Orontius, der Gaukler Gottes - Bea Eschen - E-Book

Orontius, der Gaukler Gottes E-Book

Bea Eschen

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Beschreibung

Der historische Roman "Orontius, der Gaukler Gottes" spielt 16. Jahrhundert. Er erzählt die Geschichte von Orontius, der als Heranwachsender von einem fahrenden Gaukler aufgenommen wird und später Mönch im Franziskanerkloster von Siegen wird. Im Kloster trifft er auf Gregorius von Metz, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbindet. Er zweifelt jedoch an der Aufrichtigkeit des Vaters Guardian aufgrund eines persönlichen Anlasses, was zu Konflikten im Kloster führt. Nach über zwei Jahrzehnten verlässt Orontius das Kloster, um seinen Vater zu finden und entdeckt die Welt außerhalb des Klosters, wo er auf verschiedene Menschen und Herausforderungen trifft. Schließlich trifft er auch seine Kindheitsliebe wieder. Der Roman thematisiert das Leben in der erwachenden Neuzeit sowie die Bedeutung von dem fahrenden Volk und der Religion in dieser Zeit.

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Seitenzahl: 182

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ORONTIUS, DER GAUKLER GOTTES

BEA ESCHEN

Urheberrecht © 2021 Bea Eschen

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin in irgendeiner Form, sei es mit elektronischen oder mechanischen Mitteln, einschließlich Informationsspeicher und Abruf-Systemen, reproduziert werden, außer durch die Verwendung von kurzen Zitaten in einer Buchbesprechung.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

VORWORT

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

NACHWORT, ODER DER ANFANG VOM ENDE

DANKSAGUNG

BÜCHER VON BEA ESCHEN

Orontius, der Gaukler Gottes

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

VORWORT

BÜCHER VON BEA ESCHEN

Orontius, der Gaukler Gottes

Cover

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VORWORT

Es handelt sich hierbei um ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebendig oder tot, oder tatsächlichen Ereignissen, ist rein zufällig.

ERSTES KAPITEL

Dicke Schneeflocken fallen auf mein fiebrig heißes Gesicht. Jeder Treffer lässt mich unter der schmelzenden Kühle erschauern. Der Gedanke, dass es nicht lange dauern wird, bis sich die weiße Masse über mir schließt und mich lebendig darunter begräbt, macht mich wahnsinnig. Über mir sehe ich durch die weißen Baumkronen, von denen bei jedem Windhauch der Schnee von den Ästen rieselt, in den grauen Himmel. Das Geräusch der sich in einer Windböe bewegenden Äste erinnert mich an den letzten Atemzug meines Vaters. Ich fühle, wie die Eiseskälte in mich eindringt und sich in meinem schmerzenden Körper ausbreitet.

Trotz meines fast gelähmten Bewusstseins nehme ich im Augenwinkel die verschwommenen Umrisse mehrerer Wölfe wahr. Langsam und schleichend kommt das Leittier immer näher, ohne mich auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Jetzt hat mich das Rudel umzingelt und ich erstarre in der Aussichtslosigkeit meiner Situation.

Es ist still. Gebannt nehme ich jeden einzelnen ihrer Schritte wahr, als die Wölfe auf mich zukommen. Mit letzter Kraft greife ich in die rechte Tasche meiner Kutte und taste mit meinen eiskalten Fingern nach der Schleuder. Zacharas, der Novize, vertraute sie mir vor meiner langen Wanderung an. „Falls die Wölfe dir zu nahe kommen“, flüsterte er mir zu und sah mich dabei an, als wenn er geahnt hätte, dass das geschehen würde. Überrascht nahm ich die Waffe an mich und ließ sie in meinem Gewand verschwinden. Es war uns nicht erlaubt, etwas zu besitzen, außer der Kleidung, die wir am Körper trugen — von einer Waffe ganz zu schweigen.

In panikartiger Angst vor einem blutigen und schmerzhaften Tod erinnere ich mich jetzt daran, dass sich das Geschoss nicht in der rechten, sondern in der linken Tasche meiner Kutte befindet. Aber bei einem Sturz wickelte sich mein weites Gewand um meinen Körper, sodass sich die Tasche jetzt unter mir befindet. Vorsichtig hebe ich meinen Arm und suche verzweifelt nach ihrer Öffnung. Ich bin zu schwach, in sie hineinzugreifen, und lasse meinen Arm in den Schnee fallen.

Den Wölfen entgeht diese Bewegung nicht. Das Leittier ist nur noch eine Armlänge von mir entfernt. Sein nach verfaultem Fleisch stinkender Atem kriecht mir direkt in die Nase. In einem letzten Versuch, einem grauenvollen Schicksal zu entgehen, drehe ich meinen Kopf und starre ihm direkt in die Augen. Tatsächlich bleibt das Tier stehen. Während die Wölfe ihre nächste Mahlzeit unbedingt zu sich nehmen wollen, hoffe ich, doch noch eine Chance zum Überleben zu bekommen. Ein wilder Schrei formt sich wie ein Kloß in meinem Bauch zusammen und droht in meinem Rachen zu explodieren. Verkrampft öffne ich den Mund, ohne meinen starren Blick von den Augen dieses wilden Tieres abzuwenden.

Mein Schrei kommt aus dem tiefsten Inneren meiner Seele. Es kommt mir vor, als ob die Erde unter mir erzittert und die Äste über mir knirschen. Laut, schrill und mit all meinen Leibeskräften stoße ich ihn aus. Er nimmt mir fast den Atem, aber befreit mich von meiner mich betäubenden Todesangst. Das Leittier steckt mit großem Schreck seinen Schwanz zwischen die Beine, legt die Ohren zurück und schleicht sich mit eingeknickten Beinen davon.

Mit neu gefundener Energie schaffe ich es, mich leicht aufzurichten. Ich sehe dem Rudel nach, das im Dunkel des Waldes verschwindet. Die Spuren im Schnee verbleiben als Zeugen des soeben Geschehenen. Erleichtert lege ich mich zurück und spreche leise ein Dankgebet für die vom Herrn erhaltene Gnade. So, wie ich es schon immer getan habe, hebe ich dabei meinen rechten Arm zum Himmel und öffne meine Hand. Erhört er mich? Sieht er mich? Das Schweigen lässt meinen Zweifel an seiner Existenz, wie schon so oft zuvor, wieder aufsteigen. Meine Hand mit dem Daumenstummel hebt sich schwarz von dem grauen Himmel ab.

ES IST DIESELBE HAND, mit der ich als Kind auf dem Markt unser Brot, Fleisch und Gemüse zusammen klaute. Dabei zog ich meine Mütze tief in mein mit Dreck beschmiertes Gesicht und wickelte mir einen Schal um den Hals, der so groß war, dass mein Oberkörper bis zum Bauchnabel bedeckt war. Gott sei Dank wurde ich nie als der Sohn meines Vaters erkannt.

Meine Bewegungen waren schnell. Keiner konnte mit mir mithalten. Sogar die Kinder der Gauner, Hexen und Mörder folgten mir, um sich von mir den einen oder anderen Trick abzuschauen. Das Wichtigste dabei war, die Händler an ihren Ständen genau zu beobachten und zu wissen, wie sie sich bewegten. Die Frau des Fleischers drehte sich von Zeit zu Zeit zu ihrem Baby um, das hinter ihr in einem Korb lag. Die Bäckersfrau verschwand hinter dem Vorhang, um das Brot aus dem Feuer zu holen. Der Gemüsebauer war ein dicker, alter Mann, zudem noch blind auf dem linken Auge. Er nickte regelmäßig ein. In diesen Momenten schlug ich zu. Für mich waren das keine Tricks, sondern schlicht und einfach die einzige Möglichkeit, überleben zu können. Schnell füllte sich mein Sack mit Vorräten für die ganze Woche.

Heute bin ich mir sicher, dass mein Vater Bescheid wusste. Aber jedes Mal tat er so, als seien meine Diebestouren normal. Das hätte uns den Kopf kosten können!

MEINE ELTERN WAREN BAUERN. Unser Korn war jedoch immer minderwertig. Der Boden war lehmig, steinig und hart. Mein Vater rackerte sich ab, aber leider konnten wir unser Feld nicht richtig pflügen, weil unser alter hölzerner Hakenpflug den Boden nur aufritzte. Außerdem benutzten wir einen alten Ochsen als Zugtier, der eigentlich zur Schlachtung reif war, wir aber keine Mittel hatten, um uns einen neuen anzuschaffen. Wenn das Tier müde wurde, legte es sich einfach hin und wir mussten warten, bis es wieder aufstand. Noch heute kann ich mich daran erinnern, wie mein Vater es antrieb. Unter dem Druck, das Feld für die Saat rechtzeitig vorbereitet zu haben, schrie er es an und hieb mit seinem Stock auf sein Hinterteil.

Unser Grundherr war ein Fürst. Ich kann mich an seinen Namen nicht mehr erinnern, weil er schwierig auszusprechen war und mein Vater ihn spöttisch Hoheit nannte. Unser Fürst besaß Schweine, die ihm seinen Reichtum sicherten. Man sah es am Ende des Jahres, nach der Mast, wenn die Schweine für die Schlachtung verkauft wurden.

Jedes Jahr zu Weihnachten gab es in dem Gutshaus ein großes Fest, zu dem die Adligen aus der Umgebung eingeladen wurden. Dazu gab es auch ein Schwein, welches meine Eltern schlachten und verarbeiten mussten. Es war schrecklich für mich, dabei helfen zu müssen, weil ich während der Zeit, die ich mit den Schweinen im Wald verbrachte, eine Verbindung aufgebaut hatte.

Die Schweinebetreuung war ein Teil des Frondienst, den wir leisten mussten, um unseren Gutsherrn — diesen Fürsten mit dem schwierigen Namen — zufriedenzustellen, damit wir weiterhin auf seinem Land leben konnten.

Es war meine Pflicht, die Tiere nach dem Festtag des Heiligen Michael in den Wald zu treiben, wo sie nach Eicheln, Bucheckern, Kastanien, Pilzen und Wildfrüchten suchten. Ich musste regelmäßig nach ihnen sehen, was mir während dieser Zeit einen Grund gab, gelegentlich die Feldarbeit zu verlassen. Ich war sehr froh, diese Freiheiten zu haben und nahm mir oft Steine vom Feld mit, um das Jonglieren zu üben. Die Zeit im Wald gab mir auch die Möglichkeit, andere Tricks zu proben, wie ich sie bei Gaukler-Truppen auf Kirchenfesten im Dorf gesehen hatte — Klettern, Balancieren und Salti schlagen. Es gab eine mit Steinen ausgekleidete Grube, die vorher einmal als Vorratskeller gedient haben musste. Das Holzdach lag in Teilen daneben und ich nahm zwei schmale Latten und legte sie quer über die Grube, wobei ich sie in der Mitte mit aufgestapelten Steinen abstützte. Während die Schweine um mich herum grunzten, übte ich das Balancieren und fiel dabei mehrfach in das weiche Laub, was mich jedes Mal aufs Neue auflachen ließ.

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WIR HATTEN KEIN GLÜCKLICHES ZUHAUSE. Meine Mutter hatte einige Fehlgeburten gehabt und war stets traurig. Mein einziges Geschwisterlein, das lebend geboren wurde, starb in seinem dritten Lebensjahr an Masern. Ich war das einzige Kind meiner Eltern, das seine Kindheit überlebte. Deswegen waren sie immer sehr um mich bemüht.

Im letzten Winter wurde meine Mutter plötzlich krank. Eines Tages stand sie morgens nicht auf. Sie lag auf ihrem Strohsack und starrte vor sich hin. Ich ging zu ihr und sprach sie an: „Mutter, was ist los mit dir? Warum stehst du heute nicht auf?“ Sie reagierte nicht. Sie lag einfach nur da und starrte an die Decke. Plötzlich hustete sie und spuckte Blut. Mir fuhr der Schreck in die Glieder. Was sollte ich tun? „Mutter, was ist los mit dir?“, fragte ich sie ein zweites Mal. Anstatt mir zu antworten, stöhnte sie leise auf und dann kam aus ihrem Mund ein gurgelndes Geräusch. Wie gelähmt stand ich vor ihr und war zu keinem Gedanken fähig. Was hatte sie nur? Ich begriff, dass sie schwer krank sein musste. Vater! Mir fiel mein Vater ein. Er hatte bisher immer einen Rat gehabt, wenn etwas passiert war. Stets wusste er, was zu tun war. Ich musste ihn holen. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, stürzte ich zur Tür hinaus. „Vater, Vater, schnell!“, rief ich ins Freie hinein. Ich konnte ihn nicht sehen, trotzdem rief ich weiter: „Vater, komm schnell, Mutter ist krank!“

Er kam aus dem Stall heraus, eine Hand voll mit Futter für den alten Ochsen. „Orontius, was schreist du hier so herum?“ „Bitte, Vater, du musst schnell zu Mutter kommen, sie spuckt Blut. Schnell, ich habe Angst um Mutter!“

Als mein Vater und ich an ihr Strohbett zurückkamen, hatte meine Mutter noch mehr Blut gespuckt. Es lief ihr vom Mund aus am Hals herunter. Schnell war mein Vater bei ihr, berührte sie und erschrak. Dann legte er ihr seine Hand auf die Stirn. Nach einigen Augenblicken, die mir wie eine Ewigkeit erschienen, sagte er zu mir: „Sie hat hohes Fieber.“ Er dachte kurz nach. „Orontius, hole kaltes Wasser und einen Lappen. Den tauchst du ins kalte Wasser und legst ihn ihr auf die Stirn. Ich gehe und hole einen Wundarzt, vielleicht kann der ihr helfen. Bete zu Gott, dass sie wieder gesund wird.“

Kaum hatte er das ausgesprochen, als er uns auch schon wieder verließ. Nun war ich mit meiner Mutter allein und begriff nicht, was geschah. Meine Gedanken überschlugen sich. Beten! Mein Vater hatte gesagt, ich solle beten. Ich kniete nieder. „Lieber Gott im Himmel, mach bitte, dass meine Mutter wieder gesund wird. Wir brauchen sie doch. Bitte Gott …“ Plötzlich fielen mir auch die anderen Worte meines Vaters wieder ein. Ich stand auf, um zum Brunnen zu eilen und kaltes Wasser zu holen. Auf dem Tisch stand eine Schüssel, die nahm ich mit. Als ich mit dem Wasser zurück zu meiner Mutter kam, legte ich ihr, wie mein Vater es gesagt hatte, einen mit in Wasser getränkten Lappen auf ihre Stirn. Dabei berührte ich sie mit meinen Fingerspitzen. Sie glühte förmlich. Meine Sorgen wurden größer. „Mutter, sag doch etwas, Mutter, bitte!“ Noch einmal spuckte sie Blut. Jetzt war es fast schwarz.

Ich holte einen zweiten Lappen und haderte dabei mit Gott. Warum hatte er meine Mutter so krank werden lassen? Hatte er denn gar nicht bemerkt, dass wir sie brauchten? Ich verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, dass meine Mutter sterben könnte. Sie war immer für mich da gewesen, solange ich denken konnte. Warum sollte sich das plötzlich ändern? Das war für mich schier unmöglich. Meine Mutter konnte gar nicht sterben!

Plötzlich stöhnte sie erneut auf. Ich nahm ihr den Lappen von der Stirn. Er war richtig heiß geworden. Schnell tauchte ich ihn ins kalte Wasser, wrang ihn aus und legte ihn ihr wieder auf die Stirn. Mit dem zweiten Lappen wusch ich ihr das Blut vom Mund und Hals, das sich jetzt auch unter ihrem Kopf angesammelt hatte.

Die Zeit verstrich – wo blieb nur mein Vater? Mutter ging es immer schlechter. Ich hatte Angst um sie. Gemeinsame Erlebnisse aus der Vergangenheit schossen mir durch den Kopf. Nur sie und ich. Ich bemerkte gar nicht, dass ich weinte. Erst als ich die salzige Flüssigkeit schmeckte, wurde ich mir meiner Tränen bewusst und wischte sie mir schnell mit beiden Händen aus dem Gesicht. Meine Angst um meine Mutter blieb.

Und wieder spuckte sie Blut. Noch einmal wechselte ich den Lappen auf ihrer Stirn. Zum wievielten Male tat ich das schon? Ich wusste es nicht mehr. Und wieder wischte ich das Blut von ihrem Gesicht.

Endlich ging die Tür auf. Mein Vater kam mit einem Mann herein, den ich nicht kannte. Er nickte mir kurz zu. Dann sah er auf meine Mutter hinunter. Er musste der Wundarzt sein. Niemand sprach ein Wort. Wieder spuckte meine Mutter Blut, das auch dieses Mal beinahe schwarz aussah. Dann sagte der Mann leise: „Tut mir leid, aber ich kann nichts für sie tun.“

Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Verzweifelt sprach ich zu ihm: „Aber Ihr müsst ihr doch irgendwie helfen können. Ihr seid doch ein Arzt. Irgendetwas muss es doch geben, das meiner Mutter helfen kann.“

„Nein, ich kann ihr nicht helfen, auch Ärzte sind manchmal machtlos!“, antwortete er mit harter Stimme und sah mich dabei streng an.

„Was seid Ihr denn für ein Arzt, wenn Ihr ihr nicht helfen könnt!“, rief ich erregt.

„Orontius“, ermahnte mich mein Vater, „sei nicht respektlos.“

Ich senkte den Kopf. Tränen standen mir in den Augen. Ich hörte, wie der Arzt uns verließ. Mein Vater strich mir mit einer Hand über meinen Schopf. Danach verließ auch er das Haus.

Der Gedanke, dass meine Mutter im Sterben lag, schlich sich in mein Bewusstsein. Noch konnte ich es gar nicht fassen, was das für mich und meinen Vater bedeutete. Noch einmal spuckte meine Mutter Blut. Oh, mein Gott, wo kam denn nur all das viele Blut her? Ich wusch es wieder von ihrem Gesicht und dem Hals ab.

Ich hasste den Wundarzt. Der hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu untersuchen. Er hätte sich ja auch an ihrem Blut die Finger schmutzig machen können. So ein dummer Kerl, der war doch kein Arzt, sondern eher ein Viehdoktor.

Meine Mutter sollte sterben? Nein, das ging nicht, das durfte gar nicht sein. „Gott, du kannst sie doch nicht sterben lassen!“, rief ich ihm in meiner Verzweiflung zu. „Was bist du denn nur für ein Gott, wenn du mir meine Mutter nimmst!“ Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Warum ist denn Vater nicht geblieben? Wollte er ihr nicht beistehen, wenn sie nun schon sterben musste?

Und wieder Blut, das ich wegwischen musste. Das Wasser war schon ganz rot und der Lappen ließ sich nicht mehr auswaschen. Wie sollte ich meiner lieben Mutter damit noch das viele Blut aus dem Gesicht waschen?

Meine Gedanken überschlugen sich. Während ich frisches Wasser und einen sauberen Lappen holte, wurde ich auf den Wundarzt noch wütender. Wäre er noch hier gewesen, hätte ich ihm bestimmt ins Gesicht geschlagen. Ein wenig mehr Mühe hätte der sich doch geben können.

Warum wollte mein Vater ihr nicht beim Sterben beistehen? Meine Verwirrung war groß, doch fühlte ich mich irgendwie erleichtert, weil ich jetzt mit ihr alleine sein konnte. Die letzten Minuten, oder waren es sogar Stunden, hatte ich meine Mutter für mich ganz alleine. Ich tat alles, was ich für sie tun konnte. Aber auch mir wurde immer mehr bewusst, dass meine Mutter bald nicht mehr für uns da sein würde.

Als sie für immer einschlief, hielt ich ihre Hand mit meiner linken. Mit der rechten Hand streichelte ich sie sanft. Dabei hoffte ich, dass sie wieder aufwachen würde. Wie sich ein Schmetterling aus seiner Puppe löst, sah ich ihre Seele im Geiste wegflattern. Der Schmetterling hatte wunderschöne bunte Flügel, er war graziös und als ob er mir einen Tanz vorführen wollte, flog er noch einmal im Kreis herum, bevor er endgültig verschwand. Daraufhin gab ich meine Hoffnung, dass sie wieder aufwachen würde, auf. In diesem Moment fragte ich mich noch einmal, wo Gott war. Hatte er alles gesehen? Warum hatte er sie so sehr leiden lassen? Warum hatte er meine Mutter überhaupt sterben lassen?

NACH IHREM TOD wurde unser Leben noch schwerer als zuvor. Zu ihren Lebzeiten hatte sie Schafwolle gesponnen und Tücher und Decken für den Fürsten und seine Familie gewebt. Weil das nun nicht mehr möglich war, verlangte der Fürst mehr Zins für das wenige Getreide, das wir billig verkaufen mussten, weil es minderwertig war. Mein Vater und ich nagten am Hungertuch und weil wir nicht Wurzeln und Baumrinde essen wollten, war das, was ich auf den Wochenmärkten stahl, überlebenswichtig.

MEIN VATER HATTE NIE die Zeit oder die Möglichkeit gehabt, seine künstlerische Ader auszuleben. Auch ich war von Kunststücken fasziniert, und wenn die Gauklertruppen ins Dorf kamen, standen wir mit Begeisterung in der ersten Reihe. Die Vorführungen beeindruckten uns sehr. Die graublauen Augen meines Vaters weiteten sich und sein Gesicht verzog sich in unzählige Falten, wenn er zum Lachen ansetzte. Dabei kamen seine dunklen Zahnlücken und halb verfaulten Zähne zum Vorschein, die er sonst vorsichtig hinter steifen Lippen versteckt hielt. In diesen Augenblicken konnte ich seinen schlechten Mundgeruch riechen, der mich mit den ausströmenden Wellen seines Lachens erreichte. Trotz dieser kleinen Hässlichkeit genoss ich es, wenn er sich amüsierte. Dazu hatte er selten die Gelegenheit. Es waren die einzigen Momente, in denen ich ihn herzhaft lachen sah.

„Mach es noch einmal, mir zuliebe“, rief er dem Gaukler begeistert zu, der gerade nach einem Balanceakt vom Seil gesprungen war. Viele der Gaffer waren von dem Risiko des Kunststückes aufgeregt, ja, einige waren sogar erschrocken. Das Seil befand sich zwischen dem Schornstein des Backhauses und dem Vordach der kleinen Dorfkirche in knapp fünf Ellen Höhe. Der Gaukler hatte eine Entfernung von zwanzig Ellen ohne größere Zwischenfälle geschafft. Dabei setzte er jedes Mal sein Leben aufs Spiel, aber das schien meinem Vater egal zu sein.

„Was bietest du mir an, dass ich es noch einmal mache?“, fragte der Gaukler herausfordernd.