Orientblut - Carsten Schütte - E-Book

Orientblut E-Book

Carsten Schütte

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Kein Mord bleibt je vergessen … Bei zwei Tötungsdelikten und einem Vermisstenfall während der Expo 2000 wird die Cold Case Unit in Hannover vom OFA-Team des LKA Niedersachsen bei ihren Ermittlungen unterstützt. Die Fallanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass die Qualität der Tatausführung auf einen Serienmörder schließen lässt. Weitere aufwendige Recherchen zeigen, dass es ähnliche Taten sowohl während der Expo 1998 in Lissabon, aber auch in anderen Städten mit Weltausstellungen gegeben hat. Als ein Telefongespräch abgehört werden kann, das zwischen dem Mobiltelefon eines Mordopfers und dem Handy einer der Vermissten geführt wird, kommt Bewegung in die Ermittlungen. Die Ortungen der Telefone ergeben, dass sich eine unbekannte Frau im Bereich des Kreuzfahrtterminals im Hafen von Palma de Mallorca und ihr Gesprächspartner in Dubai, der Expo-Stadt 2021/22, aufhalten. Am Abend soll die MS Arabia mit 4.500 Passagieren zu einer dreiwöchigen Reise in den Orient auslaufen. Die Leiterin der hannoverschen Cold Case Unit und das Profilerteam um Thorsten Büthe lassen sich im nächsten Hafen auf Sizilien einschiffen. Können sie die Anruferin an Bord sowie ihren Komplizen frühzeitig identifizieren, um die weltweite Mordserie zu beenden und aufzuklären?

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9760-3

Carsten SchütteOrientblutEin Profiler-Thriller

Für Vicci

Prolog

Die Planung der Expo 2000 begann mit einem Ausbau der Infrastruktur in der Region Hannover und erschuf einen neuen, modernen Stadtteil, in dem während der Dauer der weltgrößten Messe Besucher, Expo-Mitarbeiter und neue Anwohner ein Zuhause auf dem Kronsberg finden sollten.

Es kam jedoch anders.

Wider Erwarten blieben nicht nur die prognostizierten Besucherzahlen aus, sondern auch die angekündigten Staatsgäste und VIPs hielten sich anfangs zurück. Dieses auch medial verbreitete Image sowie hohe Eintrittspreise, die sich aufgrund des zurückhaltenden Angebotes kaum rechtfertigen ließen, schlugen sich auf die Stimmung in Hannover nieder.

Teuer eingekauftem Servicepersonal wurde wieder gekündigt. Die dafür extra tausend angemieteten Wohnungen in der neu errichteten Trabantenstadt auf dem Kronsberg waren kaum frequentiert, und der Stadtteil wirkte zum Start der Expo wie eine Geisterstadt.

Aber für ihn war sein neues Jagdrevier ideal gestaltet.

Nördlich des Expo-Messegeländes und hier entlang der Straße ‚Kattenbrookstrift‘ war der Stadtteil Kronsberg aus dem Nichts gewachsen. Neue Bewohner hatten noch keine Zeit gefunden, sich gegenseitig kennenzulernen. Durch die Expo waren Kurzzeitmieter aus dem In- und Ausland in dem kargen Straßenbild nichts Ungewöhnliches. Man achtete nicht auf andere Personen und blieb selbst anonym.

Die von der Expo-Gesellschaft angemieteten tausend Mitarbeiterwohnungen waren zweckmäßig eingerichtet. Man ging zur Arbeit, blieb auf dem Messegelände, nutzte eher weniger das kulturelle Angebot Hannovers und war lediglich zum Schlafen in den Apartments, die sich oft auch mehrere Leute teilten.

Die Wohnungen über die reine Zweckmäßigkeit hinaus zu nutzen oder gar wohnlich zu dekorieren, war eher die Ausnahme. So waren verhüllende Gardinen oder Vorhänge kaum vorhanden und die Bewohner gaben persönliche Einblicke in die Apartments frei. Durch die mittlerweile angenehmen Frühlingstemperaturen standen Balkon- und Terrassentüren oft weit und einladend auf.

Er konnte stundenlang durch die Straßen ziehen, sich auf Hinterhöfen aufhalten und einfach nur ungestört beobachten. Es war für ihn ein voyeuristischer Hochgenuss.

Ein Großteil der Servicekräfte waren junge Frauen aus allen Regionen der Welt. Sie nutzten manchmal zu dritt eine Wohnung, kamen nach Feierabend unbekümmert zusammen und feierten gelegentlich ausgelassen.

Auf ihn achtete niemand. In dem gesamten Viertel waren die Hinterhöfe weder beleuchtet noch traf er auf installierte Bewegungsmelder. Selbst wenn er jemandem begegnete, verfolgte der entweder die augenscheinlich gleichen Interessen oder hatte sich verlaufen.

Dieser Voyeur tickte anders. Er konzentrierte sich intensiv auf die jungen Bewohnerinnen und führte Buch über seine Beobachtungen. Er notierte sich die genaue Wohnsituation, beschrieb die Anzahl und vermutliche Nationalität der Bewohnerinnen in der Art, die für ihn interessant waren. Dann zog er weiter und setzte seine Observation fort.

Er war gut ausgerüstet und hatte sich mit seinem Fernglas auf dem Ausguck eines Piratenschiffs auf einem Kinderspielplatz positioniert, auf dem noch nie ein Kind gespielt hatte.

Es visierte zwei attraktive Frauen Mitte zwanzig im ersten Obergeschoss an und stellte sein „ Steiner“-Fernglas scharf. Sie machten sich offensichtlich für einen schönen Abend fertig, legten frischen Lippenstift auf, zogen sich High Heels an und schalteten das Licht erst im Wohnzimmer und dann im Flur aus. Der Beobachter musste sichergehen und verließ seinen Ausguck. Das Terrain war ihm mittlerweile vertraut. Er schlich unter den Balkonen zu dem Bereich der Müllcontainer und verharrte dort. Das Licht im Treppenhaus signalisierte ihm, dass seine Vermutung richtig war. Die beiden jungen Frauen verließen das dreistöckige Mehrfamilienhaus, hakten sich ein und philosophierten euphorisch über den vor ihnen liegenden Abend. Offensichtlich hatten sie sich für eine Kick-off-Party auf der Expo herausgeputzt.

Durch die Anordnung der Fenster konnte er in den Häusern relativ sicher die Dimensionen der Apartments bestimmen und war überzeugt, dass dort keine weitere Bewohnerin untergebracht war.

Die Gelegenheit war günstig, aber er kehrte zunächst zum Piratenschiff zurück, besetzte für fünfzehn Minuten den Ausguck, bevor er seinen Rucksack schulterte und geschickt über die Balkonbrüstungen ins erste Obergeschoss kletterte.

Er verharrte auf dem Balkon und beobachtete sein Umfeld. Keine Gefahr.

Der Fassadenkletterer setzte einen Akkubohrer an der Außenseite der Balkontür unterhalb des Türgriffes an und steckte einen stabilen gebogenen Draht durch die kreisrunde Öffnung in der Kunststofftür. Routiniert knickte er einen fast rechten Winkel in das andere Ende des Drahtes, legte diesen um den Griff der Innenseite der Balkontür, die sich dann problem- und geräuschlos öffnen ließ, und stieg ein.

Mit einem akkubetriebenen Minisauger nahm der Einbrecher den Bohrstaub auf. Er sah sich aufmerksam in der Dreizimmerwohnung um, die neben einer kleinen Küche, einem innenliegenden, fensterlosen Bad über ein Wohnzimmer sowie zwei Schlafzimmer verfügte.

Offenbar waren die Frauen gerade erst eingezogen. Die beiden in den Schlafzimmern geöffneten Reisekoffer waren noch nicht gänzlich ausgepackt. Auf den Betten lagen zwei dunkelblaue Hosen und Blazer, die jeweils ein Namensschild trugen.

Bei den Bewohnerinnen handelte es sich um Hostessen des Deutschen und Spanischen Pavillons.

Auf dem ersten Schild einer ‚Dunja Löschke‘ waren eine deutsche, französische, spanische und englische Flagge abgebildet.

Auf dem zweiten war der Name ‚Anna Gonzales‘ sowie neben einer deutschen und englischen auch eine italienische und spanische Fahne angebracht.

Dieser visuelle Hinweis zeichnete die Fremdsprachenkenntnisse der Frauen aus, die der Einbrecher in einem Alter zwischen Mitte zwanzig und dreißig einschätzte.

Der Eindringling stöberte in der Wohnung umher und suchte vergeblich nach relevanten Informationen und einem weiteren Schlüssel für das Apartment.

Er nahm sich noch die Zeit, seine Erkenntnisse in seine mitgeführte Liste einzutragen, lauschte an der Wohnungstür und sah durch den Spion. Das Treppenhaus war dunkel. Er drückte die Klinke herunter und war froh, dass die beiden Bewohnerinnen von außen nicht abgeschlossen hatten. Er kehrte zurück zur Balkontür. Routiniert zog er eine Rolle weißen Isolierbands aus seinem Rucksack und klebte jeweils ein kleines Stück filigran über beide Bohrlöcher. So waren die Beschädigungen kaum wahrnehmbar.

Zufrieden verließ er die Wohnung vorsichtig durch die Eingangstür und zog sie leise hinter sich zu. Weder im Treppenhaus noch auf dem Gehweg begegnete ihm jemand.

Hätte man einen Blick in seine Liste genommen, wäre einem bei diesem Objekt der Eintrag „2x deutsch, 25–30 Jahre, 1. OG, vorbereitet“ samt eines roten Hakens aufgefallen.

Es war allerdings nicht der erste und einzige Tatort, den er akribisch für seine Zwecke präpariert hatte.

Lächelnd und voller Vorfreude tauchte er in der Dunkelheit der anonymen Trabantenstadt unter.

1. Kapitel Expo 2000 in Hannover – eine polizeiliche Herausforderung

Sepp Heckmann war Vorstandsmitglied der Deutschen Messe AG und ein Visionär. Er stellte seine Idee, eine Weltausstellung in Deutschland, und zwar genau auf dem weitläufigen Gelände der Hannover-Messe, stattfinden zu lassen, 1987 in der niedersächsischen Landesregierung vor.

Nach Zustimmungen der anderen Bundesländer und letztendlich der Bundesregierung bewarb sich Hannover als Ausrichter der Expo 2000 mit dem Motto „Mensch, Natur und Technik – Eine neue Welt entsteht“.

Als Mitbewerber zogen anfangs Hongkong, Paris, Rio de Janeiro, Miami, Venedig und Toronto ins Rennen.

Letztendlich musste zur Endabstimmung am 14.06.1990 nur noch zwischen Toronto und der vergleichsweise kleinen Landeshauptstadt Niedersachsens, Hannover, entschieden werden.

Überraschend überzeugte das norddeutsche Konzept die Juroren und ein zehnjähriger aufwendiger Weg begann, um das geplante kulturelle und wissenschaftliche Ereignis unter dem auch skeptischen Blick nicht nur des In- und Auslands zum Erfolg zu küren.

Die gesamte Welt blickte auf Hannover.

Man rechnete von Anfang Juni bis Ende Oktober 2000 mit knapp 40 Millionen Besuchern und 155 teilnehmenden Ländern.

Neben der Erweiterung des hannoverschen Messegeländes sowie der Errichtung entsprechender Länderpavillons musste in der gesamten Region Hannovers eine Infrastruktur geschaffen werden, die diesem Projekt würdig war. Neben Großbauprojekten von angrenzenden Wohn- und Gewerbegebieten wurde das S- und U-Bahn-Netz ausgebaut und die Stadt für die Besucher aus aller Welt offen und bunt präsentiert.

Die Stimmung der Einwohner allerdings war gespalten. Absoluten Fans der Expo standen Skeptiker und scharfe Kritiker entgegen, die in der Landeshauptstadt ein Verkehrschaos und steigende Immobilienpreise und Mieten befürchteten.

Die Landesregierung und das Expo-Team um ihre Leiterin Birgit Breuel bemühten sich, ein positives Image aufzubauen und die Bevölkerung Hannovers mitzunehmen.

Den fast einer Million Einwohnern und der gesamten Region standen für ein halbes Jahr prognostizierte Besucherzahlen von 40 Millionen Menschen, einer entsprechenden Verkehrslage und auch täglichen Besuchen von Staats- und VIP-Gästen bevor, die den höchsten Sicherheitsstufen bedurften.

Die Polizeidirektion Hannover stand vor ihrer bislang größten Herausforderung, diese Expo 2000, ihre Bediensteten und Besucher vor allgemeiner Kriminalität, Terrorismus und Extremismus zu schützen. Die Regelung des allgemeinen Verkehrs, den der Besucher zum Gelände, der Parkplatzorganisation sowie die Kooperation mit Rettungsdiensten und dem Katastrophenschutz waren störungsfrei zu regeln. Es musste eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Behörden und Organisationen gewährleistet werden, um einen friedlichen Verlauf der Weltausstellung sicherzustellen. Die internationalen Gäste und auch Medienvertreter sollten intensiv betreut werden, um ein positives Bild und Image der Expo 2000 zu reflektieren.

Zur Bewältigung dieser vielfältigen Maßnahmen wurde frühzeitig ein polizeilicher Expo-Stab aufgestellt, der diesen Großeinsatz präzise vorbereitete. Auf dem Ausstellungsgelände wurde ein eigenes Kommissariat eingerichtet. Bundesweit wurden rund 1.500 Beamte aus den Ländern und dem Bund in die Einsatzbehörde abgeordnet. Selbst Polizisten aus den teilnehmenden Ländern waren als Verbindungsbeamte hinzugezogen worden.

Hannover hatte den Anspruch, ein perfekter Gastgeber zu sein und mit allen Mitteln die Sicherheit der Expo 2000 zu garantieren.

Thorsten Büthe war seinerzeit 38 Jahre alt, Angehöriger des Fachkommissariates 1 in der Region Hannover und dort für allgemeine Todesermittlungen, Tötungs- und sexuelle Gewalt- und Branddelikte eingesetzt.

Die kulturelle Vielfalt und polizeiliche Herausforderung der Expo 2000 in Hannover reizte ihn, und er bewarb sich für diese sechs Monate als Personenschützer. So war er mittendrin und lernte sämtliche Highlights der Weltausstellung kennen, zumal es ein Déjà-vu seiner Tätigkeit beim Bundeskriminalamt Mitte der Achtzigerjahre war. Nur war er seinerzeit Mitte zwanzig und sportlich durchaus fitter.

Die Unterstützungskräfte im Personenschutz hatten den Status eines Mobilen Einsatzkommandos und mussten sich einem mehrtägigen Test unterziehen, in dem Thorsten an seine mentalen und körperlichen Grenzen geführt wurde.

Er war umgeben von jungen, agilen Kolleginnen und Kollegen, die offensichtlich 24 Stunden täglich im Fitnesscenter oder auf dem Sportplatz verbrachten.

Ihnen gegenüber konnte er jedoch mit seiner langen Erfahrung und realistischen Einschätzung von möglichen fiktiven Einsatzgeschehen punkten. Er teilte sich seine Kräfte sinnvoll ein und schuf Reserven, die er nach den körperlichen Belastungen für die oft eingespielten Situationen abrufen konnte.

Thorsten war doch stolz, als er die Nachricht vom LKA Niedersachsen erhielt, für die Expo 2000 in das Personenschutzkommando aufgenommen worden zu sein.

Sechs Wochen vor Beginn der Weltausstellung erfolgte eine akribische Einweisung in das Expo-Gelände und die relevanten Sicherheitsbereiche. Nach der Einteilung fester Kommandos schlossen sich praktischen Übungen unter realistischen Bedingungen an, in denen die einzelnen Teams bewusst fachlich, mental und physisch maximal gefordert wurden. Nur so konnten sie auf mögliche Extremsituationen vorbereitet werden.

Die einzelnen Personenschutzkommandos mussten als Team insgesamt funktionieren und sich bedingungslos aufeinander verlassen können.

Die Expo wurde in das bereits vorhandene Gelände der Messe Hannover nicht nur integriert, sondern darüber hinaus noch erweitert, sodass es insgesamt eine Fläche von 160 Hektar einnahm. Das wäre umgerechnet die Größe von fast 230 Fußballfeldern.

Hier galt es für die Einsatzkräfte, sich perfekt auszukennen. Jeden Weg zu Fuß und per Fahrzeug, alle Zuwegungen und Fluchtmöglichkeiten mussten sie mehrfach zurücklegen.

Hinzu kamen die Fahrstrecken von und zu den Hotels der Schutzpersonen, zum Flughafen und den Bahnhöfen, wobei täglich mögliche Gefährdungspunkte aktualisiert wurden.

Die Teams waren dem LKA Niedersachsen aus dem gesamten Bundesgebiet zugeteilt worden, wobei es für Thorsten ein Heimspiel in seiner Stadt war. Hier war er geboren, aufgewachsen, hatte seine ersten Jahre im Streifendienst und später beim Kriminaldauerdienst verbracht. Er kannte Hannover wie seine Westentasche, ähnlich einem Taxifahrer mit zwanzigjähriger Erfahrung.

Sie waren bestens gerüstet.

Der Expo-Vorbereitungsstab hatte sich im Vorfeld mit Polizeidienststellen vorheriger Expo-Städte weltweit ausgetauscht, um deren Erfahrungen in das eigene Sicherheitskonzept zu integrieren.

Immerhin rechnete man mit zusätzlichen 40 Millionen Besuchern in der niedersächsischen Landeshauptstadt, die sich nicht nur auf das Expo-Gelände beschränkten. Die Herausforderung, diese Gäste aus aller Welt gastfreundlich zu empfangen, unterzubringen und zu betreuen, war ebenso gewaltig.

Temporär erhöhte sich die Einwohnerzahl Hannovers exorbitant, wobei nicht nur mit einer Steigerung der Verkehrsdichte, sondern auch mit einem Anstieg der Kriminalitätsrate zu rechnen war. Die Polizeidirektion musste sich auch in ihren Alltagsaufgaben personell vorbereiten, um der Situation gewachsen zu sein.

Trotz aller Euphorie über ein friedliches, kulturelles Fest von weltweiter Bedeutung planten aber auch andere Menschen einen Besuch aus sehr wohl befremdlichen Gründen.

2. Kapitel Der Beutezug des Jägers

Die Stadt wurde nervös, fühlte sich aber gut vorbereitet. Hoteliers und Gastronomen freuten sich euphorisch auf die umsatzstärksten Monate, die sie nutzen mussten. Auch in diese Bereiche hatte man bundesweit Aushilfskräfte hinzugezogen, um den erwarteten Ansturm an Besuchern bewältigen zu können. Selbst der erste vorübergehende Zuzug von Dienstleistern und Expo-Kräften war in Hannover deutlich spürbar. Frühlingshafte Temperaturen ließen junge Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen der Erde in Straßencafés und Biergärten ziehen. Das Leben wurde bunter und quirlig, sodass der Jäger in den Gruppen dieser fröhlichen und aufgeschlossenen Menschen unterging.

Er genoss dieses Flair und zog lächelnd durch die Stadt. Auch er bereitete sich auf seine Einsätze vor und orientierte sich in seinem Jagdrevier ähnlich wie die Einsatzkräfte der Polizei. Er konnte sich nicht sattsehen, war fasziniert von der Vielfältigkeit seines Beuteschemas und musste sich auf bestimmte Kriterien fokussieren, die ihm wirklich wichtig waren: jung, allein oder maximal zu zweit ohne männliche Begleitung. Ideal waren Frauen, die sich nur zeitweise in Hannover aufhielten. Sie hatten oft mehr Bargeld in ihren Zimmern oder Apartments, kannten sich nicht so gut aus und waren nicht ansatzweise so gut vorbereitet wie er. Sie waren sozial weniger eingebunden als Einheimische, und man vermisste sie kaum.

Die erste Woche verbrachte er damit, sich in Straßencafés aufzuhalten und seinem Beuteschema einfach zu folgen. Welche Transportmittel nutzten sie? Mit wem waren sie unterwegs? Wann trennten sie sich von anderen und wo wohnten sie? Er brach die Verfolgung sofort ab, wenn sie in ein Parkhaus gingen oder in einen Pkw stiegen. Er bevorzugte die Frauen, die mit den Stadt- und U-Bahnen nach Hause fuhren. Hier hatte er keinen Stress bei seinen Observationen und fiel in der Masse der Fahrgäste nicht auf.

Die zweite Woche wagte er sich weiter an seine späteren Opfer heran. Er folgte ihnen und führte Buch über Lieblingskneipen, Begleitpersonen, genutzte Verkehrsmittel und erfasste detaillierte Beschreibungen ihrer Wohnsituation.

Er wurde mutiger und sprach auch mal die ein oder andere freundlich in der Bahn oder auch auf dem Nachhauseweg an. Der Jäger war attraktiv, Ende zwanzig, kleidete sich lässig, aber gepflegt. Er wirkte sportlich, hatte eine dunkelhaarige modische Frisur und war durchaus ein Frauentyp.

Seine potenziellen Opfer ordnete er in ein Punktesystem ein, welches er nach Beschaffenheit der Wohnung, einem risikoarmen Zugang und idealen Fluchtmöglichkeiten anpasste.

Er war ein Pedant und konnte sich geduldig in der langen Schlange vor der Achterbahn anstellen, bevor er den Kick der Loopings genoss.

Er zog seine Kreise stetig enger und cruiste mit dem Blick des Jägers selbst vor der offiziellen Eröffnung auch über das Expo-Gelände. Er kam seinem „Point of no Return“ immer näher, denn er hatte ihn mit einem roten Kreis in seinem Kalender markiert.

Es war der 1. Juni 2000, der Beginn der Weltausstellung in Hannover.

Die Eröffnungsfeier zur Expo 2000 fand am Mittwoch, 31. Mai 2000 im Festsaal der Weltausstellung statt.

Dreitausend hochkarätige Gäste aus aller Welt, darunter Staatsoberhäupter, Monarchen und der Hochadel waren ebenso vertreten wie fast die gesamte deutsche Politprominenz, Spitzensportler und bekannte Gesichter aus Funk und Fernsehen.

Thorsten Büthe und sein Team begleiteten ihre erste Schutzperson, den Kronprinzen der Vereinigten Arabischen Emirate, zu seinem Platz neben Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Bundespräsidenten Johannes Rau. Sie positionierten sich an einem Tisch in der Nähe und gewährleisteten nicht nur den Schutz des Kronprinzen, sondern verfolgten auch das vielfältige Abendprogramm der Eröffnungsgala.

Die Stunden verliefen ohne besondere Vorkommnisse, und die Delegation des Kronprinzen wurde störungsfrei ins Hotel begleitet, in dem die weitere Sicherheit durch Objektschutzkräfte garantiert wurde.

Am nächsten Morgen öffneten sich feierlich die Tore zur Expo 2000 mit fulminanten Programmpunkten und offiziellen Reden der Politprominenz. Angereiste Staatsgäste besuchten interessiert die Pavillons der jeweiligen Länder und nahmen an dem Rahmenprogramm teil.

Die VIPs blieben generell drei Tage, dann wechselten die Schutzpersonen für die Kommandos des LKA Niedersachsen.

Nach der anfänglichen Euphorie blieb jedoch der prognostizierte Ansturm aus und das Expo-Gelände wurde nur von wenigen Besuchern frequentiert, wobei sich dann auch die offiziellen Gäste zurückhielten.

Der Jäger nutzte die entspannte Atmosphäre, um sich auf dem weitläufigen Gelände und den verschiedenen Pavillons zu orientieren. Seine Liste wurde länger und die Zeit war reif, in die aktive Phase zu wechseln.

Trotz der geringen Besucherzahl fiel er in seiner Rolle als interessierter Gast nicht auf. Er hatte einen Nylonrucksack geschultert und bewegte sich auf seinem klappbaren Tretroller, der sich auf der Weltausstellung zu einem Verkaufsschlager entwickelte. Dieser Roller war leicht und konnte zusammengeklappt sogar an seinem Rucksack befestigt werden. Selbst eine Mitnahme in den öffentlichen Verkehrsmitteln war kein Problem.

Er setzte sich abends an die Stadtbahnhaltestelle, die direkt gegenüber dem Ausgang zur Expo-Plaza lag, und blätterte in seinem hochwertigen Filofax-Timer aus braunem Rindsleder. Stil hatte er.

Hier hatte er neben den Kalenderblättern auch vorgedruckte Tabellen, in denen er seine Eintragungen überarbeitet, die Inhalte mit Ziffern priorisiert und nach geografischen Aspekten geordnet hatte.

Aus ökonomischen Gründen waren die Namen seiner Zielpersonen anhand der Wohnorte farblich unterschiedlich gekennzeichnet. Er entschloss sich, heute Abend den Bereich „Kronsberg-Kattenbrookstrift“ abzuarbeiten, und stieg in die Stadtbahn.

Er beobachtete unauffällig die weiblichen Fahrgäste. Vielleicht war die ein oder andere auf seiner Liste ja zufällig mit ihm in der Bahn. Ihm kam jedoch niemand bekannt vor.

Der Jäger streifte durch sein Revier und nutzte in der Dämmerung noch die offiziellen Fußwege. Als die Anzahl der Passanten nachließ und ihm die Dunkelheit Schutz gab, wechselte er auf die Hinterhöfe. Er verharrte, ließ seinen Blick durch das Fernglas in die Wohn- und Schlafzimmer schweifen. Mal verharrte er länger, mal wechselte er seinen Beobachtungsplatz schneller. Bei den beiden Hostessen Dunja Löschke und Anna Gonzales genoss er die uneingeschränkte Sicht in das gemeinsame Wohnzimmer im ersten Stock des Mehrfamilienhauses. Es reizte ihn, über den Balkon direkt ins Wohnzimmer einzusteigen und beide Opfer anzugehen. Dennoch war er ein Planer und zog es vor, sich nicht gerade am ersten Abend einer der größten Herausforderungen, gleichzeitig zwei Opfer überwältigen zu müssen, zu stellen. Er wollte es langsam angehen, das Risiko minimieren und blätterte im Schein einer Terrassenbeleuchtung in dem Timer. Seine Einträge hatte er nach Risikogruppen strukturiert, die sich an den Schwierigkeitsgraden von Skipisten orientierten; die blauen galten als leicht und anfängerfreundlich, die roten als mittelschwer und eher für fortschrittliche Skifahrer geeignet, und die schwarzen Eintragungen waren anspruchsvoll und nur von Profis zu bewältigen.

Ein blauer Eintrag lag nur wenige Blocks entfernt und für seinen ersten Einsatz leicht umzusetzen.

„1x osteuropäisch, 25 bis 30 Jahre, EG, vorbereitet“.

Darauf hatte er sich seit Wochen eingestellt. Jetzt war es endlich so weit. Sein Puls stieg, je näher er der Wohnung im Erdgeschoss kam. Der Jäger schlich sich geschickt an den Hauswänden entlang. Er hatte bei Tageslicht bereits geprüft, wo sich Lichtquellen mit Bewegungsmeldern befanden, und diese Informationen in seinem Risikoprofil berücksichtigt.

Das Licht im kombinierten Wohn- und Schlafzimmer des Einzimmerapartments war eingeschaltet und die Vorhänge waren zugezogen. Sie reichten allerdings nicht bis auf den Boden. Er legte sich flach auf die schmale Terrasse und konnte durch den kleinen freien Spalt feststellen, dass die junge Frau, lediglich mit einem Slip und einem T-Shirt bekleidet, auf dem Sofa telefonierte. Durch die geschlossene Terrassentür konnte er eine osteuropäische Sprache ausmachen.

Der Jäger war dunkel gekleidet und am Boden liegend kaum auszumachen. Sein einziges Risiko konnten Hundehalter sein, die in den Hinterhöfen Gassi gingen. Er beruhigte sich allerdings damit, dass er während seiner Erkundungen weder einem Hundehalter begegnet war noch rechnete er damit, dass Servicekräfte zur Expo ihren Hund mitnahmen. Er atmete flach, um Geräusche und mögliche Annäherungen frühestmöglich wahrnehmen zu können.

Der Jäger hatte sich in dem auserwählten Apartment schon umsehen können. Es bestand aus einem kombinierten Wohn- und Schlafbereich samt einer zweckmäßigen Küchenzeile. Das innenliegende Bad lag neben der Eingangstür. Er kalkulierte zwei Möglichkeiten, ungestört einzudringen. Er wartete, bis sie im Bad war, schob seinen Metallwinkel in die vorbereiteten Bohrlöcher und drang ein, oder er geduldete sich, bis sie eingeschlafen war, um dann leise vorzugehen. Die Herausforderung war stets, sofortige Kontrolle über das Opfer zu gelangen. Schreie, gar eine aktive Gegenwehr oder ein Kampf zwangen ihn sofort zum Abbruch und infolge zum unmittelbaren Unterbinden dieser Opferreaktion, was oft recht blutig war.

Plötzlich wurde ihm die Entscheidung in einer Form abgenommen, mit der er nicht gerechnet hatte.

Die junge Frau beendete ihr Telefongespräch, griff eine Schachtel Zigaretten samt einem Feuerzeug und öffnete die Terrassentür.

Der Jäger sprang auf und trat gegen einen Glasaschenbecher, den die Raucherin auf dem Boden der Pflasterung abgestellt hatte, und versteckte sich hinter der Hausecke.

Bei noch milden Temperaturen zündete sich die Anwohnerin eine Zigarette an und zog den Rauch genussvoll ein. Zum Ausatmen kam sie nicht mehr. Der Angreifer legte ihr seinen rechten Unterarm blitzschnell um den Hals, fixierte ihn mit links und drückte schlagartig zu. Das Zappeln und Zucken ließ nach weniger Zeit nach und der Täter zog sein Opfer ins Wohnzimmer. Er schloss mit einer Hand die Terrassentür und zog die Vorhänge zu. Dann ging alles recht schnell. Er legte sein Opfer kontrolliert auf das Bett und öffnete seinen Rucksack. In einem routinierten Ablauf legte er vorbereitete Kabelbinder und Panzertape neben die bewusstlose Frau. Der Eindringling entkleidete die Frau, schlang das Tape in mehreren Lagen um den Mund und die Augen des Opfers, fixierte ihre Arme und Füße mit den Kabelbindern und drehte sie auf dem Bett in eine Bauchlage.

Der Angreifer setzte sich auf die Bettkante und atmete erst einmal tief durch.

„Von wegen, blauer Eintrag, leicht und anfängerfreundlich. Das wäre fast in die Hose gegangen“, ärgerte er sich. Er sah sich in dem Zimmer um, schaltete den Fernseher ein und durchsuchte den Raum. Im Portemonnaie der jungen Frau fand er einen polnischen Pass, ausgestellt auf die 23-jährige Dasha Povilenko, sowie fast 500 Deutsche Mark und ein Bündel Złotys. Er steckte alles in seinen Rucksack, denn Dasha brauchte das alles nicht mehr. Der Jäger zog sich selbst aus und wartete geduldig, bis sein Opfer aus der Bewusstlosigkeit erwachte.

Im polnischen Pavillon waren sechs Servicekräfte beschäftigt, die ihren Gästen kleine Snacks und Getränke reichten. Sie waren über eine polnische Agentur gebucht worden und kannten sich im Vorfeld noch nicht. Um die Unterkünfte mussten sie sich selbst kümmern. Als Erreichbarkeit untereinander hatte man lediglich die Handynummern ausgetauscht. Als Dasha am nächsten Morgen nicht zur Arbeit erschien, versuchte die Serviceleiterin vergeblich, sie anzurufen. Auch ihre Kolleginnen hatten nichts von ihr gehört. Aufgrund des geringen Andrangs waren die verbliebenen fünf Mitarbeiterinnen allerdings auch ausreichend, um den Bedarf abzudecken. Von weiteren Versuchen, Dasha zu erreichen oder gar eine Vermisstenmeldung bei der Polizei zu erstatten, hatte man abgesehen.

Erst nach einer Woche beschwerten sich Anwohner über einen süßlichen, aber penetranten Geruch aus der Erdgeschosswohnung. Bei der Überprüfung des Apartments fielen den ersten Beamten der Schutzpolizei die verklebten Bohrlöcher an der Terrassentür auf. Sie ließen die Wohnungstür durch die Feuerwehr öffnen und fanden einen weiblichen Leichnam in der mit Wasser und Blut gefüllten Badewanne vor. Nach erstem Augenschein hatte sich die Frau die Pulsadern eröffnet und war verblutet. Durch die starken Fäulniserscheinungen waren die ursprünglichen Fesselmarken durch die Kabelbinder bei der ersten Inaugenscheinnahme nicht ersichtlich. Den im Anschluss eingesetzten Beamten des Kriminaldauerdienstes (KDD) fiel auf, dass in dem Apartment weder Wertgegenstände noch Ausweise noch ein Handy des Opfers aufzufinden waren. Angesichts dieser Umstände und der Manipulation an der Terrassentür zweifelten sie die anfangs favorisierte Suizidvariante an und mussten den Verdacht eines Tötungsdelikts in Betracht ziehen.

Trotz des fortgeschrittenen Fäulnisprozesses des Leichnams konnten in der Obduktion Strangulationsmarken am Hals, Fesselmarken an den Hand- und Fußgelenken sowie Hinweise auf vaginale und anale Verletzungen diagnostiziert werden. Interessant war zudem die Erkenntnis, dass die Eröffnung der Schlagadern an beiden Unterarmen bei lebendigen Leibe erfolgt sein dürfte. So konnte allein rechtsmedizinisch nachgewiesen werden, dass das Opfer in diesem Zustand gefesselt, vergewaltigt und bis zur Bewusstlosigkeit stranguliert wurde, bevor jemand es in die mit Wasser gefüllte Badewanne verbracht und ihm noch vital die Adern beider Unterarme geöffnet hatte. Spermaspuren konnten nicht gesichert werden. Die Spurensuche in dem Apartment und auch auf der Terrasse verlief negativ.

Auch Befragungen von Hausbewohnern und Nachbarn brachten keine Erkenntnisse.

Die Tat blieb ungeklärt.

Die Polizei Hannover kam nicht weiter. Man beschloss seitens der Leitungsebene und auch der Staatsanwaltschaft, die Medien über diesen Fall detailliert nicht zu informieren. Man wollte nicht nur eine Panik unter den Bewohnern und den Expo-Bediensteten und auch Gästen vermeiden, sondern auch das schlechte Image der Expo zu dieser Zeit nicht noch weiter gefährden.

Diese Entscheidung sollte sich rächen.

Eine Woche später wurde auf dem Kronsberg, keine 200 Meter vom ersten Tatort entfernt, eine weitere weibliche Leiche in ihrer Wohnung nackt aufgefunden. Die junge Frau war als Hostess im dänischen Pavillon beschäftigt. Auch sie war vergewaltigt und erdrosselt worden. Wieder fanden sich Bohrlöcher in der Balkontür der Wohnung, die allerdings im zweiten Obergeschoss lag und selbst für sportlich versierte Kletterer schwer zugänglich war. Spätestens nach dieser Tat war der Verdacht eines Serientäters begründet.

Die Mordkommission „Bohrer“ wurde eingerichtet und schlug eine präventive und offene Medienarbeit vor. Sie wollten alleinlebende Frauen auffordern, ihre Terrassen- und Balkontüren nach Beschädigungen abzusuchen und bei entsprechenden Feststellungen sofort die Polizei zu alarmieren.

Dieser Ansatz wurde aus politischen Gründen abgelehnt, sodass die Polizei eine intensive und konspirative eigene Überprüfung zumindest der Terrassentüren im Erdgeschoss veranlasste. Das neue Stadtviertel ‚Am Kronsberg‘ wurde zudem von uniformierten und auch zivilen Kräften intensiv bestreift, was den Anwohnern und auch dem Täter nicht verborgen blieb.

Der Mörder musste sein Jagdrevier wechseln, nahm seinen Plan zur Hand und schmunzelte. Er hatte sechs Monate Zeit und konnte die Entwicklung in aller Ruhe abwarten. Er nippte an seinem heißen Kaffee und lehnte sich in seinem VW-T4-California zurück. Er hatte sich akribisch vorbereitet, war autark und hatte seinen Campingbus auf dem Wohnmobilparkplatz des Expo-Parkplatzes abgestellt.

Im Vorfeld hatte er sich mit Besitzern desselben Wohnmobilmodells ausgetauscht. Er hatte sich in einem Forum mit Gleichgesinnten angefreundet, die das baugleiche Modell in derselben Farbe und mit fast identischer Ausstattung nutzten.

Als der Jäger von ihren Plänen erfuhr, in den Sommermonaten bis in den Herbst hinein eine Rundreise über Frankreich, Spanien, Portugal und zurück über Italien und Österreich zu unternehmen, besorgte er sich eine Kennzeichendublette dieses Fahrzeuges. Er meldete sich mit ihrem Namen auf dem Parkplatz des Expo-Geländes an und zahlte in bar.

Was also sollte ihm demnach passieren? Er sollte recht behalten.

Die Mordkommission ‚Bohrer‘ arbeitete inzwischen auf Hochtouren, konnte den Täter aber nicht ermitteln. Der hohe personelle Aufwand der Bestreifung des Wohngebietes konnte nach einer Woche nicht länger aufrechterhalten werden, zumal keine weiteren Taten entdeckt wurden.

Anfang Juli wurde von Angehörigen eine Frau als vermisst gemeldet, die als Hostess auf der Expo arbeitete. Es handelte sich um die 28-jährige Dunja Löschke, die sich mit einer spanischen Kollegin, Anna Gonzales, ein Apartment im Stadtteil ‚Am Kronsberg‘ teilte.

Eine Polizeistreife konnte in der Wohnung im ersten Obergeschoss niemanden antreffen und suchte auf der Expo den spanischen Pavillon auf. Verwundert mussten sie erfahren, dass auch Anna Gonzales seit einer Woche nicht mehr zur Arbeit erschienen und auch telefonisch nicht zu erreichen war. Eine Vermisstenanzeige lag nicht vor. Ihre Mitbewohnerin, Dunja Löschke, war ihnen nicht bekannt.

Nach Rücksprache mit ihrer Einsatzzentrale ließen die Beamten die Wohnungstür durch die Feuerwehr öffnen. Die Eingangstür war normal verschlossen. Die Wohnung war leer und ihnen fiel nichts Ungewöhnliches auf. Es machte den Eindruck, als hätten die jungen Frauen das Apartment kurzzeitig verlassen und würden bald zurückkehren. Persönliche Gegenstände der Frauen, wie Handtaschen und Handys, fanden die Polizisten nicht.

Die junge Beamtin stutzte plötzlich beim Betreten des kleinen Balkons.

„Sollten wir bei der Bestreifung vor ein paar Wochen nicht auf beschädigte Terrassentüren achten? Schau mal hier!“, machte sie ihren Kollegen auf beidseitige weiße Klebebänder über zwei Bohrlöcher in der Balkontür aufmerksam.

Der ältere Beamte griff zu seinem Handfunkgerät.

„Hanno von Expo 3716, schickt uns bitte den KDD in die Wohnung. Wir haben hier einen Hinweis, den die Moko ‚Bohrer‘ interessieren dürfte.“

Durch die Kriminalbeamten konnten trotz intensiver Spurensuche in der Wohnung keinerlei Hinweise auf eine Kampfhandlung aufgefunden werden.

Lediglich die Bohrungen in den Balkontüren galten als Indiz für einen Tatzusammenhang mit den beiden Tötungsdelikten.

Trotz intensiver Suchmaßnahmen blieben die beiden jungen Frauen unauffindbar. Auch nach der Expo verlief sich jegliche Spur von ihnen.

Die Polizei Hannover entschied nun, die Bevölkerung zu informieren, und bat insbesondere Anwohner im Umfeld des Expo-Geländes, ihre Terrassen- und Balkontüren auf Beschädigungen zu überprüfen. Es meldeten sich innerhalb weniger Tage insgesamt sechzehn Frauen, die solche Bohrlöcher entdeckt hatten.

Diese Tatserie konnte nie geklärt werden.

Thorsten Büthe hatte davon nur am Rande erfahren und seine Einsätze im Personenschutz während der Expo frei von größeren Störungen oder gar Angriffen auf seine Schutzpersonen hinter sich gebracht.

Er kehrte im Oktober 2000 wieder in sein altes Fachkommissariat für Tötungs- und sexuelle Gewaltdelikte zurück und widmete sich neuen Fällen.

3. KapitelDer überraschende Fund

In der Zentralstelle Gewalt des Landeskriminalamtes wurden jeden Morgen sämtliche Tötungs- und sexuellen Gewaltdelikte in Niedersachsen aus einer entsprechenden Lagemeldung erörtert.

Neben Analystinnen und einer Sachbearbeiterin der Vermisstenstelle war auch das Team der Operativen Fallanalyse (OFA) vertreten. Jana Staßfurt hatte die Lage aufgearbeitet und teilte mit, dass im Bockmerholz, einem Waldgebiet westlich des Messegeländes, der Schädel eines Menschen von Pilzsammlern gefunden worden war. Gezielte Suchmaßnahmen der Kollegen hätten dann ein tiefes Erdloch gefunden, in dem ein fast vollständiges menschliches Skelett freigelegt werden konnte. Weder Hinweise auf eine Identität noch das Geschlecht lagen aktuell vor.

„Ich hänge mich mal rein und sehe zu, dass ich die DNA und den Zahnstatus erhalte. Dann schaue ich mal, wer uns so fehlt, und versuche, den Leichnam zuzuordnen“, erklärte Jana Staßfurt.

Bis auf ein paar Analyseaufträge zu Sexualdelikten hatte sich vorläufig für die OFA keine neue Auftragslage ergeben.

Thorsten Büthe kehrte nach seiner Reha und einer Wiedereingliederungsphase gestärkt und relativ fit in die OFA zurück. Bis vor Kurzem hatte Kristin Bäumer die Leitung übernommen, und das Team hatte aktuell eine Fallanalyse zu zwei Tötungsdelikten abgeschlossen, die durch einen 13-jährigen Täter begangen worden waren, was ihnen allen an die Substanz ging.

Die Bergung der sterblichen Überreste wurde in Anwesenheit der Rechtsmedizinerin Dr. Sandra Stockinger akribisch durchgeführt und dokumentiert. In dem etwa achtzig Zentimeter tiefen Erdgrab waren keinerlei Reste von Bekleidung oder selbst von körperlichem Gewerbe aufgefunden worden. Es war zu vermuten, dass Wildschweine den Boden aufgeworfen und den Schädel freigelegt hatten. Nach erster Einschätzung der Fundsituation war das Skelett komplett und konnte in das Institut für Rechtsmedizin in die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) überführt und dort obduziert werden.

Das hier übliche Schema einer Sektion und insbesondere die Eröffnung der Körperhöhle ist bei Skelettfunden obsolet. Hier konnten die menschlichen Überreste lediglich auf Vollständigkeit überprüft und die einzelnen Knochen auf Beschädigungen und Frakturen untersucht werden. Solche Spuren, die auf eine Einwirkung durch stumpfe oder scharfe Gewalt sprechen konnten, waren nicht vorhanden und daher die genaue Todesursache nicht mehr feststellbar. Eine Vermessung des Skelettes deutete auf einen ausgewachsenen Menschen hin, wobei die Maße der Hüftknochen für einen weiblichen Leichnam sprachen.

Das Gebiss im Unter- und Oberkiefer war vollständig und frei von Zahnersatz und Füllungen, was auf eine jüngere Frau schließen ließ. Bei unbekannten Leichen diente die Erhebung des Zahnstatus als eine von mehreren Identifikationsmöglichkeiten. Doch ohne eine individuelle und in zahnärztlichen Unterlagen dokumentierte Behandlung mit Füllungen, Kronen und Zahnersatz ließ sich ein Treffer nur vermuten.

So entnahmen die Obduzenten aus den Hüftknochen und den Zähnen entsprechendes Material, aus dem sich die DNA des Opfers bestimmen ließ. Aber auch über diese Methode war es erforderlich, dass diese DNA in einer Vermisstendatei als solche hinterlegt war, um sie zuordnen zu können.

Jana Staßfurt hatte Zugriff auf den Ermittlungsvorgang und gab die diagnostizierten Kriterien der Rechtsmedizin in die Vermisstendatei ein.

Weiblich16 – 40 Jahre160 – 175 cmLiegezeit zwischen drei und dreißig JahrenVermisst in der Zeit zwischen 1994 und 2021

Nach diesen Merkmalen konnten in Niedersachsen 240 und bundesweit 2646 Treffer generiert werden. Bei etwa der Hälfte der Einträge war die DNA der vermissten Person erfasst.

Jana Staßfurt benötigte zwar weitere Infos, bevor sie in ihre Arbeit einsteigen konnte, wollte bis dahin aber nicht untätig sein.

Gemeinsam mit der OFA strukturierte sie eine Liste ihrer niedersächsischen Vermisstenfälle nach den Entfernungen zwischen dem letzten Ort, an dem das Opfer lebend gesehen wurde, und dem Ablageort des Leichnams. Aus empirischer Erfahrung wussten sie, dass die meisten Täter es vermieden, nach ihrer Tat weitere Strecken mit einem Leichnam zurückzulegen. Sie bevorzugten zudem Ablageorte, die sie kannten und einschätzen konnten, dass ihr Opfer nicht schnell gefunden wurde. Der oder die Täter dürften mobil gewesen sein und hatten sich in diesem Fall die Mühe gemacht, in einem Waldstück händisch ein Loch von 50 mal 100 Zentimeter in einer Tiefe von 80 Zentimeter auszuheben. Die anstrengende Grabung musste durch einen mit Wurzeln durchzogenen Boden erfolgt sein. Hierzu war nicht nur ein Spaten erforderlich, den man ja auch nicht immer zufällig mitführte. Insbesondere diese Tiefe einzuhalten und nicht vorher aufzugeben, war beachtlich und schien nicht das Werk eines Anfängers zu sein.

Im ersten Umkreis von zehn Kilometern Durchmesser um den Fundort, der den östlichen und südlichen Teil Hannovers abdeckte, waren zweiunddreißig niedersächsische Vermisstenfälle verzeichnet, bei denen in achtzehn bereits eine DNA eingetragen war. Damit konnten sie schon einmal arbeiten.

Jana Staßfurt rechnete in drei bis vier Tagen mit dem DNA-Ergebnis des unbekannten Leichnams.

Zudem wurde durch das Fachkommissariat 1 eine Isotopenanalyse in Auftrag gegeben.

Hierüber konnten aus den noch vorhandenen sterblichen Überresten Isotopenmuster gewonnen werden, die Aufschluss über die geografische Herkunft und längere Aufenthaltsorte geben konnten.

Sie ergänzten ihre Liste noch mit dem zweiten Radius um den westlichen und nördlichen Teil Hannovers mit 28 weiteren Fällen und schauten sich die Sachverhaltsschilderungen an, die zum Zeitpunkt des Verschwindens dieser Frauen seinerzeit bekannt waren. So hatten sie schon mal einen groben Überblick und konnten tiefer in die Materie einsteigen, sobald weitere Puzzleteile eingesetzt werden konnten und das Bild sich hoffentlich weiter vervollständigte.

Drei Tage später rief Jana Staßfurt bei Thorsten Büthe im Büro an. „Hey Thorsten, wir haben eine DNA zu der unbekannten Leiche im Bockmerholz. Können wir uns bei euch im Analyseraum treffen?“, schlug sie einladend vor.

„Gib uns bitte zehn Minuten. Bis gleich“, bestätigte der OFA-Leiter und trommelte sein Team und die Psychologin Carlotta Bayer-Westholdt zusammen.

Jana Staßfurt hatten das Smartboard schon gestartet und begrüßte die Profiler.

„Die gute Nachricht ist, wir haben ihre DNA. Die schlechte ist, dass sie bundesweit negativ ist und wir sie nicht zuordnen können. Mit dem Gutachten zur Isotopenanalyse können wir erst in einer Woche rechnen.

Ich habe gerade mit Antje vom KTI telefoniert. Sie war letzte Woche auf einer Tagung in Stockholm. In Skandinavien ist über die DNA-Typisierung nicht nur der Phänotypus, sondern auch die Haar- und Augenfarbe bestimmbar und überdies datenschutzrechtlich geklärt.

In Deutschland sind wir noch lange nicht so weit, wobei sie mir unter der Hand verriet, dass man in Schweden mitteilen könnte, dass es sich bei unserem Leichnam eher um einen südländischen Phänotypus mit dunklen Haaren und braunen Augen handeln dürfte. Na, was sagt ihr?“, fragte Jana nicht ohne Stolz in die Gruppe.

„Es ist doch immer wieder verrückt, was alles möglich wäre, wenn man es nur zuließe“, kommentierte die LKA-Psychologin.

„Super, Jana, vielen Dank, dass du da dranbleibst“, hob Thorsten ihr Engagement hervor und schätzte ein, dass das noch nicht alles war, was sie vorbringen wollte. Er hatte recht.

„Mit dieser Erkenntnis habe ich alle Vermisstenfälle rausgeschmissen, in denen die DNA vorlag. Dann bleiben noch vierzehn Personen im ersten Radius und zehn im westlichen und südlichen Bereich offen. Jetzt habe ich die Liste weiter minimiert, sodass nur noch die Frauen mit südländischem Phänotypus und dunklen Haaren und braunen Augen übrig bleiben“, spannte sie den Bogen weiter und betätigte ihren Präsenter.

Sie hatte eine Präsentation vorbereitet und nacheinander ihre Liste der infrage kommenden Personen reduziert.

Ihren letzten Klick kommentierte sie mit einem theatralischen „Tata!“

Die anfängliche Liste mit sechzig Fällen im Umkreis Hannovers hatte sich tatsächlich auf acht Fälle reduziert. Zwei vermisste Frauen kamen aus Syrien, drei aus der Türkei und jeweils eine aus Rumänien, Spanien und Italien.

Einer dieser Namen sprang Thorsten sofort an: Anna Gonzales. Eines der Opfer des Expo-Mörders.

„Wir benötigen die Vergleichsproben der Angehörigen. Klärst du das mit den Kollegen ab, Jana? Falls niemand von ihnen in Deutschland lebt, müssen wir Rechtshilfeersuche stellen, und das dauert“, mutmaßte Thorsten Büthe. Er hatte ein ganz komisches Gefühl.

Maik Holzner stutzte. „Ich war zur Expo in der Pressestelle und kann mich erinnern, dass wir über den Umgang der Berichterstattung in den Medien zu dieser Serie sehr kontrovers diskutiert hatten. Ich glaube, es konnten diesem Täter zwei Tötungsdelikte und zwei Vermisstenfälle zugeordnet werden.“

Jana Staßfurt hatte zwischenzeitlich in ihrer Vermisstendatei recherchiert und strahlte. „Ihr könntet mich eigentlich in die Tapasbar Gonzales einladen“, schlug die Analystin vor und klärte das OFA-Team auf: „Die Eltern von Anna sind nach dem Verschwinden ihrer Tochter nach Hannover gezogen und haben in Laatzen ein kleines Restaurant eröffnet, um hier ansprechbar zu sein. Laut meinen Aufzeichnungen befindet sich die Tapasbar auf der Hildesheimer Straße, nahe dem Messegelände. Was meint ihr?“

„Da war ich schon öfters essen. Das ist ein kleiner Laden mit einer ursprünglichen und leckeren Küche. Ich bin dabei“, bestätigte Maik Holzner mit Vorfreude.

„Wir sollten dort mit einem großen Appetit aufschlagen, uns während des Essens als LKA-Beamte outen und über den Leichenfund aufklären. Dann ziehen wir in Betracht, dass es sich um ihre Tochter handeln könnte, und bitten sie zum Abgleich um eine freiwillige Speichelprobe.“

„Das ist nicht wirklich euer Ernst, oder?“, echauffierte sich der OFA-Leiter.

„Ich glaube, so war das nicht gemeint, Thorsten. Wir sollten mit den Ermittlern sprechen, und die werden das sicher übernehmen. Bestätigt sich der Verdacht, können wir immer noch den Restaurantbesuch mit einem Essen verbinden. Das müssen wir von der Situation abhängig machen“, versuchte Kristin Bäumer zu schlichten.

„Einverstanden. Jana, übernimmst du das? Falls sich herausstellen sollte, dass es die Spanierin ist, sollten wir mit der Cold Case Unit (CCU) Hannover sprechen, ob wir nicht mit einer Fallanalyse in diese Serie einsteigen. Aber erst warten wir das Ergebnis der DNA-Analyse ab“, entschied der Team-Leiter.

In der Polizeidirektion Hannover und anderen Direktionen in Niedersachsen hatte man vor einigen Jahren Dienststellen eingerichtet, die sich ausschließlich um die unaufgeklärten Tötungsdelikte und Vermisstenfälle, in denen die Gesamtumstände des Verschwindens auf ein Verbrechen hindeuteten, kümmerten. Als Leiterin dieser CCU in Hannover war Kriminalhauptkommissarin Britta Hoyer berufen worden. Sie hatte schon viele Jahre Erfahrungen als Mordermittlerin und hatte sich in einem Auswahlverfahren auf diesen Leitungsposten durchgesetzt. Britta war 52 Jahre alt, mit einem Finanzbeamten verheiratet und hatte zwei erwachsene Söhne, die in Hamburg und Bremen studierten.

Mit einem jungen Kollegen suchte sie am frühen Abend unangekündigt die Tapasbar Gonzales in der Hildesheimer Straße auf. Eine Vollblutspanierin über siebzig begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln: „Bienvenido! Auf welchen Namen haben Sie reserviert?“

Die Kriminalbeamtin lächelte leicht zurück und stellte sich mit ihrem Dienstausweis vor: „Frau Gonzales? Mein Name ist Britta Hoyer von der Kripo Hannover, das ist mein Kollege Enrico Schwarzer. Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?“

Die Inhaberin des kleinen Restaurants war gefasst, ahnte aber sofort, um was es ging. „Haben Sie Anna gefunden?“, fragte sie betroffen

„Wir können es nicht mit Gewissheit sagen, Frau Gonzales. In einem Waldgebiet in der Nähe des Messegeländes sind menschliche Knochen aufgefunden worden. Wir wissen noch nicht, um wen es sich dabei handelt, würden von Ihnen gerne eine Speichelprobe entnehmen und diese mit der DNA des Leichnams vergleichen. Nur so können wir erfahren, ob es sich um Anna handelt. Wären Sie damit einverstanden, Frau Gonzales?“, fragte die Beamtin einfühlsam.

Aus der Küche erschien ein älterer Herr in Kochkleidung, der sich mit einem Küchenhandtuch die Hände säuberte, sich als Vater von Anna vorstellte und seine Frau fürsorglich in den Arm nahm.

„Seit 24 Jahren rechnen wir jeden Tag mit diesem Besuch. Sollten wir bald Gewissheit haben? Bekommen wir Anna endlich zurück und können sie beerdigen?“, fragte die besorgte Mutter.

„Frau Gonzales, auch andere Angehörige bekommen gerade Besuch von Kollegen mit dem gleichen Anliegen. Wir müssen das Ergebnis der Vergleichsuntersuchung abwarten. Ich verspreche Ihnen, dass wir Sie umgehend informieren, wenn uns Näheres vorliegt. Bitte unterschreiben Sie Ihre Einverständniserklärung. Mein Kollege wird mit einem Wattestäbchen jeweils einen Abstrich von Ihren Wangentaschen nehmen. Die Untersuchung dient ausschließlich diesem einen Abgleich, und Ihre Daten werden danach umgehend gelöscht. Sind Sie beide damit einverstanden?“, beschrieb die Beamtin die Vorgehensweise.

Sie nickten und Enrico Schwarzer entnahm die Speichelproben.

„Jetzt sind wir dran, unseren Job zu machen. Bitte sehen Sie zwischendurch von Anfragen ab. Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, sobald ich mehr weiß“, klärte Britta Hoyer auf, übergab den Eltern von Anna ihre Visitenkarte und verabschiedete sich.

Die Ermittlungen zu den anderen infrage kommenden Vermisstenfällen gestalteten sich weit aufwendiger. Daher wurden die DNA-Untersuchungen des Ehepaars Gonzales im Direktabgleich mit der des Leichnams unmittelbar durchgeführt, und das Gutachten lag nach wenigen Tagen vor.

Nun hatten sie Gewissheit. Bei den sterblichen Überresten handelte es sich definitiv um den Leichnam von Anna Gonzales.

4. KapitelEinrichtung der Cold-Case-Ermittlungsgruppe

Nach Klärung der Identität des Leichnams wurde in der Polizeidirektion Hannover die Ermittlungsgruppe (EG) EXPO bei der CCU eingerichtet. Als Leiterin dieser speziellen EG wurde Kriminalhauptkommissarin Britta Hoyer bestimmt.

Nach erstem telefonischen Kontakt mit der OFA erteilte die Cold Case Unit den Auftrag zur Erstellung einer Fallanalyse der gesamten Mordserie sowie des noch offenen Vermisstenfalls Dunja Löschke.

Sowohl die neue Ermittlungsgruppe aus fünf Beamtinnen und Beamten als auch die OFA samt der LKA-Psychologin Carlotta Bayer-Westholdt sowie der Leiterin der Vermisstenstelle, Jana Staßfurt, trafen sich zum ersten Briefing.