Ostblock - Peter Pilz - E-Book

Ostblock E-Book

Peter Pilz

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Beschreibung

Ist Österreich Putins nächster Dominostein? „Niemals" will die ÖVP unter Bundeskanzler Karl Nehammer mit der von Herbert Kickl geführten FPÖ koalieren. Dabei sind die Weichen vor der Nationalratswahl längst gestellt. In seinem neuen Buch beschreibt Peter Pilz die Vorbereitungen zur Machtübernahme durch einen Rechtsblock aus ÖVP und FPÖ: Während die FPÖ keinen Hehl aus ihrer putinfreundlichen Haltung macht, hat die ÖVP jahrzehntelang russische Spionage in Österreich geduldet und enge wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland gefördert. Der Kampf um die Macht wird 2024 vor allem mit Nebelgranaten geführt. Einige wie die „Leitkultur"-Debatte und den Fall „Ott" untersucht Peter Pilz im Detail. Doch auch der Angriff auf das BVT unter „Sicherheitsrisiko" Herbert Kickl, der Schaden für die österreichische Politik und die Gefährdung der Demokratie kommen zur Sprache. Eine Frage steht dabei immer im Mittelpunkt: Wird aus Putins österreichischer Hintertür in die EU nach Ungarn sein zweiter Brückenkopf in Mitteleuropa? Peter Pilz, geboren im obersteirischen Kapfenberg, studierte Volkswirtschaft an der Uni Wien und lebt mit seiner Frau Gudrun in Wien. Er war 25 Jahre lang Abgeordneter im österreichischen Nationalrat und acht Jahre Gemeinderat in Wien. Von „Lucona“ und „Noricum“ bis „BVT“ und „Eurofighter“ versuchte er, aus den Untersuchungsausschüssen des Parlaments scharfe Instrumente der Kontrolle von Regierung und Verwaltung zu machen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Parteien setzte er durch, dass der Untersuchungsausschuss Minderheitsrecht wurde und von der Opposition ohne Zustimmung einer Regierungspartei eingesetzt werden kann. Heute ist Peter Pilz Herausgeber der regierungsunabhängigen online-Medienplattform ZackZack.at.

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Für Gudrun, wie immer

für Peter Turrini, damit er eine Freude hat

und in Erinnerung an Werner Vogt

Inhalt

Cover

Titel

IMMER WIEDER NIEMALS

TEIL 1: PUTIN ALPIN

Pipeline nach Wien

Spionagehauptstadt

Russenpartei

In Putins Falle

TEIL 2: SICHERHEITSRISIKO „KICKL“

Aktion „Schmuckkasterl“

„Neptune“ – das große Leak

Das Berner Desaster

Der Fall „Ott“

TEIL 3: RECHTSBLOCK

Das Kurz-Regime

13 Stationen

Von Kurz zu Kickl – das zweite Regime

Das andere Ufer

TEIL 4: HUREN DER REICHEN

Ein Block, ein Programm

Straßenpartei und Staatspartei

TEIL 5: LEITKULTUR-ROUTE

„Bist du noch normal?“

Probleme, die es nicht gibt

TEIL 6: GELD FÜR DEN BLOCK

Das Geld der ÖVP

Das Geld der FPÖ

Rechtsblock unterm Giebelkreuz

TEIL 7: IM VISIER

Die Galerie der ÖVP

Die Galerie der FPÖ

Sechs Profis

Spuren türkis: Pilnaceks Computer

Spuren blau: Kickls Putztrupp

„Alles Gauner“

TEIL 8: DAS SCHWARZE LOCH

Moskau statt Brüssel

Problembär „Herbert“

Der andere Kickl

Die ganze Macht

LETZTE WORTE

GLOSSAR

ANMERKUNGEN

Impressum

IMMER WIEDER NIEMALS

Kickl - Nehammer - Kurz - Putin. Vier Politiker, ein Gruppenbild – eine Unterstellung? Offiziell ist alles ganz anders. Karl Nehammer ist zu Putin gefahren, um ihm die Leviten zu lesen. Herbert Kickl hatte nie etwas mit Putin zu tun. Sebastian Kurz ist unschuldig, egal, worum es geht.

Und Ostblock? Österreich ist Teil des Westens, ein Bollwerk gegen Korruption und Parteibuchwirtschaft, für Rechtsstaat, Demokratie und Pressefreiheit. Von Österreich können sich alle eine Scheibe abschneiden.

Das ist das Selbstbild von ÖVP und FPÖ. Es ist so ehrlich wie das Bild, das beide in ungewohnten Rollen zeigt: als zwei erbitterte Gegner, die einander um die Zukunft Österreichs bekämpfen.

Drei Pole

Die Entwicklung Österreichs wird auch in Wien bestimmt. Aber das, was man in Wien „Regieren“ nennt, wirkt immer mehr wie ein Versuch, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, weil es nur dort etwas zu holen und zu verteilen gibt. Die Zeiten, in denen man auf Probleme mit Reformen antwortete, liegen lange zurück.

Stärker als früher bestimmen drei Pole die Richtungen, zwischen denen österreichische Regierungen schwanken: Brüssel, Washington und Moskau. Mit Peking versucht ein vierter Pol, über Belgrad und Budapest sein Kraftfeld auf Mitteleuropa auszudehnen.

Seit langem übt der russische Pol auf Österreich eine besondere Anziehungskraft aus.

Mit zunehmender Entfernung verändert sich die Wahrnehmung. Aus der Nähe sieht man das kleine, neutrale Land, das sich mitten in der EU behauptet. Aus der Distanz, die den größeren Horizont eröffnet, wird daraus ein Hinterhof, durch den Putin in die EU gelangt. Nicht nur in der EU gilt Österreich längst als russische Hintertür in die Union. Kaum ein Land ist wirtschaftlich von Russland so abhängig wie Österreich; kaum ein Staat lässt mehr zu, wenn Russland es will – mit einer Ausnahme: Viktor Orbáns Ungarn, das Vorbild von FPÖ und immer größeren Teilen der ÖVP.

Die Zeiten, in denen russische Führungen Arrangements mit dem Westen suchten, sind längst vorbei. Wladimir Putin baut am neuen russischen Reich. Serbien und Ungarn sind in seinem Lager, die Ukraine will er seinem Russland mit Gewalt einverleiben. Der neue Ostblock ist mehr als ein Sicherheitsgürtel um Russland. Er ist der Zusammenschluss der autoritären Regimes, die zwischen Brüssel und Moskau ihre politische Heimat suchen.

Von Wien nach Budapest braucht man mit dem Zug zweieinhalb Stunden. Wer wissen will, was Österreich mit einem Rechtsblock droht, kann sich dort von der Abschaffung der unabhängigen Justiz und Pressefreiheit, von der Gängelung der Wirtschaft und der Hetze gegen die Opposition bis zur Bereicherung einer Minderheit und der Verarmung der Mehrheit alles aus der Nähe ansehen.

Der Weg, den die FPÖ vorschlägt, führt Österreich von Brüssel nach Budapest, in den Dreibund mit Ungarn und Serbien. Sein Schutzherr heißt Putin. Vor sieben Jahren hat die ÖVP begonnen, der FPÖ auf ihrem Weg zu folgen. In diesen sieben Jahren ist sie eine andere Partei geworden.

Niemand steht heute mehr in der Volkspartei auf und versucht, einen besseren Weg zu finden. Vielleicht ist es für die ÖVP bereits zu spät.

Putins Freude

Am 18. Dezember 2017 hatte Wladimir Putin Grund zur Freude: Herbert Kickl war gerade in der Wiener Hofburg als Innenminister angelobt worden. 2024 verfolgt man auch in Moskau, ob Kickls nächster Schritt gelingt.

Herbert Kickl hat Großes vor, wie seine Vorgänger Jörg Haider und Heinz-Christian Strache. Haider wollte, dass seine Partei mitregiert. Er selbst begnügte sich damit, von Klagenfurt aus die Fäden zu ziehen. Strache wollte persönlich in die Regierung und zeigte der ÖVP zwei Jahre lang, was man alles mit ihm machen konnte. Herbert Kickl will mehr, aus einem einfachen Grund: weil für die FPÖ mehr geht.

Auf 2000 und 2017 folgt in Österreich mit 2024 das dritte Jahr einer großen politischen Entscheidung. Nach Oberösterreich, Niederösterreich und Salzburg wollen ÖVP und FPÖ auch im Bund als Rechtsblock regieren. Dazu müssen sie vor allem eines: Wählerinnen und Wähler täuschen.

Früher betrachtete man Staaten weit weg von Europa als „Dominosteine“, die von Vietnam bis Syrien „fallen“ könnten. Heute beobachtet man in Moskau, Peking und Washington, welcher Staat in Europa wackelt und welcher fällt. Ungarn scheint gefallen, aus russischer Sicht auf die richtige Seite in die russisch-chinesische Einflusssphäre, den neuen Ostblock. Am Rande einer EU, deren Zukunft ungewiss scheint, wackelt Österreich.

Original und Kopie

Wer glaubt, dass mit der ÖVP eine christ-demokratische und mit der FPÖ eine national-demokratische Partei um die Macht kämpfen, hat die größte Wandlung im österreichischen Parteiensystem übersehen. Dort, wo nach 2017 „ÖVP“ draufstand, kandidierte eine schwarze Partei unter türkiser Farbe mit einem blauen Programm. Dort, wo „FPÖ“ draufstand, mobilisierte das Original.

Beide drifteten ab. Heinz-Christian Strache hatte als FPÖ-Chef noch eine rote Linie zu den Identitären gezogen. Sein Nachfolger Herbert Kickl adelte das verfassungsfeindliche Netzwerk zur „NGO“. Karl Nehammer schien 2024 dort angelangt, wo Strache 2019 ausgestiegen war.

Seit sieben Jahren gilt eine neue Rechtsregel: Immer, wenn die ÖVP der FPÖ einen Schritt nach rechts folgt, setzt die FPÖ den nächsten Schritt.

Jeder Schritt der FPÖ hatte ein Ziel: maximale Empörung. Als die Partei am Beginn des EU-Wahlkampfs auf ihren Plakaten den ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Kussnähe zu Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen abbildete und daneben Impfnadeln, Flüchtlingsboote, Kampfhubschrauber und Windräder drapierte, war das Zielpublikum berechenbar empört. In der FPÖ-Zentrale wusste man, dass auch dieser Empörung die Abstumpfung folgen würde.

Wo Andreas Khol vor Jahrzehnten noch ein Ende seines „Verfassungsbogens“ sah, bog sich nur noch die Volkspartei. Warum ging die ÖVP mit Karl Nehammer als Bundeskanzler diesen Weg? Das hatte wenig mit den Interessen Österreichs und viel mit dem Erbe von Sebastian Kurz in der ÖVP zu tun. Kurz war der Kanzler, der mithilfe gekaufter Zeitungen den österreichischen Kurs neu bestimmt hatte – weg aus der alten Spur, rauf auf die Gleise, auf denen bisher nur der FPÖ-Zug fuhr.

Kurz hatte kein eigenes Programm. Als erster ÖVP-Obmann war er bereit, für Macht und Amt alles zu tun. Kurz spürte, wie immer mehr Menschen ins Lager der Protestwähler wechselten. Er war überzeugt, dass man der FPÖ ihr Leibthema nehmen und es zum eigenen machen müsste. So wurde Schritt für Schritt aus der christdemokratischen Partei eine Staatspartei, die von Ausländerhass bis Europafeindlichkeit immer mehr von Haider, Strache und Orbán übernahm.

Die Frage, ob das nach dem Kurz-Sturz anders würde, hatten Johanna Mikl-Leitner und Wilfried Haslauer mit ihren freiheitlichen Landesregierungen beantwortet. Das Ziel stand seit 2022 fest: ein regierender Rechtsblock mit der FPÖ.

Die Rechnung

2024 gab es eine einfache Rechnung: Wenn ÖVP und FPÖ als Verlobte in den Wahlkampf gehen, steht ihre Niederlage fest. Wenn Nehammer mit Kickl im Rucksack durch das Land zieht, werden sich viele von ihm abwenden. Wenn Kickl Nehammer mitschleppt, präsentiert er sich selbst als Teil des Systems, das er bekämpft.

Mit einem türkis-blauen Verlobungswahlkampf hätten beide nur die Menschen gewonnen, die bei ihrer politischen Hochzeit dabei sein wollten. Alle anderen, die eine ÖVP ohne den Straßenkrach der FPÖ oder eine FPÖ ohne die Schmiergeräusche der ÖVP wollten, hätten sich dann andere Parteien gesucht – oder wären zu Hause geblieben.

Wer jenseits des Kickl-Jubels Umfragen, ihren Daten und ihren Schwankungen auf den Grund ging, wusste 2024 nur eines: dass es knapp werden würde. Kickl und Nehammer haben nur dann gemeinsam die Chance auf das Kanzleramt, wenn es ihnen gelingt, eine ausreichend große Zahl an Wahlberechtigten zu täuschen.

Wer will, dass Menschen die falsche Wahl treffen, muss sie verwirren. Kurz-Propagandachef Gerald Fleischmann hatte mit „SNU“ – dem „strategisch notwendigen Unsinn“ – das Werkzeug dazu geliefert. Als Propagandachef der ÖVP wusste er, dass man 2024 nur in einem dichten Nebel aus notwendigem Unsinn gewinnen kann.

Wenn das Böse mit „FPÖ“ nur einen Namen hätte, wäre die ÖVP die Kanzlerpartei der Guten. Das sollte 2024 die SNU-Trumpfkarte der Volkspartei sein. Wenn der Widerstand gegen „das System“ nur einen Namen hätte, würden viele, die sich selbst „ausgegrenzt“ fühlten, die Partei, die ihre eigene „Ausgrenzung“ schon längst im Parteiwappen führte, wählen. Das war das Ziel der FPÖ.

Am Ende wollten beide dasselbe: ein „Kickl-Nehammer-Duell“ in den letzten Wochen vor der Wahl. Wenn SPÖ-Obmann Andreas Babler als natürlicher Gegner von Kickl und Nehammer aus dem Rennen gedrängt werden könnte, würden ÖVP und FPÖ gemeinsam im Finale stehen.

„Niemals“

„Niemals kann Nehammer mit Kickl!“ Und: „Niemals kann Kickl mit Nehammer!“ Selten waren Kommentatoren österreichischer Medien so einer Meinung wie in der Feststellung des unheilbaren Bruchs zwischen den Führern von ÖVP und FPÖ. Als sie 1999 allen prophezeiten, dass es Schüssel niemals mit Haider machen würde, waren sie sich ihrer Sache ebenso sicher wie 2019 und 2024 mit Kurz’ Nachfolger.

„Niemals mit dieser FPÖ!“ Das war das Versprechen, mit dem die ÖVP in Niederösterreich und Salzburg für die Schlussrunden mobilisierte. Am Tag nach der Wahl war es nichts mehr wert.

Verlobung – Todfeindschaft – Hochzeit: Unter Privatleuten ist das unüblich. Doch hier ging es nicht um Privatleute, sondern um zwei Parteien, die um ihre Macht kämpften, dass sich die Balken bogen.

So standen Karl Nehammer und Herbert Kickl im Jahr 2024 vor der Tür zum gemeinsamen Regierungsschlafzimmer und ließen die Fetzen fliegen. Das war das Kernstück des Drehbuchs, das über die nächsten Nationalratswahlen zum Ziel führen sollte: zum Sieg des Rechtsblocks und zur Orbánisierung Österreichs.

In den kommenden Jahren droht Österreich damit eine Machtübernahme, die anders ist als die in den Jahren 2000 und 2017. Erstmals kann Österreich dorthin abrutschen, wo Ungarn mit Viktor Orbán schon gelandet ist. Erstmals kann neben österreichischen Spitzenkandidaten auch ein russischer Präsident zu den Wahlsiegern gehören. Erstmals geht es um die Frage des Beitritts zum neuen Ostblock.

Davon handelt dieses Buch.

TEIL 1: PUTIN ALPIN

„Österreich wird als Russlands trojanisches Pferd in Europa gesehen.“1Christo Grozev, März 2024

Christo Grozev ist einer der profunden Kenner der tiefen und verborgenen Verflechtungen zwischen Wien und Moskau. Als Investigativjournalist hat er die Spuren des FSB-Nervengifts „Nowitschok“, mit dem unter anderem der Putin-Gegner Alexei Nawalny vergiftet wurde, erfolgreich verfolgt und Putin damit empfindlich gestört. Im Dezember 2022 ließ ihn das russische Innenministerium zur Fahndung ausschreiben.

Nach zwei Jahrzehnten verließ Grozev 2024 aus Sicherheitsgründen seine Wahlheimatstadt Wien. Der ehemalige BVT-Beamte Egisto Ott hatte Grozevs Meldeadresse ausgekundschaftet.2 Kurz darauf wurde in Grozevs Wohnung eingebrochen. Der Journalist wusste, dass für Menschen wie ihn Wien jetzt eine der gefährlichsten Städte der EU war.

Grozev war kein Einzelfall. Seit vielen Jahren gilt Wien in Moskau als die Adresse, an der man sich besonders viel leisten kann. Von hochgerüsteten Spionagezentren, die nirgends sonst in der EU geduldet würden, bis zu Agenten, die ungehindert ihre menschlichen Ziele verfolgen, zeigen russische Netze in Wien, wozu sie fähig sind, wenn man sie lässt.

Der systematische Ausbau des Putin-Brückenkopfs „Österreich“ begann früh.

Orbán, Russland und Strache

Alles ist auf Band festgehalten. Kriminalbeamte haben die Tonspur abgeschrieben. Strache hatte schon im Juli 2017 den Plan, den Herbert Kickl als „Volkskanzler“ mit Putin und Orbán 2024 umsetzen will.

Die Finca auf Ibiza war der Ort, an dem die Spitzen der FPÖ erstmals komplett die Hosen herunterließen. Eine „schöne Oligarchin“ und ausreichend Alkohol machten aus einem Tag auf Ibiza eine Offenbarung politischer Ehrlichkeit. Wer wissen will, was die FPÖ den Menschen vormachen will, greift zu ihren Programmen. Wer sich für ihre wahren Absichten interessiert, liest Zeile für Zeile die kriminalpolizeiliche Abschrift von vier Stunden und 40 Minuten des Ibiza-Videos.

Von Staatsanwältinnen bis Journalisten interessierten sich kurz nach dem Auftauchen des Videos alle für die „belastenden“ Passagen: Wo wurden Gesetzesbrüche besprochen, wo ging es um Geld und politische Geschäfte?

Doch die politisch wertvollsten Passagen finden sich an den Stellen, wo Heinz-Christian Strache offen über seine Ziele spricht. Dort geht es um Orbán, Russland, ihn selbst und seine Partei.

„Ich kippe das System“

Die Oligarchendarstellerin lauschte ebenso gebannt wie ihr Regisseur Julian Hessenthaler. Nach einer Stunde und drei Minuten kam Strache in der Finca zur Sache: „Ich will, dass wir auf Alles oder Nichts gehen, das ist meine Strategie. Ich habe nicht zwölf Jahre gekämpft, um es am Ende billig zu machen.“3

Hessenthaler fragte: „Du würdest eine Koalition ablehnen?“ Strache bejahte: „Im Extremfall, wenn man auf meine Forderungen nicht einsteigt, ja. Weil dann kippe ich das System in fünf Jahren – und zwar über die Länder.“ Dann formulierte der FPÖ-Führer sein großes Ziel: „Ich will so eine Rolle wie Orbán.“ Johann Gudenus ergänzte: „Der Orbán, der rockt das Land.“

Sieben Jahre später ist Strache längst Geschichte. Seine Pläne haben ihn überlebt. Herbert Kickl geht einfach den Weg, den Strache begonnen hat, weiter: nach Osten, wo längst Gleichgesinnte regieren.

Visegrád statt EU

„Wir wollen in die Visegrád-Gruppe rein, wir haben ja mit Serbien enge Kontakte, mit Ungarn enge Kontakte – wir wollen in die Visegrád-Gruppe rein.“4 In der Finca auf Ibiza formulierte Strache das Ziel, dem Kickl immer näherkommt.

Die FPÖ war die erste Partei, die Viktor Orbán den Hof machte. Heinz-Christian Strache rühmte sich seiner engen Beziehungen zum ungarischen Volkskanzler: „Der Orbán sagt immer, wenn ich was brauch, soll ich anrufen. Das hält er auch.“5 Dann erzählte Strache von den Kontakten zum ungarischen „Geheimdienstchef“, der „ein guter Freund“ sei.

Wozu Orbán seinen Geheimdienst politisch braucht, wusste Strache auch: „Weil der Soros natürlich die ganzen NGOs finanziert, die Konterrevolution. Und sagt er zu Recht, ich möchte wissen, welcher Verein woher was kassiert. Weil so wurden die Revolutionen über die amerikanischen Geheimdienste finanziert.“

Vernetzte Rechtsextreme

Straches Weg führte Herbert Kickl auch nach Budapest. Cathrin Kahlweit beobachtete für die Süddeutsche Zeitung Kickls Auftritt auf der „Conservative Political Action Conference CPAC“, wo sich rechte und rechtsextreme Parteien weltweit versammelten. In den USA mobilisierte CPAC für Trump. Von Budapest aus wurde in Europa vernetzt und mobilisiert.

Kahlweit beschrieb, wer hier Bittsteller war: „FPÖ-Chef Herbert Kickl sendet Unterwerfungsgesten an Ungarns Regierungschef. Sollte er 2024 Bundeskanzler werden, hätte Viktor Orbán wieder einen Freund in Europa.“6

In dem Boot, in das Kickl hineinwollte, saß schon Karl Nehammer mit Viktor Orbán und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. „Gemeinsam hat Österreich mit Ungarn und Serbien die Asyl-Bremse deutlich angezogen“, verkündete der österreichische Kanzler im Juli 2023 beim Wiener „Migrationsgipfel“ mit Orbán und Vučić.7

Sebastian Kurz hatte Österreich politisch an Serbien und Ungarn herangeführt. Der Umstand, dass Ungarn seine Flüchtlinge nach Österreich abdrängte und mit ihnen ihre Probleme über die burgenländische Grenze nach Westen verschob, hatte Kurz nicht gestört. Orbán hatte gezeigt, wie man die Macht auf Dauer übernimmt und aus unabhängigen Staatsanwälten, Richtern und Journalistinnen Diener des Systems macht.

Orbáns Ungarn ist heute Putins Vorposten in der EU. Wenn politisch aus „Ungarn“ ein „Österreich-Ungarn“ wird, ist Putin einen großen Schritt weiter.

Pipeline nach Wien

Am 11. April 2022 landete Karl Nehammer in Moskau. Putin gewährte dem österreichischen Bundeskanzler 75 Minuten in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo. Fotografen, die Nehammer am Ende des langen Tisches gezeigt hätten, waren nicht zugelassen. Jeder sollte dem Treffen im Nachhinein seinen Spin geben können.

Aus russischer Sicht erschienen Österreich und sein Kanzler nicht besonders bedrohlich. Nehammer stolperte immer noch in den Spuren von Sebastian Kurz und versuchte sich an den Spitzen von Regierung und ÖVP zurechtzufinden. Das Österreich, das er vertrat, war 2022 wie kein anderes Land der EU von Russland abhängig. Putin und Nehammer wussten, dass das der jahrzehntelangen österreichisch-russischen Wirtschaftsfreundschaft zu verdanken war. Ihr Motor waren immer die ÖVP und Unternehmen und Banken, die hinter der Partei standen, gewesen.

War Nehammers Flug zu Putin nur ein PR-Gag, den sich Berater ausgedacht hatten? Ex-Bild-Chef Kai Diekmann war an Bord. Gemeinsam mit Nehammers PR-tüchtiger Ehefrau Katharina hatte er die Idee, vom geplanten Besuch in Kiew einen Abstecher nach Moskau zu machen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen war in die Vorbereitung ebenso wenig eingebunden wie die Grünen als Koalitionspartner. Die Regierungen der EU-Partner wurden erst kurz vorher über den Nehammer-Ausflug informiert.

Besonders kritisch äußerte sich der Innsbrucker Russland-Experte Gerhard Mangott zu dem Treffen. In einem Interview mit dem Spiegel sagte er, dass Nehammer „nichts erreicht“ habe. „Ich sehe weder einen erkennbaren noch einen vermutbaren Effekt auf die Handlungsweisen des Wladimir Putin. Dieser Besuch hat der Ukraine und dem Westen nichts gebracht außer politische Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union.“8

Mangott hatte politisch recht. Von Berlin bis Brüssel schüttelten alle die Köpfe über einen Kanzler, der sich nach Moskau zu Putin verlaufen hatte. Doch Nehammer ging es weder um europäische Politik noch um Solidarität mit der Ukraine. Es ging um Gas.

Im April 2022 war klar, dass Putin bereit war, die russischen Gaspipelines gezielt zur Vergeltung gegen Sanktionen einzusetzen. Besonders bedroht waren die, die sich an die Spitze der antirussischen Allianz gesetzt hatten – und die, die am meisten von Putins Gas abhängig waren: Ungarn und Österreich.

Matthew Karnitschnig analysierte für Politico den Nehammer-Trip: „Obwohl aus dem, was Nehammer als ‚hartes und offenes Gespräch‘ bezeichnete, nur wenige Details hervorgingen, stellten Skeptiker fest, dass russisches Gas weiterhin nach Österreich floss, ganz im Gegensatz zu Deutschland, das abgeschnitten war.“9

Kaum in Wien zurück, berichtete Nehammer stolz, „dass die Gasversorgung gesichert ist“.10 Putin habe, so Nehammer, die Gas-Frage „von sich aus angesprochen“. Nur eines erwähnte Nehammer nicht: dass Putins Zusage jederzeit widerrufen werden könnte.

Direktinvestitionen

Alles andere lief weiter. Jahr für Jahr vergleicht die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) die ausländischen Direktinvestitionen in Österreich.11 Als „passive Direktinvestition“ gilt jede Beteiligung über zehn Prozent am Unternehmenskapital. Dabei fällt auf: Deutschland lag in Österreich 2022 mit 30,8 Prozent der Direktinvestitionen wie immer klar auf Platz eins. Platz zwei überrascht: Russland. Mit 22,2 Milliarden Euro im Jahr 2022 standen die Putin-Investitionen neben Deutschland als einzige für einen zweistelligen Milliardenbetrag in Österreich.

2014 lagen die russischen Direktinvestitionen in Österreich um 30 Prozent über denen aus den USA. Acht Jahre später hatten russische Investoren ihren Vorsprung gegenüber der US-Konkurrenz auf 72 Prozent ausgebaut.

In Deutschland sieht es wie in allen anderen Mitgliedstaaten der EU völlig anders aus. Die deutsche Bundesbank wies für 2021 russische Direktinvestitionen von 3,2 Milliarden Euro aus – winzig neben den 83,5 Milliarden, die aus den USA stammten.12

Russland investiert das knapp Zweifache der USA – das ist der Kapitalstandort „Österreich“. Die USA investieren das 26-Fache von Russland – das ist Deutschland. Solange Putins Russland Teil einer friedlichen wirtschaftlichen Entwicklung war, sahen nur wenige das Problem. Mit Putins Überfall auf die Ukraine war alles nicht mehr so einfach.

Geld und Gas

Kurz nachdem sie verhängt worden waren, konnte man feststellen, dass die Sanktionen gegen Putin wirkten. Mit Russland und Österreich trafen sie vor allem zwei Länder. Das hatte einen einfachen Grund: Von Banken und Baukonzernen bis zu den Parteien der Rechten hatten sich nur in Österreich Wirtschaft und Politik in bedrohliche Abhängigkeit von Putins Russland begeben. Kaum waren die Sanktionen verhängt, hatten Raiffeisen, OMV, STRABAG, FPÖ und ÖVP ein Problem.

Nirgends sonst hatten sich Banken, Energiekonzerne und Politiker so eng mit Putin und seinen Oligarchen eingelassen wie in Österreich. Nirgends sonst drohten mit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine vergleichbare wirtschaftliche und politische Schäden.

Die zuverlässigste Bank

„Die Raiffeisenbank ist laut unabhängigen Rating-Agenturen eine der zuverlässigsten Banken in Russland.“13 Im April 2024 warb die „Raiffeisen Bank International RBI“ immer noch mit ihrer Stellung als stärkste Westbank in Putins Russland. Doch der RBI-Slogan „Make it happen!“ klang nun anders als in den guten Jahren des Russland-Abenteuers.

Die US-Nachrichtenagentur Reuters meldete am 18. März 2022, dass die RBI 22,9 Milliarden Euro an Krediten in Russland und 2,2 Milliarden in der Ukraine offen hatte.14 Der Rubel war bereits um 40 Prozent abgestürzt. 80 Prozent der RBI-Kredite liefen auf Rubel.

Die RBI stand am Abgrund. Niemand wusste, ob die Kredite in Russland und der Ukraine Totalausfälle würden. Nach Schätzung von Experten hätte sich die Bank eine Wertberichtigung in der Größe von 10 Milliarden Euro leisten können. Alles über dieser Grenze hätte möglicherweise bereits die Existenz einer der wichtigsten österreichischen Banken bedroht.

Frankreich hielt - gemessen am Eigenkapital seiner Banken - knapp vier Prozent Russland-Risiko. Italien folgte mit mehr als neun Prozent auf Platz zwei. Österreich hängte mit 15 Prozent alle ab. Niemand steckte so tief in der Russland-Falle wie Österreich.

Doch die größte Gefahr für die Banken kam nicht aus Moskau, sondern aus Washington. Am 7. März 2024 überbrachte Anna Morris als hochrangige Beamtin des US-Finanzministeriums den RBI-Spitzen in Wien eine letzte Warnung. Wenn Raiffeisen weiter zur Finanzierung des russischen Militärs beitrage, laufe die Bank Gefahr, „vom US-Finanzsystem abgeschnitten zu werden“.15

In Washington war registriert worden, dass die ukrainische „Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NACP)“ RBI auf ihre schwarze Liste der internationalen „Sponsoren des Krieges“ gesetzt hatte.16 Das war der Vorwurf aus Kiew. Doch es ging auch um ein Projekt, mit dem die RBI einen Teil ihrer Russland-Milliarden retten wollte.

Im Gegensatz zu anderen Großbanken war die RBI nach Kriegsausbruch in Russland geblieben. Die Bank machte dort 2023 50 Prozent ihres Gewinns. Das Handelsblatt schildert den RBI-Plan: „Die RBI will Strabag-Aktien kaufen, die bis vor Kurzem noch dem sanktionierten Deripaska gehörten. Dadurch erhofft sich die Raiffeisen Bank, einen Teil ihrer bei einer russischen Tochter eingefrorenen Gewinne nach Österreich holen zu können.“17 Dazu brauchte man ein Unternehmen, das noch nicht auf der Sanktionsliste des US-Finanzministeriums stand. RBI und ihre russischen Partner fanden die „Iliadis JCS“. Niemand bei Raiffeisen wusste, dass man sich damit die Schlinge nur noch enger um den Hals ziehen würde.

„Anna Morris traf am Donnerstag und Freitag in Wien auch mit der österreichischen Regierung zusammen“, meldete der EU-Observer. Dort war vom Finanzminister bis zum Bundeskanzler längst allen klar, was drohte: der Ausschluss von Raiffeisen aus dem Dollarmarkt, wie Reuters zusammenfasste: „Ein Verstoß gegen die US-Sanktionen kann zu Geldstrafen, dem Einfrieren von Konten oder der Beendigung von Geschäftsbeziehungen mit US-Korrespondenzbanken führen“.18 Eines war nicht bekannt: Anna Morris war auch in Wien, um den Trick mit „Iliadis“ zu durchkreuzen.

Anfang Mai 2024 ordnete der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck eine „Investitionsprüfung“ an.19 Erstmals war damit eine „systemrelevante“ Bank eines EU-Staats gleichzeitig aus Washington, Berlin und Moskau bedroht. Wenn man es dem einen recht machte, vergrößerte man das Problem auf der anderen Seite. Daher entschloss sich die Regierung unter Nehammer für eine Strategie, in der man sich zu Hause fühlte: durchwursteln.

Die Strategie hatte nur eine Schwachstelle: Putin konnte neben dem Gashahn jederzeit auch den Raiffeisen-Hahn zudrehen. Dabei stellte die drohende RBI-Verstaatlichung in Russland das kleinere Problem dar. Putin konnte jederzeit belastende Dokumente Richtung US-Aufsicht leaken und damit den ÖVP-nahen Bankkonzern direkt in Österreich treffen.

Spätestens seit dem US-Besuch im März 2024 wusste man in Banken und Finanzministerium, dass Raiffeisen eine Putin-Schlinge um den Hals trug. Daher wunderten sich viele, als RBI in Russland ein Dreivierteljahr später nicht den Rückzug antrat, sondern in großem Stil Mitarbeiter suchte. Wie die Financial Times im April 2024 berichtete, ließ RBI dort seit Dezember rund 2.400 Stellen ausschreiben.20 Rückzuge sehen anders aus.

Dann ging alles schief. Am 8. Mai 2024 verkündete STRABAG selbst die Hiobsbotschaft, dass das RBI-Projekt, Milliarden aus Russland durch den Kauf von STRABAG-Anteilen herauszubekommen, gescheitert war.21 Jetzt versuchte die RBI die Flucht nach hinten. Aber es war zu spät.

„Die USA decken versuchte Umgehung von Sanktionen im Zusammenhang mit russischem Oligarchen auf“,22 übertitelte das US-Finanzministerium seine Presseaussendung am 14. Mai 2024. Plötzlich stand „Iliadis JSC“ auf der OFACa-Sanktionsliste des Finanzministeriums in Washington.

Damit war die RBI-Aktion geplatzt. Gemeinsam mit Deutschland hatten die USA die österreichische Großbank in ihre Grenzen verwiesen. Raiffeisen saß als Geiselbank in Putins Russland fest. Finanzminister und Bundeskanzler der ÖVP wussten, dass sie möglicherweise bald gebraucht würden.

a Organisation of Foreign Assets Control (Organisation für die Kontrolle ausländischer Vermögenswerte)

Putins Wolf

Im Juli 2015 wurden unter der Führung von Rainer Seele die OMV-Weichen in Richtung Russland gestellt. Ein knappes Jahrzehnt später stand die OMV am Ende der russischen Sackgasse. Milliardenabschreibungen drohten ebenso wie Lieferengpässe und Versorgungschaos.

Anfang 2024 pendelte der russische Anteil an der österreichischen Versorgung mit Erdgas zwischen 87 und 97 Prozent. Kaum ein Land ist bis heute von russischem Gas so abhängig wie Österreich. Die Verantwortung dafür tragen Kanzler, Minister und Financiers der ÖVP.

2015 stand die OMV vor einer strategischen Entscheidung, die die Namen zweier Himmelsrichtungen trugen: „Norden“ und „Osten“. Sie sollte von einem neuen Vorstandsvorsitzenden getroffen werden: von Rainer Seele, der gerade vom größten deutschen Rohöl- und Erdgasunternehmen Wintershall zur OMV gekommen war.

Seele hatte Wintershall so erfolgreich geführt, dass 2015 der gesamte Erdgashandel des Unternehmens in russischen Besitz übergegangen war. Jetzt nahm er sich die OMV vor.

Im Jahresbericht 2015 präsentierte sich die OMV noch westlich: „Im Upstream-Bereich konzentriert sich die OMV auf drei Kernregionen, (1) CEE (Rumänien und Österreich), (2) die Nordsee und (3) Naher Osten und Afrika, sowie ausgewählte Entwicklungsgebiete.“23

Hatten seine Vorgänger noch erfolgreich auf Norwegen gesetzt, drehte Seele den Konzern um 90 Grad nach Russland. Plötzlich ging es um nicht mehr um norwegische, sondern um russische Gasfelder. Der Kurier berichtete früh über den Plan, wie das über einen „Asset-Swap (Abtausch von Beteiligungen) mit Gazprom laufen könnte: Die OMV gibt ihre Beteiligungen an zwei Gasfeldern in Norwegen und einem Projekt in Tunesien ab und steigt dafür bei der Entwicklung des russischen Öl- und Gasfeldes ‚Urengoi‘ ein.“24

Kurz darauf unterschrieb Rainer Seele diesen Plan im Geschäftsbericht 2015: „In Russland strebt die OMV eine 24,98 %-ige Beteiligung an der Achimov IV/V-Formation im Urengoi-Feld an“.25 Wenige Jahre später war die OMV eng an Gazprom und Russland gebunden.

2018 vollendeten Seele und seine OMV-Führung ihr Werk. Am 1. Juli 2018 meldeten die konzerneigenen OMV News stolz: „Im Beisein von Vladimir Putin und Sebastian Kurz unterzeichneten heute Alexey Miller, Chairman des Gazprom Management Committee und Rainer Seele, Vorstandsvorsitzender der OMV, die Verlängerung des Vertrages für Erdgaslieferungen nach Österreich bis zum Jahr 2040“.26

Der alte Vertrag zwischen Gazprom und OMV wäre bis 2028 gelaufen. Frühzeitig und ohne Not hatte die OMV damit einen folgenreichen Vertrag mit der Gazprom geschlossen. Er sieht bis heute „Gaslieferungen bis zum Jahr 2040 im Ausmaß von jährlich sechs Milliarden m3 vor; Gas, das bei Nichtinanspruchnahme dennoch zu bezahlen wäre – take or pay“, meldete das Energy News Magazine am 19. März 2024.27 Das OMV-Management hatte damit die OMV für die nächsten zweieinhalb Jahrzehnte an Russland gekettet.

Wolf und Schelling

Zwei Namen standen für die russische Wende der OMV: ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling und Siegfried „Sigi“ Wolf. 2015 stand Sigi Wolf an der Spitze des ÖIAGa-Aufsichtsrats.

Auch für Europa setzte Wolf auf Putin: „Da würde ich mir ein bissl mehr russische Demokratur wünschen. Dass Leute entscheiden und zu den Entscheidungen stehen. Wenn ich mir die EU anschaue, braucht es hier eine klare Führung, die hat Putin.“28

Putin-Freund Wolf hatte seine Interessen von Graz und Wien immer mehr nach Russland verlagert: „Wolf ist Aufsichtsratsvorsitzender der Sberbank Europe in Wien, fährt gerne leidenschaftliche Kampagnen gegen die EU-Sanktionen (‚Diktat der USA‘) und bezeichnet sich offen als Putin-Freund. Er war Boss von Deripaskas Autozulieferer ‚Russian Machines‘ und hält zehn Prozent Anteile an der GAZ, Russlands größtem Autokonzern“, fasste ZackZack im April 2021 zusammen.29 Mit dem Radschützenpanzer BTR-80 griffen russische Truppen die Ukraine an.30 Der Produzent des Panzers hieß GAZ, dessen Großaktionäre Oleg Deripaska und Sigi Wolf.

„Einer der größten Seele-Befürworter war damals Siegfried Wolf“, wusste Die Presse schon im Juni 2022.31Presse-Redakteurin Anna Thalhammer berichtete, „Putin selbst würde Seele als OMV-Spitze fördern, denn das sei den Interessen Russlands nur dienlich.“ Thalhammer berief sich auf eine geheimdienstliche Quelle: „Ein befreundeter westlicher Dienst warnte Österreich vor ihm bereits 2015.“ Thalhammer nannte den Namen des Dienstes nicht, doch weder Seele noch OMV dementierten.

Im Dezember 2018 wollte Sebastian Kurz seinen Unterstützer Sigi Wolf noch einmal an die Spitze der ÖIAG, die demnächst ÖBAG heißen und von Thomas Schmid geführt werden sollte, hieven. Schmids Chats vom 28. Dezember 2018 verraten, wie umstritten Wolf inzwischen war.

Schmid verriet einer Mitarbeiterin, wie er zum Kanzlerwunsch „SW – Sigi Wolf“ stünde: „Ich kann echt mit SW auch leben. Solange ich überall den ARb Chef machen kann. Er meinte ob mir OMV nicht zu zach ist. Aber unterstützt es.“32 Schmid wusste aber auch, dass Kurz bei einer Entscheidung für Wolf mit Kritik rechnete: „Kurz scheisst sich voll an.“

Am 14. Februar 2019 fragte Vizekanzler Strache nach: „Gibt es eine andere Lösung von BK Kurz für dich? ÖBAG?“ Wolfs Antwort kam wenige Tage später: „Lieber HC, Ja, wir haben einen Weg gefunden“.33

a Österreichische Industrie AG, Vorläuferin der ÖBAG bei der Verwaltung der Unternehmensbeteiligungen der Republik Österreich

b Aufsichtsrat

Blutgeld

Im Ukraine-Krieg wunderten sich viele, dass Österreich es nicht anderen EU-Staaten gleichtat und aus russischem Gas ausstieg. Martin Selmayr drückte als EU-Vertreter in Österreich seine Verwunderung öffentlich aus: „Blutgeld wird jeden Tag mit der Gasrechnung nach Russland geschickt“.34

Der ehemalige OMV-Chef Gerhard Roiss gab Selmayr inhaltlich recht: „Wenn man wollte, könnte es sehr wohl viel schneller gehen, binnen zirka 12 Monaten“.35 Aber man wollte nicht. Die zuständige Energieministerin Leonore Gewessler durfte die Lieferverträge zwischen Gazprom und OMV nicht einmal einsehen.

Hans Jörg Schelling blieb Russland auch nach seiner Zeit als Finanzminister erhalten: als „Berater“ für Nord Stream 2. Inzwischen waren Schelling und Wolf zu Beschuldigten in Ermittlungsverfahren der WKStA geworden. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.

„Trotz aller Unterschiede gibt es viele Bereiche, bei denen wir zusammenarbeiten können, sollen und auch müssen“36. So wandte sich Sebastian Kurz im Juni 2021 an Wladimir Putin. Der österreichische Kanzler war der einzige hochrangige Politiker des Westens, der Putins Einladung zum „Petersburger Wirtschaftsforum“ gefolgt war. Auch unter Nehammer hatte sich daran nichts geändert. Nur der Preis, den österreichische Banken, Unternehmen und die Republik selbst für ihre Russland-Sonderwege zahlen müssen, wurde gefährlich hoch.

Spionagehauptstadt

Im Jahr 2000 verhandelten ÖVP und FPÖ ihre erste gemeinsame Regierung. Jörg Haider verlangte von Wolfgang Schüssel das Innenministerium. Der FPÖ-Chef bekam das „Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung – BVT“ und besetzte es mit Gert-René Polli einschlägig.