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Mihrigul Tursun

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Beschreibung

»Die Welt muss nicht nur davon erfahren, sie muss wissen, wie sich das anfühlt, in so einem Lager eingesperrt zu sein«

Menschenrechtsorganisationen und Regierungen sprechen von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem »kulturellen Genozid«. Mihrigul Tursun ist wiederholt Opfer der chinesischen Bestrebungen zur totalen Assimilation der Minderheit der Uiguren geworden. Sie erlebte die sogenannten »Umerziehungslager« in ihrer unbeschreiblichen Grausamkeit, die physische und psychische Gewalt, am eigenen Leib. Auf bis heute ungeklärte Weise kam ihr kleiner Sohn ums Leben, während sie eingesperrt war. Heute hat sie trotz der auch im Exil nicht verschwundenen Bedrohung den Mut, offen über das Erlebte zu sprechen und aus eigener Erfahrung das zu beschreiben, was die uigurische Minderheit in China erleiden muss. Ein bedeutender Augenzeugenbericht, der dem Leser die Menschen hinter den Nachrichten aus China nahebringt.

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Seitenzahl: 354

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Menschenrechtsorganisationen und Regierungen sprechen von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem »kulturellen Genozid«. Mihrigul Tursun ist wiederholt Opfer der chinesischen Bestrebungen zur totalen Assimilation der Minderheit der Uiguren geworden. Sie erlebte die sogenannten »Umerziehungslager« in ihrer unbeschreiblichen Grausamkeit, die physische und psychische Gewalt, am eigenen Leib. Auf bis heute ungeklärte Weise kam ihr kleiner Sohn ums Leben, während sie eingesperrt war. Heute hat sie trotz der auch im Exil nicht verschwundenen Bedrohung den Mut, offen über das Erlebte zu sprechen und aus eigener Erfahrung das zu beschreiben, was die uigurische Minderheit in China erleiden muss. Ein bedeutender Augenzeugenbericht, der dem Leser die Menschen hinter den Nachrichten aus China nahebringt.

Mihrigul Tursun

Andrea C. Hoffmann

ORTOHNEWIEDERKEHR

Wie ich als Uigurin Chinas Lager überlebte

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Namen einiger in diesem Buch erwähnten Personen wurden zu ihrem eigenen Schutz und dem Schutz ihrer Angehörigen geändert.

Originalausgabe 01/2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von Kuzzat Altay

Übersetzung der Interviews durch Mihriban Memet

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28865-5V004

www.heyne.de

Inhalt

Prolog

1 Eine Uigurin in China

2 Hochzeit mit Hindernissen

3 Drei Mal Mutter

4 Rückkehr ins Ungewisse

5 Gefangen in der Hölle

6 Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?

7 »Dein Gott ist Xi Jinping!«

8 Auf Schritt und Tritt überwacht

9 Dem Tode geweiht

10 Erlösung

11 Heimatlos in Ägypten

12 Mein neues Leben im alten

Nachwort

Danksagung

Prolog

Nach einem langen Flug landete unsere Maschine in Washington. Aufgrund der Zeitverschiebung zwischen Ägypten und den USA schien bei der Ankunft immer noch die Sonne. Meine Kinder, die auf dem letzten Drittel der Strecke geschlafen hatten, rekelten sich und sahen neugierig aus dem Fenster. »Wir sind angekommen!«, sagte ich zu ihnen. »Das ist unser neues Zuhause.«

»Viele Flugzeuge«, staunte mein Dreijähriger. Er konnte es kaum erwarten, die Maschine in Richtung Rollfeld zu verlassen. Ich angelte unsere Taschen aus den Gepäckfächern und schob ihn und seine Zwillingsschwester in Richtung Ausgang. Auf der Gangway schien uns die Nachmittagssonne ins Gesicht.

Eine arabische Passagierin half uns, einen Wagen für unser Gepäck zu ergattern. Dann standen wir in der Schlange zur Sicherheitskontrolle, ich hielt meine beiden Kleinen fest an je einer Hand. Ich konnte es kaum glauben, dass wir uns tatsächlich auf amerikanischem Boden befanden. Doch als die Immigration-Officer in Sichtweite kamen, spürte ich, dass die Kinder zappelig wurden und nicht mehr weiter gehen wollten. Mit weit geöffneten Augen starrten sie den Uniformierten und ihren Hunden entgegen, die das Gepäck auf der Suche nach Drogen beschnüffelten. »Sie werden uns schlagen!«, sagte mein Sohn ängstlich. Plötzlich rissen sich beide Kinder von mir los und rannten davon. Ich setzte ihnen hinterher. Das Gepäck ließ ich einfach stehen. Stattdessen verfolgte ich die beiden Ausreißer, die in der Menge der wartenden Menschen untergetaucht waren. Ich respektierte keines der Absperrbänder und verursachte dadurch große Unruhe. Die Sicherheitsleute waren sofort alarmiert. »Hey, kannst du nicht in der Reihe stehen?«, pflaumte mich einer an.

In diesem Moment entdeckte ich meine Kinder: Sie hatten sich unter einem Tisch versteckt. Ich eilte zu ihnen. Doch sie zitterten vor Angst, weil sie sahen, dass mir einer der Sicherheitsleute gefolgt war und sich mir von hinten näherte. »Sie werden dich festnehmen! Lauf weg, Mama!«, warnte mich meine Tochter.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte der Uniformierte mit lauter Stimme.

»Meine Kinder haben Angst vor Ihnen«, versuchte ich ihm zu erklären.

»Ja, aber warum?« Obwohl der Mann ungefähr 1,90 Meter groß war und eine Waffe trug, fehlte ihm jedes Verständnis, warum sich jemand vor ihm fürchten sollte.

Die Araberin, die uns mit dem Gepäck geholfen hatte, kam jetzt ebenfalls zu uns. Sie bat den Uniformierten, leiser zu sprechen. Und sie hatte Bonbons dabei, die sie den Kindern reichte, die immer noch ängstlich unter dem Tisch kauerten.

Langsam beruhigten sie sich. »Ihr seid kluge Kinder«, sagte ich zu ihnen, als sie wenig später nach etwas Zureden bereit waren, an meiner Hand langsam die Grenzkontrolle zu passieren. »Aber ihr braucht keine Angst mehr zu haben: Wir sind jetzt in den USA, wir sind in Sicherheit.«

Ich konnte ihre ängstliche Reaktion gut verstehen. Wir hatten viel durchgemacht, alle drei. Wir waren gerade der Hölle entkommen.

1

Eine Uigurin in China

Ich stamme aus dem Dorf Toraklik in der Nähe von Qarqan, einer Oasenstadt in der Taklamakan-Wüste im äußersten Westen Chinas. Dieser Ort hatte nichts mit dem Hightech-China zu tun, das die Welt heute kennt. Zumindest zum Zeitpunkt meiner Geburt im Jahr 1989 schien die Zeit in meiner Heimat noch stehen geblieben zu sein.

Ich wurde auf einem Eselskarren geboren. Das Gefährt sollte meine Mutter aus unserem Dorf nach Korla bringen, der nächstgrößeren Stadt, in der es ein Krankenhaus gab. Normalerweise gebaren die Frauen in der Gegend ihre Kinder zu Hause. Aber ich kam viel zu früh auf die Welt und befand mich außerdem in einer gefährlichen Seitenlage. Deshalb brauchte meine Mutter einen Arzt für die Entbindung. Die lange und holperige Fahrt mit dem Karren war die einzige Möglichkeit, zu ihm zu gelangen. Doch sie schaffte es nicht: Ich kam bereits, als sie und mein Vater sich auf der Hälfte des Weges befanden. Bei der Niederkunft gab es schlimme Komplikationen. Meine Mutter, die damals erst siebzehn Jahre alt war, überlebte meine Geburt nicht.

Mein Vater, Tursun, war untröstlich. Er hatte Mutter erst ein Jahr zuvor geheiratet. Die beiden waren sehr verliebt ineinander gewesen, und voller Hoffnung auf eine große Familie. Aber plötzlich war da nur noch der Schmerz. Und ein kleines Baby, das brüllte und nach der Milch seiner Mutter verlangte.

Mutter wurde noch am selben Tag nach islamischem Ritus beerdigt. Danach tagte der Familienrat, um zu entscheiden, was mit mir geschehen sollte. Niemand räumte mir große Überlebenschancen ein. Ich war fast sechs Wochen zu früh auf die Welt gekommen und viel zu klein. So klein, dass ich angeblich in den Hut meines Vaters passte. Alle glaubten daher, dass ich sterben würde. Nur meine alte Großmutter, die Mutter meiner Mutter, die gerade ihre Tochter verloren hatte, klammerte sich an die Hoffnung, wenigstens ihre Enkelin könnte leben.

Sie machte meinem Vater einen Vorschlag: »Gib die Kleine mir. Ich werde versuchen, sie hochzupäppeln.« Wie alle war auch Großmutter voller Trauer. Aber vielleicht fühlte sie, dass ihr das Mädchen, das da mit etwas Glück heranwachsen würde, über den Verlust ihrer geliebten Tochter hinweghelfen könnte. Meine Großmutter sah in mir immer einen Teil meiner Mutter: den Teil, der noch lebte. Deshalb wollte sie sich um das kleine Wesen kümmern, in dessen Adern das Blut ihrer Tochter Malika floss.

Außerdem verstand meine Großmutter sofort, dass mein Vater mit der Pflege eines Neugeborenen allein völlig überfordert war. Sie hingegen kannte sich gut mit Kindern aus. Schließlich hatte sie insgesamt 24 davon auf die Welt gebracht und großgezogen.

Meine Mutter war ihre Jüngste gewesen. Aber sie hatte noch eine weitere Tochter, die bislang unverheiratet war. Meine Tante Menzire glich meiner Mutter sehr: Sie ist, ebenso wie meine Großmutter und ich selbst, eine kleine und sehr zierliche Frau. Ihre Haut ist für die Menschen unserer Region eher hell, die Züge ihres Gesichts sind sanft. Außerdem besitzt sie dieselben dunkelbraunen, leicht gewellten Haare, die ihr bis fast zur Hüfte reichen. Und sie war nur eineinhalb Jahre älter als meine Mutter. Deshalb war meine Großmutter sich fast sicher, dass sie meinem Vater ebenfalls gefallen würde. Sie schlug ihm vor, Menzire nach einer angemessenen Trauerzeit zu heiraten. Nach einer kurzen Bedenkzeit erklärte mein Vater sich einverstanden, mit Menzire eine neue Familie zu gründen.

So kam es also, dass ich im Haus meiner Großmutter aufwuchs. Sie wohnte in einem bescheidenen Lehmbau etwas außerhalb des Dorfes Toraklik. Mein Vater und meine Tante lebten in einem anderen Dorf. Wir besuchten sie einmal im Monat, oder die beiden kamen zu uns, um mich zu sehen. Daher habe ich bis heute ein sehr inniges Verhältnis zu ihnen und betrachte Menzire als eine Art Ersatzmutter. Aber meine allererste und wichtigste Bezugsperson war meine Großmutter, eine Frau, die damals zwar schon alt war, aber voller Warmherzigkeit und Güte.

Anfangs hatte sie es sehr schwer mit mir, da ich nach der frühen und tragischen Geburt stark kränkelte. Eine Zeit lang wusste niemand, ob ich ohne Muttermilch überleben würde. Aber meine Großmutter besaß eine Kuh und vier Schafe. Und sie hatte Geduld: Wann immer ich nach Nahrung verlangte, tunkte sie ihren Finger in eine Schale mit Schafsmilch und ließ mich daran nuckeln, als ob es die Brust meiner Mutter wäre. Auf diese Weise gelang es ihr, mich mit viel Mühe langsam aufzupäppeln. Mit der Zeit wurde ich stärker und nahm auch etwas an Gewicht zu. Als ich endlich das Schlimmste überstanden hatte und klar war, dass ich leben würde, freute sich meine Großmutter unbändig über ihr fünfundzwanzigstes Kind. Mit Stolz und Zuversicht sagte sie allen, dass Gott es besonders gut mit ihr gemeint habe.

Großmutter vertrat in vielerlei Hinsicht eine Welt, die es heute gar nicht mehr gibt. Schon damals war diese Welt im Begriff unterzugehen – aber das merkten wir nicht. Mehr als 4.000 Kilometer von Peking entfernt lebten wir in einer Art Paralleluniversum. Sogar unsere Uhren gingen anders, weil die Sonne hier viel später aufgeht als im chinesischen Kernland. Um ehrlich zu sein, war mir in den ersten Jahren meines Lebens nicht einmal klar, dass wir in einem Land namens China lebten: Wenn es um unsere Heimat ging, redeten meine Verwandten immer von Ost-Turkistan. Deshalb glaubte ich selbstverständlich, unser Land hieße auch so.

Die Chinesen, das waren für mich irgendwelche fremden Leute, die schmale Augen, platte Nasen und keine Körperbehaarung hatten. Die chinesischen Frauen flochten ihre Haare nicht zu Zöpfen, und die Männer trugen keine Bärte und Kopfbedeckungen, wie die Leute bei uns im Dorf. Uns Kindern schärfte man ein, dass wir uns vor Chinesen in Acht nehmen und im Zweifel vor ihnen wegrennen sollten, da sie gerne uigurische Kinder verspeisten. Das glaubte ich, das glaubten wir alle. Deshalb waren wir auch heilfroh, dass sich nie ein Chinese in unser Dorf verirrte.

In materieller Hinsicht lebten wir bescheiden, manche würden es ärmlich nennen. Damals empfand ich das jedoch nicht so. Aber wenn ich jetzt zurückblicke und unseren Lebensstandard mit dem in anderen Regionen Chinas vergleiche, erkenne ich es deutlich: Im Haus meiner Großmutter gab es weder Elektrizität noch fließend Wasser. Um unsere Trinkwasservorräte zu erneuern, schickte sie mich täglich mit zwei Eimern zu einem nahe gelegenen See, aus dem die Oase ihr Wasser speiste.

Zu meinen Aufgaben rund um das Haus gehörte es auch, das Vieh zu hüten. Nach dem morgendlichen Melken führte ich unsere Schafe und die Kuh zu wenigen Stellen, an denen genug Gras und Grünzeug wuchs, damit sie sich tagsüber satt fressen konnten. Gleichzeitig musste ich aufpassen, dass mir die Tiere nicht wegliefen. Als ich später zur Schule ging, suchte ich auf dem Weg dorthin Orte, wo ich sie anbinden und zurücklassen konnte, um sie nach dem Unterricht wieder abzuholen.

Wenn ich feststellte, dass ein Tier trächtig war, strahlte das faltige Gesicht meiner Großmutter vor Freude. Lämmer waren uns immer willkommen, denn sie brachten zusätzliche Milch und Wolle, aber auch Fleisch. Einmal gebar ein Schaf sogar zwei Lämmer auf einmal. Meine Großmutter überlegte bereits, was wir damit anfangen würden. »Wir können es verkaufen und uns warme Kleider kaufen – oder wir behalten es und füttern mit der Wolle unsere Jacken«, sagte sie zu mir. Im Winter brauchten wir immer besonders warme Kleider.

Aber Großmutter hatte ihre Pläne ohne das Mutterschaf gemacht. Das nämlich hatte überhaupt keine Lust, zwei Lämmer gleichzeitig zu ernähren. Die Schafsmutter ließ nur das größere Lamm an ihre Zitzen, dem kleineren, schwächeren zeigte sie die kalte Schulter. Es saß jammernd in einer Ecke und schrie nach Nahrung. Ich war entsetzt über so viel Grausamkeit. Meine Großmutter mühte sich vergeblich, die Mutter und ihr Junges zu vereinen. Irgendwann gab sie auf.

»Sie wird es nicht annehmen«, erkannte sie nach unzähligen Versuchen.

»Aber wir können es doch nicht einfach sterben lassen!«

»Nein.« Großmutter wies mich an, im Schuppen nach einer speziellen Flasche zu suchen. Die hatte vorne eine Saugvorrichtung und sah aus wie eine Trinkflasche für Menschen-Babys. Darin füllte sie Milch, die vom Melken übrig geblieben war. »Wir müssen es selbst großziehen«, sagte Großmutter, »das ist jetzt deine Aufgabe.«

So fand ich mich plötzlich in der Rolle der Schafsmutter wieder: Mehrmals täglich gab ich dem kleinen Lamm die Flasche, die es immer hungrig und ungeduldig annahm. Nach ein paar Tagen wurde es stärker und sein Fell flauschiger. Schließlich begann es sogar, die Umgebung außerhalb des Schafstalls zu erkunden. Ich war sehr zufrieden mit meiner Arbeit.

Die Schafe waren unsere Lebensgrundlage und entscheidend für unsere Ernährung. Jedes Jahr, meist zu einem besonderen Anlass, schlachteten wir eines. Das Fleisch lagerten wir in einer Erdgrube unter dem Haus, da wir keinen Kühlschrank besaßen. Viel Fleisch kochten wir aber auch unmittelbar nach dem Schlachten ein, um es an unsere Nachbarn und Verwandten im Dorf zu verteilen. Denn so ist es bei uns Tradition: Jeden Tag kocht eine andere Familie im Dorf und gibt allen Nachbarn etwas ab. Auf diese Weise gibt es oft etwas Warmes zu essen, auch wenn man selbst gerade nichts hat oder einfach nicht kochen mag.

Wir aßen das, was der kleine Garten hinterm Haus so hergab. Dort baute meine Großmutter Rüben, Bohnen, Kartoffeln, Tomaten und allerlei anderes Gemüse an. Außerdem gab es Obstbäume mit leckeren Aprikosen und Granatäpfel, die unglaublich süß schmeckten, wenn sie reif waren. Dann schlug ich mir den Magen damit voll, und meine Großmutter schimpfte mit mir. »Du sollst auch den anderen Kindern etwas abgeben«, verlangte sie, denn in unserer Kultur ist es sehr wichtig, dass man sein Essen mit anderen teilt.

Obwohl meine Großmutter und ich eigentlich nur zu zweit und etwas außerhalb des Dorfes lebten, hatten wir sehr oft Gesellschaft. Denn viele meiner Tanten und Onkel wohnten in der Gegend. Sie kamen regelmäßig vorbei, und auch meine zahlreichen Cousins und Cousinen, die ungefähr in meinem Alter waren, gingen bei uns ein und aus.

Meine beste Freundin war Khoshgul, die zarte und kränkliche Tochter unserer Nachbarn. Mit ihr spielte ich am liebsten »Familie«. In diesem Spiel passten wir beide als Puppenmütter auf unsere Kinder auf. Aber natürlich hatten wir keine richtigen Puppen. Wir besaßen überhaupt kein gekauftes Spielzeug, nur selbst gebasteltes. Als Puppen dienten uns große Mohrrüben, in die wir mit einem Messer Gesichter schnitzten. Das Grünzeug betrachteten wir als das Haar unserer Rüben-Kinder. Wir wiegten sie im Arm, fütterten sie oder brachten sie ins Bett, wie echte Kinder – oder eben wie echte Puppen.

Manchmal übernachteten Khoshgul oder andere Kinder auch bei uns. Dann schliefen wir alle zusammen in dem großen Bett meiner Großmutter. Früh am Morgen weckte sie uns. Denn sobald der erste Hahn krähte, war es Zeit für das Morgengebet. Meine Großmutter warf sich dafür einen Schleier über, kniete sich auf den Boden und begann, die arabischen Gebetsformeln aufzusagen. Wir Kinder sollten die Worte eigentlich nachsprechen und auch die Bewegungen ihres Gebets nachahmen. Aber ich erlaubte mir stattdessen oft Späße mit ihr. Wenn sie etwa mit dem Kopf den Boden berührte, nutzte ich die Gelegenheit, mich unbemerkt von der Seite anzuschleichen und sie in die Seite zu piksen. Meine Großmutter ist sehr kitzelig. Anfangs versuchte sie meist, mich zu ignorieren, aber irgendwann konnte sie nicht mehr anders. Dann brach sie mitten im Gebet in schallendes Gelächter aus. Wir Kinder krümmten uns ebenfalls vor Lachen.

Der islamische Glaube gehörte ganz selbstverständlich zu unserem Alltag. Jeden Freitag legten Großmutter und ich unsere besten Kleider an und gingen zur Moschee. Das ganze Dorf versammelte sich dort zum Freitagsgebet. Es ging darum, zu sehen und gesehen zu werden. Und es gab immer jemanden, der Süßigkeiten an uns Kinder verteilte, meistens Mandeln oder Rosinen. Solche Schätze ließ ich schnell in meiner Tasche verschwinden und aß sie langsam und genüsslich die ganze Woche über. Bis zum nächsten Freitag, an dem wir uns erneut versammelten und es wieder Nachschub an solch seltenen Leckereien gab.

Auch den Fastenmonat Ramadan mochte ich. Meine Großmutter war allerdings sehr streng und bestand darauf, dass wir tagsüber nicht einmal Tee oder Wasser zu uns nahmen. Je nachdem, ob der Ramadan gerade in die warme oder kalte Jahreszeit fiel, konnte das sehr hart sein. Aber meine Großmutter fand, wir müssten unsere Willenskraft stärken und lernen, Versuchungen zu widerstehen. »Das ist die wahre Freiheit«, schärfte sie mir ein. Und als Belohnung für die Entbehrungen des Tages aßen wir abends im Kreis der Verwandten ein üppiges Mahl.

Sie erzog mich in diesem Sinne zwar religiös, aber wir lebten keine besonders intensive oder gar extreme Form des Islam. Keiner unserer Verwandten tat das. Mein Vater legte im Gegenteil viel Wert darauf, dass wir Uiguren in Sachen Religion liberaler waren als beispielsweise die Araber. Uigurische Frauen tragen nur selten ein Kopftuch. Wesentlich üblicher ist eine Kopfbedeckung für Männer. Und wir Mädchen gingen sowieso unverhüllt und flochten unser Haar zu vielen kleinen Zöpfen.

In den ersten Jahren meines Lebens habe ich mit meiner Großmutter sowie den Nachbarn und Verwandten nur uigurisch gesprochen. Auch in der Dorfschule erhielten wir Unterricht nur auf Uigurisch. Das hatte damit zu tun, dass Deng Xiaoping, der Mao Zedong als Führer der Kommunistischen Partei ablöste, unserer Region in den 80er-Jahren relativ viel Autonomie zugestand. Diese Ära neigte sich allerdings schon während meiner Schulzeit in den 90er-Jahren ihrem Ende entgegen. Peking versuchte Stück für Stück, wieder mehr Kontrolle über uns auszuüben.

In anderen Teilen der Provinz Xinjiang war der Kurswechsel wohl schon früher zu spüren. In meinem entlegenen Dorf aber bekamen wir davon lange Zeit nichts mit. Die ersten leibhaftigen Chinesen sah ich jedenfalls erst, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Ein chinesischer Mann und eine Frau standen plötzlich auf unserem Schulhof. Ich erkannte sie, weil sie tatsächlich so aussahen, wie sie uns immer beschrieben worden waren, jedenfalls ihre Nasen. Außerdem hatten sie beide kurze Haare.

Meine Mitschüler umringten sie neugierig. Vorsichtig näherten sich auch Khoshgul und ich den Fremden. Meine Freundin ging etwas langsamer. »Meinst du, dass sie wirklich so gefährlich sind, wie die Erwachsenen immer sagen?«, raunte sie mir zu.

»Hast du etwa Angst, dass sie dich auffressen?«, neckte ich sie.

»Du spinnst wohl!«

Die Chinesen entpuppten sich als sehr freundlich. Sie unterhielten sich mit einigen Schülern und wollten wissen, wer von uns schon Chinesisch sprach. Die Frau hatte außerdem eine Schere. Sie bot jedem Mädchen, das sich von ihr einen der vielen Zöpfe abschneiden ließ, zehn Yuan als Belohnung. Zehn Yuan! Das war für mich eine astronomische Summe, so viel Geld hatte ich noch nie in den Händen gehabt. Wenn Großmutter mich im Dorf Seife oder Mehl kaufen schickte, gab sie mir höchstens die Hälfte davon mit. Im Kopf rechnete ich bereits um, was ich alles davon kaufen konnte. Und außerdem: Was war schon ein Zopf. Ich trug aktuell neunzehn davon auf dem Kopf. Einer mehr oder weniger würde doch wohl nicht so viel ausmachen. »Komm wir machen es als Mutprobe«, stiftete ich Khoshgul an.

Sie sah mich mit ihrem weißen Gesicht und ungläubig geweiteten Augen an. »Du willst dir einen Zopf abschneiden lassen?«

»Was ist denn schon dabei? Traust du dich etwa nicht?«, provozierte ich sie weiter. Ich glaube, dass ich mich mit diesen Bemerkungen vor allem selbst beruhigen wollte. Khoshgul ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Sie schüttelte missbilligend den Kopf.

»Was ist mit dir, Mädchen? Willst du dir den Preis verdienen?«, sprach mich die chinesische Frau an. Augenscheinlich hatte sie uns beobachtet. Ich nickte schüchtern.

»Na, dann komm mal her«, ermutigte sie mich. Schon stand ich im Innern des Kreises und im Zentrum der Aufmerksamkeit meiner Mitschüler. Nun gab es wirklich kein Zurück mehr, ohne das Gesicht zu verlieren. »Wie heißt du denn?«, fragte mich die Frau.

»Mihrigul.«

»Das ist ein schöner Name. Und von wie vielen Zöpfen willst du dich heute trennen, Mihrigul?«

»Zwei«, hörte ich mich selbst sagen.

»Zwei«, wiederholte sie, und ich glaubte, in ihrer Stimme Anerkennung zu hören. »Habt ihr das gehört, Kinder? So mutig ist eure Mitschülerin!«

Noch während sie sprach, nahm die Frau ihre große Schere und näherte sich mit ihr meinen Haaren. Ich vernahm ein »Ratsch« – und ein dunkler Zopf von mir sauste zu Boden. Mir wurde ganz schwindelig. Schon machte es wieder »Ratsch«. Die Frau lächelte. »Hier, du mutiges Mädchen«, sagte sie und händigte mir zwei Zehn-Yuan-Scheine aus. Das Antlitz des noch jungen KP-Führers Mao lächelte mich an.

Wieder zu Hause bei meiner Großmutter kam mir die ganze Sache absurd vor. Ich versuchte, meinen Kopf so zu drehen, dass sie nicht sah, dass die Zöpfe fehlten. Dummerweise hatte die Frau sie nicht etwa irgendwo am Nacken, sondern an einer ziemlich gut sichtbaren Stelle in der Nähe meines Gesichts entfernt.

Großmutter sah mich mit Argusaugen an. »Wer hat das getan?«, stellte sie mich zur Rede. Ich gestand ihr, dass da zwei Chinesen in der Schule aufgetaucht waren.

»Haben sie dich dazu gezwungen?«

»Nein.« Großmutters Gesicht verriet mir, dass sie aufgebracht war. Deshalb traute ich mich nicht zu sagen, dass ich Geld dafür bekommen hatte. »Auch die anderen Schülerinnen haben ihre Zöpfe abschneiden lassen«, betonte ich.

Diese Aussage schien sie jedoch nur noch wütender zu machen. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du den Chinesen nicht trauen sollst?«

»Aber die waren aber eigentlich ganz nett…«, versuchte ich mich zu verteidigen.

»Ganz nett«, fauchte sie. »Sie haben dich verunstaltet! Welcher uigurische Mann soll sich bitte schön für ein Mädchen interessieren, dass seine schönen Zöpfe einfach so hergibt?«

Ich sah Großmutter mit großen Augen an. Über Männer hatte ich mir zu diesem Zeitpunkt wirklich keine Gedanken gemacht. Aber ich versprach ihr hoch und heilig, nie wieder irgendjemandem die Erlaubnis zu geben, meine langen Haare abzuschneiden.

Ab der fünften Klasse mussten alle Schüler meiner Schule Chinesisch lernen. Wir bekamen auch einen chinesischen Lehrer, Herrn Hu, einen hagereren Mann mit Brille. Der paukte mit uns die chinesischen Schriftzeichen. Sie waren für uns anfangs völlig fremd. Denn um Uigurisch zu schreiben, verwendeten wir das arabische Alphabet. Nun aber hieß es, sich umzustellen: Für jedes Wort stand ein einziges, manchmal recht kompliziertes Zeichenbild.

Abends saß ich mit meiner Großmutter oft am Tisch und übte mich darin, die Zeichen zu zeichnen, um sie mir besser einprägen zu können. Sie interessierte das sehr, da sie selbst nie zur Schule gegangen ist: Sie war Analphabetin. Aber dadurch, dass ich ihr die Bedeutung eines jeden Zeichens verriet, konnte sie ein bisschen davon wettmachen. Breitwillig hörte sie daher auch meine chinesischen Vokabeln ab. Wenn ich ihr vormachte, wie Herr Hu die Wörter aussprach, mussten wir beide oft lachen. Denn das Chinesische klingt ganz anders als Uigurisch – und auch die Wörter sind vollkommen verschieden. Meine Großmutter versuchte zwar, sich ein paar von ihnen einzuprägen, aber es gelang ihr kaum. »Macht nichts«, tröstete ich sie. »Dafür hast du ja mich.«

»Ja«, antwortete sie dann nachdenklich. »Für mich macht es keinen großen Unterschied mehr. Aber du musst fleißig lernen. Denn diese Zeichen sind das Tor zur Welt. Sie können dir Flügel verleihen, die dich bis weit aus unserem Dorf hinaustragen.« Ich wusste nicht wirklich, was sie damit meinte. Aber ich strengte mich an. Schließlich wollte ich unbedingt erreichen, dass meine Großmutter stolz auf mich war.

Ein Jahr nach dem wir mit dem Chinesisch-Unterricht begonnen hatten, verkündete der Schuldirektor, dass alle Schüler unserer Schule an einer Prüfung teilnehmen mussten. Nachdem ich Großmutter davon erzählte, ließ sie mich nicht mehr zur Ruhe kommen: Sie entband mich sogar vorrübergehend von meinen Pflichten im Haushalt, damit ich in jeder freien Minute dafür übte.

»Gib dein bestes, meine kleine Blume.« Damit spielte sie auf meinen Namen an, der übersetzt »liebenswürdige Blume« bedeutet. »Zeig ihnen, was in dir steckt«, flüsterte sie mir am Morgen vor der Prüfung ins Ohr.

Ich glaube, das war eine Art Zauberspruch. Jedenfalls entfaltete er magische Wirkung. Das merkte ich bereits, als ich versuchte die ersten Aufgaben zu lösen: Sie gingen mir unglaublich leicht von der Hand. Während des ganzen Tages hatte ich das Gefühl, meine Großmutter stünde hinter mir und würde mir die korrekten Antworten aufzeigen. Die Schriftzeichen erschienen vor meinem inneren Auge – und ich musste sie nur noch auf das Papier vor mir pinseln.

Zwei Wochen später rief mich der Direktor zu sich. Im ersten Moment war ich ein bisschen erschrocken, weil ich glaubte, ich müsse etwas ausgefressen haben. Etwas zaghaft klopfte ich an seine Bürotür. »Herein!«, tönte es von innen.

Ich öffnete. Da saß nicht nur der Direktor, sondern auch Herr Hu, mein Chinesisch-Lehrer. »Was stehst du da rum? Komm doch herein«, sagte er freundlich auf Chinesisch zu mir.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte der Direktor, nachdem ich eingetreten war. Auch unser Schulleiter sprach nun plötzlich chinesisch. Irritiert sah ich von einem zum anderen. Was hatte das alles zu bedeuten?

»Du hast die beste Prüfung von allen gemacht«, eröffnete mir der Direktor und deutete auf einen Stapel Papier, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Wirklich toll. Wie alt bist du eigentlich, Mihrigul?«

»Zwölf Jahre«, erwiderte ich.

»Und du lebst bei deiner Großmutter?«

Ich nickte schüchtern.

»Die wird sich sehr über diese Neuigkeiten freuen«, sagte er: »Du hast ein Stipendium gewonnen! Nach den Sommerferien darfst du auf eine andere Schule gehen, auf ein Internat in Guangzhou. Das ist eine große Auszeichnung. Freust du dich? In den Ferien kannst du natürlich nach Hause kommen.«

Mir wurde heiß und kalt. Ja, Großmutter würde sich bestimmt freuen, dachte ich. Aber bedeutete das nicht auch, dass ich irgendwo anders wohnen musste? »Wo liegt Guangzhou?«, erkundigte ich mich.

Mein Heimatdorf und die Stadt Guangzhou trennen nicht weniger als 4.000 Kilometer. Fünf Tage und fünf Nächte dauerte meine Reise an die südchinesische Küste: Ich nahm zuerst einen Bus bis nach Korla, wo ich die anderen Kinder aus Xinjiang traf, die für das Programm ausgewählt worden waren. Den Rest der Strecke bewältigten wir mit dem Zug, eine Erzieherin begleitete uns.

Ich kann nicht sagen, dass ich glücklich war. Es erfüllte mich zwar mit Stolz, dass ich das Examen als beste Schülerin unserer Schule abgeschlossen hatte. Aber was ich von der Belohnung in Form des Stipendiums halten sollte, wusste ich nicht so recht. Auch meine Großmutter schien mir in ihren Gefühlen hin- und hergerissen: Einerseits erfüllten sich jetzt alle Hoffnungen, die sie in mich gesetzt hatte. »Das ist eine riesige Chance für dich, mein Kind«, betonte sie mehrmals: »Jetzt kannst du alles im Leben erreichen.« Andererseits bedeutete das Stipendium, dass wir uns trennen mussten – und darüber war sie mindestens genauso traurig wie ich.

Zumindest heimlich. In den Wochen vor meiner Abreise hatten wir beide versucht, den Schmerz, den der Abschied für uns bedeutete, voreinander zu verbergen. Im Stillen hatte ich mich ein paar Mal gefragt, ob man so ein Stipendium eigentlich auch ablehnen oder an jemand anderen weitergeben durfte. Aber dieser Gedanke schien so absonderlich, dass keiner ihn in meiner Gegenwart je erwähnte: weder der Direktor noch die Lehrer und schon gar nicht meine Großmutter. Es schien einfach klar zu sein, dass man das tat, was die Schulleitung vorgab.

Großmutter sprach die ganze Zeit nur davon, wie wichtig es für mich sei, fleißig zu lernen und einen guten Beruf zu ergreifen. »Ich möchte, dass du Karriere machst und eine reiche Frau wirst«, spornte sie mich an. »Du wirst nicht mehr auf dem Dorf leben und Schafe melken.«

Sie war ganz vernarrt in diesen Gedanken. Und weil ich sie so liebte und sie glücklich sehen wollte, machte ich mir ihren Wunsch zu eigen. »Dann kaufe ich dir einen schönen Mantel, und wir fahren zusammen nach Mekka«, versprach ich ihr.

Erst am Tag meiner Abreise waren wir nicht mehr imstande, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Heulend standen wir beide an der Bushaltestelle. »Vergiss nicht, deinen Vater anzurufen, damit er mir von deinen Fortschritten berichten kann«, erinnerte sie mich noch, denn sie selbst besaß kein Telefon. Und dann kam auch schon der Bus. Ich musste einsteigen und sie alleine zurücklassen. Es brach mir das Herz, als ich sie durch das Fenster winken und dabei immer kleiner werden sah.

Erst bei dieser Reise wurde mir klar, in was für einem riesigen Land ich lebte. Zuerst durchquerte ich die Taklamakan-Wüste mit ihren imposanten Sanddünen und danach die schneebedeckten Gebirgszüge, die sie umrandeten. Dann fuhren wir weiter nach Urumchi, die moderne Provinz-Hauptstadt mit ihren Wolkenkratzern und mehrspurigen Straßen. Die größte Überraschung erlebte ich jedoch, als wir Xinjiang hinter uns ließen: Plötzlich war die Landschaft viel grüner, als ich sie aus meiner Heimat kannte. Der Schienenweg führte weiter durch die Millionen-Städte Gansu, Xian und Wuhan, bis wir am fünften Tag schließlich die Küste erreichten.

Wir waren am Ziel: Als ich aus dem Zug ausstieg, befand ich mich plötzlich in China. Eigentlich hatte ich ja schon immer in China gelebt. Aber bislang hatte es sich nie so angefühlt. In Xinjiang waren die Chinesen für uns Fremde gewesen. Nun aber gab es um mich herum nur noch Chinesen, und sie sahen mich so an, als ob ich die Fremde sei. Das war sehr verwirrend für mich.

Guangzhou ist eine riesige Stadt. Und alles an ihr war ungewohnt für mich: Die Luft schmeckte feuchter und nach Abgasen, das Klima war wärmer, die Menschen hasteten durch die Straßen und telefonierten dabei ununterbrochen mit kleinen Telefonen, überall knatterten Autos. Ich kam mir vor, als wäre ich auf dem Mond gelandet. Vor allem irritierte mich, dass alle Menschen um mich herum plötzlich chinesisch sprachen. Denn auch wenn ich in meiner Dorfschule das beste Ergebnis erzielt hatte, bedeutete das keinesfalls, dass ich die Sprache gut beherrschte. Zunächst verstand ich nur einen Bruchteil der Worte, die man an mich richtete.

Mit großen Augen lief ich der Erzieherin hinterher, die mich in mein neues Schulgebäude führte, ein riesiges, modernes Haus. Mein Schlafsaal lag im achten Stock, und ich teilte ihn mit fünf Mädchen, die alle Chinesinnen waren und aus verschiedenen Regionen des Landes stammten. Sie schwatzten miteinander, während wir unsere Betten bezogen. Nur ich blieb stumm, weil ich mich noch nicht ausdrücken konnte. Mit Mühe versuchte ich mir zusammenzureimen, worüber sie sprachen. Aber wenn sie mir eine Frage stellten, konnte ich nur mit den Schultern zucken. Das frustrierte mich sehr: Meiner Sprache beraubt, fühlte ich mich minderbemittelt. Den anderen Uigurinnen, den ich auf dem Schulhof und im Speisesaal begegnete, erging es wohl ähnlich. Doch wenn wir uns austauschen wollten, gingen die Lehrer dazwischen: Sie sagten uns, dass wir uns bemühen sollten, nur chinesisch zu sprechen. Deshalb war auch in jedem Schlafsaal nur eine einzige Uigurin untergebracht.

Anfangs fiel es mir wahnsinnig schwer, mich an mein neues Leben zu gewöhnen. Ich spürte schmerzliches Heimweh nach meinem Dorf. Mir fehlten meine Schulkameraden, die Nachbarstochter Khoshgul, meine Schafe, die klare, trockene Wüstenluft, die Kühle der Nächte in Xinjiang und die Dampfnudeln meiner Tante. Vor allem aber vermisste ich meine Großmutter. Was hätte ich dafür gegeben, nur ein einziges Mal morgens von ihr geweckt und zum Morgengebet genötigt zu werden. Oder mit ihr ein Gemüsebeet umzugraben. Selbst den Schafstall hätte ich in solchen Momenten gerne mit ihr ausgemistet.

Mein Vater hatte mir ein gebrauchtes Handy mitgegeben. Ich selbst konnte damit nichts anfangen, da ich kein Guthaben besaß. Aber ich freute mich, wenn er mich alle zwei Wochen kurz anrief. »Klappt es in der Schule? Lernst du auch schön?«, erkundigte er sich dann.

»Ja«, log ich. Denn ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich noch keine Freunde gefunden hatte und im Unterricht kaum ein Wort verstand.

»Deine Großmutter lässt dich ebenfalls grüßen«, sagte er manchmal. Dann hüpfte mein Herz. Aber ich machte mir auch Sorgen: Schließlich galt mein Stipendium nur ein Jahr, danach hing die Verlängerung von meinen Schulnoten ab. Und im Moment konnte ich mir kaum vorstellen, dass die besonders gut ausfallen würden. Was würde Großmutter sagen, wenn ich nach einem Jahr zurückkehrte und ihr berichtete, dass ich meine Chance nicht in ihrem Sinne genutzt hatte? Dann würde sie ziemlich enttäuscht von mir sein. »Du hättest dir mehr Mühe geben müssen!«, hörte ich im Geiste schon ihren Vorwurf an mich.

Meine Angst, hinter ihren Erwartungen zurückzubleiben, spornte mich so an, dass ich begann, mit Feuereifer zu lernen. Ich wollte mir unbedingt so viele Schriftzeichen aneignen, dass ich in der Lage war, die chinesischen Lehrbücher zu verstehen und dem Unterricht zu folgen. Deshalb übte und wiederholte ich die Zeichen in jeder freien Minute. Selbst wenn die anderen Mädchen bereits schliefen, lag ich mit einer Taschenlampe unter meiner Bettdecke und sah sie mir an. Denn dies war mehr oder weniger die einzige Zeit, die ich ganz allein für mich hatte: Ansonsten war unser Tag streng durchgetaktet mit Unterricht, gemeinsamen Mahlzeiten und sportlichen Aktivitäten wie Fußball oder Volleyball.

Mit der Zeit verbesserten sich meine Sprachkenntnisse. Ich bemerkte, dass es mir leichterfiel, den Unterhaltungen meiner Mitschülerinnen zu lauschen und ihren Sinn zu begreifen. Und auch die Worte meiner Lehrer hörten sich nicht mehr ganz so unverständlich an wie noch am Anfang. Allerdings fühlte ich mich immer noch sehr einsam. Vielleicht lag es daran, dass ich zu sehr aufs Chinesisch-Lernen konzentriert war, vielleicht aber auch daran, dass ich von Natur aus ein bisschen schüchtern bin. Jedenfalls fiel es mir schwer, Freundschaften mit den chinesischen Mädchen zu schließen.

In meiner Isolation wandte ich mich intensiver der Religion zu. In meinem alten Leben hatte ich den Islam nicht so ernst genommen, weil er ganz selbstverständlich zu unserem Alltag dort gehörte, ihn aber nicht dominierte. Nun aber wurde mein Glaube mir plötzlich sehr wichtig. Ich denke, das lag daran, dass er so etwas wie eine letzte Verbindung zwischen mir und meiner Heimat darstellte. Mein Glaube war das, was mich von den anderen Mädchen unterschied. Deshalb wollte ich auf keinen Fall darauf verzichten. Wie meine Großmutter pochte auch ich nun darauf, die Gebetszeiten einzuhalten, wenigstens das Morgengebet.

Wenn die anderen Mädchen noch schliefen, kletterte ich aus dem Bett, warf mir einen Schal um und murmelte leise die Formeln, die meine Großmutter mir vorgesprochen hatte. Auch die Abfolge der Bewegungen führte ich so wie sie aus. Dadurch fühlte ich mich ihr irgendwie näher: Ich wusste, dass ihr das gefallen hätte, wenn sie mich hätte sehen können. Nach dem rituellen Teil des Gebets fügte ich außerdem einen freien hinzu, indem ich schlicht Zwiesprache mit Allah hielt: Ich redete mit ihm wie mit einem guten Freund, dem ich von meinem Tag erzählen und alle meine Geheimnisse anvertrauen konnte. Ich erzählte ihm auch, was mich beunruhigte, was ich mir wünschte und auf welche meiner Taten ich nicht so stolz war. Das alles hatte einen unglaublich beruhigenden Effekt auf mich. Nach einem solchen Gespräch fühlte ich mich für den Tag gewappnet. Ich hatte das Gefühl, dass ich unter dem Schutz einer höheren Macht stünde – und dass mich nichts aus der Bahn werfen konnte, solange sie ihre Hand über mich hielt.

»Was machst du denn da?«, fragte mich Yangjali eines Tages, als sie aufwachte und ich mich gerade gen Mekka verneigte. Sie war das Mädchen, das im Bett unter mir schlief. Wenn ich an ihr vorbei die Leiter nach unten kletterte, hatte ich sie bereits öfter mit den Augen blinzeln sehen. Vermutlich dachte sie, dass ich nur die Toilette aufsuchte, und schlummerte dann wieder. Heute aber hatte sie mir offenbar zugesehen und sprach mich danach an.

»Ich habe gebetet«, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß. Sie schaute mich verständnislos an. Offenbar wusste sie nicht, was ich damit sagen wollte. Oder vielleicht glaubte sie auch, dass es sich um ein sprachliches Problem handelte. »Ich habe mich mit Gott unterhalten«, präzisierte ich in der Hoffnung, dass mein Tun dadurch klarer werden würde.

Aber in ihrem Gesicht erschienen nur noch mehr Fragezeichen. »Mit Gott?«, wiederholte sie. »Was ist das? Was meinst du damit?«

Nun wurde selbst ich unsicher, ob ich mich richtig ausgedrückt hatte. Eigentlich kannte ich die Zeichen für »Gott« und »Beten«, aber vielleicht musste ich sie anders betonen? Jetzt mussten wir uns erst mal für die Schule fertig machen, deshalb war keine Zeit, die Sache weiter zu bereden. Aber ich nahm mir vor, noch einmal im Wörterbuch nachzuschlagen, weil ich Yangjali auf jeden Fall eine befriedigende Antwort geben wollte.

Am Abend, nach dem Abendessen, nahmen wir unser Gespräch wieder auf. Ich malte die Schriftzeichen vor ihr auf ein Blatt Papier, um ganz sicher zu sein, dass sie auch verstand, was ich meinte. Sie lachte. »Du glaubst an einen Gott?«, fragte sie mich amüsiert.

Ich war perplex. »Ja, natürlich. Du nicht?«

»Nein. Das ist doch ein ganz altes, unwissenschaftliches Konzept.«

Wir musterten uns wie zwei Wesen von einem anderen Stern. Da war echte Neugierde zwischen uns: Yangjali wollte wissen, was es mit meinem »Gott« auf sich hatte, und ich fragte mich, woran sie denn bitte schön sonst glaubte, wenn nicht an ihn. »Wer hat die Erde und den Menschen denn deiner Meinung nach erschaffen?«, provozierte ich sie.

»Na, die Erde entstand durch den Urknall – und der Mensch stammt vom Affen ab.«

»Das glaubst du wohl selbst nicht!«

»Doch, natürlich.« Sie zuckte nicht mit der Wimper. Anscheinend meinte sie das wirklich ernst.

»Also ich glaube, dass ich von Gott erschaffen wurde.«

»Einen Gott gibt es nicht!«

»Klar gibt es einen Gott«, konterte ich.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich spreche doch jeden Morgen mit ihm.«

»Und? Antwortet er?«

»Selbstverständlich.« Ich schwärmte ihr vor, wie mein Gott mich leitete und beschützte. Yangjali und die anderen Mädchen lauschten gespannt. »Ich kann ihm alles sagen, was mich bedrückt«, sagte ich, »er zeigt mir, welchen Weg ich gehen muss.«

»Das machen bei mir meine Eltern«, warf unsere Zimmergenossin Wanchauwa ein.

»Ja, aber Gott ist viel besser!«, behauptete ich.

»Warum?«

»Na, weil er einfach immer da ist! Auch wenn man mal kein Guthaben auf dem Handy hat, kann man ohne Probleme mit ihm sprechen.«

Wanchauwa nickte, dieser Vorteil leuchtete ihr ein.

»Auch wenn ich etwas Falsches getan habe, kann ich ihm das sagen und ihn um Vergebung bitten.«

Ich hatte meine Mitschülerinnen neugierig gemacht. Nach diesem Gespräch kamen Yangjali und Wanchauwa immer wieder auf mich zu und forderten mich auf, ihnen von meinem Gott und vom islamischen Glauben zu erzählen. Anfangs dachte ich, sie wollten mich veralbern. Aber dann merkte ich, dass sie wirkliches Interesse hatten, und sagte ihnen alles, was ich selbst wusste. Sie besorgten sich aber auch selbst Bücher. Und als wir in der Schule begannen, mit Computern zu arbeiten, recherchierten sie im Internet. Dabei stellten sie auch Unterschiede zwischen der Art, wie ich lebte, und den islamischen Vorschriften fest.

»Aber du betest ja gar nicht fünf Mal am Tag!«, stellte mich Wanchauwa einmal zu Rede.

»Na, aber zumindest einmal«, verteidigte ich mich.

»Und du trägst auch kein Kopftuch!«

»Frauen müssen nicht unbedingt ein Kopftuch tragen. In meinem Dorf tun das nur wenige.« Ich erklärte ihr, dass all diese Regeln nicht in Stein gemeißelt seien und dass man sie an die individuellen Lebensumstände anpassen dürfe.

»Zeigst du mir, wie man betet?«, bat sie mich daraufhin.

Es war nie mein Ansinnen, jemanden vom Islam zu überzeugen. Aber Yangjali und Wanchauwa ließen wirklich nicht locker. Vielleicht hing es damit zusammen, dass wir im Internat lebten, dass sie sich so nach Spiritualität sehnten. Jedenfalls wollten sie irgendwann wissen, was sie tun müssten, um auch Muslime zu werden. Ich fühlte mich überfordert. Da hätte ich wirklich gerne einen Geistlichen in der Nähe gehabt. Aber wir konnten auch keine Moschee aufsuchen, da es uns nicht erlaubt war, das Schulgelände zu verlassen. Also recherchierten wir erneut im Internet, wie man eigentlich zum Islam konvertiert – und wurden fündig. »Hier steht, dass man sich einen islamischen Namen zulegen und in Anwesenheit eines Muslims die Schahada sagen muss«, las ich vor.

»Die Schahada?«

»Ja, das islamische Glaubensbekenntnis.«

Unser Glaubensbekenntnis kannte ich natürlich – und konnte es auch auf Arabisch sagen. Schließlich hatte ich den Satz jeden Freitag in der Moschee gehört. Also sprach ich ihn vor: »La ilaha illa Allah wa Muhammad rasul Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter.«

Die beiden Chinesinnen sprachen mir feierlich nach. Danach schauten sie mich erwartungsvoll an. »Wir brauchen noch neue Namen«, erinnerte Wanchauwa, die alles immer besonders korrekt machen wollte. Also beschlossen wir, dass Wanchauwa ab sofort »Muriman« und Yangjali »Aischa« heißen sollten.

»So, das war’s schon«, sagte ich. »Jetzt seid ihr Muslime!«

Sie schauten etwas ungläubig – aber dann breitete sich auf ihren Gesichtern ein Lächeln aus. »Wirklich?«, fragen sie froh.

»Ja, wirklich«, versicherte ich, »herzlichen Glückwunsch!«

Yangjali und Wanchauwa wurden meine besten Freundinnen. Während meiner gesamten fünfjährigen Internatszeit teilten wir uns einen Schlafsaal. Wir nannten uns immer bei unseren islamischen Namen, sie nannten mich Mina. So schufen wir uns eine geheime Welt jenseits des Internatsleben. Mit den islamischen Regeln nahmen meine Glaubensschwestern es allerdings genauer als ich.

Beide aßen ab sofort kein Schweinefleisch mehr und trugen ein Kopftuch. Sie kritisierten mich dafür, dass ich das nicht tat. Aber sie hatten gut reden. Schließlich waren sie Han-Chinesinnen. Daher machte ihnen keiner Vorschriften in Sachen Religion. Sie konnten glauben, was sie wollten. Bei mir jedoch sah die Sache anders aus: Von mir als Uigurin erwarteten die Lehrer eine möglichst weitreichende Assimilation. Und da ich sehr ehrgeizig war, wollte ich nicht meine akademische Laufbahn riskieren. Immer hatte ich die Worte meiner Großmutter im Ohr: »Du kannst alles erreichen. Also streng dich an!«

Das tat ich. Ich war eine unglaublich fleißige Schülerin. Mein Chinesisch unterschied sich schon bald nicht mehr von dem der Muttersprachler. Und jedes Jahr vor den Abschlussprüfungen lernte ich, bis mir der Kopf brummte und die Augen brannten. Diese Prüfungen waren sehr wichtig für mich. Denn nur, wer sehr gut bei den Prüfungen abschnitt, bekam auch im nächsten Jahr noch sein Stipendium bezahlt. Ich stand also unter einem enormen Leistungsdruck. Schließlich wollte ich nicht in mein Dorf zurückkehren und meiner Großmutter beichten müssen, dass ich nicht mehr weiterstudieren durfte. Das hätte ich mir nie verziehen.