Pilnacek - Peter Pilz - E-Book

Pilnacek E-Book

Peter Pilz

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Beschreibung

Am 20. Oktober 2023 verstarb Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek in einem Seitenarm der Donau in der Wachau. Sebastian Kurz wusste sofort, dass es Selbstmord war. Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei schlossen eilig den Akt: „Ein Suizid, wie er klarer nicht sein könnte. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“ Doch die Fragen bleiben: Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht weiter ermittelt? Warum wurden gut sichtbare Spuren nicht verfolgt? Warum hat man nach Pilnacek-Datenträgern statt nach der Todesursache gesucht? Was geschah in Pilnaceks letzter Nacht? Daran schließt sich die entscheidende Frage: Ist Pilnacek getötet worden? Sein Wissen war nicht nur für Spitzen der ÖVP gefährlich. In der Strafjustiz entschied er, wer verfolgt wurde und wer sicher war. Ein dichtes Netz aus Staatsanwälten, Justizbeamten, Kriminalpolizisten, Rechtsanwälten und Justizministern versorgte ihn dazu mit Informationen, die nur zum Teil am Dienstweg zu erhalten waren. Pilnacek schien bereit, auszupacken. Sein Tod kam dazwischen. Kurz nachdem er verstorben war, nahmen Polizisten ohne Wissen der Staatsanwaltschaft sein Handy mit. Der USB-Stick, den er als politische „Lebensversicherung“ immer mit sich trug, verschwand. Nur sein Laptop konnte in Sicherheit gebracht werden. Peter Pilz hat ein Jahr lang recherchiert und Überraschendes herausgefunden. Die Spuren, die noch heute verfolgt werden können, führen von der Wachau nach St. Pölten, Graz und in das Regierungsviertel in Wien.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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PETER PILZ

PILNACEK

DER TOD DES SEKTIONSCHEFS

Für Gudrun

„Ich habe gestern Abend noch mit ihm telefoniert, und wenige Stunden später hat er sich das Leben genommen.“1

Sebastian Kurz über Christian Pilnacek

„Ein Suizid, wie er klarer nicht sein könnte. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Staatsanwalt Franz Hütter/Krems

„Der kolportierte Suizid erscheint aus gerichtsmedizinischer Sicht als wenig wahrscheinlich.“

Stefano Longato, Gerichtsmediziner, Innsbruck

„Wie gelangte Christian Pilnacek ins Wasser?“

Michael Tsokos, Gerichtsmediziner, Berlin

INHALT

Cover

Titel

Vorwort

1. Der letzte Tag

In Wien

Geisterfahrt

Hilfe von der ÖVP

2. Tod am Altarm

Die Stunde der Hausärztin

Pilnaceks Tod

Selbstmord

Unfall

Todeszeitpunkt

Das Leben genommen

3. Die Vertuschung

Der Bunsenbrenner

Am Altarm

„Druck gemacht“

Fahrlässig

Telefonat mit Kurz

St. Pölten übernimmt

„Aktion Handy“

Das große Schwimmen

Handy in Sicherheit

Keine Daten auf der Smartwatch

Obduktion in Wien

Der 21. November

Jagd auf den Laptop

„Lass ihn verschwinden“

Der Stick

Sobotka-Therapie

Der letzte Fall

4. Sein Reich

Der Doppelsektionschef

Pilnaceks Reich

Brandstetter

Pilnaceks Instrumente

Durch Anwälte gefüttert

Klienten

Beweismittelverluste

5. Sein Jahrzehnt

Die Fälle

Eurofighter – die Wende

Ibiza – keine Spur zur ÖVP

6. Sein Fall

7. Das Ende

Flucht und Sturz

Mord

Untersuchen

Danksagung

Anhang

Zeitleiste

Personenverzeichnis

Anmerkungen

Impressum

VORWORT

„Jeder der meinen Mann kannte, verstand, dass Dr. Pilz der Letzte wäre, an den er sich freiwillig mit einem Anliegen gewendet hätte.“2 Christian Pilnaceks Witwe Caroline List hatte zweifellos recht, als sie das im Juli 2024 bei ihrer Einvernahme zu Protokoll gab.

Christian Pilnacek und ich hatten über viele Jahre ein ebenso klares wie schlechtes Verhältnis. Er ärgerte sich über die Untersuchungsausschüsse eines Parlaments, von dem er nicht viel hielt. Ich wunderte mich, dass ein exzellenter Kenner des Strafrechts sich so ungeniert an dessen Grenzen bewegte.

Von Eurofighter bis BVT stritten wir immer wieder um eines: ob das Parlament Kontrolle über das Reich, das sich Pilnacek im Justizministerium geschaffen hatte, ausüben durfte.

Am Vormittag des 20. Oktober 2023 wurde ich wie viele andere von der Meldung über Pilnaceks Tod überrascht. Nicht weniger überraschend waren die schnell folgenden Erklärungen, wie sehr man diesen offensichtlichen Selbstmord bedaure. Wieder sei jemand aus der großen Familie der ÖVP einer politischen und medialen Hetze zum Opfer gefallen.

Einen Monat später berichtete die Kronen Zeitung über das Ergebnis der Obduktion: „Ein Fremdverschulden kann laut Angaben der Staatsanwaltschaft ausgeschlossen werden.“3 Damit schien der „Fall Pilnacek“ geklärt.

EIN SATZ

Am 20. Oktober 2023 hatte mich ein einziger Satz stutzig gemacht: „Ich habe gestern Abend noch mit ihm telefoniert, und wenige Stunden später hat er sich das Leben genommen.“4 Als Sebastian Kurz das am Tag von Pilnaceks Tod Journalisten am Rand seines Prozesses erzählte, fragte niemand nach. Was hatte Kurz mit Pilnacek besprochen? Woher wusste der Altkanzler, dass es Selbstmord war? Und was heißt „wenige Stunden“?

Alles, was blieb, waren ein paar Gerüchte: über nicht verfolgte Spuren im Obduktionsbericht; über einen Selbstmord, der vielleicht keiner war; über einen Sektionschef, auf den sich die ÖVP nicht mehr verlassen konnte; und über ein verschwundenes Handy.

Im Jänner 2024 besprach ich den Fall mit befreundeten Journalisten. Dann beschrieb mir Karin Wurm ihre letzten gemeinsamen Stunden mit Christian Pilnacek und die ersten Stunden mit dem Landeskriminalamt Niederösterreich. Bald darauf startete unsere ZackZack-Serie über den „Polizeifall Pilnacek“.

Am 1. März 2024 verfasste die Kremser Staatsanwältin ihren letzten Eintrag: „Betrifft Ableben von Mag. Christina [sic] Pilnacek. Die Erhebungen ergaben keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.“5 Damit war das Ermittlungsverfahren auch offiziell eingestellt. Rückblickend war die Schreibweise des Vornamens der kleinste Fehler, der der Staatsanwaltschaft unterlaufen war.

Kurz darauf erstattete Martin Kreutner als Vorsitzender der Pilnacek-Untersuchungskommission der Justizministerin Anzeige gegen „unbekannte Täter“ in der niederösterreichischen Kriminalpolizei. Eine weitere Anzeige durch Karin Wurm, mit der Pilnacek die letzten Monate seines Lebens verbracht hatte, folgte. Die WKStA begann zu ermitteln. Dann kamen Klagen gegen ZackZack, eine nach der anderen. Es war wie bei Sobotkas BMI-Chats6, bei Benko7 und Martin Ho8. Wir wussten, dass wir einer größeren Geschichte auf der Spur waren.

Klagen und Grenzen

Der niederösterreichische Chefinspektor Hannes F. klagte. Pilnaceks Witwe, die Grazer Gerichtspräsidentin Caroline List, erstattete Anzeige gegen Karin Wurm, Kronen Zeitungs-Redakteur Erich Vogl und mich. In Zusammenhang mit dem privaten Pilnacek-Laptop bezichtigte sie mich der Beweismittelunterdrückung und der Hehlerei. Ein Detail schien sie nicht zu stören: Ich hatte den Laptop kein einziges Mal gesehen.

Bei der Untersuchung eines Todesfalls gerät man an Grenzen. Eine ziehen die Persönlichkeitsrechte, die auch posthum gelten. In jedem einzelnen Fall ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse so klar überwiegt, dass über höchstpersönliche Details berichtet werden darf. Es ist nicht nötig, Fotos eines Leichnams zu veröffentlichen, wenn man durch Zitate aus dem Obduktionsbericht ausreichend Klarheit schaffen kann. Ähnlich verhält es sich mit den Rechten der Angehörigen. Nur ein Recht gibt es nicht: dass nicht untersucht wird.

Eine andere Grenze zogen die Ermittler selbst. Lange Zeit versuchte die Staatsanwaltschaft Krems, die Akteneinsicht für Karin Wurm und ihren Anwalt einzuschränken. Ebenso lange hielt das Landeskriminalamt Niederösterreich wichtige Dokumente und Beweise in internen Polizeiakten unter Verschluss.

Am 21. November 2024 verlor die Staatsanwaltschaft Krems das Verfahren durch einen Beschluss des Gerichts. „Dem Einspruch wegen Rechtsverletzung […] der Einspruchswerberin Karin Wurm vom 22.9.2024 wegen Verweigerung der unbeschränkten Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Krems an der Donau wird Folge gegeben und festgestellt, dass diese das Gesetz […] verletzt.“9

Mit jeder neuen Spur und jedem neuen Dokument wurde das Bild klarer. Daraus ist dieses Buch geworden. Vielleicht schafft es das, was Christian Pilnacek verdient hätte: die penible Untersuchung seines Todes durch Justiz und Parlament – und eine Antwort auf die Frage: Wer hatte Interesse daran, dass die Ursachen seines Todes nicht aufgeklärt werden?

1. DER LETZTE TAG

Der letzte Tag im Leben von Christian Pilnacek begann unspektakulär. Sein erster Weg führte ihn am 19. Oktober 2023 in seine Bank in Krems. Karin Wurm kam mit.

Nach dem Termin bei der Bank begleitete Wurm Pilnacek zum Schuster, dann kauften beide einen Adventkalender. Um 10.15 Uhr setzte sich Christian Pilnacek in seinen schwarzen Lexus und fuhr nach Wien. Karin Wurm hatte beim Frühstück die schriftliche Einladung der ungarischen Botschaft für den Empfang um 11.45 Uhr gesehen.

Die Nacht hatte Pilnacek in Rossatz verbracht, also würde er die kommende Nacht wie üblich in seiner Wohnung in der Wiener Ottakringer Straße verbringen.

IN WIEN

Um 11.15 Uhr schrieb Pilnacek: „Bin gut gelandet“. Karin Wurm erinnerte sich: „Alle zwei Stunden hat er sich über WhatsApp bei mir gemeldet.“ An diesem Tag meldete sich Pilnacek erst um 16 Uhr ein zweites Mal. Sie hat sich die Nachricht, in der er sie liebevoll „meine Gräfin“ nennt, aufgehoben.

„Rahmen gestaltet“

In ihrer Einvernahme bei der WKStA gab Karin Wurm zu Protokoll: „An diesem Tag war nicht ausgemacht, dass er nach Rossatz fährt, er hatte an diesem Tag einige Treffen mit Kurz ,und Co‘. Kurz hat ihn hundert Mal angerufen, sodass mir das schon auf die Nerven gegangen ist.“10

Seinen ersten Termin in Wien hatte Pilnacek am 19. Oktober 2023 um 11.45 Uhr in der ungarischen Botschaft. Am Rande des Buffets traf er FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker. Pilnacek, so berichtete der FPÖ-Mann, sei „gut drauf“ gewesen.

Pilnacek wollte möglichst schnell einen Termin mit Herbert Kickl. Der Kurier zitierte Hafenecker: „Er hatte eine Terminbitte: Er wollte dringend und vertraulich mit Herbert Kickl reden.“11 Der Sektionschef war offenbar bereit, über einiges zu berichten. An eine Pilnacek-Formulierung konnte sich Hafenecker erinnern: „Ich habe den Rahmen für einige in der Politik gestaltet.“12 Über diesen „Rahmen“ und seine „Gestaltungen“ für Politiker und ihre Parteien wollte Pilnacek mit Kickl reden. Pilnacek, so glaubte man nicht nur in der FPÖ, war bereit auszupacken.

Gleich neben ihnen am Buffet, so erinnerte sich Hafenecker, standen zwei hochrangige Vertreterinnen der ÖVP. Das Gespräch zwischen Hafenecker und Pilnacek konnten sie beobachten. Ob sie etwas vom Inhalt der Gespräche mitbekamen, kann der FPÖ-Mann nicht mit Sicherheit sagen.

Halb voll

Bis 16 Uhr hörte Karin Wurm nichts von Pilnacek. Dann meldete er sich per WhatsApp: „Eine Umarmung ist mehr als 1000 Worte. Deshalb liebe ich meine Gräfin.“ An diesem Abend rechnete Wurm nicht mit Pilnaceks Rückkehr. Sie ging davon aus, dass er die Nacht in seiner Wiener Wohnung verbringen würde.

Nach dem Botschafts-Empfang hielt sich Christian Pilnacek in der Wallnerstraße im 1. Wiener Bezirk auf, zuerst gegen 17 Uhr im Gastgarten des Restaurants Verde, dann in Pacos Tapasbar. Beim „kleinen Spanier“, wie ihn Pilnacek und seine Freunde nannten, traf er die Bekannten, die am Abend dieselbe Runde durch ein paar Lokale machten wie er. Von dort war es nicht weit zur Campari Bar in der Seitzergasse.

„Am vergangenen Donnerstag in der ,Campari Bar‘ in der Wiener Innenstadt zwischen 17 und 18 Uhr. Christian Pilnacek saß dort. Er traf sich mit einem bekannten Wiener Anwalt, tauschte sich mit ihm aus. Ich saß drei Tische weiter, zeitunglesend.“13 Das schrieb Oliver Pink im Presse- Newsletter am 25. Oktober 2023. Der „vergangene Donnerstag“ war der 19. Oktober, der Tag vor Pilnaceks Tod.

Rechtsanwalt Elmar Kresbach erinnerte sich an das Gespräch mit dem Sektionschef. „Es war ein zufälliges Treffen. Pilnacek ist schon am Tisch gesessen, ich habe ihn gefragt, ob ich mich dazusetzen kann.“14 Das Gespräch kam auf Pilnaceks Probleme. „Er war kampfeslustig und hoffnungsvoll. Wenn mir ein Teuferl ins Ohr gesagt hätte: ,Elmar, der stürzt sich in ein paar Stunden ins Wasser‘, dann hätte ich gesagt: ,So ein Unsinn‘. Niemand, der ihn so gesehen hat, konnte auf diese Idee kommen.“

Danach kam Pilnacek an Pinks Tisch. „Er belehrte mich freundlich, was wir Journalisten in der Justizpolitik alles übersehen, nicht wahrnehmen, falsch einschätzen“, notierte Pink. „Pilnacek bedauerte im weiteren Gespräch, dass es nun niemanden mehr gebe, der den Journalisten die Politik des Justizministeriums erkläre. Wie er das getan habe.“

Vor dem Abschied fragte Pink den suspendierten Sektionschef, wie es ihm jetzt ginge. An die Antwort, die ihm Pilnacek gut gelaunt gab, erinnert er sich noch heute: „Bei mir ist das Glas halb voll.“

Von der Campari Bar kam Pilnacek zurück in die Wallnerstraße ins Restaurant Regina Margherita im Palais Esterházy. Ex-FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus begrüßte ihn dort. Auch Gudenus bestätigte, dass es Pilnacek gut ging, und er ließ es sich, wie auch im Regina Margherita beobachtet wurde, gut gehen.

Später verließ Pilnacek das Lokal. Er hatte einiges getrunken. Mit Pilnacek saß eine Tochter seiner Ehefrau Caroline List am Tisch. In einem Telefonat mit Chefinspektor Hannes F. vom Landeskriminalamt Niederösterreich gab sie acht Tage später zu Protokoll, sie „habe Mag. Pilnacek zuletzt am Abend des 19.10.2023 persönlich um ca. 19:00 Uhr in einem Lokal in 1010 Wien, wie zuvor vereinbart, getroffen. Nach dem gemeinsamen Essen habe sie sich von Mag. Pilnacek um ca. 20:30 Uhr getrennt.“15 Der Chefinspektor ergänzte: „Über die weiteren Wege/Pläne des Mag. Pilnacek am 19.10.2023 konnte die Auskunftsperson keine Angaben machen.“ Vom Vormittag weg hatte er überall denselben Eindruck hinterlassen: den eines Menschen, der vom guten Ausgang seiner Verfahren überzeugt war.

Ein Termin kam nicht mehr zustande. Der deutsch-kanadische Unternehmer Wolfgang Rauball schrieb seinem Freund Christian Pilnacek noch an diesem Abend aus Berlin: „Lieber Herr Pilnacek, mein Meeting mit Heinz S., Patrick B. und Heinrich K. war hervorragend. Mein Rückflug nach Wien kommt erst um 21.20 Uhr in Wien an, zu spät für ein Glaserl im Cavaa. Ich erzähle Ihnen alles morgen. Herzliche Grüsse Ihr WR“.16

Heinz S. war Gründer und Aufsichtsratschef eines der größten Rohstoffhandelsunternehmen Deutschlands, Patrick B. einer seiner Vorstände. Im Laufe der Jahre hatte Rauball Pilnacek immer mehr in seine Geschäfte eingebunden. Einen Tag vor seinem Tod hatten beide noch einiges geschäftlich miteinander vor. Die Finanzierung von Pilnaceks neuem Haus in Rossatz sollte laut Rauball auch auf diesem Weg sichergestellt werden.

An seinem letzten Abend in Wien scheint es Pilnacek besser als in den Monaten zuvor gegangen zu sein. Nur eines war er sicher nicht: uneingeschränkt fahrtüchtig.

aIl Cavalluccio, Pilnaceks Stammlokal in der Wiener Innenstadt

GEISTERFAHRT

Karin Wurm beschrieb Pilnacek als vorsichtigen Autofahrer: „Er hat ein Augenleiden gehabt und nicht mehr so gut gesehen. Daher ist er in der Nacht sehr ungern mit dem Auto gefahren.“

Gegen seine ursprüngliche Absicht beschloss Pilnacek, mit dem Auto Richtung Krems zu fahren. Warum? Was hatte an dem Abend zum Meinungsumschwung geführt? Warum wollte er auf die Stockerauer Schnellstraße S 5, obwohl er bereits zu viel getrunken hatte?

Bis kurz vor seiner Abfahrt deutete nichts auf einen plötzlichen Aufbruch hin. Keiner seiner Gesprächspartner erinnerte sich an eine Äußerung, die auf eine baldige Abfahrt aus Wien hindeutete.

Pilnacek besaß eine Jahreskarte für die Tiefgarage beim Museumsquartier. Von dort war er losgefahren und über die Donauuferautobahn A 22 bei Stockerau auf die S 5 Richtung Krems abgebogen.

Karin Wurm wusste nicht, dass Pilnacek auf dem Weg zu ihr war. „Die letzte WhatsApp schrieb ich ihm um 21.09 Uhr und ging anschließend zu Bett. Wo er nach dem Besuch der Botschaft war, kann ich nicht angeben. Ich habe auch nicht danach gefragt.“

Sein Verhalten war unüblich. „Bevor er am Abend mit der U3 nach Hause in die Ottakringer Straße gefahren ist, hat er mich angerufen und gesagt, dass er jetzt zur U-Bahn geht und mich später von zu Hause noch einmal anruft.“ Für Karin Wurm war der Abend des 19. Oktober 2023 der erste, an dem sie Pilnacek nicht anrief, um ihr zu sagen, dass er sich auf den Weg machte.

Geisterfahrt Richtung Wien

Um 22.31 Uhr wurde Pilnacek von zwei Streifen der API – Autobahnpolizeiinspektion – Stockerau in der Höhe von Tulln aufgehalten. Für die Fahrt dorthin benötigt man vom Wiener Stadtzentrum knapp vierzig Minuten. Pilnacek war also um etwa 21.50 Uhr von Wien losgefahren.

Seit Pilnaceks Tod wird gerätselt, warum der Sektionschef in dieser Nacht auf der S 5 Richtung Krems fuhr. Doch das entscheidende Detail spielte in der Untersuchung der Staatsanwaltschaft Krems keine Rolle. Pilnacek war offensichtlich eine halbe Stunde lang ganz normal auf der richtigen Fahrbahn der S 5 Richtung Krems gefahren. Doch bei seiner Geisterfahrt war Pilnacek nicht in Richtung Krems, sondern in die Gegenrichtung nach Wien unterwegs.

„Christian Pilnacek fuhr am 19.10.2023, zumindest in der Zeit von 22:14 Uhr bis 22:23 Uhr, auf der S 5 Richtungsfahrbahn Krems von zumindest Streckenkilometer 19 bis Streckenkilometer 7,5 als Geisterfahrer in Richtung Stockerau.“17 Das hielt der Abschlussbericht der API Stockerau am 21. Oktober 2023 fest.

In der Anzeige, die gegen Pilnacek bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten eingebracht wurde, findet sich derselbe Sachverhalt: „Der Lenker fuhr am 2. Fahrstreifen neben der Betonmittelleitwand entgegen der Fahrtrichtung in Richtung Stockerau“.18

Der erste von 13 Anrufen wegen des Geisterfahrers auf der S 5, der die Polizei erreichte, kam um 22.14 Uhr bei Streckenkilometer 19. Gleich dahinter liegt die Abfahrt Königsbrunn am Wagram. Dort oder bei einer der beiden Abfahrten wenige Kilometer weiter dürfte Pilnacek abgefahren sein und umgedreht haben. Im Gegensatz zu den Wiener Donauufer-Autobahnauffahrten ist es dort leicht möglich, falsch in die Schnellstraße einzubiegen.

In der Anzeige, die die Landesverkehrsabteilung der niederösterreichischen Polizei am 20. Oktober 2023 erstattete, kam Pilnacek kurz zu Wort: „Ich fuhr in Wien aus der Garage beim Museumsquartier weg und wollte nach Rossatz, ich bin den Ansagen des Navis gefolgt. Wo ich falsch auf die Autostraße aufgefahren bin kann ich nicht sagen, ich war mir dessen nicht bewusst. Mir kam es allerdings eigenartig vor, dass mich viele entgegenkommende Fahrzeuge anblendeten.“19

Zwei Fragen wurden dem Sektionschef nicht gestellt: Warum ist Pilnacek spontan spät in der Nacht in betrunkenem Zustand ins Auto gestiegen und bis kurz vor Krems auf der S 5 gefahren? Warum hat er dort plötzlich umgedreht und ist auf der falschen Fahrbahn in die Gegenrichtung nach Wien gefahren?

Zu wem wollte Pilnacek ursprünglich fahren? Es ist denkbar, dass er Karin Wurm überraschen wollte und auf dem Weg nach Rossatz war. Es scheint aber auch möglich, dass er von vornherein ein anderes Ziel hatte.

Der Grund für das Umdrehen kurz vor Krems konnte nichts mit Karin Wurm zu tun haben. Hatte jemand Pilnacek während der Fahrt angerufen und einen vereinbarten Treffpunkt geändert? Oder wollte ihn jemand, mit dem er in den Stunden zuvor keinen Kontakt hatte, dringend in Wien treffen?

Hätten sich Staatsanwältin oder Kriminalpolizisten nur eine dieser Fragen gestellt, wäre der nächste Schritt unausweichlich gewesen: die Auswertung von Pilnaceks Handy. Dort hätte sie die Nummer und vielleicht auch Nachrichten von Sebastian Kurz gefunden – und wohl auch von anderen Personen.

Der Bericht der API Stockerau wurde im Kremser Akt abgelegt. Der Geisterfahrer, der in die falsche Richtung unterwegs war, interessierte die Ermittler in Krems und St. Pölten nur kurz. Das Schicksal des Ermittlungsakts stand gemeinsam mit der Todesursache bald fest.

Nach der Führerscheinabnahme versuchte Pilnacek sofort, Karin Wurm in Rossatz anzurufen: „Ich bekam dann 3 Sprachanrufe, welche ich nicht gehört habe, da ich mein Mobiltelefon auf Flugmodus geschalten hatte. Diese Anrufe waren um 22.47, 22.48, 22.56 Uhr.“ Aber Wurm rechnete nicht mit Pilnacek: „Christian wäre grundsätzlich erst am heutigen Tag, also dem 20.10.2023 nach 20:00 Uhr wieder nach Rossatz gekommen. Ich dachte, dass Christian in Wien bleibt, da ich wusste, dass er am nächsten Tag viele Termine in Wien zu erledigen hat.“20

HILFE VON DER ÖVP

„Viele Termine“ – das deutet darauf hin, dass Pilnacek in den folgenden Tagen einiges vorhatte. Darunter könnte sich auch das Gespräch mit Herbert Kickl befunden haben.

Im Herbst 2023 war Pilnacek nicht mehr der mächtige Sektionschef, der alles unter Kontrolle hatte, sondern ein suspendierter Beamter, der sich viele Fragen stellte. Christian Mattura und Wolfgang Rauball, die bei der verdeckten Tonaufnahme neben ihm saßen, waren nicht die Einzigen, vor denen Pilnacek im Cavalluccio mit seinem Schicksal haderte. Der Sektionschef hatte vieles für viele getan – und fragte sich, warum ihm seit seiner Suspendierung niemand half. Pilnacek fühlte sich im Stich gelassen.

Pilnaceks Witwe Caroline List bestätigte in ihrer Vernehmung, „dass er auch mir gegenüber immer wieder gesagt hat, dass keiner zu ihm hält. Die ganze Justiz hat geschwiegen oder mitgemacht oder war führend daran beteiligt.“21

Warum erwartete sich Pilnacek Hilfe von der ÖVP? Für List schien das klar: „Aus meiner Sicht war es in dieser Situation nur allzu verständlich, dass er sich an den Koalitionspartner ÖVP gewendet hat, schließlich konnte er sich weder von der Ministerin, die ihn zu Unrecht so lange suspendiert hielt, noch von der Opposition irgendeine Hilfestellung erwarten.“22

In der letzten Nacht wird das kaum anders gewesen sein. Seit seiner Führerscheinabnahme wusste Pilnacek, dass er damit ein weiteres Strafverfahren zu befürchten hatte. Hilfe konnte für Pilnacek nur von seinen Verbündeten in der Justiz, im Innenministerium und von der ÖVP kommen. Nur dort saßen die Personen, die ein Verfahren „daschlogn“ und Pilnaceks Problem lösen konnten.

Pilnacek geht

Karin Wurms Mitbewohnerin Anna P. schilderte der Kriminalpolizei, wie sie Pilnacek am 19. Oktober 2023 kurz vor Mitternacht vom Parkplatz bei Tulln abgeholt und nach Rossatz gebracht hatte: „Um 22:56 Uhr hat mich Christian auf meinem Mobiltelefon angerufen; er sagte, dass er Karin nicht erreichen konnte. Er teilte mir mit, dass ihm die Polizei soeben den Führerschein abgenommen habe und dass er bei der Abfahrt Tulln im Bereich der SB-Tankstelle stehen würde. Er ersuchte mich, dass ich ihn von dort abholen solle.“

Anna P. informierte Karin Wurm. „Ich habe dann Karin geweckt und ihr vom Telefonat erzählt. Ich bin dann in mein Auto gestiegen und habe mich in Richtung Tulln begeben. Am angeführten Ort ist Christian gestanden und war in Begleitung von 2 Zivil-Polizisten und 2 Uniformierten. Sein Auto musste er dort stehen lassen. Nach kurzer Diskussion übergaben die Polizisten mir den Autoschlüssel und ich sagte, dass ich mit Christian sofort nach Hause fahren werde.“23

Bei ihrer Einvernahme erklärte Anna P., dass Pilnacek auf dem Weg nach Rossatz über sein Handy Nachrichten versandte: „Während der Fahrt hat er noch mit irgendjemanden via Telefon geschrieben.“24 Auch jetzt machte Pilnacek nicht den Eindruck eines Menschen, der sich das Leben nehmen wollte. Anna P. hielt fest, „dass er keine Selbstmordgedanken geäußert und auf mich auch nicht depressiv gewirkt hat. Er war nur ,angefressen‘ über die Führerscheinabnahme.“25

In ihrer Einvernahme berichtete Karin Wurm, wie es weiterging: „Er hat mich nicht einmal gegrüßt, hat sich was zum Trinken, eine noch halb volle Flasche Prosecco, aus dem Kühlschrank genommen und hat sich auf die Terrasse gesetzt und eine nach der anderen geraucht.“26

Pilnacek versandte weiterhin Nachrichten. „Er hat wie wild geschrieben am Handy, ich habe ihm noch gesagt, dass er mit mir reden soll, dass ich hinter ihm stehe und dass man das mit Medienberichten darüber schon aushalten werde. Er hat aber nicht mit mir gesprochen, hat sich weggedreht von mir. Ich weiß nicht, mit wem er geschrieben hat. Mit P. hat er auch nicht gesprochen, wir sind dann nach den erfolglosen Versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, schlafen gegangen.“27

Am nächsten Morgen stellten Karin Wurm und Anna P. fest, dass Christian Pilnacek nicht zu Hause war.

2. TOD AM ALTARM

DIE STUNDE DER HAUSÄRZTIN

„Bei meinem Eintreffen waren sicher schon 20 Personen am Ort, wo die Leiche lag. […] Man teilte mir mit, dass er im Wasser mit dem Gesicht nach oben war. Ich sah auch gleich, dass es sich bei der Leiche um Mag. Christian Pilnacek handelte.“28 So schilderte die Rossatzer Gemeindeärztin Dagmar W. ihren Morgen des 20. Oktober 2023.

Um 9.20 Uhr war Dagmar W. am nördlichen Rand der Wachauer Gemeinde Rossatz am Altarm der Donau eingetroffen. In 23 Jahren als Amtsärztin hatte sie in zahlreichen Fällen die Totenbeschau durchgeführt. Doch bei Pilnacek war etwas anders, und die Ärztin wurde stutzig: „Eine Todesursache war für mich nicht erkennbar. Ich sagte zu den anwesenden Polizisten, dass ich eine gerichtliche Obduktion benötige. Ich stieß damit auf massiven Widerstand. Damit meine ich, dass mir von zwei bis drei männlichen Polizisten (ob zivil oder Uniform kann ich nicht mehr sagen) Druck gemacht wurde.“

Die Beamten stellten sich quer: „Sie sagten mir, dass ich dazu nicht berechtigt wäre und dass man einen Notarzt holen würde. Ich teilte ihnen mit, dass ich Notärztin bin und gerade ich berechtigt bin eine Obduktion anzuregen.“29

Den Kriminalbeamten blieb keine Wahl. Sie nahmen zu Protokoll: „Die Todesfeststellung durch Dr. W. erfolgte mit 20.10.2023, 09:30 Uhr. Dr. W. regte die Obduktion an, da eine Todesursache nicht eindeutig festgestellt werden konnte.“30 Mit diesem Satz kam alles, was möglicherweise vor Ort verhindert werden sollte, ins Rollen.

Als die Meldung über den unklaren Todesfall bei der Staatsanwaltschaft Krems ankam, war sofort klar, dass kein Weg an einer Obduktion vorbeiführte: „Der Leichnam wurde somit nicht freigegeben.“31

Mehr als ein Jahr später verfestigt sich der Eindruck: Ohne die Beharrlichkeit der Gemeindeärztin hätten die Ermittlungen nur wenige Stunden gedauert. Bis zu ihrem Eintreffen schien das Schicksal des Verfahrens „Pilnacek“ festzustehen: Es wäre gleich am Fundort des Leichnams abgedreht worden.

Die Hoffnung, die Ursachen und Umstände des Todes von Christian Pilnacek würden mit allen Mitteln von Kriminalpolizei und Gerichtsmedizin aufgeklärt werden, erfüllte sich dennoch nicht.

PILNACEKS TOD

Gegenüber von Dürnstein, auf der anderen Seite der Donau, liegt der kleine Winzerort Rossatz. Im Oktober 2023 wohnte in einem der Häuser, die dem angrenzenden Altarm der Donau am nächsten liegen, Karin Wurm. In den Berichten der niederösterreichischen Kriminalpolizei und der WKStA wird Wurm als Pilnaceks „Lebensgefährtin“ bezeichnet.32

In ihrer Einvernahme für die WKStA erinnerte sich Wurm an das erste Zusammentreffen mit Christian Pilnacek: „Wir haben uns am 14. Juni 2023 kennengelernt im Cavalluccio. […] Ab diesem Abend hatten wir täglich Kontakt, er war dann bald bei mir in Rossatz eingezogen, von da an jeden zweiten Tag. Sonst war er in Wien in seiner Wohnung im 16. Bezirk.“33

Vom Haus führt eine kurze asphaltierte Straße vorbei am Musikverein zu einem Parkplatz neben den Tennisplätzen. Von dort kommt man auf einem Feldweg in einem großen, zuerst nach rechts gebogenen „S“ zu einem rot-weiß gestrichenen Schranken. Gleich dahinter biegt der Güterweg als Treppelweg rechts entlang eines Altarms zu dessen Einmündung in die Donau ab.

Am Morgen des 20. Oktober 2023 sah ein Baggerfahrer der Via Donau GmbH, dass ein Körper leblos im Wasser trieb. Er alarmierte die Polizei.

Die Via Donau GmbH betreut die Hochwasserschutzdämme an Donau, March und Thaya. Früh am Morgen hatte ihr LKW mit dem Transport von Material am Treppelweg, dem geschotterten Güterweg am südlichen Ufer des Altarms, begonnen. Über das Südufer ragt eine begrünte Böschung schräg auf zum Treppelweg, der den Altarm von einem Obstgarten trennt. Der Bagger arbeitete an der Sanierung der Böschung des Altarms.

Die „offensichtliche Wasserleiche“, wie es der Baggerfahrer in seinem Notruf gemeldet hatte, war Christian Pilnacek, der mächtigste Mann der österreichischen Strafjustiz. Um 9.30 Uhr stellte Dagmar W. als Notärztin seinen Tod fest und begann mit der Totenbeschau.

SELBSTMORD

Der Erste, der schon nach wenigen Stunden öffentlich die Todesursache präsentierte, war Altkanzler Sebastian Kurz: „Am heutigen Tag ist es vor allem der Tod von Christian Pilnacek, der mich extrem betroffen macht. Ich habe gestern Abend noch mit ihm telefoniert und wenige Stunden später hat er sich das Leben genommen.“34 Für den Ex-Kanzler war es „irgendwie fast unbeschreiblich, dass ich wenige Stunden vor seinem Tod mit ihm noch telefoniert habe“.

Pilnacek-Witwe Caroline List erhielt einen Kondolenz-Anruf des Altkanzlers. Sie erinnerte sich bei ihrer Einvernahme in der WKStA: „Ich habe Kurz gegenüber jedenfalls im Zuge des Anrufes gefragt, wie er öffentlich behaupten könne, dass Christian Selbstmord begangen habe. Das war zu diesem Zeitpunkt für mich nicht vorstellbar. Christian hat mir gegenüber immer wieder gesagt, dass Selbstmord für ihn keine Lösung sei und nicht in Frage komme.“35

An diesem 20. Oktober stand Sebastian Kurz zum ersten Mal als Angeklagter vor Gericht. Staatsanwalt Gregor Adamovic von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) warf ihm falsche Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss vor. Kurz hatte sich vom suspendierten Justiz-Sektionschef Pilnacek geheim beraten lassen, aber Pilnaceks Rat, so viel wie nötig zuzugeben und den Richter mit einem „kleinen Geständnis“ um eine Diversion zu bitten, in den Wind geschlagen. Monate nach Pilnaceks Tod sollte sich mit der Verurteilung von Kurz herausstellen, dass der erfahrene Jurist Pilnacek recht gehabt hatte.

Kurz war nicht der Einzige, für den „Selbstmord“ sofort feststand. Wie in anderen Parteien war es auch in der ÖVP üblich, für die abgestimmte Reaktion auf überraschende Ereignisse intern „Sprachregelungen“ auszugeben. Am Nachmittag des 20. Oktober 2023 hieß die Sprachregelung „Selbstmord“. Sie ermöglichte eine Geschichte, die in die große Erzählung der ÖVP passte: Wie andere sei auch Pilnacek Opfer einer Hetze eines Netzwerks von Staatsanwälten, Journalisten und Politikern geworden, die nur ein Ziel hatten: der ÖVP zu schaden.

Nach dem Ende ihrer „Ermittlungen“ übernahm die Staatsanwaltschaft Krems die Sprachregelung der ÖVP. In der Presse ließ Staatsanwalt Franz Hütter keine Frage offen: „Ein Suizid, wie er klarer nicht sein könnte. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen“.36 Damit war die Sache für viele erledigt.

Kurzer Prozess

Staatsanwaltschaft Krems und Landeskriminalamt Niederösterreich hatten mit dem „Fall Pilnacek“ kurzen Prozess gemacht, obwohl wenige Stunden nach dem Tod des Sektionschefs niemand die Todesursache kennen konnte.

Monate später stellte sich heraus, dass in den Stunden nach Pilnaceks Tod nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Fast gleichzeitig erstatteten Martin Kreutner als Vorsitzender der Pilnacek-Untersuchungskommission und Karin Wurm Strafanzeigen wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs im Bereich des Landeskriminalamts Niederösterreich. Mit der WKStA nahm im März 2024 zum ersten Mal eine Staatsanwaltschaft ernsthafte Ermittlungen zum „Kriminalfall Pilnacek“ auf.

Niederösterreichische Staatsanwälte und Kriminalpolizisten bleiben bis heute dabei: Christian Pilnacek hat sich zweifelsfrei das Leben genommen. Ihre eigenen Ermittlungen und ein gerichtsmedizinisches Gutachten aus Wien lieferten ihnen dafür keinen einzigen Beweis.

Wer den „Fall Pilnacek“ klären will, muss hier ansetzen. Welche Spuren sind am Tatort und bei der Obduktion gesichert worden? Welche sind übersehen worden, und welche wurden verwischt?

Um das zu klären, haben sich zwei Gerichtsmediziner unabhängig voneinander den Fall noch einmal angesehen. Dr. Stefano Longato lehrt als gerichtsmedizinischer Sachverständiger in Innsbruck. Prof. Dr. Michael Tsokos leitete lange die Gerichtsmedizin am Berliner Krankenhaus Charité und arbeitet heute als Direktor des Landesinstituts für gerichtliche und soziale Medizin Berlin. Ihre Stellungnahmen und Gutachten helfen, Licht ins niederösterreichische Dunkel zu bringen.

Einige Spuren, die damals nicht gesichert wurden, sind heute verwischt. Aber vieles lässt sich auch mehr als ein Jahr nach Pilnaceks Tod rekonstruieren. Die erste Frage richtet sich nicht nur an die, die den Akt vorschnell geschlossen haben: Hat Christian Pilnacek am 20. Oktober 2023 Selbstmord begangen?

Selbstmord, was sonst?

Anna P. wohnte gemeinsam mit Karin Wurm im Haus in Rossatz. Von dort pendelte sie jeden Tag nach Wien in ihr Büro bei Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Daneben arbeitete sie zeitweise für das Alois-Mock-Institut in St. Pölten, wie Sobotka dem ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss berichtete.37

Wenige Stunden nach Pilnaceks Tod berichtete Anna P. der Kriminalpolizei: „Ich gehe davon aus, dass er gestern eine Kurzschlusshandlung gemacht hat.“38

„Ich habe von der Handynummer des Christian Pilnacek, nämlich der Nummer 0676/xxx, am 19.10.2023 um 23:24 Uhr eine SMS erhalten. Inhalt lautet: Verkehrskontrolle mit einem Emoji (Affe mit zugehaltenen Augen). Eine zweite SMS bekam ich um 23:44 Uhr. Inhalt: Bin fertig und kann nicht mehr, alles Liebe.“39 Das gab Pilnaceks Freund Ulrich W. am 29. November 2023 bei seiner Einvernahme an.

Doch warum hätte sich Pilnacek das Leben nehmen wollen? Was könnte den „Kurzschluss“ ausgelöst haben?

Geisterfahrer

13 Notrufe waren ab 22.14 Uhr in der Nacht des 19. Oktober 2023 bei der Polizei eingelangt, bis diese den Geisterfahrer auf der S 5 in der Nähe von Tulln stoppen konnte. Um 22.23 Uhr war Christian Pilnaceks Geisterfahrt zu Ende. Pilnaceks Fahrzeug wurde beim Park-&-Ride-Parkplatz bei der Abfahrt Tulln abgestellt.40

Die Beamten begannen mit der Untersuchung der Geisterfahrt: „Mit Mag. Christian Pilnacek wurde ein Alkomattest durchgeführt, positives Ergebnis 0,72 mg/L, der Führerschein wurde Mag Pilnacek um 22:55 Uhr vorläufig abgenommen und der BH Tulln am nächsten Tag vorgelegt, die Weiterfahrt wurde ebenfalls um 22:55 Uhr untersagt und der Fahrzeugschlüssel abgenommen.“41

Eine halbe Stunde später kam Hilfe für Pilnacek. Um 23.41 Uhr holte Anna P. ihn ab.

Die Autofahrt von Tulln nach Rossatz dauert rund 35 Minuten. Pilnacek dürfte am 20. Oktober 2023 kurz vor 0.30 Uhr bei Karin Wurm in Rossatz eingetroffen sein.

Der letzte Weg

Der „Selbstmord“ lässt sich rekonstruieren: Christian Pilnacek verließ gegen ein Uhr Früh das einstöckige Einfamilienhaus in Rossatz, das Karin Wurm gemietet hatte. Ein Weg führte von Wurms Haus vorbei am Tennisplatz zum Altarm.

Zwei Polizeibeamte aus Mautern protokollierten: Es „konnte, gegenüberliegend der Auffindungsörtlichkeit, die vermutliche Einstiegsstelle lokalisiert werden. An der Uferkante, Uferbank etwa 4 Meter unterhalb des Zugangsweges liegend, konnten Schuhspuren und eine Zigarettenpackung (CAMEL) wahrgenommen werden.“42

Kontrollinspektorin Barbara S. aus Mautern hatte vor ihnen noch mehr gesehen: „Ich ging die Einstiegsstelle suchen und fand im Flussbett mehrere Zigarettenstummeln und Schuhabdruckspuren. Dies teilte ich den Kriminalbeamten mit.“43 Die Mitteilung blieb folgenlos. Niemand kümmerte sich um die Zigarettenstummel, die DNA an ihren Filtern, um mögliche Schuhabdruckspuren im Flussbett und damit um die Frage, wie lange und mit wem sich Pilnacek direkt am Wasser aufgehalten haben dürfte.

Die Einstiegsstelle

In ihrem Tatortbericht setzten die Beamten aus Weißenkirchen fort: „Aufgrund den aufgefunden Schuhspuren nahe der Auffindestelle der Leiche konnte der Weg bis zur Einstiegsstelle rekonstruiert werden. Pilnacek dürfte vom Treppelweg ca. 10 Meter zum Ufer des Seitenarmes der Donau (ca. 2 Meter Höhenunterschied) gestiegen sein.“44

Es lohnt sich, anhand der spärlichen kriminalpolizeilichen Aufzeichnungen Pilnaceks letzte Meter nachzugehen. Der Weg führt vom Haus über den Parkplatz zum Feldweg, der zwischen Apfel- und Birnbäumen am Schranken endet. Wer dort den Treppelweg quert, steht auf einer kleinen, sandigen Fläche, über die man rechts durch dichtes hüfthohes Gras zu der Stelle, die die Beamten als Pilnaceks letzten Ort an Land markiert haben, absteigt.

Eines steht in keinem Bericht: Wendet man sich nicht nach rechts, sondern geht man wenige Schritte weiter, steht man an einer Kante. Direkt darunter ragt ein dickes Abflussrohr aus der Böschung. Die Wand, die es umrahmt, besteht aus den gleichen unbehauenen Steinen wie die kleine Uferfläche unter dem Rohr. Wer hier einen Schritt zu weit macht, stürzt genau auf diese Steine. Viele Gerichtsmediziner wissen: Niemand begeht mit einem Sturz in zwei Meter Tiefe Selbstmord.

Pilnacek hat den Ort gut gekannt. Er wusste, was ein Schritt zu weit bedeutet. Nehmen wir an, Christian Pilnacek ist ganz allein auf das steinige Ufer gestürzt. Einige Verletzungen wie die offene Wunde an der Stirn und der knochentiefe Bluterguss an der Rückseite des rechten Oberschenkels könnten damit erklärt werden. Aber einige andere Spuren passen nicht in dieses einfache Muster.

Was ist im Falle eines Sturzes weiter geschehen? Deuten die Abschürfungen an den Unterschenkeln darauf hin, dass sich Pilnacek rund zehn Meter nach rechts, wo das Ufer ein paar Meter flach in den Altarm hineinreicht, geschleppt hat? Ist er dort wieder aufgestanden, hat zu seiner letzten Camel gegriffen, die leere Schachtel weggeworfen und seine letzten Fußspuren hinterlassen? Hat er sich dann ins ruhige Flachwasser gestürzt?

Und: Warum fanden sich unter dem Rohr und auf den zehn Metern, die von dort zur kleinen, sandigen Landzunge führen, weder Spuren von Blut noch Schleif- oder Gehspuren?

Stilles Wasser

Die nächste Frage lautet: Wie tief war das Wasser, in dem Pilnaceks Körper trieb? Einen Monat nach Pilnaceks Tod hatte Chefinspektor Hannes F. längst Selbstmord festgestellt. Am 22. November 2023 hielt er in einem Aktenvermerk fest, dass er mit einem Vertreter von Via Donau wegen der Wassertiefe telefoniert hatte. Von DI Bernhard K. erfuhr er: „Der dortige Bereich weist variable Wassertiefen zwischen ca. 1 bis 2 Meter auf, die jedoch aufgrund verschiedener Faktoren (Jahreszeit, insbesondere Wasserführung der Donau, etc.) variieren.“45

Ein Polizist, der als Feuerwehrmann im Einsatz war, schilderte im Abschlussbericht der Kriminalpolizei „dass er in der Wathose bis zum Bauch bzw-Brustbereich im Wasser stand, dann nicht mehr weitergehen konnte und die Bergung mittels eines ca. 4,5 Meter langen Schiffshaken durchgeführt wurde“.46 Das stimmte mit den Auskünften von Via Donau überein.

Der Tatortbericht beschreibt die „Tatörtlichkeit im Freien“: „Sehr geringe Strömung da Seitenarm der Donau, Witterung bewölkt ca. 12 Grad“47. Ein Ortskundiger wandte sich am 18. März 2024 mit einer Anzeige an die Pilnacek-Kommission: „Wie in den Medien steht, soll Herr Pilnacek ertrunken sein. Dazu möchten wir festhalten, dass wir alle aus der Gegend wissen: das Wasser im Neuen Gerinne war zu diesem Zeitpunkt nach einer längeren Trockenperiode ausgesprochen seicht. In normalen Jahren hat es dort gerne 2 m Wassertiefe. Mitte Oktober letzten Jahres, zum Todeszeitpunkt, waren mitten im Gerinne aber sogar Sandbänke ausgeapert. Jeder konnte das sehen, der dort spazieren gegangen ist. Es ist für uns und viele Einheimische unerklärlich, dass ein erwachsener Mensch sich diese Stelle aussucht, wenn er Selbstmord begehen möchte, wo doch drei Minuten weiter die Donau fließt.“48

In keinem einzigen Dokument von Staatsanwaltschaft Krems und Landeskriminalamt Niederösterreich findet sich eine Beschreibung des Hergangs, der zum Selbstmord geführt habe. Was hätten die Beamten auch schreiben sollen?



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