwissenschaft, Universität Siegen). Ihm sei an dieser Stelle in besonderem Maße gedankt. Das erste von ihm initiierte Wachauer Sommerkolloquium im Jahr 2013 erwies sich als Türöffner in die Schatzkammer des „Archivs der Zeitgenossen“. Damals gehörte der Vorlass von Friedrich Cerha (neben dem des Schriftstellers Peter Turrini) noch zu den einzigen dort aufbewahrten künstlerischen Sammlungen. Nicht nur das größtenteils unerforschte Material, auch die sinnlich wie intellektuell starke Musik Cerhas erzeugten schnell einen Sog. Dass ich mich in den darauffolgenden Jahren jedoch derart konsequent mit Cerha weiter beschäftigte, ist Matthias Henke zu verdanken. Er verstand es nicht nur, den besonderen kulturhistorischen Wert des Vorlasses zu erkennen und zu vermitteln, sondern mich auch allgemein für die musikwissenschaftliche Forschung zu begeistern. Ohne seine wertvolle, fachliche Betreuung, die zugleich genügend Freiheiten zuließ, sowie die akribische Lektüre meines Textes wäre diese Arbeit nicht denkbar. Prof. Dr. Nikolaus Urbanek (Universität für Musik und darstellende Künste Wien) möchte ich herzlich für die Zweitbegutachtung und die vielen Anregungen danken.
Ein besonderer Dank gilt Friedrich und Gertraud Cerha. Ihre Bereitschaft, meine Fragen geduldig zu beantworten und mir aus erster Hand einen Einblick in die spannende, zuweilen mit blinden Flecken übersäte Geschichte der Neuen Musik in Österreich zu verschaffen, hat zum Gelingen der Arbeit einen entscheidenden Beitrag geleistet. Für die persönlichen Gespräche, die teils schwierige Kommunikation in pandemischen Zeiten und die wohlwollend-kritische Begleitung meines Projekts sei ihnen herzlich gedankt.
Einen großen Dank möchte ich an das gesamte Team des „Archivs der Zeitgenossen“ aussprechen, deren Unterstützung für die Entstehung des Textes von substanzieller Bedeutung war. Im Besonderen sei Gundula Wilscher für das großzügige Übermitteln von Material und die fachliche Expertise bei der Recherche von Archivalien gedankt. Weiterhin danke ich Reinhard Widerin für das akkurate Verzeichnen der Privatbibliotheksbestände Cerhas und seine dahingehende Unterstützung meines Projekts. Auch Dr. Martina Kalser-Gruber möchte ich für die zuverlässige Betreuung in Sachen Archivalien danken. Dr. Christine Rigler gilt mein Dank insbesondere für die Ermöglichung eines mit dem Dissertationsvorhaben verknüpften Reisestipendiums. Dr. Helmut Neundlinger danke ich außerdem für seine wertschätzende Unterstützung während der finalen Phase der Publikationsvorbereitung. Dem „Archiv der Zeitgenossen“ als Institution bin ich zu besonderem Dank für die Chance verpflichtet, meinen Text in dieser Schriftenreihe zu veröffentlichen und auch die dafür anfallenden Druckkosten zu übernehmen.
Im Weiteren sei Kurt Schwertsik und Peter Weibel für die persönliche Auskunft in Bezug auf spezielle Fragen gedankt. Joachim Diederichs möchte ich nicht nur für wertvolle Hinweise auf einige wichtige Aspekte des Diskurses, sondern auch für die freundliche Bereitstellung von hilfreichem Material danken. Dem Archiv des NDR sowie demjenigen des Internationalen Musikinstitut Darmstadt danke ich für die unterstützende Recherche zu weiteren Dokumenten.
Im größeren Kontext möchte ich Prof. Martin Herchenröder (Universität Siegen) für zahlreiche Anregungen (auch kompositionspraktischer Art) im Bereich der zeitgenössischen Musik danken. Auf sein breites Engagement ist mein leidenschaftliches Interesse für die Neue Musik zu großen Teilen zurückzuführen. Meinen Kolleg:innen im wissenschaftlichen Betrieb möchte ich für den vielfältigen und (nicht nur fachlich) anregenden Austausch danken. Ein großer Dank gilt auch meinem Partner Felix Engelhardt für seine Bereitschaft, Teile des Textes in verschiedenen Stadien der Genese mit großer Sprachsensibilität Korrektur zu lesen. Meiner Familie möchte ich herzlich für die ideelle Unterstützung meiner akademischen Laufbahn und die jahrzehntelange Förderung musikalischer Bildung danken. Zuletzt sei Verena Friedl vom StudienVerlag für die Betreuung in Sachen Drucklegung gedankt.
Kurz nach Fertigstellung des Buchmanuskripts für den Verlag ist Friedrich Cerha im Alter von 96 Jahren in Wien verstorben. Diese Arbeit soll seinem unermesslichen Verdienst für die österreichische Musik- und Kulturlandschaft Tribut zollen.
Keiner weiß, was Kybernetik ist – so heißt eine schon 1968 erschienene populärwissenschaftliche Abhandlung jener Disziplin, deren Gedanken und Konzepte im Zentrum dieser Arbeit stehen.1 Ironisch kokettieren die Autoren Rolf Lohberg und Theo Lutz hier mit einer nicht von der Hand zu weisenden Begriffsverwirrung2 angesichts immer zahlreicherer Bezugsbereiche, die seit den späten 1940er Jahren an die Kybernetik geknüpft wurden. Vor kaum einem Fachgebiet machte die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufene Universalwissenschaft Halt: Sie besetzte als Modelltheorie, aber auch als Weltbild Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Politik- und Gesellschaftswissenschaft, Pädagogik, Theologie oder Mathematik, um nur einige zu nennen. Doch auch die Künste blieben von ihr nicht unberührt: Kybernetische Poesie, Architektur, Grafik – und auch Musik – bildeten sich mit jeweils eigenen ästhetischen Ansätzen nach und nach heraus. Die multidisziplinäre Ausrichtung folgt dabei einem Leitsatz des Kybernetik-‚Vaters‘ Norbert Wiener, der in seinem Grundlagenwerk Cybernetics beschreibt, dass „die für das Gedeihen der Wissenschaft fruchtbarsten Gebiete jene waren, die als Niemandsland zwischen den verschiedenen bestehenden Disziplinen vernachlässigt wurden“.3
Ein Grund für die verwendungspraktischen Unsicherheiten des Begriffs, der von Grund auf Verschiedenes unter ein Dach zu bringen versuchte, mag im so gearteten Anspruch der Allbeziehbarkeit liegen. Ein weiterer liegt zweifellos in den bunten, zukunftsweisenden Bildern, die das inhärente, utopische Potenzial evozierte. Sie prägen noch heute mit der Kybernetik assoziierte, klischeehafte Vorstellungen ebenso wie ein stereotypes Menschenbild, unterfüttert von behavioristischen Anschauungen über Blackbox-Wesen und deren In- wie Output. Auf dem Buchdeckel der jüngsten Reprint-Ausgabe von Wieners Cybernetics4 sind etwa zwei Hälften eines stilisierten Gehirns abgebildet – die rechte Hälfte ist als biologisches Organ erkennbar, die linke zeigt elektronische Schaltkreise. Vielfach abgeleitet wurde und wird aus dieser Verstrebung die Reduktion des Menschen auf seine ‚nackte‘ Funktionsfähigkeit. Ein solches Menschenbild hatte Wiener selbst gar nicht beabsichtigt, bewies er doch in zahlreichen Schriften eine große Sensibilität für die Conditio humana und damit verknüpfte ethische wie soziale Fragen. Die Analogiebildung zwischen menschlichen und mechanischen Vorgängen forderte eine gewisse Irritation jedoch heraus, vergegenwärtigt man sich die Explosionskraft, die von Wieners revolutionären Zeilen ausgeht:
Ich behaupte nun, daß die Arbeitsweisen des lebenden Individuums und die einiger neuerer Kommunikationsmaschinen völlig parallel verlaufen. Bei beiden sind sensorische Empfänger eine Stufe ihres Arbeitskreislaufs, d. h. in beiden existiert […] ein besonderes Organ, um Information aus der Außenwelt zu sammeln und sie für die Vorgänge in dem Lebewesen oder der Maschine verfügbar zu machen. In beiden Fällen werden diese äußeren Nachrichten nicht als solche, sondern durch die inneren umformenden Kräfte des lebendigen oder toten Apparats aufgenommen; die Information wird also in eine neue Form umgewandelt, die sie benutzbar macht für die weiteren Stufen des Vorgangs. Bei beiden, dem Lebewesen und der Maschine, dient dieser Vorgang dazu, auf die Außenwelt zu wirken. In beiden wird die auf die Außenwelt ausgeübte und nicht nur die beabsichtigte Tätigkeit zurückgemeldet zum zentralen Regulationsapparat.5
Besonders in den 1960er Jahren als einer Dekade von übergreifender Aufbruchsstimmung potenzierten sich die heraufbeschworenen Bilder: Kybernetische Ideen verquickten sich immer mehr mit den rasanten technischen Neuerungen. Prägend für das kulturelle Gedächtnis waren vor allem Vorstellungen über den künstlichen Menschen, einem Topos, der sich bis zur Aufklärung zurückverfolgen lässt.6 Maßgeblich angeregt durch Wieners erste populärwissenschaftliche Schrift zur Kybernetik, Mensch und Menschmaschine, verstärkten sich in der Nachkriegszeit die Visionen von Robotern und künstlichen Menschen – auch befördert durch das amerikanische Science-Fiction-Kino,7 das in Stanley Kubricks Epochenwerk 2001: Odyssee im Weltraum (1968) schließlich in einer Art philosophischem Kunstmanifest gipfelte. Parallel zum Konzept des Roboters tauchte zu Beginn der 1960er Jahre auch zum ersten Mal der Begriff des Cyborgs auf. Die beiden Wissenschaftler Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline verstanden darunter nicht weniger als die Eroberung der nächsten Evolutionsstufe.8 In der Tat verkünden die Lehren Charles Darwins, dass die Weiterentwicklung und auch das Überleben einer Art nur durch Anpassung an sich verändernde Umwelt- und Lebensbedingungen gewährleistet werden kann. Diesem Verständnis folgend argumentieren Clynes und Kline, der Mensch habe sich den Bedingungen des Weltraums anzupassen, sollte er das Ziel verfolgen, ihn als neuen Lebensraum für sich zu erschließen.9 Das Konzept der beiden Wissenschaftler stand jenem entgegen, das in umgekehrter Weise die Anpassung der Umwelt an den Menschen propagierte, indem z. B. auf anderen Planeten eine klimatische Atmosphäre geschaffen würde, die der irdischen gleicht. Aus Clynes’ und Klines Vorschlag geht das Menschenbild eines prothetischen Wesens hervor10 – eines sich selbst in endlosen Dimensionen erweiternden und dadurch seine zukünftige Beständigkeit sichernden Organismus. Es erstaunt nicht, dass die Kybernetik durch den Verbund derartiger Folgeaussichten auch heute noch als ein Traumentwurf von der Zukunft gilt.
In der Neuschöpfung des Wortes „Cyborg“,11 einem Akronym aus den jeweils ersten Silben der beiden Begriffe „cybernetic“ und „organism“, klingt zugleich ein weiterer Grund für die Unschärfe des Kybernetikbegriffs an. Seit seiner Popularisierung sind zahlreiche Wortzusammensetzungen entstanden, die mit dem englischen Präfix „cyber“ operieren. Ob Cyberattacke, Cybercafé, Cyberkriminalität oder Cybermobbing – das Wortbildungselement schafft fortwährend neue Begrifflichkeiten, deren Bedeutung meist für ihre Anbindung an die digitale Sphäre steht.12 Diese zunächst rein sprachliche Beobachtung verweist auf einen Tatbestand, der seit den 1960er Jahren bis in die Gegenwart eine Kontinuität zeigt: Der Kybernetik ist auf ihrer historischen Linie eine Bedeutungsverschiebung eingeschrieben, die sich auf der Folie der eigenen Konsequenzen über Jahrzehnte entwickelt hat. In der Gegenwart ist sie Namenspate für Phänomene, die ohne sie nicht denkbar gewesen wären, mit ihren Ursprüngen aber nur noch entfernt etwas zu tun haben. Das Internet als Ort eigener Praktiken und Termini, aber auch als Bedingung für ein vernetztes Leben ist nur ein gutes Beispiel dafür. Als weitere prominente „Töchter“ und „Söhne“ der Kybernetik13 sind etwa die künstliche Intelligenz – mit ihr verknüpft auch die neuronale Netzwerkforschung –, die Klimaforschung oder die Spieleforschung zu nennen.
Eine weitere Entkopplung ging im öffentlichen Bewusstsein verloren: Einst von der Kybernetik neu geprägte Begriffe sind wie selbstverständlich in die Alltagssprache eingeflossen, haben sich aber mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Voraussetzungslos werden heute Wörter wie Selbstoptimierung, Informationsfluss oder Feedback gebraucht, ohne Kenntnis darüber zu haben, dass es sich hier um eine originäre kybernetische Sprache handelt. Zugleich verdeutlicht diese Beobachtung, wie weit die Konsequenzen der Kybernetik mittlerweile ins Gesellschaftliche vorgedrungen sind. Der populärwissenschaftliche Essayist Hans Christian Dany erläutert etwa, das Feedback – ein Kern der kybernetischen Theorie – würde „zu einem zentralen Werkzeug, mit dem zwischen Kindergarten, Schule, Arbeit und Verbrauch das Leben umfassend reguliert wird“.14 Doch damit nicht genug: Self-Tracking und Optimierungswahn können als moderne Pendants zu den einstigen Visionen einer sich selbst regulierenden Gesellschaft aufgefasst werden, Social Media hingegen als „psychosoziales Steuerungsinstrument“15 innerhalb dieser Regulierungsrahmen. Die neoliberalen Grundzüge der westlichen Hemisphäre und ihre Potenziale der sozialen Lenkung klingen als Echos der kybernetischen Utopien oder Dystopien nach – je nachdem, welche Perspektive man dazu einnimmt. Auch die moderne Wirtschaft bezieht ihre Funktionsweisen nicht mehr aus autoritären Kontrollinstanzen ‚von oben‘, sondern ist längst dazu übergegangen, die eigene und wechselseitige Kontrolle ihren Akteur:innen selbst zu überlassen.16
So verschieden sie auch sind, lassen sich alle beschriebenen Tendenzen der Gegenwart auf das kybernetische Zeitalter der 1950er und 60er Jahre rückbeziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint selbst der Befund des Anthropologen Gregory Bateson nicht maßlos übertrieben, wenn er behauptet, die Kybernetik sei der „größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“ – wenngleich sich „die meisten Bissen aus diesem Apfel […] als ziemlich unverdaulich erwiesen“ hätten.17 Letztere polemische Einschätzung rekurriert auch auf die Halbwertszeit der Kybernetik als Wissenschaft selbst. Denn obwohl sie eine ‚Dominokette‘ an Folgen mit auslöste, ist sie als geschlossene Disziplin aus heutiger Sicht ein historisches Phänomen. Kybernetik im damaligen Sinne „explodierte und starb“.18 Das, „was fortlebt, ist ein Set von Ideen, […] ein bestimmter Forschungsstil, ein spezifisches Aroma sozusagen“. Als sich das Ende der Kybernetik als homogene Disziplin – wobei teils angezweifelt werden kann, ob ein einheitliches Verständnis überhaupt bestand – im Verlauf der 1960er Jahre langsam ankündigte, wies auch Wiener als prophetischer Kopf der Bewegung in eine ähnliche Richtung. So ließ er über ‚seine‘ Wissenschaft verlauten: „Man wird in diesem Gebiet wohl eher eine Denkweise als ein Sammelbecken an Dogmen sehen müssen; eine Disziplin, die sich mit der Zeit, und zwar nach vielen Richtungen hin, entwickeln wird.“19
Die Kulturwissenschaftler Erich Hörl und Michael Hagner konstatieren mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Kybernetik außerhalb der Naturwissenschaften:
Es ist bislang zu wenig in Kenntnis genommen worden, daß kybernetische Modelle, Sprache und Ideen wenigstens zeitweise in die verschiedensten humanwissenschaftlichen Bereiche Einzug hielten. Dieser blinde Fleck könnte darauf zurückzuführen sein, daß diese Prozesse nicht in der recht gut untersuchten Frühzeit der Kybernetik, sondern erst später – im Verlauf der fünfziger Jahre – einsetzten, länger andauerten und subtiler wirkten.20
Dass die prägende Vorstellung der Kybernetik mit einem primär technischen und naturwissenschaftlichen Anstrich versehen ist, erklärt sich aus den bereits erörterten Zusammenhängen ihres sich verselbstständigenden Menschenbildes sowie der damit korrelierenden, rationalen Sprachlichkeit. Initial trat die Kybernetik jedoch mit dem Anspruch an, Gemeinsamkeiten zwischen der Welt der Natur- und der Geisteswissenschaften aufzuzeigen, sie einander anzunähern. Eigenschaften der jeweils entgegengesetzten Sphäre anzunehmen, bedeutete für die Künste folglich, sich für naturwissenschaftliche Implikationen zu öffnen.
Im Bereich der Musik entstanden dadurch ähnlich schlagkräftige Images wie in der Filmkunst. Musikmaschinen, die ersten Studios für elektronische Musik,21 Klang-environments, das Komponieren mit automatisierten Techniken – einige der kybernetiknahen Innovationen im Musikbereich seien hier nur angedeutet. Leicht ließe sich behaupten, all diese Phänomene seien Ausdruck einer musikalischen Kybernetik, die sich, wie Hörl und Hagner es darstellen, „im Verlauf der fünfziger Jahre“ aus dem von Wiener und anderen begründeten Geist heraus entfaltete. Tritt man näher an die genannten Phänomene heran, so erweist sich die Frage danach, was denn genau unter musikalischer Kybernetik oder aber kybernetischer Musik zu verstehen ist und in welchen Facetten sich diese darstellt, als weitaus komplizierter. Bereits die gerade genannten Erscheinungen der damaligen Zeit divergieren teils erheblich und setzen im Detail andere Schwerpunkte, von eher handwerklichen Aspekten über das Klangbild betreffende, bis hin zu Form- und Existenzfragen an das Kunstwerk selbst. Sie zeigen damit auf, dass von den sich aufdrängenden, verführerischen ersten Assoziationen des Zeitkontextes teilweise Abstand genommen werden muss, um zu tieferen Erkenntnissen über die Zusammenhänge von Musik und Kybernetik zu gelangen, die nicht unbedingt ähnlich suggestiv nach außen wirken.
Hier kommt der österreichische Komponist Friedrich Cerha ins Spiel, um dessen Werk diese Arbeit in verschieden nahen, manchmal auch etwas ferneren Umlaufbahnen kreisen wird. Noch immer steckt die musikwissenschaftliche Aufschlüsselung des bedeutenden Nachkriegs-Komponisten in ihren Anfängen. Zu seinem vielfältigen OEuvre existieren erst seit der Jahrtausendwende einige umfangreichere Arbeiten. Die wissenschaftlichen Beiträge betreffen dabei ästhetische Einordnungen,22 beschäftigen sich individuell mit einzelnen Werken23 oder nehmen eine übergeordnete Perspektivierung von Werken einer gemeinsamen Kategorie vor.24 Diese Arbeit reiht sich vorsichtig in die letztgenannte Sparte ein. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung von Werken Cerhas aus einem zeitlich begrenzten Korridor. Die verbindende Perspektive auf die in ihren Anlagen teils stark verschiedenen Arbeiten ist aus dem Substrat der Kybernetik gewonnen – Cerhas eigene Aussagen zu einer intensiven Beschäftigung mit Wieners Theorien in dieser Phase geben dem Forschungsvorhaben seinen Anlass. Das zu bearbeitende Feld ist noch nahezu unbetreten: Wissenschaftliche Vorarbeiten zur Beziehung von Cerhas Musik zur Kybernetik existieren nicht. Einen Bezugspunkt der Arbeit bildet jedoch die Monografie Spiegel des Neuen von Nikolaus Urbanek, nicht zuletzt, da dort diskutierte Stücke (besonders Exercises bzw. ihr musiktheatralisches Pendant Netzwerk) auch hinsichtlich des hier in den Blick zu nehmenden Themenbereichs eine gewichtige Rolle spielen. Den Befund eines sich verändernden kompositorischen Zugriffs samt seiner ästhetischen Einordnung im Spannungsfeld zwischen moderner und postmoderner Haltung gilt es in Anbetracht der kybernetischen Fragestellungen neu zu beurteilen.
Obwohl Cerhas Werk – im Besonderen dasjenige der frühen 1960er Jahre – entscheidende Beiträge zu musiksprachlichen Innovationen leistet, erweist sich die Schnittmenge mit den bereits aufgezählten, vermeintlich der Kybernetik nahestehenden Neuerungen als erstaunlich klein. Technoide Kompositionsansätze, etwa durch Zuhilfenahme von Computern und Rechenmaschinen, stehen sowohl der Musik Cerhas als auch ihrem Ethos äußerst fern. Mit den rationalistischen Mentalitäten der Darmstädter Schule steht Cerha zwar nicht auf Kriegsfuß – die Aneignung der dort kultivierten seriellen Technik bestimmt im Gegenteil eine zentrale Werkgruppe aus den 1950er Jahren, die von Deux éclats en reflexion (1956) bis zu Intersecazioni (1959) reicht. Gleichwohl steht der Komponist von Beginn seiner Aufenthalte in Darmstadt25 der sich dort entfaltenden Gesinnung kritisch gegenüber. Die vom symbolisch aufgeladenen Ort ausgehenden musikkonstruktiven Neuerungen nimmt er lediglich als „Anregungen von außen“26 auf, statt ihre ideologischen Implikationen blindlings zu übernehmen. Vom Schulterschluss mit Automationsästhetik oder Technikgläubigkeit kann folglich nicht die Rede sein. Doch auch andere rezipierte Innovationen offenbaren wenige Anknüpfungspunkte an die stereotypen Vorstellungen einer ‚kybernetischen Musik‘. Zwar gibt es einige elektronische Zuarbeiten – in den 1960er Jahren entstanden beispielsweise Tonbänder zu Sätzen der Spiegel –, doch reißt die Beschäftigung in dieser Sparte schnell ab und ist nur in Ergänzung zum akustischen Schaffen zu verstehen. Dennoch verdankt Cerha der Produktion von elektronischer Musik einige gedankliche Impulse, die eng mit der Kybernetik zusammenhängen, wie noch zu diskutieren sein wird.
Verglichen mit den ästhetischen Geboten der Nachkriegsavantgarde sind in Cerhas Musik Spannungen angelegt: Sie absorbiert zwar zeitgenössische Techniken, stößt aber deren dogmatische Konnotationen ab und verarbeitet das Neue auf höchst individuelle Weise. Im Zeitkontext fällt besonders auf, dass Cerhas Schreibweise einer Geschlossenheit verpflichtet ist, wie sie sich in parallel entstandenen, offenen Formkonzepten nicht findet – dies gilt selbst dann, wenn man sich den eher vorsichtigen Charakter der europäischen Aleatorik im Vergleich zur radikaleren, amerikanischen Variante vor Augen führt.27 Nur Weniges aus dem Bereich aleatorischer Prinzipien lässt Cerha in seinen eigenen Schaffensbereich eindringen,28 obwohl er deren Spielräume als Dirigent und künstlerischer Leiter seines Ensembles „die reihe“ auslotete.
Als Komponist tritt Cerha für ein Musikkonzept ein, das zumindest in der Art seiner Fixierung als linear einzustufen ist. Ob dies auch für die sich abspielenden, kompositorisch gezeichneten Prozesse zutrifft, gilt es vor dem Hintergrund des hochgradig zirkulären Wesens kybernetischer Abläufe zu überprüfen. Cerhas besonderes Interesse an musikalischen Prozessen dürfte für die derartige Untersuchung gewinnbringend sein. Die Diskussion seiner Musik verspricht einer spezifischen Rezeptionsweise der Kybernetik auf die Spur zu kommen, die – so eine der Grundthesen der Arbeit – speziell in Wien von Cerha und einigen eng verbündeten Komponistenkollegen, an erster Stelle György Ligeti und Anestis Logothetis, ästhetisch geformt wurde.
Diese Perspektive zeigt auch auf, dass die (historische) Kybernetik nicht bloß für sich selbst steht, sondern zugleich die Geschichte wesentlicher Entwicklungen und Ideen des 20. Jahrhunderts miterzählt. Versteht man sie als prophetische Geisteshaltung mit dem Anspruch, einen Weg aus den Trümmerfeldern des Zweiten Weltkrieges zu weisen – und diese Sichtweise vertrat der Kreis um Norbert Wiener streckenweise –, so legen ihre Korrelationen mit der Kulturgeschichte ein viel weiteres Bild offen. Cerha als Repräsentant eines Kulturraums mit besonders ambivalenten Verhältnissen zur Vergangenheit (und somit auch zu Zukunftsvisionen) innerhalb dieses Narrativs einzuordnen, bildet ein Hauptanliegen der Arbeit. Gerade die spannungsvolle Beziehung des Komponisten zu seiner Zeit und ihren Geboten macht seine Musik interessant für eine derartige Untersuchung. Konflikte genauer auszuloten, Überschneidungen wie Widersprüche seiner musikalischen Konzeptionen zu anderweitigen aufzuzeigen und der Kybernetik so einen eigenen, vielleicht auch eigenwilligen Raum im Werk eines Komponisten zuzugestehen, das gleichsam zeittypisch wie zeituntypisch erscheint, erweisen sich als die zu lösenden Kernaufgaben. Ermöglicht werden können dadurch neue Perspektiven auf Cerhas Werk – aber auch neue Perspektiven auf die Kybernetik als Denkmodell, auf Österreich als Kulturraum der Nachkriegszeit und auf wesentliche Schnittstellen der Musikgeschichte.
Das Hauptziel dieser Arbeit besteht im Lokalisieren der Schnittmengen zwischen Cerhas Musik und dem kybernetischen Denkansatz. Dieses Vorhaben schließt sowohl kulturhistorische, epistemologische, kompositionstechnische und ästhetische Facetten mit ein. Folglich richtet sich der Aufbau des initiierten Erkenntnisprozesses an verschiedenen Stationen aus, die durch ihre Abfolge gesammelte Beobachtungen mehr und mehr verdichten, um so das Bild aus verschiedenen Betrachtungsweisen zusammenzusetzen. Vorbild der Vorgehensweise soll dabei das Modell des hermeneutischen Zirkels sein. Nicht jedoch Rezipient:in und Werk stehen hier in einem Vermittlungsverhältnis zueinander, sondern – gemäß dem Ziel der Arbeit – die Musik Cerhas auf der einen Seite und die Kybernetik als Mittel, diese zu entschlüsseln, auf der anderen Seite. Metaphorisch gesprochen tritt der kybernetische Ansatz als virtueller Empfänger auf: Die Einnahme der entsprechenden Perspektive stützt sich auf die Vermutung, dass auf derartige Weise gewinnbringende Erkenntnisse über zentrale Eigenschaften musikalischer Organisation sichtbar gemacht werden können. Ein Stück weit ist das hermeneutische Verfahren selbst ein kybernetisches, denn die spiralartigen Vermittlungen zwischen zwei Polen lassen sich auch als Rückkopplungsschleifen beschreiben. Der hermeneutische Zirkel berührt so gewissermaßen das auf Zirkularität beruhende Grundverständnis der Kybernetik; Methodik und Inhalt verhalten sich vor diesem Hintergrund teils kongruent zueinander.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer knüpft an den hermeneutischen Verstehensprozess die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, sich ihrer Mittel bedienen zu können.29 Im Kontext der Annäherung von Kybernetik und Musik gilt es also, die sprachlichen Ausgangspunkte zunächst zu klären. Nur so können beide Gebiete miteinander ‚ins Gespräch kommen‘,30 wie der Vorgang des Verstehens bei Gadamer in ein Bild gefasst ist.31 Die Sprache, das Vokabular, die konzeptuellen Begrifflichkeiten der Kybernetik orientieren sich insgesamt an naturwissenschaftlichen Maßstäben. Ihre Übertragbarkeit auf künstlerische Phänomene ist nicht unproblematisch, trotz ihrer universalistischen Färbungen. Bereits 1959, zu einer Zeit, in der Cerha sich mit besonderer Intensität der Kybernetik zuwandte, diagnostizierte der englische Schriftsteller Charles Percy Snow eine Kluft zwischen der Welt der Geisteswissenschaften und jener der Naturwissenschaften. Diese sei, so Snow, durch immanent verschiedene Sprachlichkeiten geprägt. In seinem für den Diskurs zentralen Werk Die zwei Kulturen berichtet er folglich:
Das Aufeinandertreffen zweier Fächer, zweier Disziplinen, zweier Kulturen – und schließlich doch auch zweier Gruppen von bedeutenden Geistern – sollte doch schöpferische Impulse auslösen. In der Geschichte geistiger Bemühungen waren das die Momente, in denen so mancher Durchbruch sich ereignete. Jetzt ist die Chance wieder gegeben, aber gewissermaßen in einem Vakuum, weil die Angehörigen der zwei Kulturen nicht miteinander reden können.32
Snows Diagnose legt den Finger auf einen wunden Punkt: Schon zur Blütezeit der Kybernetik schienen sprachliche Barrieren die Annäherung von geistes- und naturwissenschaftlicher Welt einzudämmen. Angesichts gegenwärtig potenzierter Tendenzen des spezialisierten Denkens ist festzustellen, dass Snows Hoffnung33 auf eine Versöhnung der beiden „Kulturen“ bislang kaum eingelöst werden konnte.
Eine der daraus resultierenden Aufgaben dieser Arbeit ist es, „eine gemeinsame Sprache“34 als Teil des Verstehensprozesses zu erarbeiten. Sie bildet die Grundlage jeglicher hier zur Diskussion stehender Musik. Erst eine Verklammerung von kybernetischer und musikalischer Sprachlichkeit kann im Annäherungsprozess schließlich eine Horizontverschmelzung erwirken.35 Es muss dabei im Kopf behalten werden, dass jegliche Querbeziehungen zwischen Kybernetik und Musik keinen gemeinsamen Ursprung haben. Im konsolidierenden Zirkel um Norbert Wiener war künstlerischen Theorien kein Raum zugewiesen, ihre Anbindung an die Welt der Kybernetik leitet sich ausschließlich über Analogien her. Die Musik steht deshalb vielleicht in einem ähnlichen Verhältnis zur Kybernetik, wie sie etwa zur Bewegung des Bauhauses stand. Wechselwirkungen und Einflüsse sind nicht von der Hand zu weisen, transformierte Ideen sicherlich zahlreich aufzufinden, aber ein hoher Grad an systematischer Übertragbarkeit ist schon allein deshalb kritisch zu hinterfragen, weil es keinen institutionell begründeten musikalischen Kern gibt.
Zwei Grundstrategien der Annäherung können als Leitlinien dieser Arbeit gelten. Musik kybernetisch zu betrachten, erfordert einerseits, in ihrer immanenten Logik und Dynamik universelle, systemische Prinzipien zu erkennen und sie in Beziehung zu setzen. Kybernetik musikalisch zu betrachten, erfordert andererseits, sie auf sinnvolle Analogien hin zu befragen, im Besonderen durch die Konzentration auf ihre prozesshaften, in die Dimension der Zeit integrierbaren Qualitäten. Beide Perspektiven sollen ineinander verschränkt in dieser Arbeit eine Rolle spielen – beide stellen aber auch jeweils eigene Herausforderungen. Die Überführung der Musik ins Feld der Kybernetik wirft die Frage auf, an welchen Stellen der musikalischen Aufschlüsselung überhaupt sinnvoll angesetzt werden kann. Inadäquat wäre eine Perspektivierung dann, wenn sie nicht wesentlich an den kybernetischen Phänomenen und Modellen haftet – insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Transfer von möglichen kybernetischen Eigenschaften prinzipiell Gefahr läuft, ins Uferlose abzugleiten: Wie die Geschichte der Kybernetik selbst aufzeigt, bedeutet Ausdehnen schließlich auch Verändern.36 Prinzipiell könnte jede Musik von einer kybernetischen Warte aus wahrgenommen werden, da jede Musik auch irgendeine Art von Regelsystem mit zu Grunde liegenden eigenen Gesetzen darstellt. Sinnvoll erscheint ein derartiger Betrachtungswinkel aber nur dann, wenn die in den Blick genommene Musik so organisiert ist, dass sie sich mittels Prozess- und Systemmodellen, insbesondere Rückkopplungsschemata, zweckmäßig beschreiben lässt. Die andersseitige Anwendung der Kybernetik auf Musik birgt hingegen die Gefahr einer überdosierten Abstraktion in der Perspektivierung. Universelle Transferleistungen als einstiger Anspruch hinter der Kybernetik gingen auch mit der ‚Immaterialisierung‘ der entwickelten Grundkonzepte einher37 – was für vieles zugleich gelten soll, kann in seinem Wesen logischerweise nur bedingt konkret sein. Erst alles Angewandte der Kybernetik sei Wirklichkeit, so Stafford Beer, denn „die reine Kybernetik bezieht sich nicht unmittelbar auf die Praxis, wenngleich sie Einsichten liefert, die nutzbar sind“.38 Auf der Ebene der musikalischen Analyse ist deshalb ein zielgerichteter Interpretationsansatz notwendig, um dem „Himmel der Abstraktion“ zu entkommen, „in dem die Kybernetik ja oft genug schwebte“.39
Der Aufbau der Arbeit ist in Spiralen angelegt, die – vergleichbar mit kreisförmigen Bewegungen – von bestimmten Punkten ausgehen, inhaltliche Felder berühren, um später wieder auf diese mit gleichsam immer enger werdendem Radius zurückzukommen. In Kapitel II beginnt die Initiierung dieser Bewegungsform damit, dass die Vorstellungswelten Cerhas und einigen für ihn relevanten Akteuren der Kybernetik einander angenähert werden. Ziel des Kapitels ist die bereits auf den Untersuchungsgegenstand fokussierte, grundlegende Aufbereitung der kybernetischen Konzepte und Modelle, sodass eine Beziehbarkeit zu musikalischen Phänomenen gewährleistet werden kann.
Kapitel III bereichert die gesammelten Kenntnisse um kulturelle Komponenten. Hier steht besonders der österreichische Kulturraum im Zentrum des Interesses. Seine historisch präformierten Bedingungen, auch das besonders charakteristische Spannungsverhältnis des Kulturapparates zum progressiven Künstlertum, stehen, so die These, in einer speziellen Beziehung zur Aneignung der kybernetischen Philosophien. Als ‚Vergleichswert‘ dient die Kybernetikrezeption in Kulturräumen außerhalb Österreichs. Durch eine derartige Gegenüberstellung soll Auskunft darüber gewonnen werden, welche Facetten der Kybernetik für Cerha als österreichischem Künstler eine Rolle gespielt haben – und auch, welche Gründe dafür angeführt werden können. Zudem ermöglicht die Ausleuchtung des österreichischen ‚inner circle‘ der von kybernetischem Gedankengut beeinflussten Künstler auch eine Standortbestimmung. Die teils fragilen Querverbindungen und Wechselwirkungen in diesem Netzwerk sind bisher noch gänzlich unerforscht.
Durch Kapitel IV wird schließlich die ‚Horizontverschmelzung‘ von Kybernetik und Musik auf begrifflich-systematischem Gebiet vorangetrieben. Eine Hauptaufgabe soll es hier sein, die in ihrer Bedeutung ausgefransten kybernetischen Kernbegriffe in einen bestimmten musikalischen Deutungsrahmen einzugliedern. Dieser Rahmen ist von der bereits in Kapitel III angetriebenen Profilierung der Cerha’schen Perspektive vorgeprägt. Er orientiert sich vorwiegend an kompositionsprozessualen Abläufen und ihren Potenzialen für eine kybernetische Interpretation. Zu Gunsten der systematischen Aufgliederung wird die Sichtweise hier vogelperspektivisch geweitet: Geeignete Phänomene aus unterschiedlichen Kompositionspraxen werden mit dem Ziel herangezogen, die abstrakten Kernmodelle von verschiedenen Warten her vielfältig zu konkretisieren, um so auch eine Diskussion über sie zu ermöglichen.
Dieser eher diskursiv angelegten Betrachtung folgend, nimmt Kapitel V als Kern der Arbeit schließlich eine angewandte Perspektive ein. Anhand von Fallbeispielen aus Cerhas OEuvre wird die konkrete Beziehung seiner Musik zur Welt der Kybernetik untersucht. Der Zugriff ist hier gleichzeitig streng wie offen angelegt: Streng ist die Begrenzung auf eine überschaubare zeitliche Phase, die mit besonderer Konzentration die Entwicklung innerhalb von acht Jahren (1959 bis 1967) nachvollzieht, gebunden an die besondere Zugkraft der kybernetischen Ideen in den 1960er Jahren. Offen ist hingegen die Zusammenstellung von Kompositionen mit unterschiedlichen, teils auch entgegengesetzten ästhetischen Verortungen. Der Korpus schließt so das Ensemblestück Exercises sowie das korrespondierende Bühnenstück Netzwerk (1962–67/78–80)40 ein – Werke, die bereits in Urbaneks Monografie unter dem Brennglas der ästhetischen Analyse untersucht wurden. Gleichberechtigt mit ihnen werden auch die jeweils 1959 entstandenen Orchesterwerke Intersecazioni und Fasce in die analytische Untersuchung integriert. Der Vergleich der kompositorischen Anlagen verspricht, unterschiedliche Lösungen einer verbindenden Vorstellung von Musik als einem von kommunizierenden Schichten durchfurchten System aufzuzeigen.
Zwei abschließende Perspektiven auf Cerhas ‚kybernetische Musik‘ werden in Kapitel VI eingenommen. Einerseits wird Heinz von Foersters Beobachtungsparadigma als möglicher Begleitdiskurs für die besprochene Werkentwicklung Cerhas herangezogen, die sich außerdem selbst als Kette von Zwischenordnungen und somit als kybernetisch deutbares Bezugssystem verstehen lässt. Andererseits lassen sich auch langzeitliche Nachwirkungen der Kybernetik beschreiben, sowohl in personaler Hinsicht als auch im größeren, übergeordneten Rahmennarrativ der Musikgeschichte. Der Finger soll hier abschließend nochmals pointiert auf die Analogien zwischen der Fortentwicklung der Kybernetik und jener der Neuen Musik gelegt werden. Beobachtbare Aufsplitterungstendenzen in beiden Bereichen lassen die Frage nach Fortleben und Konsequenzen der geistigen Welt vor der „globalen Revolte“41 aufkeimen.
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1 Rolf Lohberg und Theo Lutz: Keiner weiß, was Kybernetik ist. Eine verständliche Einführung in eine moderne Wissenschaft, Stuttgart 1968.
2 Im Vorwort ihres Buches erläutern Lohberg und Lutz, ihr gewählter Titel sei ein „Klageruf“, denn „Kybernetik, diese junge, zu den schönsten Hoffnungen berechtigende Wissenschaft, von der in aller Welt so viel die Rede ist“ hätte „bis heute weder eine einheitliche Definition noch ein festumrissenes Programm gefunden.“ Siehe ebd., S. 7.
3 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien 1963, S. 26.
4 Norbert Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge 1961 (2. Ausgabe), Reprint Cambridge 2019.
5 Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1966, S. 26.
6 Bereits Julien Offray de La Mettries 1748 publizierte Schrift L’Homme-Machine, welcher der Autor seinen Spitznamen „Monsieur Machine“ verdankte, verbreitete ein konsequent materialistischmechanistisches Weltbild, das wirkungsvoll auf das 19. Jahrhundert ausstrahlte. In diesem verbinden sich im Zuge der literarischen Romantik Fantasien zur beunruhigend menschlich wirkenden Maschine mit dem Topos des Unheimlichen, etwa in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Die Automate (1819) oder seiner Maschinenfigur Olimpia in Der Sandmann (1816), musikalisch adaptiert von Jacques Offenbach in dessen „phantastischer Oper“ Hoffmanns Erzählungen (1851). Einer der bekanntesten Maschinenmenschen des 20. Jahrhunderts tritt in Fritz Langs expressionistischem Stummfilm Metropolis (1927) auf und wird im Film auch tatsächlich als solcher benannt.
7 Als repräsentative Beispiele für Science-Fiction-Filme, die Roboter und humanoid-technische Mischwesen in den Mittelpunkt des Szenarios stellen, können etwa Wesley E. Barrys The Creation of the Humanoids (1962) oder Franklin Adreons Cyborg 2087 (1966) genannt werden.
8 Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline: Cyborgs and Space, in: Astronautics, Bd. 26/27, 1960, S. 26–27 und 74–76, vgl. hier S. 26: „Space travel […] invites man to take an active part in his own biological evolution.“
9 Vgl. ebd. S. 27: „If man attempts partial adaptation to space conditions, instead of insisting on carrying his whole environment along with him, a number of new possibilities appear. One is then led to think about the incorporation of integral exogenous devices to bring about the biological changes which might be necessary in man’s homeostatic mechanisms to allow him to live in space qua natura.“
10 Das Bild eines sich durch ‚Prothesen‘ erweiternden Menschen ist schon in den Überlegungen des deutschen Philosophen Ernst Kapp vorbereitet worden. Für Kapp sind Werkzeuge nichts weiter als die „Verlängerung, Verstärkung und Verschärfung leiblicher Organe“. Schon die primitivsten Werkzeuge aus der Steinzeit seien erwiesenermaßen die „mechanische Nachformung einer organischen Form“. Siehe Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877, Reprint Hamburg 2015 (= Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie 26), S. 51 f.
11 Erstmalige Nennung in Clynes/Kline, Cyborgs and Space, S. 27.
12 Der Duden listet als Bedeutung des Präfixes auf: „[…] die von Computern erzeugte virtuelle Scheinwelt betreffend“, vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/cyber_, Abruf am 08.11.2019.
13 Vgl. Gero von Randow: Die Regler des Zustands des Systems, in: Die Zeit, 25.11.1994, https://www.zeit.de/1994/48/der-regler-des-zustands-des-systems, Abruf am 09.11.2019.
14 Hans Christian Dany: Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Hamburg 2013,
15 Vera Linz: Raus aus der Kontrollgesellschaft, Rezension auf Deutschlandfunk Kultur, https://www.deutschlandfunkkultur.de/raus-aus-der-kontrollgesellschaft.950.de.html?dram:article_id=260372, Abruf am 24.11.2019.
16 Stafford Beer übertrug kybernetische Regelkreise bereits 1959 auf wirtschaftliche Zusammenhänge. In Cybernetics and Management skizziert er etwa eine „kybernetische Fabrik“ (vgl. Stafford Beer: Kybernetik und Management, Frankfurt a. M. 1967, S. 171 ff.) und entwirft Analogien zu systemischen Unternehmensstrukturen (vgl. ebd. S. 183 ff.).
17 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981, S. 612.
18 Dieses und das folgende Zitat aus: Randow, Die Regler des Zustands des Systems.
19 Norbert Wiener: Beginn und Aufstieg der Kybernetik, in: Grundfragen der Kybernetik (= Forschung und Information. Schriftenreihe der RIAS-Funkuniversität 1), Berlin 1967, S. 9–13, hier S. 13.
20 Erich Hörl und Michael Hagner: Überlegungen zur kybernetischen Transformation des Humanen, in: Dies. (Hgg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008, S. 7–37, hier S. 17 f.
22 Z. B. Nikolaus Urbanek: Spiegel des Neuen. Musikästhetische Untersuchungen zum Werk Friedrich Cerhas, Bern 2005.
23 Z. B. Lukas Haselböck (Hg.): Friedrich Cerha. Analysen, Essays, Reflexionen, Freiburg i. Br. 2006 sowie Anne Fritzen: „Wie fang ich nach der Regel an?“ – Friedrich Cerhas Oper „Der Riese vom Steinfeld“ im Kontext der Postmoderne, Siegen 2023 (= Si! Kollektion Musikwissenschaft, hg. von Matthias Henke) [Druck in Vorbereitung]. Ebenso zählen die Werkportraits des Projekts „Cerha Online“ zur Oberkategorie.
24 Z. B. Gerhard Gensch und Matthias Henke (Hgg.): Mechanismen der Macht. Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk, Innsbruck, Wien/Bozen 2016 sowie Matthias Henke und Reinke Schwinning (Hgg.): Nach(t)musiken. Anmerkungen zur Instrumentalmusik Friedrich Cerhas, Siegen 2022.
25 Cerhas erster Besuch der Darmstädter Ferienkurse fällt ins Jahr 1956 (vgl. FC-S, S. 33), in dem folglich auch seine ersten seriellen Stücke Deux éclats en reflexion und Formation et solution, beide für Violine und Klavier, entstanden.
26 Friedrich Cerha: Viele Anregungen am Rande. Stimmung des Aufbruchs in neue Welten, in: Rudolf Stephan (Hg.): Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse, Stuttgart 1996, S. 188–191, hier S. 191.
27 Die in Europa beobachtbaren Tendenzen, aleatorische Spielräume in die musikalische Komposition einzuweben, lassen sich auf den gemeinsamen Nenner der in ihren Details flexiblen Form bringen. Damit ist das aus der „Momentform“ abgeleitete Verfahren Stockhausens, dem Interpreten die Gliederung und Aufeinanderfolge von Formteilen freizustellen [z. B. Klavierstück XI (1956) oder Zyklus (1959)], ebenso unter ein Dach gefasst wie Boulez’ analoges Verständnis einer „‚Absorption‘ des Zufalls in der Binnenstruktur“ (siehe Klaus Ebeke: Aleatorik, in: MGG, Bd. 1, Kassel u. a. 1994, Sp. 435–445, hier Sp. 442 f.). Auch der polnische Ansatz Lutosławskis, in welchem die genauen vertikalen Überlagerungen durch eingeräumte Freiräume in den einzelnen Partien nicht festgelegt sind – eine Technik, die im Übrigen mit den ‚Zeitfeldern‘ aus Stockhausens Holzblasquintett Zeitmaße (1955/56) verwandt ist –, lässt sich diesem Paradigma unterordnen. Vom europäischen Ansatz unterscheidet sich der amerikanische dadurch, dass das Einbegreifen des Zufalls wesentlich schwächer ‚gelenkt‘ ist (letzteren Begriff prägte Boulez, um sich von zu starken Zufallsmanipulationen abzugrenzen). Hier greift der Zufall nicht bloß in formale Fragen der Zusammensetzung von Teilen ein, sondern bildet sich auch durch einen anders gearteten Materialbegriff ab, der – in der Spur John Cages – vom intentional geformten Materialverständnis der europäischen Musik Abstand nimmt. Cages radikalste Kompositionen – 4’33 wohl als ihr Gipfel – determinieren noch nicht einmal die Elemente, aus denen sich der entstehende Klang zusammensetzt. Viel stärker als in der europäischen Kompositionspraxis wird das Komponieren in diesem Fall ein „Rückzug des komponierenden Subjektes“ (ebd., Sp. 442).
28 Singulär im Werk Cerhas ist das Ensemblestück Enjambements in Hinblick auf seine aleatorische Veranlagung. Es entstand 1959 im Kompositionskurs von Karlheinz Stockhausen während der Darmstädter Ferienkurse, wobei die weitere Ausarbeitung erst später stattfand (UA 1961 durch das Ensemble Domaine musical in Paris unter Pierre Boulez). In diesem Stück gibt es Passagen, die nach dem Modell der Cage’schen „Indeterminacy“ angelegt sind, sowohl im Bereich der Tonhöhen als auch im Bereich der Zeitverhältnisse. Selbst die Aufeinanderfolge der zwölf ausgearbeiteten Strukturen ist – unter bestimmten Vorbedingungen – wählbar, ein formales Konzept, das erst im Ursatz der Exercises for nine (1962) wieder von Cerha aufgegriffen wird.
29 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 362 f.
30 Vgl. auch: Astrid Wagner: Horizontverschmelzung, in: Metzler Lexikon Philosophie, Stuttgart, Weimar 2008, S. 248.
31 Dem Bild des ‚ins Gespräch kommen‘ steht die alltägliche Formulierung des ‚ein Gespräch führen‘ entgegen. Letzteres würde, so Gadamer, dem Wesen des Gesprächs nicht entsprechen, da das „Gespräch seinen eigenen Geist“ habe und sich folglich in eigener Dynamik entwickle. Die Sprechenden seien in diesem Prozess somit „weit weniger die Führenden als die Geführten“ (Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 361).
32 C. P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967, S. 22 f.
33 Der Nachtrag der 1963 erschienenen Neuauflage schließt mit einem optimistischen Zukunftsausblick über die Möglichkeit, den Nachwuchs so auszubilden, dass diesem „die Vorstellungswelt der Geisteswissenschaften wie auch der Naturwissenschaften nicht fremd bleibt“ (ebd., S. 97). An anderer Stelle spricht Snow vage von einer nicht genau definierten zukünftigen „dritten Kultur“, die denn auch die Kommunikationsbarrieren abbauen könne: „Und wenn sie da ist, wird die Verständigung schließlich doch leichter sein, denn eine solche Kultur muß, einfach um ihre Aufgabe erfüllen zu können, mit der naturwissenschaftlichen im Gespräch stehen“ (ebd., S. 72). In den 1990er Jahren negierte der Literaturagent John Brockman, der sich im Übrigen intensiv mit Wieners Kybernetik auseinandersetzte, die von Snow aufgeworfenen Vorstellungen und sah eine „dritte Kultur“ im Typus des nach außen gewandten Naturwissenschaftlers realisiert, der die Zusammenhänge seines Faches öffentlichkeitswirksam erklären könne (vgl. John Brockman: Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, München 1996).
34 Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 365: „Dann folgt daraus, daß das hermeneutische Gespräch sich […] eine gemeinsame Sprache erarbeiten muß und daß diese Erarbeitung einer gemeinsamen Sprache ebensowenig wie beim Gespräch die Bereitung eines Werkzeuges für die Zwecke der Verständigung ist, sondern mit dem Vollzug des Verstehens und der Verständigung selbst zusammenfällt.“
35 Für Gadamer bildet die Horizontverschmelzung das Ergebnis eines Verstehensprozesses, in dem der historische Horizont des Gegenstands mit dem gegenwärtigen Horizont des Verstehenden zusammengebracht wird. „Verstehen“, so Gadamer, sei „immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (ebd., S. 289). Da jedoch der gegenwärtige Horizont auch immer in Abhängigkeit zur Vergangenheit entstehe, existieren historischer und gegenwärtiger Horizont in Wirklichkeit nicht jeweils separat, sondern bilden vielmehr „den einen großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt“ (ebd., S. 288). Im Kontext dieser Arbeit soll der Begriff der Horizontverschmelzung modifiziert verstanden werden, als Annäherung zweier jeweils in eigenen Milieus kultivierter Verständnisebenen, die zu einem verbundenen Verständnisgebilde führen.
36 Vgl. das Unterkapitel „Kybernetik – gestern und heute“.
37 In der Komponente des Nicht-Materiellen sieht W. Ross Ashby gar die Essenz kybernetischer Weltbetrachtung. Diesen Standpunkt manifestiert er in Introduction to Cybernetics an zwei Stellen. Es heißt dort „Cybernetics started by being closely associated in many ways with physics, but it depends in no essential way on the laws of physics or on the properties of matter. Cybernetics deals with all forms of behaviour in so far as they are regular, or determinate, or reducible. The materiality is irrelevant, and so is the holding or not of the ordinary laws of physics“ (S. 1) sowie an späterer Stelle „Cybernetics is not bound to the properties found in terrestrial matter, nor does it draw its laws from them“ (S. 60). Siehe W. Ross Ashby: An Introduction to Cybernetics, London 1963.
38 Beer, Kybernetik und Management, S. 185.
39 Claus Pias: Störung als Normalfall, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd. 5, 2 (2011), S. 27–43, hier S. 28.
40 Aufgrund der sich auch weit über die 1960er Jahre erstreckenden Entstehungsgeschichte von Netzwerk ist das Ende des zeitlichen Rahmens um ein Vielfaches erweitert. Da Netzwerk jedoch zu Groß-teilen auf den Exercises basiert, welche 1967 fertig komponiert wurden, gehört die Komposition ästhetisch und technisch im Kern den 1960er Jahren an.
41 Vgl. Don Kent: 1968 – DIE GLOBALE REVOLTE, Frankreich 2018, zwei Teile.
… saves not only our lives but also our bodies and our goods from the gravest dangers. – Sokrates, Philosoph42
The future science of government. – A. M. Ampère, Physiker43
The science of control and communication in the animal and the machine. – Norbert Wiener, Mathematiker44
The study of form and pattern. – Gregory Bateson, Schriftsteller45
Cybernetics is essentially about circularity. – Ranulph Glanville, Architekt46
Cybernetics is the art of creating equilibrium in a world of possibilities and constraints. – Ernst von Glasersfeld, Philosoph47
… offers a single vocabulary and a single set of concepts suitable for representing the most diverse types of system. – W. Ross Ashby, Psychiater48
The art of and science of manipulating defensible metaphors. – Gordon Pask, Psychologe49
Spätestens um 1960 begannen die Definitionen, Interpretationen und Denkanstöße zur Kybernetik zu wuchern. Das Dickicht an verschiedenartigen Ansätzen macht es zuweilen schwer, sich zurechtzufinden – umso nötiger wird es, für die Befragung von Friedrich Cerhas Rezeptionshaltung Leitlinien kenntlich zu machen. Der Komponist hat diese zuweilen selbst gezogen. In seinen Schriften kommt er explizit nur auf zwei kybernetische Autoren zu sprechen: den ‚Gründervater‘ Norbert Wiener und den englischen Psychiater W. Ross Ashby. Beide sind eminent wichtige Figuren für die Genese der frühen Kybernetik und standen – zunächst unabhängig voneinander – in den 1940er Jahren an der Speerspitze innovativer Entwicklungen. Obwohl die Wissenschaftler in Europa verkehrten,50 zuweilen gar in Wien,51 kam es nie zu persönlichen Begegnungen mit Cerha. Und auch zu einem anderen zentralen Akteur, Heinz von Foerster, dem mit Wien assoziierten Kybernetiker schlechthin, bestand keine Verbindung. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, gehörte der in Cerhas Heimatstadt Geborene und Sozialisierte doch zu den prägendsten Figuren der berüchtigten Macy-Konferenzen – nicht zuletzt, weil er sich für deren Protokolle zuständig zeigte, ja, sogar den Begriff „Kybernetik“ in jenen Fachkreisen salonfähig machte.52 Die 1946 in New York City ins Leben gerufene Tagungsreihe53 brachte damals nicht nur Wiener, Ashby und von Foerster an einen Tisch, sondern auch zahlreiche andere internationale Wissenschaftler:innen, die sich den fachübergreifenden Fragen der Kybernetik widmeten.54 In ihrem Bestreben, ein Forum des Austauschs unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu etablieren, überschneiden sich die Macy-Konferenzen mit einem für Cerha relevanten Umfeld, den ebenfalls 1946 gegründeten Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Beide Soziotope entstanden aus dem Bedürfnis heraus, offene Begegnungsräume zu schaffen, beide verpflichteten sich der gemeinsamen Arbeit an der Innovation, beide kultivierten eine kritische Mentalität, durch die erst ein lebendiger Diskurs möglich wurde. Inwieweit schließlich auch in Darmstadt über Kybernetik gesprochen wurde, lässt sich nur mutmaßen. Sicher ist lediglich, dass die in New York diskutierten Ideen einige Zeit brauchten, um auch in Europa wahrgenommen zu werden. Auf den Bereich der Musik strahlten sie selten geradlinig ab, wie im Fall des deutschen Komponisten Roland Kayn, der explizit kybernetische Stücke konstruierte. Die Subtilität der informellen Einflüsse und Wechselbeziehungen im Kontext der Darmstädter Musikavantgarde bezeugt hingegen die Tatsache, dass Kayn und Cerha 1958 im gleichen Kompositionsstudio (unter Leitung von Bruno Maderna und Luigi Nono) eigene Werke präsentierten.55 Darüber hinaus sind jedoch keine weiteren persönlichen Kreuzungen bekannt. Ein anderes Beispiel: Von Karlheinz Stockhausen, dessen Kompositionskurs Cerha 1959 besuchte, ist bekannt, dass er sich vergleichsweise früh mit kybernetischen Ideen auseinandersetzte, nicht zuletzt in Zusammenhang mit seinen elektronischen Arbeiten. Seine Rezeption der Schrift Organismen, Strukturen, Maschinen des österreichischen Biologen Wolfgang Wieser56 schafft eine bemerkenswerte Verbindung zu Cerha, der diese ebenfalls las. Dass sich beide Komponisten über den Text austauschten, ist unwahrscheinlich, dass Cerha durch Stockhausen auf ihn aufmerksam wurde, zwar möglich, aber nicht nachweisbar. Die Impulse, die Cerha aus der Lektüre Wiesers gewann, prägten sein Verständnis der Kybernetik jedenfalls entscheidend – und zuweilen scheinen seine Positionen zum künstlerisch geformten Organismus nicht weit weg von ähnlichen, jedoch grundsätzlich anders realisierten Vorstellungen Stockhausens zu sein.57 Wiesers Buch ist auch eine Vermittlerfunktion zu unterstellen. Der Großteil des kybernetischen (fast ausschließlich englischsprachigen) Schrifttums, so etwa die Macy-Protokolle, war im Europa der 1950er Jahre schwer zugänglich, schließlich handelte es sich um spezifische Fachliteratur zu einem Thema, das selbst noch weitgehend unbekannt war. So bedurfte es Mediatoren wie Wieser, um der Kybernetik einen Platz in öffentlichen Orten der Wissensvermittlung, wie dem Buchhandel oder den Stadtbibliotheken, zu verschaffen.
Die Quellen, aus denen sich Cerhas Kybernetikbild speiste, sind vor dem Hintergrund derartiger Bezugsrelationen zu differenzieren. Im Folgenden soll den Spuren der drei Hauptakteure in seinem Sichtfeld – Wiener, Ashby und Wieser – stufenweise nachgegangen werden.
Seit ihrem Aufstieg als junge, verheißungsvolle Disziplin ist die Kybernetik untrennbar mit dem Namen Norbert Wieners verbunden. Er gilt gemeinhin als ihr ‚Erfinder‘, obwohl er selbst zeitlebens betonte, dass seine Entdeckungen das Ergebnis eines jahrelangen Austauschs mit anderen Wissenschaftler:innen und deren Vorstellungen waren, die „im Denken der Zeit“ lagen.58 Wieners Standardwerk Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine erschien 1948 unter der Schirmherrschaft mehrerer Verlage59 und zog erstaunlich weite Kreise – obwohl sich die Schrift intentional nicht an die breite Öffentlichkeit, sondern an ein Fachpublikum wandte. Der Grund hierfür lag nicht zuletzt in der orientierungsbedürftigen, für neue Impulse besonders empfänglichen Nachkriegszeit: Mit der Kybernetik hielt ein neues Schlagwort in den öffentlichen Diskurs Einzug und mit ihm ein Versprechen auf die Lösung vieler, während jener Zeit virulenter Probleme.
Wie viele neuzeitliche Wissenschaftsbereiche geht auch die Kybernetik auf einen antiken Topos zurück. Die etymologischen Wurzeln des Kunstworts leiten sich vom griechischen κ&ugr;β∊ρνήτης (lateinisch: gubernator) für „Steuermann“ ab.60 Im antiken Griechenland waren Ruderschiffe61 als Vorform der späteren Galeere eine Innovation. Sie besaßen gegenüber ihren Vorläuferbooten mit Segelantrieb den Vorteil, sich unabhängig vom Wind zu bewegen. Jedoch übten die Naturgewalten, ob Regen, Sturm oder Gezeiten, weiter einen Einfluss auf den geplanten Kurs aus und drohten seine Verfolgung zu durchkreuzen.62 Die Steuermänner konnten aber den Weg des Schiffes beeinflussen, indem sie ihr Auge auf einen entfernten Leuchtturm richteten und so das Ruder in Echtzeit anpassten.63 Dieses Bild legt auch den Nukleus der modernen Kybernetik offen: Als ‚Lehre vom Steuern‘ beschreibt sie das Erreichen von Zielzuständen unter Einfluss äußerlich einwirkender Kräfte. Wie der Untertitel von Wieners Kybernetik deutlich macht, enttarnt sich das dahinterliegende Prinzip des buchstäblich zielstrebigen Verhaltens als Regelung (oder „control“). Diese beruht „wesentlich auf der Weitergabe von Nachrichten [innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs]“.64 Damit ist der zweite, ebenfalls im Untertitel der Schrift aufscheinende Aspekt benannt: die Nachrichtenübertragung (oder „communication“). Das „Studium von Nachrichten und insbesondere von Regelungsnachrichten“, so Wiener, sei der „Gegenstand“ seiner ins Leben gerufenen Disziplin. Wieners Kybernetik ist somit eigentlich eine Kommunikationswissenschaft. Sie zentriert den Prozess des Sendens von Information65 (dem Nachrichtengehalt) an einen Regler und untersucht daraus folgende Regelungsvorgänge, die dazu im Stande sind, „den Zustand des Systems“66 zu ändern. Es entsteht eine charakteristische Schleifenkonstellation: Die Diagnose und Übermittlung eines gegenwärtigen Zustands (= Nachricht) dient als Input für eine Zustandsanpassung (= Regelung). Der Output dieser Anpassung wird wiederum zum neuen Input. Auf diese Formel gebracht lässt sich der Begriff des Feedbacks bzw. der Rückkopplung verstehen, um den die gesamte kybernetische Theorie kreist.
Bezeichnenderweise beschäftigte sich Wiener erstmals während des Zweiten Weltkriegs mit der Idee von Kreisprozessen und -schaltungen. Mit dem mexikanischen Physiologen Arturo Rosenblueth, einem Kollegen im anregenden Umfeld des MIT, hatte er schon seit Kriegsbeginn zusammengearbeitet, um die Leistungsfähigkeit der gegen die Deutschen gerichteten Flugabwehr zu verbessern.67 Das Problem: Die neuesten Maschinen verfügten über eine enorme Geschwindigkeit. Ein Geschoss musste also so abgefeuert werden, dass es erst später mit dem anvisierten Flugzeug zusammentreffen würde. Wiener und Rosenblueth entwickelten daraus folgernd eine Methode, um Luftrouten vorauszuberechnen.68 Dabei mussten nicht nur die technischen Voraussetzungen der Flugzeuge, sondern auch die psychologisch bedingten Reaktionen des feindlichen Piloten beachtet werden, der als moderner Steuermann seine Maschine navigierte. Diese war jedoch mit den Methoden der Mathematik kaum zu erfassen. Der Mensch wurde in der Informationskette zu einem Störfaktor. Vor diesem Hintergrund erwies sich Wieners „Kriegsprojekt“69 als Wiege der Kybernetik: Es eröffnete einen von vielen Faktoren bestimmten Untersuchungsraum, der nur interdisziplinär erschlossen werden konnte. Das Prinzip der Rückkopplung versprach jenes Element zu sein, das verschiedene Fachgebiete miteinander in Verbindung bringen konnte: Es zeichnete sich als globaler Mechanismus hinter sämtlichen regulatorischen, wechselwirkenden Vorgängen ab.
Eine Rückkopplung lässt sich grundsätzlich in zweifacher Weise beschreiben. Der erste Typus ist dadurch bestimmt, einen übermittelten Ist-Zustand so zu verändern, dass er einen angezielten Soll-Zustand zustrebt. Dafür werden die aktuell im System ablaufenden Prozesse in eine Gegenrichtung gelenkt. Ergibt sich ein solches komplementärdialektisches Verhältnis von ‚Soll‘ und ‚Ist‘, bei dem sich vom ‚Ist‘ durch eine Inversionsbewegung entfernt wird, so spricht man von negativer Rückkopplung oder Gegenkopplung.70 Um mit Wieners Worten zu sprechen: „Die Rückkopplung“ ist „dahin gerichtet […], sich der Tätigkeit des Systems zu widersetzen, sie ist also negativ.“71
Das kybernetische ‚Urbild‘ des abtreibenden Schiffs, das den Steuermann dazu veranlasst, Ruderausrichtung und Antrieb der natürlichen Wasserbewegung entgegenzustellen, bildet diese bei Wiener zentrierte Art der Rückkopplung in ihrer Idee vollumfänglich ab. Eine so entstehende Route wäre nicht geradlinig, sondern eher wellenförmig: Abtreiben und Kurskorrektur als widerstreitende Kräfte ergäben ein ständiges leichtes Schwanken um den idealen Weg. Dies ist typisch für den negativen Rückkopplungstyp: Er tendiert zu einem konstanten Mittelwert, einer Art gleichgewichtigem Zustand – wobei Gleichgewicht im Wortsinn durch die gegenseitige Nivellierung zweier Kräfte entsteht. Beobachtbar ist dies in unzähligen biologischen Organismen. Die Körperwärme eines gleichwarmen Tieres (so auch des Menschen) steht beispielsweise immer im Verhältnis zur Außentemperatur der Umwelt, weshalb der Organismus bei äußeren Extremwerten aktiv entgegenarbeiten muss, um eine ideale Körpertemperatur (wieder-) herzustellen. Wiener selbst führt die negative Rückkopplung – die bei ihm oft auch ohne das spezifizierende Adjektiv verwendet wird72 – in Kybernetik anhand mehrerer Fälle aus, um ein Bewusstsein für das wichtige „Glied in der Kette der Übertragung und Rückkehr der Information“ herzustellen.73 Das immer wieder zitierte, fast ikonische Beispiel für ein modernes, kybernetisches Steuerungsinstrument ist das Thermostat. Um eine Raumtemperatur zu halten, veranlasst es situationsbedingte Reaktionen. Wird die zu regulierende Temperatur überschritten, so verringert es den Fluss von Heizöl, wird sie unterschritten, so verstärkt es diesen. So arbeitet es einem konstanten Idealwert zu.74
Würde das Thermostat, beispielsweise aufgrund eines sensorischen Defekts, extreme Mengen Öl in die Heizungsanlage fließen lassen und so keinen zu haltenden Mittelwert mehr anstreben, spräche man nicht mehr von negativer, sondern von positiver Rückkopplung oder Mitkopplung. In diesem Fall wird ein gegenwärtiger Zustand in seinem Merkmal verstärkt, ohne zwingend einen Ausgleich zu beabsichtigen, in Gegenteil: Oft beinhaltet die derartige Verstärkung einer Ausgangsgröße die Gefahr, ein System zu zerstören, da sie mit einem anwachsenden Maß an Unordnung einhergeht. Alle Prozesse, die einer Kettenreaktion gleichen, sind im Bereich der positiven Rückkopplung anzusiedeln – eine Lawine etwa, die ihren Ausgang im vereinzelten Wegbrechen von Schnee nimmt und schließlich Massen davon loslöst, bis die Bewegung zwangsläufig zum Stoppen kommt.75
In Kybernetik ist die positive Rückkopplung nicht explizit als solche benannt, ihr Mechanismus wird aber durchaus thematisiert, indem Wiener auf die notwendige Begrenztheit des rückgekoppelten Steuerns verweist. Sei etwa die Gegenbewegung beim Rudern zu starr, so brächte sie „das Ruder zum Überschwingen […] und wird von einer Rückkopplung in der anderen Richtung gefolgt sein, die das Ruder noch mehr überschwingen lässt, bis der Steuermechanismus in wilde Schwingungen übergeht oder zum Schlagen kommt und vollständig zusammenbricht“.76 Integral präsent ist der positive Rückkopplungstyp auch im Konzept der Entropie als „Maß des Grades der Unordnung“.77 Das zweite Kapitel in Kybernetik, „Gruppen und statistische Mechanik“, kommt intensiver darauf zu sprechen. Wiener hält hier fest, dass die Entropie in „Systeme[n] mit einer großen Anzahl von Partikeln und Zuständen […] fast immer zunimmt“, so gesehen also eine (aus der Thermodynamik bekannte78) Tendenz zur gestaltauflösenden Zerstreuung besteht79 – vorausgesetzt, das System ist „vollständig isoliert“.80 Bereits 1865 umriss der Physiker Rudolf Clausius dieses Phänomen.81 Durch ein geläufiges Beispiel teilt sich das Prinzip mit: Beobachtet man Eiswürfel beim Schmelzen, so sieht man einem sich selbst verstärkenden Formverlust zu. Die Kristalle im Würfel lösen sich auf und die Wassermoleküle beginnen sich in unkoordinierter Form zu bewegen, anders gesagt: Die Entropie steigt an.82 In Wieners Mensch und Menschmaschine ist der Gegensatz von Ordnung und Unordnung im darin enthaltenen Kapitel „Fortschritt und Entropie“ titelgebend exponiert: Zielgerichtete Entwicklung auf der einen, unkontrollierter Zerfall auf der anderen Seite. En gros stehen diese Antithesen für die markanten Spannungsfelder der Kybernetik: negative Rückkopplung, Informationsübertragung und Regulation hier, positive Rückkopplung, Störgrößen und Eigendynamik dort. Die Zusammenhänge dieser Polaritäten werden in Wieners einzelnen Schriften oft nicht direkt ersichtlich, sondern erst im vergleichenden Querlesen deutlich. Entlang der Publikationshistorie lässt sich dabei verfolgen, wie die kybernetischen Ideen, ausgehend von Fachspezifika, verbreitert wurden.
Obwohl es auf den ersten Blick so scheint, ist Wieners Kybernetik im Gesamten keine grundlegende Erkundung der damals neuen Disziplin – „es handelt sich nicht um ein Lehrbuch“.83 Lediglich das umfangreiche Einführungskapitel ist für die Kartierung der Kybernetik als Wissensgebiet hilfreich. Die Schrift erweist sich stattdessen als eine Sammlung verschiedener Aufsätze, die jeweils in eigene Forschungsfelder, oftmals Spezialdiskurse, einführen. Im Verbund bilden die acht Kapitel der Erstausgabe kein kohärentes Werk, da sie nicht aufeinander aufbauen und sich nur eingeschränkt aufeinander beziehen. Zu diesem Eindruck einer ‚Flickenschrift‘ trägt auch die weitere Textgenese ihren Anteil. Die 1961 erschienene Neuauflage weist einige inhaltliche Ergänzungen auf. Zu ihnen zählen ein weiteres kurzes Vorwort sowie zwei komplettierende Kapitel: „Über lernende und sich selbst reproduzierende Maschinen“ (Kapitel 9) und „Gehirnwellen und selbstorganisierende Systeme“ (Kapitel 10). Wiener setzte mit diesen beiden Kapiteln neue, zeitaktuelle Akzente. Aus den Abstrakta der frühen Kybernetik materialisierten sich nun Anschauungen, die den Konnex zwischen Lebewesen und technoiden Systemen verdichteten.
In Mensch und Menschmaschine (1950), dem Follow-up zu Kybernetik, ist dieser Dualismus (besonders im deutschen Titel) ebenfalls betont. Zugleich wandte sich Wiener durch die Publikation dieses Textes der Gesellschaft zu, und zwar im doppelten Sinn. Einerseits bezeichnete er die Schrift als „kleinen, populären Gefährten“ seines Erstlingswerks,84 sie entstand also mit der Intention, breitere Leserschichten anzusprechen. Andererseits steht die Gesellschaft selbst im Zentrum des kybernetischen Blickwinkels. Das Buch baut merkbar auf dem achten, ursprünglich letzten Kapitel von Kybernetik auf: In „Information, Sprache und Gesellschaft“ skizziert Wiener bereits ethisch-soziale Implikationen ‚seiner‘ Disziplin. Die Annahmen über die Gesellschaft versuchte er nun auch ihr selbst zu vermitteln. Im Vorwort von Mensch und Menschmaschine weist Wiener explizit darauf hin, dass die Schrift mit der Intention entstanden sei, sein Vorgängerwerk sowie die „unbeträchtlichen sozialen Folgerungen seines Standpunktes“ einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.85 Der Philosoph Ranulph Glanville merkte später an, dass nur die Chronologie der Publikationen dazu geführt habe, dass die Kybernetik primär als ein Ingenieursfach wahrgenommen wurde. Erst Mensch und Menschmaschine habe schließlich aufgezeigt, dass es sich vielmehr um eine Denkweise, eine Welteinstellung handele.86