Organisationsaufstellungen -  - E-Book

Organisationsaufstellungen E-Book

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Beschreibung

Zwanzig Jahre nach der ersten Dokumentation zur Arbeit mit Aufstellungen in und für Organisationen zeigt dieses Buch, wie etabliert und differenziert dieser Ansatz mittlerweile geworden ist. Für das Verstehen und Bewältigen der Anforderungen an Führen und Entscheiden sind Organisationsaufstellungen ebenso hilfreich wie in der Arbeit mit Teams und Gruppen, in der Supervision oder im Kontext praktischer Politik. Erfahrene Autorinnen und Autoren geben hier Einblicke in ihre Fälle und Konzepte. Die Grundlage für das Verstehen erfolgreicher Arbeit mit Organisationsaufstellungen bilden Kapitel zu Basics des Aufstellens im Kontext von Organisationen und Arbeitsbeziehungen, zu unterschiedlichen Settings, sowie zu Forschung und zukünftiger Entwicklung. Mit Beiträgen von Friedrich Assländer • Regine Brick • Guillermo Echegaray • Marianne Franke • Klaus Horn • Birgit Theresa Koch • Roswiths Riepl • Albrecht Mahr • Georg Müller-Christ • M. Jane Peterson • Claude Rosselet • Ruth Seliger • Fritz B. Simon • Georg Senoner • Jan Jacob Stam • Gunthard Weber • John Whittington.

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Gunthard Weber Claude Rosselet (Hrsg.)

Organisationsaufstellungen

Grundlagen, Settings, Anwendungsfelder

2016

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2016

ISBN 978-3-8497-0140-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8044-9 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8030-2 (PDF)

© 2016 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Danksagung

Wir danken allen Autorinnen und Autoren dieses Buches für ihre anregenden und innovativen Beiträge. Markus Pohlmann und dem Lektorat des Carl-Auer Verlags, Dr. Ralf Holtzmann und Weronika J akubowska, danken wir für die aufwendige und sorgfältige Überarbeitung der Beiträge. Der Buchsatz von Melonie Drißner gefällt uns sehr.

Gunthard Weber & Claude Rosselet Einleitung

Einleitung

1 Gunthard Weber und Claude Rosselet im Gespräch über Entwicklungen in der Aufstellungsarbeit

CLAUDE ROSSELET Die Organisationsaufstellung hat sich aus der Praxis der Familienaufstellung heraus entwickelt. Dabei hat sie bei letzterer – zumindest in den Anfängen – viele Anleihen genommen: auf der Ebene der Interventionstechniken, des Settings und natürlich auch auf der Ebene von Erklärungsversuchen hinsichtlich dessen, was im Prozess des Aufstellens passiert. Erst nach und nach wurden neue Formate und Settings entwickelt sowie Erklärungsansätze von Organisationstheoretikern wie Edgar Schein, Karl E. Weick, C. Otto Scharmer und Dirk Baecker einbezogen. Du warst von Beginn an dabei und hast so manches auf den Weg gebracht. Magst du erzählen, was damals geschah?

GUNTHARD WEBER Da hatte der nicht zufällige Zufall seine Hand im Spiel. Und es verlief ähnlich wie im Jahr 1986, als ein paar Wiener Organisationsberater an Fritz Simon gelangten mit der Frage, ob er versuchen könne, mit ihnen die Prinzipien und Vorgehensweisen der systemischen Familientherapie auf die Organisationsberatung zu übertragen. Fritz Simon bat mich, mit ihm gemeinsam ein Seminar durchzuführen. Diese Veranstaltung war eine der Keimzellen, wenn nicht die Geburtsstätte der systemischen Organisationsberatung.

Acht Jahre später – 1994 – fragten die beiden Organisationsberater Thomas Siefer und Michael Wingenfeld dann Bert Hellinger, ob er in einem Seminar ausprobieren wolle, die Grundlagen und das Vorgehen aus den von ihm entwickelten Familienaufstellungen auf Beziehungen in Arbeits- und Organisationskontexten anzuwenden. Bert Hellinger bat Brigitte Gross und mich dazuzukommen, weil er damals noch wenig Erfahrung in der Bearbeitung von Themen aus der Welt der Organisationen bzw. Unternehmen hatte.

Ich war einigermaßen skeptisch: Gibt es nicht zu große Unterschiede zwischen Organisationen und Familien, was die Formen der Emergenz betrifft? Wie würde das hier mit der repräsentierenden Wahrnehmung funktionieren? – Auf überzeugende Art und Weise wurde ich eines Besseren belehrt: Ich stellte dort in Kufstein meine damalige Arbeitssituation auf. Ich war am Heidelberger Institut für systemische Therapie und Beratung (IGST) tätig. Ohne auf die Details der Aufstellung einzugehen, möchte ich die entscheidende Intervention von Bert Hellinger beschreiben. Er nahm zu einem bestimmten Zeitpunkt der Aufstellung meinen Stellvertreter aus dem Beziehungsgefüge des Instituts heraus, stellte ihn ans Fenster mit Blick nach draußen und bemerkte: »Man könnte ja auch noch woanders arbeiten.« Die Miene des Stellvertreters veränderte sich unmittelbar; sein Gesicht hellte sich auf und er atmete tief durch: »Hier ist Leichtigkeit, hier ist Freiheit und Kreativität. Hier ist neue Energie!«, sagte er und schien dabei große Erleichterung zu verspüren. Darauf bemerkte Bert Hellinger in seiner unverwechselbaren Art »Hier lass ich‘s!« und beendete die Aufstellung. Ich war beeindruckt. Zum einen widerspiegelte die Aufstellung tatsächlich vieles, was sich damals im Institut abspielte. Zum anderen gab es mir den Impuls, das Institut – das ich mit aufgebaut hatte, dem ich lange vorstand und das mir viel ermöglicht hatte – zu verlassen und in Wiesloch ein neues Institut zu gründen. Und dort waren wir auch kreativ und es fühlte sich leicht an.

Am Schluss des Seminars sagte Bert Hellinger zu mir: »Organisationsaufstellung ist für mich nicht so von Interesse – entwickle du das weiter.« Dieser »Auftrag« kam mir nicht sehr gelegen, hatte ich doch eigene Pläne. Doch im Verlaufe meiner weiteren Tätigkeit machte ich vermehrt Aufstellungen zu Themen aus dem Arbeits- und Organisationskontext. Ich begann mich zunehmend mit der Frage zu beschäftigen, welche Dynamiken in Organisationen als sozialen Systeme wirksam sind und welchen Gesetzmäßigkeiten sie unterliegen. Das Ergebnis war faszinierend. Und weil die Organisationsaufstellung rasch Interesse hervorrief, entschloss ich mich, 1998 in Wiesloch eine erste Tagung dazu durchzuführen. Auch schrieb ich einen Artikel, der eine gute Resonanz fand, und gab dann im Jahr 2000 das Buch »Praxis der Organisationsaufstellungen« heraus. Bis heute hat mich das Thema nicht losgelassen und die Organisationsaufstellung ist ein fester Bestandteil meiner Arbeit geblieben.

CLAUDE ROSSELET Mich interessiert, wie du zu den Ordnungsprinzipien – Klarheit hinsichtlich Zugehörigkeit, Vorrang des Ranghöheren, Vorrang des Dienstälteren, Vorrang des besonderen Einsatz Leistenden und Vorrang des wichtigeren Leistungsträgers – gekommen bist. Hast du diese direkt aus der Familienaufstellung abgeleitet oder haben sie sich in der Arbeit– durch Experimentieren – selbst herausgeschält? Ein wichtiges Element in Organisationsaufstellungen ist ja neben den involvierten Akteuren die Aufgabe als konstituierendes Moment, das du oft mit aufstellst.

GUNTHARD WEBER Ausgangspunkt waren die in der Familienaufstellung relevanten Ordnungsprinzipien. Meine Fragen lauteten: Gelten ähnliche Prinzipien in Organisationen? Gibt es eine entsprechende Platzierung der Stellvertreter im Raum? Was entspricht in Organisationen eventuell dem Vorrang der Eltern vor den Kindern? Das testete ich aus und schaute auf die Wirkung. Über Versuch und Irrtum kam ich zu den von dir angeführten Prinzipien und der entsprechenden Platzierung der Stellvertreter für die Leitung, die Mitarbeitenden und die Aufgabe im Raum. Wichtig war mir auch der Kontakt zu den Stellvertretern, die ich nach einer Umstellung immer fragte: »Ist es da besser oder schlechter? Gibt es einen Impuls zur Veränderung?« Dabei stellte sich heraus, dass es Konstellationen gab, die sich leicht und richtig anfühlten.

Ein weiteres Thema war jenes der Zugehörigkeit. Zur Familie gehört man durch Geburt. Diese Bande lässt sich nicht auflösen. Das gilt hinsichtlich der Organisation nicht: Zu ihr gehört man aufgrund eines freien Entscheides. Dieser kann jederzeit rückgängig gemacht werden. Ich beobachtete aber, dass die Länge der Zugehörigkeit zu einer Organisation Wirkung zeigt: Dienstältere Mitarbeiter wollen entsprechend geachtet werden. Ich sah auch die Folgen für das ganze System, wenn jüngere Mitarbeitende sich einen zentralen Platz anmaßten. Und ich entdeckte, dass der besondere Einsatz für die Organisation anerkannt und gewürdigt werden wollte. Ja, und dann ist immer eine (gemeinsame) Aufgabe zu bewältigen. Ihr – und vor allem der Ausrichtung auf sie – kommt in Organisationen eine zentrale Bedeutung zu. Organisationen werden kreiert, um spezifische Aufgaben zu erfüllen. Zu oft konzentriert man sich auf die Gestaltung der Beziehung zueinander und vergisst, dass die gemeinsame Aufgabe im Zentrum stehen sollte. Ist die Aufgabe im Blick, dann kommt es zur Fokussierung und zur Konzentration.

CLAUDE ROSSELET Mit Blick auf deine langjährige Erfahrung würde mich noch Folgendes interessieren: Was haben die Klienten gesucht, wenn sie bei dir eine Organisationsaufstellung machen wollten?

GUNTHARD WEBER Das variiert sehr – eher weniger Antworten auf Fragen des Managements, sondern Anliegen wie »Wie komme ich in der Organisation in meine Kraft?«, »Ich plane, ein Unternehmen oder Institut zu gründen, und möchte das mal aufstellen«, »Soll ich bleiben oder gehen?«, »Wie kann ich Konflikte mit Kollegen lösen?«, »Ich hätte gern Unterstützung bei einer Entscheidungsfindung.« Viel habe ich zu Themen in Familienunternehmen aufgestellt. Dabei kam mir zugute, dass ich mich sowohl in Familiendynamiken als auch in Organisationsdynamiken gut auskenne. So konnte ich beide Seiten in den Blick nehmen. Denn zwischen den beiden Systemen gibt es ja immer Kontextvermischungen, Interferenzen und Überschneidungen. Natürlich kamen auch Manager zu mir mit Fragen wie: »Welche Auswirkungen könnte die geplante Umgestaltung der Holdinggesellschaft haben? Was wäre möglich? Worauf sollte man besser verzichten?«

Schon recht früh entwickelte ich die Überzeugung, dass die Aufstellungsarbeit zu Organisationsdynamiken eher in die Hand von Organisationsberatern gehört. So gab ich den Anstoß zur Gründung der »Ostergruppe«, aus der im Jahr 2004 das »Internationale Forum für Systemaufstellungen in Arbeits- und Organisationskontexten« (Infosyon) hervorging. Darin haben sich vor allem Coachs und Organisations- bzw. Unternehmensberater zusammengeschlossen.

CLAUDE ROSSELET Dort stellte sich von Beginn an die Frage: Wie lässt sich die Aufstellungsarbeit – außer im Einzelsetting und im Standardsetting des offenen Seminars – auch organisationsintern im Rahmen von Workshops mit Teams einsetzen? Damit taten sich viele Berater schwer. Ich erinnere mich an folgende Äußerung eines sehr erfahrenen Organisationsberaters: »Ganz selbstverständlich wende ich die Aufstellungsarbeit im Rahmen meiner Coaching-Sitzungen – also im Einzelsetting – an. Doch es fällt mir nicht leicht, in einem Strategie Workshop beispielsweise meinen Kunden eine Organisationsaufstellung vorzuschlagen.«

GUNTHARD WEBER Wären Aufstellungen im Kontext der Organisationsberatung entstanden, so wäre dies möglicherweise anders gewesen. Aufstellungsarbeit wurde oft belächelt und die Menschen, die sie anboten, nicht ganz ernst genommen. Diese Vorstellungen haben dann wohl auch, wie eine Art Schere im Kopf, Berater daran gehindert, Aufstellungen ganz selbstverständlich im Workshopsetting anzubieten. Die Fälle allerdings, die mir bekannt sind, verliefen oft erfolgreich und die Manager waren überzeugt von der Effektivität und Effizienz des Verfahrens.

CLAUDE ROSSELET Manager mit Erfahrung in der Organisationsaufstellung zeigen sich immer beeindruckt davon, was alles ans Licht kommt. Allerdings bleibt bei manchen ein Rest an Skepsis der Aufstellungsarbeit gegenüber bestehen: Manager – und Berater – haben letztlich keine Erklärung dafür, wie das Verfahren funktioniert. Auch lässt sich in der Welt des Managements eine Entscheidung nicht unter Hinweis auf eine Aufstellung rechtfertigen: Die Methode hat keinen angestammten Platz im »Business as usual«. Ein Manager sagte einmal zu mir: »Wenn ich den Zufall ins Spiel bringen will, dann werfe ich lieber eine Münze!«

Gelegentlich setzen Manager Organisationsaufstellungen mit Familienaufstellungen und deren manchmal heftigen Emotionen gleich und äußern sich abwehrend: »Bloß nicht in meinem Unternehmen!«

GUNTHARD WEBER Ich wende die Aufstellungsarbeit im Setting der offenen Seminargruppe an: Einzelne Klienten kommen zu mir und wollen ihre berufliche Situation oder Fragen aus ihrer Organisation klären. Du hast einen etwas anderen Weg gewählt: Du arbeitest organisationsintern mit Gruppen und Teams im Rahmen von Workshops zur Klärung von Fragen zur Lenkung, Gestaltung und Entwicklung der Organisation als Ganzes. Dabei setzt du die von der Fragestellung Betroffenen als Stellvertreter ein. Davor habe ich früher immer gewarnt. Wie genau gehst du da vor?

CLAUDE ROSSELET Auch dabei war Zufall im Spiel. Nach meiner Weiterbildung in Familienaufstellung – damals gab es noch keine Trainings für Organisationsaufstellungen – bot ich regelmäßig Seminare für Manager an. Ich hatte natürlich gehofft, dass die Manager in Scharen herbeiströmen und diese einzigartige Gelegenheit nutzen, um Fragen zu klären. Ich wurde eines Besseren belehrt: Es kamen vor allem Beraterkollegen und nur sehr zögerlich Manager. Ich erkundigte mich im Rahmen einer kleinen Umfrage nach dem Grund für die Zurückhaltung und erhielt eine klare Antwort: Den Managern war es zuwider, so viel Zeit – die Dauer eines mehrtägigen Seminars – für die Lösung eines Problems aufzuwenden; auch wollten sie nicht ihre Themen und Fragestellungen in einer Gruppe mit ihnen fremden Menschen offenlegen und schon gar nicht die Information preisgeben, wie ihr Unternehmen sich einen Marktvorteil verschafft.

Wenn also die vielbeschäftigen – und etwas misstrauischen – Manager nicht zur Aufstellungsarbeit kommen, dann muss die Aufstellungsarbeit zu ihnen gehen! Also beabsichtigte ich, die Organisationsaufstellung organisationsintern in Workshops mit Managementteams anzubieten. Dabei wollte ich nicht Kollegen in die Workshops mitbringen, die sich als Stellvertreter zur Verfügung stellen – ein solches Prozedere schien mir zu riskant und zu aufwendig. Nein, ich wollte die anwesenden, von der Frage selbst betroffenen Mitglieder des Managementteams als Stellvertreter einsetzen. Doch dem stand ein Hindernis im Weg: Du hattest, wie gesagt, immer Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Betroffenen in Aufstellungen.

Und wieder kam der Zufall zuhilfe. Ein Beraternetzwerk, mit dem ich zusammenarbeitete, hatte Schwierigkeiten, eine Dienstleistung zu vermarkten. Bei einem Treffen, an dem ich zugegen war, wurde ich angesprochen: »Du arbeitest doch mit Aufstellungen. Könntest du dieses Thema nicht mal aufstellen?« Ich war bereit, aber es standen nur die betroffenen Berater als Stellvertreter zur Verfügung. Der Dreh war folgender: Ich ließ nicht Stellvertreter für die einzelnen Berater aufstellen, sondern für Personengruppen – das Beraternetzwerk als Ganzes, die an der Entwicklung der Dienstleistung beteiligten Berater und die potenziellen Kunden – sowie für die drei Elemente Mission des Berater-Netzwerkes, Dienstleistung und Nutzen der Dienstleistung. Die Aufstellung brachte ans Licht, dass Uneinigkeit hinsichtlich der Mission bestand. Das gab einen entscheidenden Ruck im Beraternetzwerk. Und mir wurde klar: Es ist sehr wohl möglich, von der Fragestellung Betroffene als Stellvertreter aufzustellen!

Ein weiterer Zufall war, dass der CEO Dr. Luigi Pedrocchi auf mein Angebot einging, ihn und sein Managementteam bei der Bearbeitung einer Reihe wichtiger strategischer Entscheidungen zu begleiten und dabei die Organisationsaufstellung einzusetzen. In dieser Zusammenarbeit entwickelte sich ein Setting, das die Organisationsaufstellung mit anderen Interventionstechniken in einen gestalteten Prozess der intuitiven Entscheidungsfindung integriert.

Bei einem Treffen der Ostergruppe erzählte ich von meiner Arbeit. Georg Senoner war Zuhörer und sagte zum Schluss: »So arbeite ich auch.« Das war der Anfang einer langen und fruchtbaren Zusammenarbeit und Freundschaft. Gemeinsam mit Henriette Lingg – sie brachte die Konzepte und Interventionspraktiken der Strukturaufstellung ein – publizierten wir 2007 das Buch »Management Constellations«. Mein Fazit lautet: Wenn ein Managementteam seinem Berater vertraut und der Teamleiter keine Vorbehalte gegenüber Organisationsaufstellungen hat, kann man die Aufstellungsarbeit getrost einsetzen. In der Regel ist es einfacher, bereits in einer frühen Phase des Beratungsprozesses mit Aufstellungen zu arbeiten: also bereits bei der Auftragsklärung mit dem Leiter – hier verwende ich meine Holzfiguren oder auch Gegenstände auf dem Sitzungstisch – oder bei der Situationsanalyse zu Beginn eines Workshops.

GUNTHARD WEBER Ich vertraue gänzlich auf die direkte Wirkung der Aufstellung, auf die Impulse, die ein Klient dadurch erhält. Nach meiner Erfahrung sind in offenen Seminaren nach Aufstellungen keine längeren Ausführungen nötig. Du machst es anders: An die szenische Arbeit schließt du ein Gespräch, einen Dialog, an. Schmälert das die Wirkung dessen, was man in der Aufstellung erfährt, nicht? Oft habe ich beobachtet, dass Berater während der Aufstellung beratend intervenieren oder Kommentare abgeben. Meiner Ansicht nach stört dies den Fluss des Aufstellens, die schwachen Signale aus dem impliziten Wissen werden gleichsam übertönt.

CLAUDE ROSSELET Der Dialog nach der szenischen Arbeit ist im Workshopsetting ein wichtiges Element. Er schmälert keineswegs die Wirkung, sondern dient der Abstimmung der Einsichten zwischen den Teammitgliedern und der Vereinbarung konkreter nächster Schritte zur Umsetzung des Lösungsimpulses. Oft werden dabei zusätzliche Themen angesprochen. In der Aufstellungsarbeit zeigen sich ja Schwierigkeiten als Folge dysfunktionaler Dynamiken im System als Ganzem. Das hat etwas Entlastendes: Ein Scheitern wird nicht einem einzelnen Teammitglied als persönliches Versagen zugeschrieben. Man steht gemeinsam für das Ganze ein. Zusätzlich fokussiert die Aufstellungsarbeit auf Lösungen statt auf Probleme.

Während der szenischen Arbeit, also während der Aufstellung, halte ich es so wie du: Ich gebe weder Kommentare ab, noch interpretiere ich, was sich in der Aufstellung zeigt. Aufstellung ist in meinen Augen ein kokreativer Prozess: Gemeinsam bestimmt man, was aus dem schöpferischen Impuls werden soll.

GUNTHARD WEBER Für mich schälen sich nun zwei unterschiedliche Vorgehensweisen heraus. Ich prüfe, welche persönlichen Muster aktiviert werden in einer bestimmten Situation des Arbeits- und Organisationskontextes. Muster, die durchaus zu tun haben können mit Dynamiken in der Herkunftsfamilie des Klienten. Die Organisation des Klienten bildet dabei gleichsam den Hintergrund. Bei dir hingegen rückt dieser Hintergrund in den Fokus: Gegenstand deiner Arbeit sind die Dynamiken der Organisation. Kannst du kurz zusammenfassen, was die zentralen Momente dieser Praxis sind?

CLAUDE ROSSELET Ich arbeite bei meinen Kunden im Rahmen eines organisationsinternen Workshops. Diese Kunden sind nicht Einzelpersonen, sondern Teams. In der Regel stecken sie in einer Situation fest, die von mehrdeutiger Information, Komplexität und Turbulenz geprägt ist. Sie wollen nicht nur Einsicht in die Situation nehmen, sondern gemeinsam ins Handeln kommen. Oft haben sie bereits vergeblich versucht, das Problem mit ihren gewohnten betriebswirtschaftlichen Methoden zu lösen.

Bei meinen Interventionen geht es um Sinn- bzw. Orientierungsstiftung unter Einbezug des impliziten Wissens. Eher selten suche ich die Vergangenheit der Organisation nach Ereignissen ab, die das Gewissen belasten. Gewinnbringend scheint mir zu sein, sich dem schöpferischen Impuls anzuvertrauen, der zu ersten Schritten in eine immer offene Zukunft ermutigt.

GUNTHARD WEBER Wenn ich in einem offenen Seminar arbeite, erstaunt mich immer, in welch kurzer Zeit eine vertrauensvolle, ja intime Atmosphäre entsteht. Ist das im Setting des Teamworkshops auch so?

CLAUDE ROSSELET Nicht ganz. Teamentwicklung ist nicht intendiert, tritt aber als Nebeneffekt auf. Bei meiner Arbeit im Workshopssetting fokussiere ich nicht auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Teammitgliedern. Diese wie auch persönliche Themen der einzelnen Mitglieder rücken in den Hintergrund. Das haben in einem Fall einzelne Mitglieder eines Managementteams denn auch bemängelt. Diesbezüglich hätten sie mehr Klärung gewünscht. Zur Klärung der Beziehung zwischen einzelnen Teammitgliedern setze ich im Workshopsetting jedoch nicht die Aufstellungsarbeit ein, sondern andere systemische Vorgehensweisen oder, wenn ich szenisch arbeiten will, das räumliche Soziogramm. Aber es ist ja bekannt: Wenn etwas gut läuft, dann möchten die Klienten mehr desselben. Dann liegt es im Ermessen des Beraters zu bestimmen, wann und wo er eine Grenze setzt. Und natürlich ist es hilfreich, über mehrere Interventionsmethoden zu verfügen.

GUNTHARD WEBER Wenn wir auf die Entwicklung der Aufstellungsarbeit schauen, gab es Ende der 1990er Jahre bei der Familienaufstellung einen regelrechten Hype – mit allem, was dazu gehört: Euphorie und teilweise sehr abwertende Kritik. Die Entwicklung der Organisationsaufstellung scheint anders zu verlaufen. Sie sickert mehr in die Welt der Beratung und des Managements ein. Siehst du das auch so?

CLAUDE ROSSELET Ja, einen Boom der Organisationsaufstellung gab es nie und ich vermute, es wird auch keinen geben. Aber zunehmend mehr Berater kennen und schätzen die Aufstellungsarbeit und wollen sie gerne anwenden. Viele von ihnen beherrschen dieses Handwerk tatsächlich. Es könnte durchaus sein, dass die Organisationsaufstellung über diese Berater in die Welt des Managements einsickert – mir gefällt dieses Bild! Das wird dann ganz selbstverständlich geschehen.

Organisationsaufstellung sollte man nicht anpreisen, schon gar nicht als ultimativen Heilsweg. Ich finde, man muss das Verfahren auch nicht zwingend in Verbindung bringen mit Prinzipien, die aus der Morallehre abgeleitet sind und systemisch genannt werden, was recht häufig passiert und Verwirrung stiftet. Man kann ja durchaus der Meinung sein, dass der kokreative Prozess des Aufstellens, also der Akt des Sich-Aufeinander-Beziehens und des gemeinsamen Gewahrwerdens, selbst schon eine gute Tat ist.

GUNTHARD WEBER Ich kann nachvollziehen, wenn Manager ambivalent gegenüber Aufstellungen sind. Vieles verstehe ja auch ich noch nicht: wie die repräsentierende Wahrnehmung funktioniert und ein schöpferischer Impuls entsteht. Von außen betrachtet, üben wir tatsächlich etwas aus, das unüblich und merkwürdig ist. Was mich bei dieser Arbeit hält, sind die positiven Feedbacks der Klienten. Bestärkend ist auch die kürzlich in Heidelberg erstellte erste universitäre Studie zu Systemaufstellungen. In ihr wird nachgewiesen, dass die Wirkung einer Aufstellung mindestens über ein Jahr hinweg anhält, zu einer Verbesserung der psychischen Befindlichkeit führt, zu einem höheren Grad der Erreichung subjektiver Ziele sowie einem verbesserten Erleben zwischenmenschlicher Beziehungen. – Vielleicht lässt sich das Interesse von Universitäten an der Aufstellungsarbeit ja noch weiter wecken.

CLAUDE ROSSELET Du gibst mir das Stichwort. Es freut mich sehr, dass sich 2014 Therapeuten und Berater, die die Aufstellungsarbeit seit vielen Jahren ausüben und (international) weitervermitteln, mit interessierten Vertretern aus der universitären Lehre und Forschung zu einem Forschungskreis zusammengefunden haben. Dieser Diskurs über Praktiken und ihre Grundlagen wird die »Community of Practice« mit Sicherheit stärken. Und das – so denke ich – wird sich wiederum positiv auf die Rezeption der Arbeit, sei es in der Therapie oder in der Beratung von Organisationen, auswirken.

GUNTHARD WEBER Und das wird vielleicht auch zur Entmystifizierung der Aufstellungsarbeit beitragen. Möglicherweise entwickelt sich gar eine Theorie mit schlüssigen und ausdiskutierten Konzepten. Damit würden wir in die Phase der Ernüchterung treten und die erste Phase – die der Grandiosität – hinter uns lassen. Diesen Weg beschreiten ja alle neuen Methoden.

Wichtig ist, dass die Aufstellungsarbeit in ihrer stringenten Form erhalten bleibt, nicht in andere Interventionstechniken diffundiert und dort fast unkenntlich wird. Diese Tendenz lässt sich aber im Augenblick beobachten. Deshalb ist es gut, dass sich die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellung (DGfS) weiterhin für die Einheit der Methode und ihre spezifische Wirkungsweise einsetzt. Ich befürworte ein Zusammenrücken der unterschiedlichen Vereinigungen unter einem gemeinsamen Dach. Schließlich ist das Verfahren in seiner Grundstruktur immer dasselbe. Es wird bloß in unterschiedlichen Kontexten angewendet.

1  Grundlegendes

2 Basics des Aufstellens von Organisationen und Arbeitsbeziehungen Grundlagen und Vorgehensweisen

Gunthard Weber

In diesem Beitrag werden Organisationsaufstellungen als eigenständige Beratungsmethode gesehen, die geeignet ist, Organisationsdynamiken in ihrem jeweiligen Kontext sichtbar werden zu lassen und in Organisationen und Arbeitsbeziehungen nützliche und sinnvolle Veränderungen anzustoßen. Das Mitgeteilte beschränkt sich vor allem auf die Praxis der Organisationsaufstellungen. Für jene, die längere Zeit mit diesem Ansatz arbeiten, ist es offensichtlich, dass durch das Aufstellen von Organisationen gewonnene Erkenntnisse und Einsichten auch in herkömmlichen Organisations- und Unternehmensberatungen nützliche Anwendung finden können (vgl. Horn u. Brick 2001; Grochowiak u. Castella 2001; Groth u. Stey 2012; Rosselet 2013).

In Organisationsaufstellungsseminaren wende ich immer wieder in ähnlicher Form Aufstellungsformen und -elemente (z. B. Entscheidungsaufstellungen, Tetralemma- oder Problemaufstellungen) an, wie Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd sie als Systemische Strukturaufstellungen in ihren Grundlagen entwickelt und zunehmend verfeinert haben (Sparrer 2001b, 2009; Sparrer u. Varga von Kibéd 2010; Varga von Kibéd u. Sparrer 2000).

Bereits im ersten Grundsatzbeitrag zu Organisationsaufstellungen (Weber u. Gross 1998) wurden wesentliche Prinzipien und Vorgehensweisen des Aufstellens von Organisationen beschrieben. In der Zwischenzeit sind viele Erweiterungen erarbeitet worden, vor allem spezifische Fokussierungen und Vorgehensweisen im Prozess des Aufstellens sowie Übertragungen auf spezielle Anwendungsbereiche (siehe Literatur am Ende des Buches). Die Leitidee dieses Beitrags ist es, einerseits Basiskenntnisse über die Praxis der Organisationsaufstellungen zu vermitteln und darzustellen, welche Unterschiede zu dem jeweils Vorhandenen in den Phasen einer Organisationsaufstellung auf welche Weise angeregt werden.

2.1 Zwei Zugangsweisen zur Wirklichkeit in Organisationen

Die systemisch-konstruktivistische und die systemisch-phänomenologische Zugangsweise bewähren sich in der Organisationsberatung und in Seminaren mit Organisationsaufstellungen gleichermaßen; beide erweisen sich in einem sich gegenseitig ergänzenden und potenzierenden Sowohl-als-auch als besonders wirksam (Essen 2001; Madelung 1998, 2001; Sparrer 2001b):

Die systemisch-konstruktivistische Sichtweise stellt uns ein den Gesetzmäßigkeiten lebender Systeme gemäßes theoretisches Gerüst zum Verständnis und zur Beeinflussbarkeit wechselwirksam vernetzter Strukturen zur Verfügung. Die in der systemischen Beratung entwickelten Vorgehensweisen haben sich als gut vermittelbare und nützliche Methoden erwiesen, Veränderungen in Organisationen anzuregen. Das »zirkuläre Fragen« (Beilfuß 2008, 2015; Simon u. Rech-Simon 2015; Tomm 1996) ermöglicht uns z. B., im Fluss von Gesprächsprozessen den jeweils nächsten Schritt der Anregung von Unterschieden dosiert und in Abstimmung mit den verbalen Rückmeldungen sowie den averbalen Reaktionen der Klienten vorzunehmen.

Der phänomenologische Erkenntniszugang hingegen schärft unsere Präsenz, Wahrnehmungsfähigkeit und Beziehungssensibilität. Er bringt auf ganz unterschiedliche Weise vorher Unbekanntes und Implizites, also nicht oder bis dahin noch nicht so Gesehenes, ans Licht und führt uns auf anderen Wegen zu guten Lösungen. Bert Hellinger hat 1999 in seinem Vortrag »Einsicht durch Verzicht« die Unterschiede zwischen dem wissenschaftlichen und dem phänomenologischen Erkenntnisweg klar und dicht benannt (Hellinger 2001a, S. 14; vgl. Mahr 1998 zum »wissenden Feld«):

»Die zweite Bewegung entsteht, wenn wir während des ausgreifenden Bemühens innehalten und den Blick nicht mehr auf ein bestimmtes Fassbares, sondern auf ein Ganzes richten. Der Blick ist also bereit, das Viele vor ihm gleichzeitig aufzunehmen. Wenn wir uns auf diese Bewegung einlassen, zum Beispiel im Angesicht einer Landschaft oder einer Aufgabe oder eines Problems, merken wir, wie unser Blick zugleich füllig wird und leer. Denn sich der Fülle aussetzen und sie aushalten kann man nur, wenn man zunächst vom Einzelnen absieht. Dabei halten wir in der ausgreifenden Bewegung inne und ziehen uns etwas zurück, bis wir jene Leere erreichen, die der Fülle und Vielfalt standhalten kann … Die phänomenologische Haltung erfordert gespannte Handlungsbereitschaft, doch ohne Vollzug. Durch diese Spannung werden wir in höchstem Maße wahrnehmungsfähig und wahrnehmungsbereit. Wer die Spannung aushält, erfährt nach einer Weile, wie sich das Viele innerhalb des Horizontes um eine Mitte fügt, und er erkennt plötzlich einen Zusammenhang, vielleicht eine Ordnung, eine Wahrheit oder den weiterführenden Schritt. Diese Einsicht kommt gleichsam von außen, wird als Geschenk erfahren und ist, in der Regel, begrenzt.«

Auch Hellinger betrachtet den wissenschaftlichen und den phänomenologischen Erkenntnisweg als zwei unterschiedliche, sich aber ergänzende und gleich sinnvolle Zugänge zur Wirklichkeit (ebd.):

»Diese zuerst innehaltende und dann sich zurücknehmende Bewegung nenne ich phänomenologisch. Sie führt zu anderen Einsichten als die ausgreifende Erkenntnisbewegung. Dennoch ergänzen sich beide. Denn auch bei der ausgreifenden, wissenschaftlichen Erkenntnisbewegung müssen wir zuweilen innehalten und unseren Blick vom Engen auf das Weite richten, vom Nahen auf das Ferne. Und auch die phänomenologisch gewonnene Einsicht bedarf der Überprüfung am Einzelnen und Nächsten.«

Als einziger grundsätzlicher Unterschied erscheint mir, dass Bert Hellinger einen Zugang zum Seienden hinter dem Sichtbaren für möglich hält sowie naturgegebene Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen vermutet, die gefunden und nicht erfunden werden und denen man seiner Einsicht gemäß deshalb besser zustimmt und folgt. Die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus lehnt Hellinger ab. Insbesondere die Leitidee des radikalen Konstruktivismus, aber auch des sozialen Konstruktionismus (Gergen u. Gergen 2009), derzufolge wir unsere gesellschaftliche Wirklichkeit in Sprache gemeinsam konstruierten, greift er an. Dabei übersieht Hellinger, dass es bei diesem Wirklichkeitszugang nicht um willkürliche und beliebige Konstruktionen geht, sondern um die Frage, ob die Bedeutungsgebungen und die sich daraus ergebenden Handlungen viabel sind und passen, also den Lebenvollzügen gemäß und mit ihnen vereinbar sind (von Glasersfeld 1991).

Die Konstruktivisten dagegen vertreten die Hypothese, dass wir keine objektiven Erkenntnisse über das Sein an sich gewinnen können und die sich im mitmenschlichen Bereich ausbildenden Regeln und Muster in weiten Bereichen konsensuell vereinbart sind und gemeinsam aufrechterhalten werden (Luhmann 1984; Maturana u. Varela 1987). Das heißt aber nicht, dass es nicht nützliche Muster und Regeln für das Überleben und das Gedeihen von Beziehungen und Organisationen gibt oder, in der für Aufstellungen passenderen Raummetapher ausgedrückt, bessere oder schlechtere Plätze.

Bert Hellinger selbst sieht die Ordnungen, die er beschreibt, in einem Fluss. Auch wenn es sich bei ihm gelegentlich so anhört, sind sie für ihn nicht in steinerne Tafeln gehauen als ewig und generalisiert gültige Gewissheiten, sondern als sich entfaltende und gleichzeitig Grenzen setzende und Raum gebende Lebensprinzipien (Essen 2001; Hellinger 1998, S. 45 über Ordnung und Fülle; Madelung 1998, 2001; Mücke 2000).

2.1.1 Raum und Sprache als Dimensionen und Mittel, Unterschiede zu erzeugen

Auch wenn wir immer in und durch Sprache sind, stehen bei Organisationsaufstellungen die räumlichen Repräsentationen und die Nutzung dargestellter und sich verändernder Raumbilder im Vordergrund. Dies hat den großen Vorteil, dass durch die innerhalb kürzester Zeit aufgestellten inneren Bilder eines Systems eine für alle gleichzeitig erfahrbare systemische Repräsentation eines Systems entsteht. Deren Veränderungen können alle Anwesenden als Klienten, Aufstellungsleiter, Repräsentanten und teilnehmende Beobachter aus der Innen- und der Außenperspektive wahrnehmen und körpernah erleben. Die Evidenz der dann entwickelten Lösungsbilder wird durch diesen kollektiv gestalteten Prozess gegenseitiger Bestätigungen wesentlich erhöht. Eine gemeinsame, intersubjektive Wirklichkeit ist wirklicher als eine nicht geteilte. Die analogen Raumbilder sind zudem haltbarer gespeichert und später leichter wieder abrufbar.

Besonders wichtige Lösungsvollzüge werden in Organisationsaufstellungen durch kurze und kraftvolle Sätze vertieft, bestärkt und ergänzt, die insbesondere veränderte Haltungen ausdrücken: »Jetzt anerkenne ich Sie als …«, »Ich danke Dir für …«, »Es tut mir leid, dass …«, »Du hast hier die älteren Rechte …« (siehe unten; »Sätze der Kraft« in Hellinger 1995). So ergänzt sich in der Aufstellungsarbeit im Prozess der Unterschiedserzeugung die Nutzung von Raum- und Sprachbildern und alle Sinne werden aktiviert.

2.2 Basisunterscheidungen bei Schwierigkeiten in Organisationen

Wer als Berater mit Schwierigkeiten in Organisationen oder Unternehmen konfrontiert wird, kann sich folgende Fragen stellen:

In welchem Maße wird die Situation, über die berichtet wird, durch persönliche Muster der Mitarbeiter mitgeprägt, die ihren Ursprung in deren lebensgeschichtlichen Erfahrungen oder in Dynamiken ihrer Herkunftsfamilien haben? Wie werden diese Muster eventuell in der Organisation reinszeniert oder wie spiegeln sie sich in den beschriebenen Situationen?

In welchem Maße hängen die geschilderten Organisationsprobleme mit Beziehungskonflikten oder dysfunktionalen Kommunikationsmustern der Mitarbeiter oder Abteilungen zusammen (durch Rivalitäten und Positionskämpfe um Einfluss, um bevorzugte Beziehungen zu wichtigen Personen oder um Status oder Privilegien; durch gegenseitige Abwertungen, Koalitionsbildungen, Triangulierungen oder Rachedynamiken wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Benachteiligungen oder ausgebliebener Würdigungen; durch Kontextvermischungen zwischen privatem und dienstlichem Bereich etc.)?

Werden Leitungs- und Führungsaufgaben und -funktionen adäquat ausgeübt?

Sind die Organisationsstrukturen und -abläufe funktional gestaltet? Sind auftretende Beziehungsschwierigkeiten eventuell Ausdruck dysfunktionaler Strukturen?

Hat es Veränderungen der Umwelt (z. B. des Marktes) gegeben, an die sich die Organisation (noch) nicht hinreichend anpassen konnte oder stehen solche bevor?

Oft sind mehrere dieser Faktoren zugleich beteiligt und verstärken sich unter Umständen gegenseitig. Dann muss der Berater abwägen, welche Veränderungen in welchem Bereich den umfassendsten Wandel anzuregen in der Lage sind. Zu all diesen Fragen können Organisationsaufstellungen wichtige Hinweise und oft zentrale Einsichten bereitstellen.

2.3 Settings von Organisationsaufstellungen

2.3.1 Gruppensetting in Aufstellungsseminaren

Hierbei handelt es sich meistens um ausgeschriebene Gruppen, zu denen sich Menschen anmelden, um gute Hinweise für Schwierigkeiten in ihren Arbeitsbeziehungen oder Organisationen oder Supervision für Beratungsprozesse suchen. In diesen Gruppen kennen sich die meisten Teilnehmer vorher nicht, alle sind gleichwertig und können sich frei und unbeeinflusst durch einschränkende Kontextfaktoren des eigenen Arbeitssystems zeigen. Die Aufstellenden können in diesem Setting ihre inneren Bilder unverfälscht »entäußern« und sich mit den Lösungsbildern so auseinandersetzen und sie wirken lassen, wie es für sie gut und richtig ist. Die Repräsentanten können das mitteilen, was sie wirklich an den ihnen jeweils zugewiesenen Plätzen empfinden. In einer Gruppe, die sich neu zusammensetzt, ist es leichter, ein Klima gegenseitiger Wertschätzung, Achtung und wechselseitigen Vertrauens zu etablieren als in einem länger zusammenarbeitenden Arbeitssystem, in dem sich vielleicht schon verfestigte Zuschreibungen und Beziehungsmuster eingeschliffen oder sich gegenseitig abgrenzende und argwöhnisch beobachtende Untergruppen gebildet haben.

Organisationsaufstellungen lassen sich weiterhin gut als Element unterschiedlichster themenzentrierter oder Weiterbildungs-Gruppen (Supervisionsgruppen, Seminaren zu Führungsthemen etc.) anwenden. Würden wir die Aufstellungsarbeit aber auf solche Gruppensettings beschränken, engten wir ihre Anwendungsmöglichkeiten unnötig ein. Denn wo hat man außer in Aus- und Fortbildungssettings schon regelmäßig Gruppen mit 15 bis 20 Mitgliedern zu Verfügung? Organisationsaufstellungsseminare können aber auch einen Nachteil haben: Wer sich zu einem solchen Seminar angemeldet hat, erwartet, dass er oder sie eine eigene Aufstellung machen kann. Immer aber ist dabei zu prüfen, ob eine Aufstellung die geeignete Vorgehensweise für ein Anliegen ist. Das Angebot solcher Gruppen ist leider immer noch beschränkt.

2.3.2 Lernwerkstätten und Intervisionsgruppen

Wegen des begrenzten Angebots und der bisher geringen Zahl von Trainern oder Instituten, die Weiterbildungen zu Organisationsaufstellungen anbieten, haben sich Lernwerkstätten und Intervisionsgruppen inzwischen als kreative Alternative zu Weiterbildungsgruppen und Organisationsaufstellungs-Seminaren etabliert. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine ganze Reihe solcher regionalen Gruppen, die teilweise schon über Jahre existieren. Sie bestehen meist überwiegend aus Unternehmens- und Organisationsberatern und solchen, die es werden wollen. Gelegentlich nehmen auch Manager und in psychosozialen Kontexten Arbeitende an diesen Gruppen teil.

Die Lernwerkstätten dienen vor allem dem Erfahrungsaustausch über die Methode der Organisationsaufstellungen und deren Grundlagen sowie dazu, das Aufstellen von Organisationen und Arbeitsbeziehungen unter gegenseitiger Anleitung zu erfahren und zu erlernen. Um in diesen Gruppen aus Gleichgestellten ein Konkurrieren und ein Zuständigkeitsdurcheinander zu vermeiden, geben sie sich meist klare Regeln. Damit können die Aufstellungsprozesse in der Gruppe sinnvoll und strukturiert ablaufen, ohne zu oft unterbrochen oder durch ausgedehnte Diskussionen und Nachbesprechungen paralysiert zu werden. So wählt z. B. jemand, der ein Thema aufstellen möchte, einen Gruppenteilnehmer, der seine Aufstellung anleitet, und dieser kann seinerseits einen dritten Teilnehmer bitten, ihn im Verlauf der Aufstellung bei Bedarf zu unterstützen.

Solche Gruppen dienen auch zur Supervision eigener Beratungsfälle, das heißt, sie werden genutzt, um Fragestellungen aus konkreten Organisationsberatungen von Teilnehmern aufzustellen. Lerngruppen mit erfahreneren Teilnehmern laden inzwischen Manager und andere, die Konflikte in oder Fragestellungen zu einer Organisation haben, ein, die Gruppe für das Aufstellen ihrer Anliegen zu nutzen. Oder Teilnehmer, die Unternehmen beraten, bringen aus diesen Firmen Leitende mit in die Gruppe und stellen dort ihre Anliegen auf. Solche Lerngruppen haben einen großen Vorteil: Durch ihre fortwährenden Erfahrungen als Stellvertreter nehmen die Teilnehmer zunehmend schneller und präziser wahr, welche Empfindungen mit einem Platz verbunden sind.

2.3.3 Einzelberatung

In der Einzelberatung werden vom Aufstellenden in Einzelberatungen oder Coachingsituationen Anliegen mithilfe von Figuren, Gegenständen, Teppichstücken, Kissen, Schuhen, Karten etc. auf einem Tisch oder mittels Bodenankern auf dem Fußboden »aufgestellt«. Über dieses Vorgehen gibt es andernorts ausführliche Beschreibungen (vgl. Kap. 6; Assländer 2000; De Philipp 2012; Franke 1998, 2012; Lenk 1998; Schneider 1998).

Auch in der Einzelberatung haben sich die Vorgehensweisen zunehmend verfeinert. Ursula Franke, Sieglinde Schneider und andere transformieren z. B. solche Figurenaufstellungen in imaginierte Situationen. In diesen lassen sie die Aufstellenden andere reale Personen der Aufstellung, mit denen noch etwas zu lösen ist, vergegenwärtigen und richten eventuell lösende Sätze an sie. Besonders wichtig bei Aufstellungen in der Einzelberatung ist ein Raum, in dem man ungestört arbeiten kann. Unterbrechungen durch Telefonanrufe, hereinkommende Mitarbeiter etc. reißen die Aufstellenden meist abrupt aus der vorgestellten Welt.

2.3.4 Aufstellungen innerhalb von Organisationen

Weiterbilder, Personalentwickler und Unternehmensberater reagieren oft enttäuscht, wenn man ihnen vermittelt, dass die Anwendungsmöglichkeiten von Organisationsaufstellungen dieser Art innerhalb von Unternehmen und Organisationen eher begrenzt sind und ihre Durchführung in einem solchen Kontext besonders großer Erfahrung bedarf. Denn gerade für diese Situationen erhoffen sie sich oft Anregungen und eine Erweiterung ihres Repertoires. Brisante Krisenlagen eignen sich jedoch wenig, um mit den Mitarbeitern einer Organisation selbst ihr System aufzustellen. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass es in Konfliktsituationen für Aufstellende besonders heikel ist, ihr inneres Bild der Organisation im Rahmen des eigenen Arbeitssystems zu veröffentlichen: Abhängigkeitsgefühle, hierarchischen Gefüge und Gefälle, Ängste vor nachteiligen Konsequenzen, eine oft angekratzte Vertrauensbasis und Zweifel, ob man mit dem Wohlwollen der anderen rechnen kann, beeinflussen solche Situationen. Die Wahrnehmungen der Repräsentanten an ihren Plätzen werden durch die aktuellen Beziehungen, Vorstellungen und Bewertungen übertüncht und alle sind vorsichtig, vermiedene Themen anzusprechen oder Geheimnisse zu lüften. Da ist eher die Kunst, sich bedeckt zu halten, gefragt.

Die Angst, durch präzise Wahrnehmungen in Kreuzfeuer zu geraten oder Auslöser für weitere Auseinandersetzungen zu liefern, lässt Teammitglieder in solchen Situationen oft harmonisierende Bilder aufstellen und als Stellvertreter an ihren Plätzen vage, »unverdächtige« oder ausweichende Äußerungen tätigen. In einem Artikel von Friedrich Assländer (2000, S. 29, Bild 1) findet man dafür ein mildes Beispiel:

In der firmeninternen Aufstellung eines der Geschäftsführer formen die Abteilungsleiter einen ebenmäßigen Kreis um die traut in der Mitte der Rundung beieinanderstehenden Geschäftsführer. Offensichtlich vermeidet hier der Aufstellende, die Unterschiede in den Beziehungen der Beteiligten darzustellen. Das Bild spricht eher dafür, dass der Geschäftsführer gezielt seine Vor- oder Unterstellung visualisiert: Alle Mitarbeiter schauen erwartungsvoll auf die Geschäftsführer.

In diesem Fall wurde kreativ mit dem Bild weitergearbeitet. In konfliktbeladenen Teams ist das aber prekärer. Leichter ist es, innerhalb eines Unternehmens Teile, Elemente oder Beziehungen eines Bereiches zu einem anderen (Außen-)Bereich (zum Markt, zum Vertrieb, zu Kunden, einer anderen Abteilung, einem Problem, zu Ressourcen, Zielen etc.) aufzustellen, weil dadurch Einzelne nicht direkt infrage gestellt oder bloßgestellt werden können (Rosselet 2010, 2013). Geht man so vor, ist es jedoch sehr wichtig, darauf zu achten, dass in solchen Aufstellungen aus abstrakten Teilen Repräsentanten von Menschen werden. (Dazu beachte man aufmerksam die Äußerungen der Stellvertreter.) Ein Teil der Organisation, dessen Repräsentant sich beiseitegeschoben, einsam oder sehnsuchtsvoll fühlt, kann dann z. B. einen im System Ausgeschlossenen repräsentieren. Auch dazu ein Beispiel:

Eine Kollegin wählt in ihrer Aufstellung als eine ihrer möglichen Zukunftsperspektiven »die Wissenschaft«, sucht dafür einen mittelalten Mann aus und stellt ihn direkt hinter ihre Stellvertreterin. So wie sie stehen, sieht das eher wie ein Ausschnitt aus einer Familienaufstellung aus. Die »Wissenschaft« wäre dort am ehesten der Vater oder ein Vorfahr der aufstellenden Kollegin gewesen. Ihre Stellvertreterin fühlt sich sofort von der »Wissenschaft« bedroht, unangenehm bedrängt und ausgenutzt. Heraus kommt, dass die Kollegin eine private Beziehung zu ihrem Professor und Doktorvater hatte, sich dann aber von ihm trennte, da sie sich ausgenutzt fühlte. Dieser hat daraufhin versucht, ihre weitere wissenschaftliche Laufbahn zu erschweren. Hinterher sagt der Stellvertreter der Wissenschaft, er habe sofort nach seiner Auswahl gewusst, dass er einen Mann und nicht die Wissenschaft vertreten habe. In gewisser Weise hat er beide vertreten.

2.4 Für welche Situationen eignen sich Organisationsaufstellungen?

Es ist ratsam, Organisationsaufstellungen nur sparsam anzuwenden. Aufstellungen werden heute manchmal inflationär und wie ein Gesellschaftsspiel benutzt nach dem Motto: Lass uns doch mal sehen, was herauskommt, wenn wir das aufstellen! Wie die Erfahrung aber zeigt, wird eine Aufstellung umso aussagekräftiger, je mehr der Aufstellende ein wichtiges persönliches Anliegen hat, das ihm unter den Nägeln brennt und für dessen Lösung er bereit ist, etwas einzusetzen. Lässt es ein Aufstellungsleiter hingegen zu, dass jemand in einem wenig gesammelten Zustand eine weitgehend unklare Fragestellung oder aus reiner Neugier aufstellt, schwächt er sich selbst, den Aufstellenden und die ganze Gruppe. Die Aufmerksamkeit diffundiert, die erwartungsvoll ausgerichtete Spannung geht in allgemeine Unruhe über und die Konzentration ist zumindest für eine Weile dahin. Gleiches geschieht, wenn jemand ein vorher ausgedachtes oder harmonisierendes Bild aufstellt und der Leiter ihn nicht früh genug nachfragend konfrontiert und die Aufstellung gegebenenfalls nicht abbricht.

Da der Rahmen dieses Buches eine ausführliche Darstellung der vielen Situationen und Fragestellungen, für die sich Organisationsaufstellungen eignen, nicht zulässt, habe ich am Ende dieses Kapitels (Kap. 2.12: Anhang) einige der möglichen Anwendungsbereiche und -felder aufgezählt.

2.5 Der Prozess des Aufstellens von Organisationen – Hypothesenentwicklung und Generierung von Unterschieden

Dieses Kapitel dient zwei Zielen:

Es beschreibt den idealtypischen Ablauf von Organisationsaufstellungen mitsamt ihren Kulminationspunkten. Die Entscheidungen, die der Aufstellungsleiter an solchen Kreuzungsoder Verzweigungspunkten fällt, beeinflussen entscheidend die positive Spannung, die Zentrierung auf das Wesentliche, die Wirkungspotenz einer Aufstellung und ihren weiteren Verlauf.

Die Phasen einer Aufstellung werden zudem schwerpunktmäßig mit der Frage verbunden, wann und wie welche Unterschiede zum Vorhandenen angeregt werden.

2.5.1 Der Beginn eines Organisationsaufstellungsseminars

Es ist viel eindrucks- und wirkungsvoller, Organisationsaufstellungen selbst direkt zu erfahren als über sie zu berichten. Deshalb ist es gut, in einem Aufstellungsseminar so früh wie möglich mit dem Aufstellen zu beginnen.

Bei Gruppen, deren Mitglieder bisher wenig gruppenerfahren sind und für die die Aufstellungsarbeit noch sehr fremd ist, beginne ich ein Seminar meist mit 20- bis 30-minütigen Wahrnehmungsübungen in Kleingruppen. Ich lasse z. B. Vierergruppen bilden, in denen nacheinander drei Teilnehmer den jeweils vierten in den Blick nehmen; dabei lassen sie das Wahrgenommene auf sich wirken und teilen es in kurzen Sätzen einander mit. Der vierte Teilnehmer nimmt währenddessen zu dem Mitgeteilten keine Stellung und lässt es auf sich wirken. Wenn sich die vier am Ende dieser Runde darüber ausgetauscht haben, in welchem Maße das Wahrgenommene mit dem Tatsächlichen übereinstimmt, staunen sie oft, wie zutreffend ihre Wahrnehmungen waren.

Ansonsten beginne ich meist mit einer Runde, in der einer nach dem anderen erzählt, wer er ist, wo er arbeitet, welches seine Anliegen für das Seminar sind und wie ein gutes Ergebnis für ihn aussähe. Mit eingestreuten, konkretisierenden und herausfordernden Fragen kann der Seminarleiter schon in dieser Runde eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit erzeugen und bestimmte Grundhaltungen wie Lösungsorientierung, Achtsamkeit, Respekt und Wertschätzung des Vorhandenen vermitteln. Solche Fragen können z. B. sein: »Woran werden Sie oder andere merken, dass sich eine gute Lösung anbahnt?« – »Was könnte das Gute an Ihrer jetzigen Situation/Ihrem Problem sein?« – »Angenommen, heute Nacht käme eine Fee zu dir und brächte dir die Lösung, wie würdest du (würden andere) das dann morgen früh feststellen und was würdest du dann anders machen?« – »Darf ich dich etwas zu deiner Herkunftsfamilie fragen? – Der Wievielte bist du in deiner Geschwisterreihe?« oder »Wann in deinem Leben hast du begonnen, so viel Verantwortung für andere zu übernehmen/es anderen recht machen zu wollen?«

Meist schon vor der ersten Seminarpause erfolgt die erste Aufstellung, nachdem ich der Gruppe nur kurz etwas zum Aufstellen selbst (gesammeltes Aufstellen des inneren Bildes, ohne zu sprechen; Abstand nehmen von der Zeit, nur der Winkel und der Abstand zueinander gelten; keine weiteren Anweisungen an die Stellvertreter etc.) und zu den Aufgaben der Stellvertreter (gesammeltes Stehen, geraffte Mitteilung des am jeweiligen Platz Empfundenen, keine ichbezogenen und Gefälligkeitsaussagen, »Entrollung« nach der Aufstellung etc.) mitgeteilt habe.

2.5.2 Wie viele Informationen braucht man vor dem Aufstellen?

Über das Ausmaß der Informationen, die sich der Seminarleiter vor der Aufstellung einholen sollte, gibt es unterschiedliche Vorstellungen: Guni-Leila Baxa und Christine Essen (Essen u. Baxa 1998; Baxa u. Essen 2002 etwa plädieren für eine ausführlichere Informationsphase (zur Kontextklärung nach dem Modell der Neuen Heidelberger Schule siehe Simon u. Weber 1987), um über den Arbeits- oder Aufstellungskontext und dessen Umfeld genügend Informationen zu erhalten.

Demgegenüber beschränke ich heute die Phase der Informationsgewinnung vor der Aufstellung auf das Nötigste. Ich lasse weder längere Problembeschreibungen noch ausführliche Schilderungen von Eigenschaften der beteiligten Personen oder der beruflichen Situation zu. Denn ich möchte vermeiden, dass solche Schilderungen die Wahrnehmungen der Stellvertreter zu stark beeinflussen. Diese sollen möglichst ungetrübt von den Vorstellungen und Wertungen des Aufstellenden an ihren Plätzen stehen. Ich erfrage das Anliegen, wie sich der Aufstellende die Lösung konkret vorstellt, und stelle einige Fragen zur Zusammensetzung des Systems, das aufgestellt werden soll. Benötige ich zusätzliche Informationen (z. B. über besondere Ereignisse in der Vergangenheit oder zukünftige Planungen), erfrage ich sie während der Aufstellung.

Hier kommen wir nun zum ersten der drei der für mich zentralen Punkte einer Aufstellung:

2.5.3 Die Wahl der Aufstellungsart und des aufzustellenden Systems

Der Aufstellungsleiter hat zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung zu fällen, welche Aufstellungsart – Entscheidungs-, Problem-, Organisations-, Familienaufstellung etc. – er nutzen will und wer aufgestellt werden soll. Anliegen und angestrebte Lösung bestimmen sowohl das aufzustellende System als auch die Art der Aufstellung. Die Entscheidung darüber wird in Abstimmung mit dem Aufstellenden gefällt. Der Seminarleiter macht vielleicht einen Vorschlag und fragt, ob der Aufstellende damit einverstanden ist. Oder er fragt ihn, welches System er gerne aufstellen will und schlägt gegebenenfalls Modifizierungen vor, wenn er es für angebracht hält.

An dieser Stelle ist die Kunst der angemessenen und verdichtenden Komplexitätsreduktion gefragt, also die Fähigkeit, eine gute Balance zwischen zu stark vereinfachenden und zu komplexen und ausufernden Darstellungen zu finden: Wen brauche ich auf alle Fälle für die Abbildung des Anliegens und für die Lösung und wen kann ich ungestraft weglassen? Wie viele Hierarchieebenen sind einzubeziehen und welche die Situation stark beeinflussenden Umweltfaktoren des Kernsystems sollen vertreten sein? Welche Personengruppe kann ich eventuell von einem Stellvertreter repräsentieren lassen? Als Richtmaß hat sich bewährt, dass in der ersten Aufstellung nicht mehr als fünf bis sieben Stellvertreter einschließlich des Stellvertreters für den Aufstellenden stehen.

2.5.4 Das Aufstellen

Die Wahl der Stellvertreter und das Aufstellen selbst geschehen gesammelt und zügig. Zieht sich dieser Prozess hin, ist das meist ein Hinweis dafür, dass der Aufstellende noch nicht hinreichend gesammelt und innerlich ausgerichtet ist. Hier können unterstützende Aufforderungen hilfreich sein, z. B.: »Es hat sich herausgestellt, dass es nicht wichtig ist, wen man als Stellvertreter auswählt!« – »Sie passen alle nicht ganz.« – »Es ist gut, nicht viel zu überlegen, sich einfach von seinem inneren Bild leiten zu lassen und ganz dem Gefühl nach zügig und gesammelt aufzustellen.« Ändert sich das Verhalten des Aufstellenden dadurch nicht und bleibt das Energieniveau flau, ist zu erwägen, ob man die Aufstellung vorzeitig beendet. Dieser Schritt, zu dem Fingerspitzengefühl und Mut gehören, wirkt sich meist gut auf die Konzentration der Gesamtgruppe aus. Ein Abbrechen einer Aufstellung ist auch richtig, wenn ein Aufstellender die Stellvertreter ohne innere Führung schnell und wie mechanisch an vorher ausgedachte Plätze abstellt.

Die Auswahl als Stellvertreter erfolgt nicht zufällig. Die Erfahrungen zeigen aber, dass mehrere Personen, nacheinander an denselben Platz gestellt, dort Ähnliches wahrnehmen (Schlötter 2005). Je sorgfältiger und gesammelter die Stellvertreter an ihre Plätze gebracht werden, umso besser können sie mit den anderen Stellvertretern und dem Gesamtsystem in Resonanz treten.

2.5.5 Der Prozess der Hypothesenbildung bis zu diesem Zeitpunkt

Ähnlich wie ein systemisches Beratungsgespräch lässt sich eine Aufstellung als simultaner Prozess fortwährender Informationsgewinnung und -erzeugung für alle Beteiligten verstehen – für den Aufstellenden, den Aufstellungsleiter, die Repräsentanten, die beobachtenden Teilnehmer und unter bestimmten Bedingungen offensichtlich auch nicht anwesenden Mitgliedern des aufgestellten Systems.

Zu den Hypothesen, die mich später im Aufstellungsprozess leiten, komme ich auf zweierlei Weise:

Anhand des im Vorgespräch Gesagten und der vorher gewonnenen Informationen (Prior 2013) bilde ich Hypothesen über mögliche Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Bezug auf das Anliegen des Klienten und prüfe anhand des ersten Aufstellungsbildes, welche Aspekte es bestätigt, welche ihnen entgegenstehen und welche für mich neue Erkenntnisse sein können.

Das lasse ich dann wieder los und öffne mich ganz den Äußerungen der Stellvertreter an ihren Plätzen. Durch sie kommen nicht selten ganz neue Aspekte ans Licht und ich muss meine Hypothesen öfters radikal ändern.

Dieser Prozess der Integration und des Zusammenfließens meiner vorherigen Hypothesen mit den Informationen aus dem Aufstellungsbild und den Äußerungen und Reaktionen der Stellvertreter ist spannend und herausfordernd.

Erster Eindruck und Eingangsrunde

Erste Hinweise für eine Hypothese über mögliche sinnstiftende Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Beziehungsmuster erhalten wir manchmal schon durch die Art und Weise der Anmeldung zum Seminar. (Wie drängend, sich rückversichernd oder ambivalent meldet sich jemand an?) Dann bekommen wir neue Informationen, wenn wir die Teilnehmer im Seminar zu Gesicht bekommen und ihre Erscheinung und ihren Ausdruck auf uns wirken lassen. Wie emotional genährt wirken sie? Geht von ihnen Fülle oder Kargheit aus? Zeigen sie sich jünger oder älter, als sie sind? Wirken sie eher wie Vater- oder Müttersöhne bzw. Mutter- oder Vatertöchter (Weber 1993, S. 106), Verantwortung anziehend oder aber gerne abgebend, kommunikationsbereit oder Abstand haltend? Zu welchen Verhaltensweisen fühlt man sich von ihnen eingeladen?… Schon durch den ersten Eindruck und die Beobachtungen während der Eingangsrunde können wir wichtige Hinweise über ihre Grundannahmen (»Weltanschauungen«) und gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster gewinnen.

Wie beschreiben Klienten ihre Probleme und Anliegen?

Spezifischer und konkreter werden die Hypothesen und damit auch die Interventionsmöglichkeiten, wenn die Teilnehmer sich vorstellen und ihre Anliegen schildern. Erzählen sie eine problem- oder lösungsorientierte Geschichte? Nehmen sie darin eine Opferrolle ein oder beschreiben sie eigene Mitgestaltungsanteile? Welche Schlüsselworte oder -sätze fallen? Welche Ergebnisse werden befürchtet oder antizipiert? Welche Rolle wird dem Seminarleiter in dem »Stück« zugewiesen? In welchem Ausmaß ist der Erzählende (narrativer Ansatz: Grossmann 2000, Schneider u. Gross 2000; White u. Epston 1998) in der Lage, eine Außenperspektive zum Vorhandenen einzunehmen? Die Art und Weise, wie wir uns dann auf diese Muster beziehen oder auf sie reagieren (z. B. nachfragen), kann schon in dieser Phase nützliche Veränderungen anstoßen.

Informationen, die durch das Aufstellen und das aufgestellte Bild ans Licht kommen

Die nächste Verdichtung der Hypothesenbildung geschieht durch das Aufstellen. Einerseits ist es aufschlussreich, wie aufgestellt wird: Wessen Stellvertreter wird zuerst gewählt, zuerst aufgestellt, wer zuletzt? Noch wichtiger ist aber das Bild der Aufstellung selbst. Mit zunehmender Zahl von Aufstellungen, die ein Aufstellungsleiter erlebt und angeleitet hat und je mehr er gelernt hat, sich dem phänomenologischen Zugang zu Wirklichkeiten zu öffnen und zu überlassen, umso klarer, spezifischer und schneller kommen ihm anhand des Aufstellungsbildes Wahrnehmungen grundlegender Muster und besondere Aspekte jeder Aufstellung entgegen. Er bekommt ein Gefühl dafür, wie brisant die Situation im aufgestellten System ist und welche Tendenzen sich bei Einzelnen und im Gesamtsystem zeigen? Wer schaut aus dem System nach draußen? Ist es eher ein aufeinander bezogenes, gebundenes oder ein auseinanderstrebendes System? In welchem Bereich ballt sich und kulminiert die Dynamik und in welchem Maß und welcher Weise ist der Aufstellende hier involviert oder betroffen?

Die Bedeutung der Wahrnehmungen der Stellvertreter an ihren Plätzen und die Unterschiede, die ihre Äußerungen machen

Das hochaufmerksame phänomenologische Erfassen der Aufstellung als Ganzes auf der einen Seite und die Mitteilungen der einzelnen Stellvertreter an ihren Plätzen andererseits sind die wichtigsten Quellen, aus denen Informationsströme oft wie zu etwas Neuem zusammenfließen. Die, die nicht selbst in der Aufstellung stehen, liegen mit ihren Vermutungen, was die Stellvertreter an ihren Plätzen empfinden, oft völlig daneben. Anders ausgedrückt: Die Stellvertreter bekommen an ihren Plätzen auf unerklärliche Weise Zugang zu Informationen über das aufgestellte System (oft auch über Ereignisse aus dessen Geschichte), die aus der Außenperspektive nicht zu erschließen sind. Indem sie ihre Empfindungen und Wahrnehmungen äußern, bekommen alle Anwesenden jetzt geballt zusätzliche Informationen, die ihnen vorher nicht zugänglich waren. Dieser neue Wirklichkeitszugang zum Verständnis zentraler Vorgänge in Systemen bereichert das Repertoire der systemischen Beratung von Organisationen und Unternehmen um eine wesentliche Dimension. Solche Prozesse laufen auch im Alltag fortwährend ab, werden dort aber nicht wahrgenommen und beachtet oder es wird ihnen keine Bedeutung beigemessen. In der Aufstellung treten sie durch die verdichtete Atmosphäre in Erscheinung, können sich entfalten und erhalten Beachtung. Die »Choreografie« zielt im ersten Akt der Aufstellung auf diesem Punkt hin.

2.5.6 Das Befragen der Stellvertreter

Bevor man die Stellvertreter befragt, lässt man ihnen am besten etwas Zeit, damit sie sich am ihnen zugewiesenen Platz einfühlen und die systemischen Wechselwirkungen spüren können: »Ich gebe euch eine Weile Zeit, um nachzuspüren und wahrzunehmen, was ihr in euren Rollen und eurer Funktion an dem zugewiesenen Platz fühlt.«

Folgende Reihenfolge der Befragung der Repräsentanten hat sich bewährt: Man wendet sich zuerst denen zu, die an ihren Plätzen besondere Reaktionen zeigen, um sie gegebenenfalls, wenn ihr Platz zu belastend für sie ist, an sicherere Plätze (meist etwas mehr außerhalb) zu bringen, oder man beginnt mit den Stellvertretern, an deren Plätzen sich Konflikte zu kumulieren scheinen. Ansonsten fängt man mit der Person an, die im System die hierarchisch höchste Position einnimmt, und fragt dann »nach unten« weiter. Wichtig ist, nicht alle Aufgestellten (besonders nach ersten Umstellungen) über ihre (veränderten) Reaktionen zu befragen, sondern im Falle, dass zentrale Dynamiken zutage treten, konzentriert nächste Schritte einzuleiten oder die Stellvertreter nacheinander oder gleichzeitig langsam ihren Impulsen folgen zu lassen.

2.5.7 Der zweite zentrale Moment in einer Aufstellung

Der Moment, wenn die Stellvertreter konzentriert mitgeteilt haben, was sie an ihren Plätzen fühlen, markiert für mich den zweiten zentralen Punkt. Dies ist oft ein Moment gesammelter und gebündelter Energie. Die nächsten Fokussierungen und die ersten weiterführenden Schritte entscheiden oft darüber, ob dieses Energieniveau und ein gutes Spannungsniveau aufrechterhalten werden kann.

Was ist die nächste, kraftvolle Bewegung, der nächste Schritt?

An diesem Punkt innezuhalten und mutig zu warten, bis ein fälliger, schlüssiger Schritt Gestalt annimmt, ist wegweisend. Ein guter Aufsteller ist auch ein guter Dramaturg: Er vermag mit möglichst sparsamen Mitteln das Wesentliche darzustellen, die Spannung jederzeit zuzuspitzen oder z. B. durch Humor herauszunehmen, und ist gleichzeitig bestrebt, das höchstmögliche Aufmerksamkeitsniveau zu halten und die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Je erfahrener ein Aufstellungsleiter ist, desto weniger Personen lässt er gewöhnlich aufstellen, desto weniger Stellvertreter befragt er und desto kraftvollere und direktere Schritte leitet er ein.

2.5.8 Die Übergänge zum »Lösungsbild«

In dieser Phase lassen sich abgrenzen:

Unterschiede, die durch Umstellungen der Stellvertreter und deren jeweilige Reaktionen bewirkt werden,

Unterschiede, die durch angebotene Gesten und Sätze erzeugt werden und

Unterschiede, die die Aufstellenden erfahren, wenn sie selbst ihren Platz einnehmen.

Es gibt nicht den richtigen Schritt und den einzig richtigen Unterschied, der angeregt werden sollte, wenn die Stellvertreter befragt worden sind. Im Verlauf jeder Aufstellung werden auf unterschiedliche Weise fortwährend andere Unterschiede zum Vorhandenen angeregt. Dabei kann man nicht voraussehen, welche Unterschiede auf fruchtbaren Boden fallen und zu anhaltenden Veränderungen führen und welche nicht. Auch wenn es wiederkehrende Muster und Ähnlichkeiten gibt, gleicht kein System dem nächsten. Die Erfahrung, welche Vorgehensweisen und Schritte mit größerer Wahrscheinlichkeit wann mehr bewegen können als andere, kann ein Aufsteller nur mit wachsender Anzahl angeleiteter Aufstellungen erwerben. Auch dann ist sein Vorgehen oft wie ein tastendes Probehandeln im Dunkeln, bei dem Umwege immer dazugehören. Jeder Aufsteller entwickelt auf die Dauer bevorzugte spezifische Fokussierungen, Sprachwendungen, Unterschiedsbildungen und Vollzüge.

Hier können nur einige Grundmuster und Möglichkeiten in der Phase der Umstellungsarbeit bis zur Lösungsaufstellung beschrieben werden. Die Grundorientierung lautet immer: Welcher folgende Schritt könnte bezogen auf das eingebrachte Anliegen und hinsichtlich der Struktur und Organisation des aufgestellten Systems als Ganzes die größte Potenz haben, etwas zu verdeutlichen und zu bewegen.

Eine Aufstellung steht zuallererst im Dienst des Aufstellenden. Der Aufstellungsleiter fühlt sich aber auch im Dienst des aufgestellten Gesamtsystems und erwägt gleichzeitig die Wechselwirkungen und Konsequenzen von Veränderungen für alle Beteiligten.

Vorhandene Tendenzen vollziehen oder verstärken

Wird in einer Aufstellung deutlich, dass es ein relevantes nach außen strebendes Systemmitglied wohin auch immer fortzieht, lassen wir die Person meist ihrem Impuls nachgeben oder führen sie in die von ihr angedeutete Richtung aus dem System und achten auf ihre Reaktion und die der Verbleibenden. Diese Reaktionen bestimmen dann den nächsten Schritt. Will sie sich umdrehen, ist sie oft noch an das System gebunden, die Angst vor dem Neuen ist vielleicht zu groß. Die Trennung/Loslösung erfolgte vielleicht zu früh und unvorbereitet oder sie hat im System noch etwas zu erledigen, bevor sie es verlässt. Geht es ihr draußen viel besser und auch alle anderen fühlen sich erleichtert und wieder arbeitsfähig, kann das schon die Lösung sein. Ein Beispiel:

Ein Mitarbeiter des Sozialdienstes einer großen Autofirma stellt seine Abteilung mit dem Anliegen auf, er kenne sich dort nicht mehr aus und wolle verstehen, was da abläuft. Nacheinander seien mehrere Mitarbeiterinnen gegangen und er sei sich seines Platzes nicht mehr sicher. Aufgestellt werden der Leiter der Abteilung und vier Mitarbeiter (drei Männer und eine Frau):

Die Mitarbeiter stehen wenig aufeinander bezogen im Halbkreis. Der Leiter steht rechts, aber mit dem Rücken zum Team, den Blick in die Ferne gerichtet. Er hat die Tendenz, sich umdrehen. Der Seminarleiter jedoch hat den Eindruck, dieser wolle dies nur aus Neugier. Er führt ihn stattdessen in die Richtung, in die der Leiter anfangs ausgerichtet ist, aus dem System heraus. Ihm geht es dort deutlich besser und den verbliebenen Mitarbeitern auch. Ihre »Bleifüße « werden leichter und sie fühlen sich wieder beweglich und aktiv.

Außergewöhnliche Mitarbeiterfluktuationen in einer Abteilung weisen oft darauf hin, dass es dort ungerechte Behandlungen oder ungute Kündigungen gegeben hat. Hier waren gleich mehrere ungute Kündigungen ausgesprochen worden:

Als eine Stellvertreterin für die ungut Gekündigten aufgestellt wird, wird es für fast alle noch leichter und als ihnen gegenüber anerkannt wird, dass ihnen Unrecht geschehen ist, fällt auch etwas von der Stellvertreterin für die ungut Gekündigten ab. Der Druck in ihrer Magengegend schwindet. Dem Stellvertreter des Leiters gelingt es in der Aufstellung nicht, sich den ungut gekündigten Frauen zuzuwenden; er meint, auch er müsse wohl gehen. Als er nach draußen gestellt wird, geht es allen anderen noch besser.

In der Nachbesprechung stellt einer der teilnehmenden Beobachter eine wichtige Frage. Ihn beschäftigt das Ausmaß des Einflusses des Aufstellungsleiters auf den Verlauf einer Aufstellung. Dieser hat den Repräsentanten des Abteilungsleiters daran gehindert, sich umzudrehen. Er fragt sich, ob die ganze Aufstellung nicht völlig anders verlaufen wäre, wenn man dem Stellvertreter des Abteilungsleiters erlaubt hätte, sich umzudrehen? Der Seminarleiter greift die Frage auf und lässt alle Repräsentanten noch einmal auf ihre Anfangspositionen zurückkehren, sich wieder einfühlen. Dann fordert er den Repräsentanten des Leiters auf, seiner Tendenz zu folgen und sich umzudrehen. Der Stellvertreter dreht sich daraufhin den Mitarbeitern zu und das Bild erscheint von außen wesentlich geordneter und funktionaler. An den Gesichtern der Repräsentanten der Mitarbeiter ist aber ein zunehmendes Unbehagen abzulesen. Der Seminarleiter fordert nun alle Stellvertreter auf, ihren inneren Tendenzen zu folgen. Das Resultat: Der Leiter bleibt an seinem Platz stehen und alle Mitarbeiter stieben in unterschiedliche Richtungen auseinander.

Dies bestätigt eindrucksvoll, dass es besser wäre, wenn der Leiter geht, und dass es andernfalls zu weiteren Fluktuationen kommen könnte. Die unterschiedlichen Schritte regen zwar Unterschiedliches an, das Ergebnis ist aber ähnlich: Jedenfalls wird in der Aufstellung deutlich, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen dem Abteilungsleiter und seinen Mitarbeitern nicht mehr möglich scheint.

Das (Wieder-)Einbeziehen fehlender oder ausgeklammerter Personen

In der Aufstellung oben wurde ein weiterer lösend wirkender Schritt vollzogen: die Einbeziehung auf ungute Weise Ausgeschlossener. Wie Familieneinheiten scheinen auch Arbeitssysteme ein Gewissen zu haben, das sich der zu früh Vergessenen annimmt. Dies können z. B. nicht mehr erwähnte Mitgründer einer Firma, die große Verdienste für Aufbau oder Aufrechterhaltung einer Organisation haben, aber nicht gewürdigt wurden, oder andere ungerecht Behandelte, ungut Gekündigte oder grob Benachteiligte). Ich habe es in Organisationen (außer in Familienunternehmen) nur selten erlebt, dass Mitarbeiter konkret mit einer früher ausgeschlossenen oder benachteiligten Person des Arbeitssystems identifiziert waren, das heißt, deren Schicksal ganz konkret nachahmten. Dennoch haben solche Ausklammerungen auch in Arbeitssystemen lang dauernde Beunruhigungen zur Folge. Die Loyalitätsbindungen werden geschwächt, diffuser Ärger auf »die Verantwortlichen« persistiert, die Mitarbeiter fühlen sich verunsichert, es gibt mehr Krankmeldungen und Mitarbeiterfluktuation. Die den Ausgeklammerten auf deren Arbeitsplätzen Nachfolgenden fühlen sich dort oft besonders unruhig und belastet.

Meist genügt es, wenn die Ausgeklammerten mit aufgestellt werden, das Unrecht ihnen gegenüber anerkannt oder ihr Beitrag gewürdigt wird. Günter Schricker schickte mir einmal einen Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung zu, in dem beschrieben wurde, dass die Massenentlassungen in Großunternehmen oft gar nicht die gewünschten und erwarteten wirtschaftlichen Vorteile erzielen, die vorher errechnet wurden. Arbeitnehmer, die bleiben dürfen, zeigen sich keinesfalls dankbar und motivierter, sondern eher verunsichert, weniger einsatzbereit und insofern mit den Gekündigten verdeckt loyal verbunden. Auch die Ausbeutung von Arbeitskräften (etwa »Sklaven in Amerika« »Fremdarbeiter« in der Nazizeit oder beim Bau von Eisenbahn- und Autostraßen Eingesetzte, von denen viele diese Arbeit mit dem Tode bezahlten) kann dazu führen, dass Nachkommen in den Besitzerfamilien, die davon profitierten, es sich schlecht gehen lassen oder den Besitz verspielen. Ich selbst erinnere mich an eine Aufstellung mit einer ähnlichen Geschichte: Der Großvater eines Aufstellenden hatte eine Müllentsorgungsfirma aufgebaut und war auch dadurch reich geworden, dass er Müll illegal ins Ausland verschob. Sein Enkel, der die Firma übernahm, musste sie später weit unter Wert verkaufen. Schließlich arbeitete er im Pförtnerhaus einer Müllentsorgungsanlage eben dieser Firma und überprüfte den Inhalt der ankommenden Müllwagen. Nach der Aufstellung wählte er einen völlig anderen Beruf.

Fehlende oder ergänzende innere Bewegungen, die lösend wirken, werden vollzogen

Wenn deutlich wird, dass ein Stellvertreter oder insbesondere der Klient noch etwas mit einer anderen Person zu klären hat, gehört zu lösenden Bewegungen, dass der Aufstellungsleiter die beiden einander gegenüberstellt und ihnen bestimmte kraftvolle Sätze anbietet. Die Sätze sollten ohne Negationen, möglichst kurz und kraftvoll sein (Hellinger 1995). Gibt man sie vor, ist darauf zu achten, ob sie einfach nachgesprochen oder sich auch zu eigen gemacht werden. Selbst gefundene Sätze umfassen oft Einschränkungen. Solche Vollzüge können sein:

Anerkennen dessen, was ist (z. B.: »Ich stimme dem allen jetzt zu, wie es geschehen ist, und schaue in die Zukunft.«), statt zu haften und zu hadern.

Würdigungen und Anerkennungen aussprechen (z. B.: »Ich anerkenne jetzt Ihren Beitrag und achte Sie als Mitbegründer des Unternehmens/als ehemaliges Teammitglied…«) statt Abwendung und Abwertung.

Danken, Nehmen, Bitten (z. B.: »Ich danke dir [der Firma] für das, was ich bei dir lernen durfte, und halte es in Ehren; schau bitte wohlwollend, wenn ich demnächst etwas Eigenes gründe.«; an den Vorgesetzten gerichtet: »Um meine Arbeit hier gut machen zu können, brauche ich Ihre Unterstützung und ich bitte Sie darum«) statt Fordern und Verweigern.

Anerkennung eigener Schuld und eigenen Unrechts (z. B.: »Es tut mir jetzt leid, dass ich Ihnen Unrecht zugefügt habe; ich bin bereit, für Sie etwas zu tun, was dieses Unrecht vielleicht aufwiegt.« oder »Ich nehme meinen Teil der Verantwortung für das Geschehene und geben Ihnen Ihren und jetzt lasse ich los.«) statt Abwehr, Verleugnung oder Verschiebung der Schuld.