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"Ostfriesenzorn" - der 15. Band der Ostfriesenkrimi-Serie mit Kommissarin Ann Kathrin Klaasen von Nummer-1-Bestsellerautor Klaus-Peter Wolf und eine Ermittlung, die so nie hätte geführt werden dürfen. Sie will Urlaub machen auf Langeoog und in den Dünen entspannen. Doch ihr Schicksal ist längst besiegelt. Denn der Mörder weiß genau, wo er sie am Abend finden und ihr den Weg in die Ewigkeit zeigen wird. Astrid Thoben ist das erste Opfer eines Serientäters, der noch weitere Frauen im Visier hat. Bei ihren Ermittlungen erhält Ann Kathrin Klaasen unerwartet Hilfe von einem alten Bekannten aus dem Knast: Dr. Bernhard Sommerfeldt. Der Mörder wolle ihm beweisen, dass er der Geschicktere sei. Eine Finte, um aus dem Gefängnis zu kommen? Oder ein ehrliches Hilfsangebot? Für Ann Kathrin stellt sich eine hoch moralische Frage: Kann sie die Hilfe eines verurteilten Mörders annehmen, um Leben zu retten? »Ein begnadeter Erzähler und genialer Schreiber, der seinen Figuren wunderbar Tiefe verleiht.« Rolf Kiesendahl/Sylvia Lukassen/WAZ
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Klaus-Peter Wolf
Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen
Der 15. Ostfriesenkrimi – Ann Kathrin Klaasen und eine Ermittlung, die so nie hätte geführt werden dürfen
Sie will Urlaub machen auf Langeoog und am Strand entspannen. Dabei ist ihr Schicksal längst besiegelt. Denn der Mörder weiß genau, wo er sie später am Abend finden und ihr den Weg in die Ewigkeit zeigen wird. Sie ist das erste Opfer, weitere werden folgen. Bei ihren Ermittlungen erhält Ann Kathrin Klaasen unerwartet Hilfe von Dr. Bernhard Sommerfeldt. Eine Finte oder ein ehrliches Hilfsangebot?
Liebe Leserinnen und Leser,
das im Roman beschriebene ›Upskirting‹, also heimlich unter den Rock zu fotografieren, ist jetzt endlich strafbar (§ 184 k StGB). Das war bis vor Kurzem anders. Noch als ich am Roman schrieb, empörten sich junge Frauen bei mir, weil man ihnen mit dem Handy unter den Rock fotografiert hatte. Laut Aussage der Polizei sei das zwar eine Unverschämtheit gewesen, aber nicht strafbar. Jetzt kann dieses Vorgehen mit einer Strafe von bis zu zwei Jahren geahndet werden.
Ihr
Klaus-Peter Wolf
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt gemeinsam mit seiner Frau, der Kinderbuchautorin Bettina Göschl, als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, in derselben Straße wie seine berühmte Kommissarin Ann Kathrin Klaasen.
Seine Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, in 26 Sprachen übersetzt, und über 13 Millionen mal verkauft. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Für seinen Roman »Ostfriesenhölle« (Februar 2020) erhielt Spiegel-Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf den Media Control Award für das meist verkaufte Buch im ersten Halbjahr 2020.
Mehrere Bände der Serie mit Ann Kathrin Klaasen wurden bereits prominent fürs ZDF verfilmt, weitere werden folgen. Sie finden und begeistern ein Millionenpublikum.
[Zitate]
Der Mörder war barfuß...
Ann Kathrin Klaasen lag im Bett...
Es war merkwürdig still...
Rupert und Jessi lieferten...
Polizeikommissaranwärter Linhart Löblein freute sich...
Er hatte keine Zeit mehr...
Leseprobe Ostfriesensturm
Leseprobe Rupert Undercover
Klaus-Peter Wolf und Bettina Göschl im Interview
»Weil wir uns ständig beobachtet und bewertet fühlen, laufen wir völlig verkrampft durchs Leben. Sind nicht wir selbst, sondern wer wir in den Augen anderer sein sollten. Deshalb riskieren wir nichts mehr. Mir stinkt das.«
Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen, Kripo Aurich, Mordkommission
»Wir sind uns sehr ähnlich, Frau Klaasen.«
Dr. Bernhard Sommerfeldt, Serienkiller
»Man muss die Schuld auch mal bei anderen suchen.«
Hauptkommissar Rupert, Kripo Aurich, Mordkommission
Der Mörder war barfuß. Er lag im Dünengras und sah belustigt bei den Dreharbeiten zu. Die Frau, die er noch heute Nacht töten würde, stand lächelnd vor einer Kamera. Wenn das kein Zeichen war …
Judith Rakers wurde überall erkannt. Schließlich kam sie als Tagesschausprecherin und Moderatorin abends in fast alle Wohnzimmer. Sie war freundlich und hatte heute schon für gut ein Dutzend Selfies posiert. Auch Astrid Thoben wurde jetzt von einigen Touristen für eine Berühmtheit gehalten, vielleicht, weil sie dachten, ein Mensch, der mit solchem Aufwand in Szene gesetzt wurde, müsse einfach bekannt sein.
Astrid gab das erste Interview ihres Lebens und fühlte sich wohl dabei. Sie hatte nicht damit gerechnet, von Judith Rakers angesprochen zu werden. Überhaupt war an diesem Tag vieles ganz anders verlaufen, als sie vermutet hatte. Eigentlich wollte sie die Insel mit dem Rad erkunden. Und zwar allein!
Jetzt stand sie am Flinthörn. Zwei Kameramänner und ein ganzes Filmteam wuselten um sie herum.
»Die sind gar nicht da«, hatte Judith zu ihr gesagt und sie dabei so selbstverständlich angeguckt, als seien die beiden tatsächlich alleine miteinander. Schon nach wenigen Augenblicken sprach Astrid ungezwungen und kümmerte sich nicht mehr um die Kameras.
Sie unterhielten sich jetzt wie zwei Frauen, die sich gerade kennengelernt hatten und neugierig aufeinander waren. Der Nordwestwind blies heftig in ein Lichtsegel, das von zwei jungen Männern kaum gehalten werden konnte. Judiths und Astrids Haare flatterten.
Für einige Touristen war es der Höhepunkt ihres Urlaubs, die Dreharbeiten beobachten zu können. Die beiden Frauen vor dieser zauberhaften Kulisse waren eine Augenweide und animierten so manchen Familienpapi, Fotos zu machen, auf denen nicht nur Möwen oder Sonnenuntergänge zu sehen waren.
Inge Schmelzin, die seit fünfzehn Jahren immer wieder auf Langeoog Urlaub machte, zeigte auf Astrid und erklärte ihrer sechzehnjährigen Tochter Annika: »Das ist eine ganz bekannte Schauspielerin. Ich komm bloß gerade nicht auf ihren Namen. Die hab ich schon im letzten Jahr auf der Insel gesehen. Die kauft auch bei Remmers morgens ihre Brötchen ein.«
Annika Schmelzin gab ihrer Mutter sofort recht, hatte dabei aber diesen typischen spöttischen Ausdruck im Gesicht: »Ja, Mama, ich hab die bei Vier Beaufort getroffen. Die hat diesen lässigen Hoodie mit einer Muschel drauf bekommen. Weißt du, das Teil, das Papa zu teuer war.«
Inge Schmelzin machte eine abfällige Handbewegung: »Hoodie! Wenn ich das schon höre! Das heißt Kapuzenpullover. Ich kann diese Inflation der englischen Ausdrücke nicht ab.«
Die beiden bemerkten nicht, dass jemand hinter ihnen im Gras lag und sich weder wirklich für die Dreharbeiten interessierte noch für den gigantischen Meerblick. Er knipste nicht Judith im Gespräch mit Astrid, sondern er hielt sein Handy tiefer, so dass er unter Inges und Annikas Röcke fotografieren konnte.
Die zwei liefen weiter vor. Sie wollten nicht nur zuschauen, sondern auch zuhören. Ein Tontechniker hielt die Angel mit dem Mikro zu tief, so dass es von oben ins Bild rutschte. Die Szene musste wiederholt werden.
Niemand beachtete Marco Zielinski. Er sah sich die Aufnahmen auf seinem Display an. Er war noch nicht ganz zufrieden. Das Bild vom Po der Tochter gefiel ihm besonders gut. Sie trug einen ganz normalen weißen Slip. Vermutlich billige Kaufhausware. Eine Hälfte war fast vollständig in ihre Arschritze gerutscht. Das fand er viel geiler als ständig diese öden Stringtangas.
Bei der Mutter konnte er auf dem Bild kaum etwas erkennen. Ihr Minirock war eine Spur zu lang, und der Winkel stimmte nicht. Er hatte nur ihre rechte Kniekehle erwischt und einen Teil vom Oberschenkel. Der Rest lag im Schatten.
Zielinksi versuchte sein Glück erneut. Mutter und Tochter an einem Tag abzuschießen, das war schon ein ganz besonderes Glück. Dafür riskierte er gerne mehr als sonst.
Hier war es schwierig zu fliehen. Man konnte viel zu weit gucken. Sie standen praktisch auf der höchsten Erhebung im Südwesten der Insel. Egal wohin er abhauen würde, sie könnten ihn lange sehen und mit ihren Fahrrädern verfolgen.
Überhaupt war Flucht auf einer autofreien Insel für jeden eine sportliche Herausforderung, dachte er.
Er war schon mal in einem Kaufhaus in Siegburg die hochfahrende Rolltreppe abwärtsgelaufen, um sich zu retten. Rolltreppen waren lange Zeit sein Lieblingsjagdrevier gewesen. Rolltreppen und S-Bahnen. Besonders im Sommer.
Jetzt hatte er die ostfriesischen Inseln für sich entdeckt. Er liebte den Wind hier, wenn er den Frauen in die Kleider und unter die Röcke fuhr.
»Was meinen Sie damit, dieser Ort hat eine ganz besondere Magie?«, hakte Judith Rakers nach.
Astrid Thoben zuckte mit den Schultern, als hätte sie keine Ahnung. »Das kann man nicht erklären. Das muss man fühlen! Hier, so nah am Meer, mit der Sonne auf der Haut und der salzigen Luft, da fühle ich mich frei. Irgendwie ganz. Als sei ich ein Puzzlespiel aus vielen kleinen Teilen, das sich am Meer ganz von alleine wieder zusammensetzt.«
Judith lächelte. »Das haben Sie aber schön gesagt.«
Sie sah sich nach weiteren Gesprächspartnerinnen um. Inge und Annika Schmelzin gerieten in ihr Blickfeld, doch Inge winkte sofort ab. Sie hatte Angst, kein Wort herauszubekommen. Ihre Tochter dagegen hätte nur zu gern mitgemacht.
Annika schob ihre Mutter vorwärts: »Komm, sei kein Frosch, Mama! Vielleicht werden wir entdeckt!«, strahlte sie.
Frau Schmelzin sprang zurück, um wieder hinter ihre Tochter zu gelangen, fast als wolle sie sich hinter ihr verstecken.
»Wir beißen nicht«, versprach Judith, aber auch damit konnte sie Inges Einstellung nicht verändern. Aus Angst, sich von ihrer Tochter überreden zu lassen, trat sie noch weiter zurück. Sie wollte in keine Situation geraten, der sie nicht gewachsen war.
Für Marco Zielinksi war jetzt alles perfekt. So wie Inge Schmelzin nun stand, konnte er mühelos unter ihren Rock fotografieren. Der Wind machte sich geradezu zu seinem Komplizen.
Inge und Annika Schmelzin waren nur Beifang für ihn. Eigentlich war er gekommen, um Astrid Thoben abzuschießen, wie er es nannte. Er hatte Zeit. Die Dinge entwickelten sich gut.
Die Mutter zog ihre Tochter weg. »Komm. Papa hat im Treibgut einen Tisch reserviert. Es wird Zeit!«
»Aber Mama«, protestierte Annika, »doch erst um achtzehn Uhr! Mach doch jetzt nicht so’n Stress!«
Er musste ihnen nicht folgen. Er wusste, wo sie wohnten. Vom Treibgut aus hatten sie es nicht weit bis zu ihrem Hotel Flörke.
Er interessierte sich sehr für diese Astrid. Welch ein Tag!
Das Filmteam packte schon zusammen, und sie trugen ihr Equipment runter zu ihren Fahrrädern, die sie am Flinthörndeich geparkt hatten. Er blieb ganz ruhig liegen und sah ihnen zu. So wie er diese Astrid einschätzte, würde sie sich sowieso vom Filmteam absetzen und wieder die Einsamkeit suchen.
Es amüsierte ihn, wieder mal recht behalten zu haben. Er kannte sich aus mit Menschen.
Judith Rakers fuhr voran. Sie nahm den kürzesten Weg in die Stadt zurück, durch den Inselwald, wo heute Schrebergärten standen. Hier hatte man begonnen, einen großen Militärflughafen zu bauen, und die Marinekommandantur in Wilhelmshaven hatte vorgeschlagen, durch eine Bewaldung die militärischen Anlagen auf Langeoog zu tarnen. Alles war mehrfach bombardiert worden, und nach Kriegsende entstanden dort die Schrebergärten. Die geborstenen Pflaster der Landebahn wurden heute von Radfahrern als Abkürzung zum Flinthörn benutzt.
Die Kamera- und Tonleute schoben ihre Bollerwagen lieber, um ihre wertvollen Geräte keiner Gefahr auszusetzen. Judith dagegen sauste lachend auf ihrem Rad bergab und verschwand im Grün.
Astrid Thoben blieb noch eine Weile bei ihrem Rad stehen und sah sich die Gegend an. Dann entschied sie sich für die entgegengesetzte Richtung.
Als sie aufs Rad stieg, landete Marco ein, zwei Schnappschüsse, die ihn aber nicht zufriedenstellten.
Sie fuhr gar nicht weit. Schon vor der Ostfriesischen Teestube an der Hafendeichstraße stellte sie ihr Rad ab. Draußen vor dem Café waren noch ein paar Liegestühle mit Blickrichtung zum Meer frei. Einen davon suchte sie sich aus, bestellte ein Mineralwasser, einen Kaffee und ein Stück selbst gemachten Kuchen. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sie sah glücklich aus.
Sie streckte die Beine weit von sich. Ihre Sandalen fielen fast wie von selbst von ihren Füßen. Sie spreizte die Zehen und gähnte.
Ihr Wickelrock öffnete sich vorne. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen, dass sie damit zum Highlight des Tages für den schüchtern wirkenden jungen Mann wurde, der dort scheinbar etwas unentschlossen herumstand und seine E-Mails checkte.
Sie hatte ihn durchaus zur Kenntnis genommen. Ja, vielleicht verspürte sie sogar ein bisschen Mitleid mit ihm. Er hatte etwas Verlorenes an sich. Sie stellte sich vor, dass seine Freundin ihn schon mehrfach draufgesetzt hatte. Vielleicht hatte sie einen anderen.
Am liebsten hätte sie ihm zugerufen: »Junge, die kommt sowieso nicht mehr!« Aber sie wollte gern allein sein.
Astrid hatte alles, was sie brauchte. Vor ihr lag das Meer. Der Wind kühlte sie, die Sonne wärmte sie, und ein ausgesprochen freundlicher Kellner servierte den Kuchen und machte wortlos klar, dass dieser Kuchen nicht einfach selbst gemacht und gut war. Nein, er war etwas ganz Besonderes.
Marco Zielinski hatte Durst, und der Kuchen reizte ihn auch. Aber jetzt, da er seine Beute gemacht hatte, wollte er die Bilder zu gern ins Netz stellen. Ihre Gruppe wuchs, und er war einer der Stars. Die Mutter-und-Tochter-Bilder würden in der Szene eine Berühmtheit aus ihm machen.
Er nannte sich nur M.
Lehrerinnen brachten hundert Punkte. Verhasste Lehrerinnen wie Astrid Thoben fünfhundert. Lehrerinnen, die praktisch nur Hosen trugen, erschwerten nicht nur den Abschuss, sondern verdoppelten damit auch die Punktzahl, und er hatte sie tatsächlich erwischt! Eine von den Frauen mit der höchsten Punktzahl. Lehrerin. Gehasst. Hosenträgerin.
Obwohl er Durst hatte, stieg er wieder auf sein Rad und fuhr weiter. Ein Glücksgefühl durchflutete ihn. So muss es sich für einen Mittelstürmer anfühlen, ein Tor bei der WM zu schießen, dachte er.
Er radelte durch bis zur Barkhausenstraße. Sein Mund und sein Hals waren inzwischen so trocken, als hätte er Sand geschluckt. Er setzte sich an einen Tisch vor der Eisdiele Venezia und bestellte einen großen Erdbeerbecher.
Auf einer Insel kann man sich schlecht aus dem Weg gehen, da trifft man sich immer wieder. Judith Rakers wurde vor der Eisdiele um ein Selfie gebeten. Sie stand mit dem Kameramann bei einem stämmigen Pferd und erklärte ihm, woran sie erkenne, dass es sich um einen Friesen handle. Sie deutete auf die langen Haare am Fesselgelenk. Dabei schleckte sie an ihrem Eis und war sofort bereit, noch ein Selfie mit einer Dame zu machen, die behauptete: »Wenn Sie die Nachrichten vorlesen, ist alles nur noch halb so schlimm, Frau Rakers.«
Judith beachtete Marco Zielinski nicht. Sie besprach nach dem letzten Selfie mit dem Kameramann eine Einstellung, die sie für ihre Inselreportage gern morgen drehen wollte.
Zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr, wenn alle essen gehen, ist es am Strand besonders einsam, dachte Astrid. Nach dem Stück Kuchen würde sie nichts mehr zu Abend essen, sondern genau diese Situation ausnutzen. Sie wollte zum Flinthörn zurückfahren und sich in die Dünen setzen. Ja, es war verboten, aber sie hatte vor, sehr vorsichtig zu sein, nichts zu beschädigen, einfach nur ganz still da zu sitzen, die Einsamkeit zu genießen und aufs Meer zu schauen. Das war die beste Meditation für sie.
Dann würde sie diesen seltsamen Tag an sich vorüberziehen lassen. Wenn das Interview mit Judith Rakers wirklich im Fernsehen gezeigt wird, dachte sie, werden viele meiner Schüler es sehen.
In letzter Zeit hatte es in der Schule viel Stress für sie gegeben. Erst mit Schülern, dann mit Eltern und schließlich – das war besonders schrecklich für sie – mit Kollegen. Das Wort Mobbing gebrauchte sie in privaten Gesprächen immer öfter.
Sie wollte aus dieser Opferrolle raus. Dabei half der Urlaub auf Langeoog. Das Meer war immer ihr Verbündeter gewesen. Beim Fahrradfahren pustete der Wind ihr das Gehirn frei. Ja, genauso fühlte es sich für sie an.
Als sie gegen zwanzig Uhr dreißig wieder am Flinthörn war und einen einsamen Platz in den Dünen aufsuchte, bemerkte sie nicht, dass ihr jemand folgte.
»Manchmal fühle ich mich hier in der Schule wie ein Wild, das gejagt wird«, hatte sie bei der letzten Lehrerkonferenz gesagt und sofort bitter bereut, sich so sehr geöffnet zu haben. Damit bot sie nur noch mehr Angriffsfläche.
Sie wollte jetzt aus diesem Gedankenkarussell sofort wieder aussteigen. Sie hoffte, das Meer könne ihr dabei behilflich sein. Dieses beständige Rauschen hatte etwas ungeheuer Beruhigendes.
Astrid hörte ein Geräusch hinter sich. Sie rechnete damit, einen Vogel zu sehen, eine Möwe oder eine Dohle. Vielleicht einen Hasen. Deshalb drehte sie sich nicht schnell um, sondern ganz langsam. Sie wollte das Tier nicht erschrecken.
Sie sah den Mann, der ihr eine Stahlschlinge um den Hals legte und dabei lächelte, als sei es eine Perlenkette, die er ihr zum Geschenk machen wollte.
Sie hätte sich so gern gewehrt, und ihr Verstand hatte viele Ideen, wohin sie schlagen sollte. Ja, er hatte verwundbare Stellen – die Augen, der Kehlkopf … Aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie war nicht mal in der Lage, den Arm zu heben.
Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Niemand kann so etwas tun, wenn man ihm in die Augen sieht, dachte sie.
In seinem Blick lag keine Wut. Nichts Böses. Er strahlte sie glücklich an.
Seit Peter Müller als kleiner Junge aus dem Ruhrgebiet den ersten Sonnenaufgang an der Nordsee erlebt hatte, war er süchtig danach. Seine Oma, die leider viel zu früh verstorben war, hatte ihn morgens in der Frühstückspension geweckt, in der sie so gern übernachtete. Nur widerwillig war er aufgestanden. Er musste fünf, höchstens sechs Jahre alt gewesen sein. Sie hatte ihm beim Anziehen geholfen und ihn dann auf den Arm genommen.
Ihm war kalt, er hatte sich an ihren Hals geklammert. Nichts konnte damals in seiner Vorstellung so schön sein, dass es sich dafür lohnte, morgens das warme Bett zu verlassen. Ja, abends länger aufzubleiben, das wäre kein Ding gewesen, aber dieses frühe Aufstehen morgens fand er überhaupt nicht gut.
Sie wohnten in Norddeich, nicht weit vom Deich entfernt. Er hatte die Aufregung und Vorfreude seiner Omi gespürt. Irgendwie war das damals kribbelnd für ihn gewesen. Sie gingen auf den Deich zu, das Gras war feucht von der Nacht, die Luft nebelschwanger. Der scharfe Wind ließ einen Tropfen an seiner Nase fast gefrieren. Doch dann, als sie auf der Deichkrone waren, traf ihn die sich ständig verändernde monströse Schönheit schockartig.
Zunächst waren sie eine Weile so stehen geblieben, aneinander festgeklammert, die Wangen gegeneinandergedrückt, und hatten nur Richtung Osten geschaut.
»Im Osten«, hatte seine Oma gesagt, »geht die Sonne auf. Im Westen geht sie unter. Darum spricht man auch vom Morgen- und vom Abendland.«
Er hatte diese Worte nie vergessen. Es war noch heute für ihn, als sei darin die gesamte Weltformel enthalten. Musste man mehr wissen, um zu verstehen, worum es ging?
Jedes freie Wochenende, jeden Urlaub, wenn es irgendwie möglich war, hatte er seitdem am Meer verbracht. Am liebsten an der Nordsee.
Er zählte sich zu den Norddeichverrückten und wenn er nicht einmal im Jahr für ein paar Tage eine ostfriesische Insel besuchen konnte, dann war irgendetwas schiefgelaufen für ihn. Gerade jetzt, in dieser schweren Zeit, war er froh, auf Langeoog zu sein.
Corinna schlief noch. Sie war eine gute Frau. Sie hatte einen besseren Mann verdient als ihren Ex. Er hoffte, dass er dieser gute Mann für sie sein könnte. Er war bereit, sich für sie Mühe zu geben.
Corinna hatte eine Menge mitgemacht mit ihrem jähzornigen, saufenden, gewalttätigen Ehemann. Peter wunderte sich, dass sie überhaupt noch in der Lage war, sich auf eine neue Liebe einzulassen. Oder war es nur ihre Angst vorm Alleinsein?
Er hatte ihr versprochen, ihre Tochter Rahel anzunehmen wie sein eigenes Kind. Ihm war es leicht gefallen, denn Rahel war ein pflegeleichtes Kind. Sie liebte Musik, Einhörner und Popcorn im Kino.
Leider log sie furchtbar viel. Es hatte fast immer mit ihrem leiblichen Vater zu tun. Sie liebte diesen Arsch. Sie hätte so gerne einen tollen Papa gehabt und deswegen schrieb sie ihm geradezu Supermaneigenschaften zu. Wenn sie über ihn redete, wurde er jedes Mal zu einem strahlenden Helden, auch wenn er sie wieder mal nicht, wie versprochen, abgeholt hatte –, was Corinna und er eigentlich gut fanden. Sie hätten den Kontakt gerne einschlafen lassen.
So erzählte sie von den tollen Erlebnissen, die sie beim letzten Mal mit ihrem Papa gehabt hatte. Neuerdings entschuldigte sie sein Zuspätkommen oder Wegbleiben damit, dass er ein Agent und in geheimer Mission dabei sei, die Welt zu retten. Das dürfe aber keiner wissen. Ein guter Grund, um ein Kind mal an einem Wochenende zu versetzen, dachte Peter. Am Anfang hatte er geglaubt, dass der Vater ihr diesen Mist erzählte, aber so war es gar nicht. Sie erfand die Geschichten selber.
»Andere«, hatte Corinna gesagt, »bauen sich das Haus, das sie sich wünschen, aus Lego oder schneidern ihrer Puppe ein Röckchen. Rahel bastelt sich halt den Papa zusammen, wie sie ihn gerne hätte.«
Ein bisschen tat es Peter weh, denn er wäre doch so gerne dieser Vater für sie gewesen. Heute wollte er ihr den Sonnenaufgang zeigen. Vielleicht, so hoffte er, wird das für sie so ein eindrückliches Erlebnis wie für mich damals mit meiner Omi. Das hat uns beide wirklich zusammengeschweißt. Seitdem waren wir ein Herz und eine Seele. Wir hatten ein gemeinsames Geheimnis. Wir wussten etwas über den Sonnenaufgang am Meer. Dieser Morgen hatte sie beide verändert.
»Psst, ganz leise, Rahel. Wir lassen die Mama schlafen. Komm, wir fahren zusammen ans Meer. Ich muss dir etwas zeigen.«
Sie rieb sich die Augen und verzog den Mund.
Er hatte schon einen Tee für sie gekocht, aber sie wollte keinen Tee, sondern lieber einen Saft. Er wusste, dass Corinna es nicht gut fand, wenn Rahel morgens auf nüchternen Magen Saft trank, aber er hatte nicht vor, diesen schönen Morgen mit solch erzieherischem Kleinkram zu belasten.
»Wir müssen uns warm anziehen«, raunte er. »Um die Zeit kann es noch ziemlich kühl sein, auch wenn es heute ein ganz heißer Tag wird.«
Corinna tat, als ob sie schlafen würde. Sie hatte mitbekommen, dass er aufgestanden war. Immer, wenn er versuchte, besonders leise zu sein, stieß er gegen etwas oder warf etwas um. Sie fand das süß. Sie wollte ihm den Spaß nicht nehmen. Sie freute sich, dass er sich so gut um Rahel kümmerte. Sie drückte ihren Kopf ins Kissen. Der Teeduft zog bis zu ihr hin. Sie hätte gerne etwas von dem Pfefferminztee genommen. Sie würde sich, sobald die beiden weg waren, eine Tasse holen und sich damit wieder ins Bett verkriechen. Sie hatte einen spannenden Roman bei sich. Was gab es Schöneres, als morgens im Bett zu lesen, mit dem Wissen, dass Mann und Kind Spaß miteinander hatten?
Bestimmt würden sie Brötchen mitbringen. Die Kleine mochte die Süße Lale so gerne. Dieses Quarkhefegebäck gab es nur hier. Corinna hätte Rahel am liebsten zuckerfrei aufwachsen lassen. Sie hatte sehr klare Vorstellungen von gesunder Ernährung. Aber diese Chance hatte ihr Ex genutzt. Vielleicht hatte Rahel ihr Herz an ihn geknüpft, weil sie bei ihm jede Menge süßes Zeug, Bonbons und Schokolade bekam.
Corinnas Ex kümmerten Erziehungsregeln einen Scheiß. Er hielt sich an nichts, suchte immer nur den eigenen Vorteil. Sie wollte Peter nicht zu sehr benachteiligen. Er kämpfte so sehr um Rahels Liebe. Wenn hier Chancengleichheit gelten sollte, dann musste auch er ihr ab und zu süße Wünsche erfüllen. So ein Lale-Brötchen gehörte einfach dazu.
»Man kann im Leben«, hatte Peter gesagt, »nicht immer nur konsequent sein. Man muss auch leben.«
Manchmal sagte er kluge Sachen. Sie waren vielleicht nicht immer richtig, aber es sprach viel Liebe aus seiner Art zu denken. Seitdem sie mit ihm zusammen war, wusste sie erst, mit welchen Idioten sie vorher das Bett geteilt hatte. Einen davon hatte sie sogar geheiratet.
Er hatte es nach der Scheidung sogar so gedeichselt, dass sie Unterhalt an ihn zahlen musste, nicht umgekehrt, weil sie als Anwältin mehr Geld verdiente als er.
Der Sonnenaufgang hatte eine gigantische Wirkung auf Rahel. Sie strahlte glücklich. Sie konnte in den schwarz und rot leuchtenden Wolken, die um den Glutball herum zu immer neuen Formen verliefen, Tiere und Gestalten sehen.
Er hielt sie auf dem Arm, so wie seine Oma ihn gehalten hatte. Sie zitterte vor Aufregung oder weil der Wind so heftig blies. Sie war restlos begeistert. Sie sah einen Wolf, einen Löwen und dann ihren Vater.
»Guck mal, guck mal, Peter, genau wie mein Papa!«
Er sah nichts dergleichen, nicht mal die Umrisse eines menschlichen Gesichts. Rahel winkte ihrem Vater zu: »Da ist er, Peter, da ist er! Guck mal, der Papa! Hallo, hallo, Papa!«
Peter wusste nicht wohin mit seiner Enttäuschung. Er ließ Rahel langsam herunter, setzte sie im Sand ab. Sie war ganz auf die Wolken konzentriert und winkte immer noch ihrem Vater, ja, sie lief ihm entgegen.
Er setzte sich in den Sand. Ihm war zum Heulen zumute. Selbst die Schönheit dieses grandiosen Sonnenaufgangs konnte ihn nicht trösten. Solange dieser Arsch in ihrer Phantasie so groß ist, dachte er, kann ich einfach nichts gegen ihn ausrichten.
Er kam sich vor wie ein Verlierer.
Rahel lief hoch in die Dünen, als könnte sie dort dem Sonnenaufgang noch näher sein. Er wehrte ab. Gegen den Wind rief er hinter ihr her: »Du weißt doch, dass man die Dünen nicht betreten darf! Die sind wichtig für den Küstenschutz!«
Sie hielt sich mit den Fingern im hohen Gras fest, zog sich daran hoch und krabbelte in die Dünen, wobei sie einen Fasan aufscheuchte.
Am Ende, dachte er, wird sie Sonnenaufgänge am Meer genauso lieben wie ich. Aber sie wird dabei nicht an mich denken, sondern daran, dass sie das Gesicht ihres Papas in den Wolken gesehen hat, während ich Idiot sie nur daran gehindert habe, in den Dünen zu spielen.
Am liebsten hätte er jetzt einen großen Schnaps getrunken. Ja, schon vor dem Frühstück. Und das war eigentlich gar nicht seine Art.
Hier im Gefängnis war Dr. Bernhard Sommerfeldt zum Frühaufsteher geworden. Meist saß er schon um vier Uhr morgens am Tisch und las oder schrieb. Er wusch sich vorher und machte sich zurecht. Gerade im Gefängnis wollte er darauf achten, nicht zu verlottern. Ein korrektes, höfliches Auftreten war ihm wichtig. Und geradezu penible Sauberkeit.
Allerdings hatte er sich, seit er im Gefängnis einsaß, nicht mehr rasiert. Ein langer Zottelbart umrahmte sein Gesicht.
Aufrecht saß er am Tisch. Jeder, der ihm begegnete, spürte, dass er ein stolzer Mann war. Ungebrochen auch jetzt. Der berühmte Serienkiller, dessen Romantrilogie mehr als 1,2 Millionen Mal in deutscher Sprache verkauft und in acht Sprachen übersetzt worden war, wusste, dass er nie wieder in die Freiheit entlassen werden würde. Trotzdem genoss er seinen Ruhm. Die Verfilmung von Teil 1, Totenstille im Watt, war bereits geplant.
Schon zweimal hatte ein Filmproduzent ihn besucht. Er hatte sich Filmproduzenten als dicke, Zigarren rauchende Menschen vorgestellt, doch derjenige, der dann vor ihm gesessen hatte, war ein dünner, langhaariger und nichtrauchender Veganer.
Wenn Sommerfeldt in seinen Büchern las, hatte er manchmal Mühe, sich vorzustellen, dass sie wirklich von ihm handelten. Er musste es sich immer wieder sagen: »Das bin ich, das habe ich geschrieben, deshalb sitze ich jetzt im Gefängnis. Ich habe all diese Morde begangen.«
Wenn er schrieb, und das tat er auch jetzt im Gefängnis in Lingen sehr gerne, dann wurde er zu Hans Fallada, dessen Romane er immer geliebt hatte. Als Hans Fallada litt er an der Welt, er konnte die Weltprobleme zwar nicht lösen, aber sie doch erzählerisch bannen. Wenn er schrieb, taten seine Figuren auch nicht unbedingt, was er wollte. Sie führten ein Eigenleben. Jetzt im Gefängnis musste er dazu kommen, Fiktionales aufzuschreiben. Musste Dinge erfinden. Vorher hatte er einfach nur das erzählt, was wirklich geschehen war. Deshalb hielt er sich gar nicht wirklich für einen Schriftsteller. Er war doch eher einer, der einfach dokumentierte, was los war. Und er erzählte davon, wovon er am meisten Ahnung hatte: von seinem eigenen Leben, seinen eigenen Ängsten und wie es zu all diesen Morden gekommen war.
Hier im Gefängnis ging es ihm eigentlich gar nicht schlecht. Das Essen war in Ordnung, die Bibliothek ganz gut sortiert, auch wenn sie nicht wirklich seinen Ansprüchen genügte. Gern besorgten sie ihm aber Bücher, die er unbedingt haben wollte. Er arbeitete mit in der Bibliothek. Er galt als zuverlässig, und er leitete die Schreibwerkstatt.
Es war immer noch jemand dabei, ein Pastor, ein Psychologe, ein Sozialarbeiter – das wechselte. Sie wollten ihn wahrscheinlich nicht mit den anderen Gefangenen alleine lassen. Er grinste bei dem Gedanken. Hatten sie Angst, er könnte aus verurteilten Straftätern Komplizen machen, die ihm später, wenn sie ihre Haftstrafen abgesessen hatten, zur Flucht verhelfen oder seinen Rachefeldzug beenden würden?
In Wahrheit war alles viel harmloser. Sie lasen sich gegenseitig Texte vor und arbeiteten daran. Einer, den er besonders gern hatte, begriff jetzt erst, dass ihm durch seinen Drogenkonsum praktisch zwanzig Jahre seines Lebens fehlten. Zwanzig wichtige Jahre. Er versuchte, sie sich jetzt zu erfinden, weil eine wirkliche Erinnerung nicht aufkommen wollte.
Ein anderer, der wegen drei nachgewiesener Vergewaltigungen saß und versucht hatte, bei einem begleiteten Freigang seine Mutter mit einer Kuchengabel zu erstechen, schrieb an einem Liebesroman. Die Sprache war holprig, die Kapitel trieften oft vor Kitsch, fand Sommerfeldt. Trotzdem rührte es ihn, dass einer, der nie wirklich Liebe erfahren hatte, nun versuchte, davon zu erzählen.
Als Leiter der Schreibwerkstatt genoss Dr. Sommerfeldt gewisse Privilegien, und zwei Geschichten seiner Teilnehmer waren sogar schon gedruckt worden. Er hatte als internationaler Bestsellerautor natürlich einige Kontakte zu Verlagen und Zeitschriften. Geschichten wurden gedruckt, nur weil er sie empfahl oder sie in seiner Literarischen Werkstatt entstanden waren. Er fühlte sich geschmeichelt und erlebte an den Gefangenen, deren Werke gedruckt worden waren, was das für ihr Selbstbewusstsein bedeutete.
Sie, die gewöhnt waren, ihren Namen höchstens auf Mahnungen oder Urteilen zu lesen, hatten plötzlich Leser und bekamen Leserbriefe. Keiner allerdings so viele wie er. Neunzig Prozent der Post, die ihn erreichte, kam von Frauen. Sie hatten alle seine Trilogie gelesen. Einige schickten ihm Fotos, andere Gedichte. Viele versprachen, für ihn zu beten.
Gestern war ein merkwürdiger Brief angekommen. Er nahm ihn noch einmal zur Hand. Der Absender K. Ernte, Sophienstraße 2, 30159 Hannover. Ein Zeitungsartikel aus der Hannoverschen Neuen Presse von Petra Rückerl war beigelegt. Die Überschrift: Dr. Bernhard Sommerfeldt – Vom Serienkiller zum Popstar. – Die Überlegung, ob der Literaturpreis an einen Schwerverbrecher verliehen werden kann, spaltet die Gemüter …
Der Artikel war ganz spannend zu lesen. Ein paar Worte waren unterstrichen. An dem Zeitungsartikel klebte ein weißer Abreißzettel, nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Darauf stand: Du willst der größte Serienkiller aller Zeiten sein? Du bist nicht mal ein Weichei, du bist eine Muschi! Kannst keine Frauen töten, weil sie dich noch immer beherrschen!
Dr. Bernhard Sommerfeldt hatte viele verstörende Briefe im Gefängnis bekommen. Nicht alle, die ihm schrieben, waren vollends zurechnungsfähig. Ein berühmter Schriftsteller im Gefängnis, das triggerte bei vielen die merkwürdigsten Gefühle und löste seltsame Verhaltensweisen aus. Aber dieser von einem Block abgerissene Zettel, mit krakeliger Schrift bekritzelt, ließ Sommerfeldt frösteln. Es las sich für ihn wie eine Ankündigung.
Rahel hatte so etwas noch nie gesehen. Da waren ganz viele Möwen und pickten an etwas herum. Es sah aus wie ein Kleidersack, den jemand dorthin geworfen hatte.
Rahel wusste, dass Möwen manchmal auf ihren Raubzügen Müll plünderten. Man musste ganz vorsichtig sein und ließ am besten nichts draußen stehen. Das hatte die Mutter ihr so eingeschärft.
Es war eine Handvoll Möwen, vielleicht sogar mehr. In der Luft schwebten auch noch welche, und im Gras saßen schwarze Dohlen. Rahel wusste, dass diese Vögel Dohlen hießen, denn sie hatte sie Raben genannt und war von Peter korrigiert worden. »Raben«, hatte er gesagt, »sind größer. Das da sind Dohlen. Sehr intelligente Tiere.«
Dann entdeckte Rahel den Fuß, der aus dem Kleidersack herausragte, und allmählich begriff sie, dass dort ein Mensch lag. Es war eine Frau. Das da waren Haare und Blut. Viel Blut!
Sie lief zum Rand der Dünen und winkte Peter. Er hockte im Sand und starrte den Sonnenaufgang an, als hätte er zum letzten Mal in seinem Leben diese Gelegenheit.
»Peter«, rief sie, »Peter!«
Er hörte sie nicht. Vielleicht war er zu sehr in Gedanken versunken, oder der Wind stand so ungünstig, dass er ihre Worte in die falsche Richtung trug. Sie stampfte mit den Füßen auf. Sie hatte Angst abzurutschen. Der Rand der Düne gab nach. Hier ging es ein paar Meter nach unten.
Sie zog sich zurück und suchte einen besseren Übergang zum Strand. Hinter ihr stoben Möwenfedern hoch. Die Tiere stritten sich um ein besonders schönes Stück.
Rahel setzte sich und rutschte die Düne hinunter bis ganz nach unten. Sie rannte zu Peter. Schon von weitem erkannte sie, dass er sauer war. Sie hatte etwas falsch gemacht, ganz klar. Sie wusste nicht, wie sie ihm sagen sollte, was sie da oben gesehen hatte. Sie war schrecklich aufgeregt. Ihr Herz klopfte so sehr, dass sie es hören konnte.
»Na«, fragte Peter, und sein Ton hatte einen bitteren Beigeschmack, »hast du deinem Papa gewunken?«
Rahel schüttelte den Kopf. »Da oben liegt eine Frau.«
»Kann ja sein«, sagte Peter. »Verboten ist es trotzdem. Auch nicht alle Erwachsenen halten sich an Regeln. Heutzutage macht ja jeder, was er will.«
»Nein«, wehrte Rahel ab, »die sonnt sich da nicht! Die liegt da so. Der geht es nicht gut.«
»Wie, der geht es nicht gut? Hat sie dich weggeschickt?«
Rahel schüttelte den Kopf. »Nein. Die Möwen picken an ihr rum.«
Klar, dachte Peter Müller, das ist wieder eine von ihren Geschichten. Erst sieht sie ihren Papa als Wolke am Himmel und jetzt eine Frauenleiche in den Dünen, an der Möwen herumpicken. Er fragte sich, wie das Kind auf solche Dinge kam. Er ging zwar oft mit ihr ins Kino, achtete aber darauf, dass es familien-, ja kinderfreundliche Filme waren. Heutzutage geschahen ja schon in Zeichentrickfilmen gruselige Sachen. Fernsehen ließen sie Rahel nur in ganz kleinen Dosierungen. Aber was geschah, wenn sie bei ihrem Vater war, darauf hatte er natürlich keinen Einfluss. Dem traute er zu, mit der Kleinen den Weißen Hai zu gucken, nur um sie trösten zu können, wenn sie dann Angst bekam. Wahrscheinlich zischte er dabei noch ein paar Bierchen, und sie bekam eine Cola.
»Wirklich«, zeterte Rahel, »wirklich, Peter! Da oben ist was ganz Schlimmes passiert.« Sie fasste Peters rechten Arm und zog ihn.
Wenn da echt etwas ist, dachte er, dann hast du jetzt die Chance, zum real existierenden Helden für die Kleine zu werden, der irgendein Problem löst. Aber wenn nicht, dann machst du dich nur zum Deppen. Ihrem Papa wäre das bestimmt nicht passiert.
Er sah in die Richtung, in die Rahel ihn ziehen wollte. Dort waren tatsächlich erstaunlich viele Möwen in der Luft, und sie machten einen ziemlichen Lärm.
»Sollen wir uns nicht«, fragte er, »den Sonnenaufgang angucken? Bald wird sie das Meer ganz verlassen. Guck mal, es sieht jetzt schon aus, als würde das Wasser kochen. Früher dachten die Menschen, dass da immer eine neue Sonne aufgeht. Sie wussten ja nicht, dass die Erde rund ist.«
»Komm«, bettelte Rahel und zerrte an ihm. »Komm, ich lüg nicht.« Als er sich immer noch nicht bewegte, schrie sie ihn an: »Ich will zurück zu Mama!«
Er blieb im Sand sitzen. Er wollte sich diesen Sonnenaufgang nicht verderben lassen, und er war immer noch sauer. Am liebsten hätte er Corinnas Ex so richtig verhauen. Aber einerseits kam ihm das primitiv vor, andererseits war er sich nicht sicher, zu wem die beiden am Ende halten würden. Gut, bei Corinna war er sich schon sicher. Und bei Rahel im Grunde auch. Die würde aufseiten ihres Vaters stehen.
»Komm!«, bettelte Rahel. »Komm! Ich lüg nicht!« Als er sich immer noch nicht bewegte, schrie sie ihn an: »Ich will zurück zu Mama!«
Peter gab nach. »Okay. Wir kaufen Brötchen und machen uns ein leckeres Frühstück.«
Er stand auf und nahm sie auf den Arm. Irgendwie würde er das hier schon wieder hinkriegen. »Wir wollen doch«, sagte er, »gemeinsam einen schönen Tag haben.«
Rahel versuchte, sich zu befreien. Sie wollte nicht getragen werden, obwohl es sonst ihre Lieblingsbeschäftigung war. Jetzt wollte sie selbst gehen. Nein, nicht mal seine Hand nahm sie. Stattdessen funkelte sie ihn böse an: »Mein Papa«, sagte sie, »der wäre hochgelaufen und hätte der Frau geholfen. Der ist nicht so ein Schisser wie du.«
Wenn ich jetzt gehe, dachte Peter, ist es eine Niederlage. Warum gewann der nicht anwesende Vater jeden Kampf, fragte er sich. Warum?
»Okay«, sagte er zu Rahel, »schauen wir nach. Und dann gehen wir Brötchen holen und machen ganz leise Frühstück, bevor wir Mama wecken.«
»Sie ist nicht deine Mama«, antwortete Rahel, »sie ist meine Mama.«
Es gab Tage, da konnte er einfach nichts richtig machen. Und als sie sich der Stelle näherten, wusste er, dass aus dem schönen, gemeinsamen Frühstück heute auch nichts mehr werden würde.
Frank Weller wurde von Vogelgezwitscher geweckt. Gestern Abend hatten Ann Kathrin und er noch lange auf der Terrasse am Feuer gesessen. Irgendwann war sie aufgestanden und ins Bett gegangen. Er wollte noch seinen Kriminalroman zu Ende lesen. Er war auf den letzten fünfzig Seiten und ahnte, wer der Täter war. Es fuchste ihn immer, wenn die Polizisten im Roman den Täter schneller fanden als er.
Er hatte sich so hingesetzt, dass er im Licht des Feuers lesen konnte. Irgendwann war er eingeschlafen. Der Roman lag neben ihm auf den Terrassenfliesen. Das Feuer war erloschen, die Glut erkaltet und zu weißer Asche geworden.
Er wollte Rühreier mit Krabben machen und so eine solide Grundlage für den Tag schaffen. Er musste feststellen, dass die Nacht im Sessel wohl doch nicht so bequem gewesen war. Sein rechtes Knie schmerzte, der Nacken und die Schulter.
Er wusste immer noch nicht, wer der Mörder war, oder er hatte es wieder vergessen.
Frank hatte das erste Ei aufgeschlagen, da spielte sein Handy Piraten Ahoi! Es lag noch auf der Terrasse. Um die Zeit, dachte er, das kann nur Ärger bedeuten.
Er lief barfuß raus, stieß sich den Zeh an einem Stuhlbein und stöhnte, als er sich meldete. Marion Wolters aus der Einsatzzentrale war dran: »Moin, Frank. Tut mir leid, aber auf Langeoog ist in den Dünen eine weibliche Leiche gefunden worden.«
»Die erste Fähre«, sagte Weller, »geht um sechs Uhr fünfundvierzig ab Bensersiel, wenn mich nicht alles täuscht. Für die ist es aber schon sehr knapp. Oder bekommen wir einen Hubschrauber?«
»Ich habe«, antwortete Marion Wolters, »schon mit den Inselfliegern telefoniert. Die Fähre ist für euch jetzt sicherer. Wir haben Morgennebel, da starten die nicht. Kann sich in ein, zwei Stunden wieder auflösen, aber so lange wollen wir nicht warten. Ich spreche mit dem Kapitän. Ich kenne ihn gut. Er kann die Abfahrt der Fähre bestimmt ein bisschen hinauszögern … Aber übertreib es nicht, Frank!«
»Wissen wir etwas über die Tote?«
»Nein, nur dass sie in den Dünen liegt.«
»Herzinfarkt? Möglicher Selbstmord?«, wollte Weller wissen.
»Ich habe mit der Bürgermeisterin telefoniert. Die ist sofort hin. Außerdem die Freiwillige Feuerwehr. Sie wollen verhindern, dass irgendwelche Touristen … Also, Heike hat gesagt, der Kopf sei praktisch abgeschnitten.«
Weller stöhnte. Er sah auf das Ei in der Pfanne und die drei Eier, die noch danebenlagen. »Wir sind praktisch schon unterwegs«, behauptete er und wollte ins Schlafzimmer, um Ann Kathrin zu wecken. Doch die stand schon im Türrahmen.
Wenn sie morgens so strubbelig, unausgeschlafen, im zerknautschten T-Shirt noch fast orientierungslos durch die Wohnung lief, fand Weller sie zum Knutschen schön. Alles Gestylte, künstlich Hergestellte war ihm zuwider. Er liebte sie so, mit ungeputzten Zähnen, nicht geduscht und noch mit Schlaf in den Augen.
Auf der Fähre bekamen sie dann den ersten Kaffee, eine Brezel und eine Knackwurst. Ann Kathrin sah Weller beim Essen zu und wärmte ihre Hände an der Kaffeetasse. Sie konnte jetzt nichts essen. Außerdem machte sie gerade eine Diät, bei der sie auf die Essenszeiten achten musste, und eigentlich war es für sie jetzt noch zu früh.
»Vielleicht«, orakelte sie, »gehen wir später ins Café Leiß. Die haben so schöne heiße Baguettes.«
Weller hatte da seine Zweifel. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir dazu kommen werden, Ann.« Er hatte so eine Ahnung, als würde dies ein langer Tag mit wenig Pausen werden. Beim letzten Besuch auf Langeoog hatte er mit Ann Kathrin zusammen im Café Leiß Milchreistorte auf Pflaumenmus gegessen. Er dachte gern an diesen Gaumenorgasmus zurück, während er in seine Butterbrezel biss und sich fragte, ob sein Magen um diese Zeit schon eine Knackwurst mit Senf vertragen würde.
Ann Kathrin blickte aus dem Fenster auf die Nebelschwaden, die über die Nordsee zogen. Für sie, die noch ein bisschen verträumt war, hatte Nebel über dem Meer geradezu etwas Märchenhaftes. Als Kind hatte sie geglaubt, dass fremde Wesen sich im Schutz des Nebels näherten. War Nebel ein Versteck für Geister, Gespenster und Dämonen?
Ann Kathrin und Weller sahen eine Gruppe Kriminaltechniker. Sie wirkten wie ein verschworener Kreis von Morgenmuffeln, die der Welt niemals verzeihen würden, dass sie um diese Zeit nicht mehr in ihren Betten liegen durften, sondern ihrer Arbeit nachgehen mussten.
»Auf deren miese Energie habe ich gerade keinen Bock«, flüsterte Ann Kathrin. Weller stimmte ihr sofort zu.
Ihr Kollege Rupert nannte diese Mitarbeiter gern Leichenfledderer. Ann Kathrin ließ ihm das nicht durchgehen und verteidigte die »wertvolle Arbeit der Kollegen« jedes Mal. Doch sie hatte ein feines Gespür für Menschen, die nicht gut drauf waren, alles negativ sahen und sich so zu Zynikern entwickelten. Sie mied solche Leute immer mehr. Sie hatten ihr im Leben einfach nicht gutgetan.
Sie hatte Jahre in der Mordkommission verbracht, war mit so viel Schrecklichem konfrontiert worden, so vielen dunklen Mächten ausgesetzt gewesen, dass sie zunehmend das Licht suchte. Etwas Positives. Vielleicht sammelte sie deshalb Bilderbücher. Manchmal, wenn sie mit ihnen ins Bett ging und beim Betrachten der altbekannten Geschichten einschlief, kam es ihr vor, als würde sie die Bilderbücher wie einen Schutzschild gegen diese Welt benutzen. Dann wieder wie ein Seil, an dem sie sich aus dem mörderischen Sumpf herauszog.
Weller saß so, dass er die Treppe, die zum Oberdeck führte, beobachten konnte. Erstaunt registrierte er, wer da gerade hochging. Er riss Ann Kathrin aus ihren Gedanken: »Was glaubst du, Ann, wer hier mit an Bord ist?«
»Frank, bitte! Hast du je gesehen, dass ich Kreuzworträtsel löse?«
Er beantwortete seine Frage selbst: »Holger Bloem.«
Ann Kathrin setzte sich anders hin und drehte sich so, dass sie ebenfalls die Treppe sehen konnte. Allerdings war Holger schon verschwunden.
»Das ist doch kein Zufall«, sagte Weller. Er mochte es nicht, wenn die Presse vor der Polizei vor Ort war.
Ann Kathrin und den Journalisten Holger Bloem verband ein Vertrauensverhältnis. Später hätte sie ihn bestimmt auch informiert. Aber im Moment wussten sie ja selbst noch nichts.
Sie stand auf und lief zum Oberdeck.
Holger Bloem stand mit seiner Kamera an der Reling und machte Aufnahmen.
»Du fotografierst den Nebel?«, fragte Ann Kathrin von hinten.
Er drehte sich zu ihr um und schien erstaunt. »Moin, Ann.« Er hielt ihr das Display seiner Kamera hin. »Schau mal.«
In der Tat hatte er ganz zauberhafte, mystische Bilder geschossen.
»Was machst du um diese Zeit hier?«, fragte er.
»Das wollte ich dich eigentlich fragen, Holger.«
Er lächelte. »Judith Rakers ist mit einem Filmteam auf der Insel. Sie machen eine Inselreportage. Ich will einen Tag dabei sein und dann fürs Ostfriesland Magazin darüber berichten.«
Ann Kathrin war erleichtert. »Du weißt also noch gar nichts?«
»Was soll ich denn wissen?«
Sie musste nichts sagen. Er ahnte es schon. »Es ist ein Verbrechen geschehen?«
Ann Kathrin zuckte nur mit den Schultern. Da Holger wusste, dass sie von der Mordkommission war, folgerte er: »Und ich glaube nicht, dass du wegen eines Fahrraddiebstahls um diese Zeit eine Fähre besteigst. Dafür haben die doch auf Langeoog eine Inselpolizistin.«
Sie gab ihm recht: »Stimmt.«
Annika Schmelzin war froh, dass sie aus dem Alter heraus war, in dem sie die Urlaube im Schlafzimmer ihrer Eltern verbringen musste beziehungsweise mit ihnen in einer Ferienwohnung. Dort war sie doch sehr unter Kontrolle.
Jetzt, hier, im Hotel Flörke, hatte sie ein eigenes Zimmer. Ein Doppelzimmer zur Einzelbenutzung. Zwar auf demselben Flur, aber immerhin. Sie konnte nachts so lange fernsehen, wie sie wollte, und da der WLAN-Empfang sehr gut war, störte es auch niemanden, wenn sie mit ihren Freundinnen chattete. Wenn Papa zu sehr schnarchte, kam ihre Mutter sogar rüber und schlief bei ihr.
Ihre Freundinnen waren alle mit ihren Eltern in Urlaub gefahren. Beim nächsten Mal, das hatten sie sich geschworen, würden sie alleine fahren, ohne Erwachsene.
Ihre Freundin Franziska war mit ihrer Mutter und ihrer Oma zusammen auf Mallorca. Aber nicht da, wo was los war, sondern die kannten ganz einsame Ecken und wenn Franziska die Wahrheit sagte, dann war das Wetter auf Mallorca lange nicht so schön wie auf Langeoog.
Franziska musste ständig irgendwelche Wanderungen durch eine Berglandschaft machen, die sie absolut langweilig und öde fand. Dazu noch mit Gepäck auf dem Rücken. Sie hatte »so was von die Schnauze voll«.
Kerstin hatte es besser getroffen. Sie machte mit ihren Eltern immer Urlaub in Großstädten. London. Paris. Berlin. Rom. Sie blieben immer nur ein paar Tage, besichtigten Museen und irgendwelche Bauwerke. Aber Discos gab es in Großstädten immer, und dort tobte das Leben, wie Kerstin schrieb. Das einzig Blöde am Großstadturlaub sei nur, dass man ständig die Erwachsenen im Schlepptau hätte. Zusammen mit ihren Freundinnen wäre so eine Städtetour bestimmt der Knaller, schwärmte sie.
»Hier auf Langeoog ist es zwar schön, aber überhaupt nichts los«, klagte Annika. »Das Spannendste hier sind die Eissorten im Café Venezia. Gestern habe ich Schoko-Chili und Blutorange gegessen.«
Sekunden später sah alles ganz anders aus. Franziska hatte auf Instagram angeblich eine Meldung über einen Mord auf Langeoog gesehen. Annika hielt das zunächst für einen Scherz. Franzi war für ihre makabren Späße bekannt. Sie hatte sich mal in der Schule damit entschuldigt, dass ihr Bruder gestorben sei. Das Problem war nur, sie war ein Einzelkind.
Doch dann fand Annika das Foto auf Instagram unter dem Hashtag #Langeoog.
Auf dem Foto war keine Leiche zu erkennen, sondern da waren nur Menschen, von hinten fotografiert. Sie standen im Kreis, einer gestikulierte herum. Jemand versuchte, ein rotweißes Absperrband auszurollen. Es flatterte im Wind wie eine Luftschlange.
Aber anhand des Fotos konnte Annika den Ort sofort lokalisieren. Das war ganz klar in den Dünen am Flinthörn. Nicht weit entfernt von der Stelle, wo Judith Rakers die Filmreportage gedreht hatte.
So schnell war Annika schon lange nicht mehr in ihre Klamotten geschlüpft. Sie traf keine besonders kluge Auswahl, sie griff sich einfach, was herumlag. Schon war sie im Flur. Sie bewegte sich ganz leise an der Tür ihrer Eltern vorbei. Sie atmete nicht mal, denn sie wusste, dass ihre Mutter einen sehr leichten Schlaf hatte. Sie war praktisch immer nur in Lauerstellung.
Zum Glück hatten sie sich direkt nach der Ankunft Fahrräder mit Elektroantrieb ausgeliehen. Die Straßen waren noch menschenleer. Sie sah im Bereich der Barkhausenstraße nur zwei andere Radfahrer. Doch je näher sie dem Naturschutzgebiet Flinthörn kam, umso mehr hektische Menschen sah sie. Zum Glück scheuchten die nicht die Watt- und Wasservögel auf. Sie betraten nicht die Brutgebiete, sondern begaben sich in die Dünen am Flinthörn-Strand.
Annika ließ ihr Fahrrad unten bei den anderen stehen. Kaum jemand hatte sich noch Mühe gegeben, sein Rad abzuschließen oder ordentlich abzustellen. Einige Räder waren umgekippt. Annika rannte hoch in die Dünen. Mindestens fünfzig, sechzig Personen waren schon da. Einen Moment überlegte Annika, ob sie ihre Eltern informieren sollte. Dann entschied sie sich, es nicht zu tun. Endlich war mal was los, endlich passierte mal was. Und sie war dabei. Erst das Interview mit Judith Rakers und jetzt das hier. Einerseits war ihr mulmig zumute, andererseits keimte so etwas wie Abenteuerlust in ihr auf.
Die Bürgermeisterin Heike Horn koordinierte den Aufbau eines Zeltes, um die Leiche vor Vögeln zu schützen. Sie schimpfte mit Leuten, die Fotos machten: »So etwas gehört sich einfach nicht!«
Annika schaffte es, sich durchzudrängeln. Sie sah das Gesicht der Toten, und obwohl alles voller Blut war und die Möwen ihr die Lippe zerfetzt hatten, wusste Annika sofort, wer das war. Diese Frau war noch vor wenigen Stunden von Judith Rakers interviewt worden.
Annika kreischte und krampfte ihre Hände zusammen. Aber sie merkte es nicht. Erst als ihr ein Feuerwehrmann eine Ohrfeige verpasste, kam sie zur Besinnung. Der Schlag war wie ein Weckruf. Sie bedankte sich sogar bei dem Mann dafür. Sie hatte das Gefühl, dass er es gut mit ihr meinte.
»Geh nach Hause, Mädchen«, sagte er, »du hast hier nichts verloren.«
»Doch«, sagte Annika, »doch. Ich weiß, wer das ist.«
»So? Kennst du die Frau? Wie heißt sie denn?«
»Keine Ahnung«, sagte Annika. Dann wurde sie ohnmächtig.
»Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte der Feuerwehrmann, während sich neben ihm ein Rentner aus Dinslaken, der seit zwanzig Jahren immer wieder Urlaub auf Langeoog machte, übergab.
Handys waren im Gefängnis sehr begehrt, aber natürlich verboten. Wenn es gelang, etwas in den Knast hineinzuschmuggeln, wurde das zunächst den Gefangenen angeboten, die über Macht, Einfluss oder viel Geld verfügten. Oft gehörte das zusammen.
Bernhard Sommerfeldt, der hier von den meisten noch Doc genannt wurde, galt geradezu als märchenhaft reich. Er hatte zwar verfügt, dass das meiste Geld seiner Bestseller gespendet wurde, trotzdem eilte ihm der Ruf voraus, verglichen mit ihm seien Bundestagsabgeordnete oder Minister praktisch Hartz-IV-Empfänger.
Drogen oder Waffen kaufte er nie. Aber er verfügte über das neueste iPhone. Da seine Zelle außerhalb des normalen Trakts lag, weil man ihn als hochgefährlichen Mann von den anderen Gefangenen so gut wie möglich fernhalten wollte, lag sie nicht mehr in der Reichweite der Störsender, mit denen man in der Anstalt versuchte, den Gefangenen einen Zugriff auf die Pornoseiten im Netz schwer zu machen.
Sommerfeldt ging davon aus, dass sie ihm in seinem Fall das Handy sogar bewusst zugespielt hatten. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Wahrscheinlich wurde es überwacht, und durch ständiges Auslesen seiner Aktivitäten wollten sie Namen seiner Helfershelfer herausfinden oder einen erneuten Fluchtversuch im Vorfeld verhindern.
Doch was er tat, war harmlos. Ab und zu googelte er seinen Namen und las durchaus mit Autorenstolz Besprechungen seiner Romane.
Oliver Schwambach hatte in der Saarbrücker Zeitung einen klugen Artikel veröffentlicht, den Sommerfeldt fast auswendig konnte. Von ihm fühlte er sich verstanden.
Bei diesem Holger Bloem wusste er nicht so genau, wo er dran war. Ihm gefiel, dass Bloem seine Bücher immer als Literarisches Werk bezeichnete.
Sommerfeldts alte E-Mail-Adresse funktionierte immer noch. Es gab im Internet mehrere Seiten, in denen sich Fanclubs um seine Freilassung bemühten und Unterschriften sammelten. Für viele draußen war er ein Held, für andere ein eiskalter Killer.
Er wusste selbst nicht genau, wer er war. Möglicherweise beides.
Er las in Hans Falladas dickem Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst. Er hatte das Buch schon vier-, fünfmal gelesen. Manchmal blätterte er auch nur darin, schlug wahllos Stellen auf und fand sich irgendwie wieder. Hier im Gefängnis fühlte er sich Fallada näher denn je.
Er versteckte das schmale Handy zwischen seinen Büchern. Ab und zu gab es Zellenkontrollen, aber die Justizvollzugsbeamten diskutierten mit ihm lieber über die Romane, als sie durchzublättern und zu durchsuchen, denn bei ihm war nie etwas gefunden worden. Keine Waffen, keine Drogen. Er galt als vorbildlicher Gefangener, ja, war fast in den Stand eines Mitarbeiters erhoben worden.
Eine junge Justizvollzugsbeamtin, die schrecklichen Mundgeruch hatte und leider keinen Freund, der sich getraut hätte, es ihr zu sagen, schrieb selbst und suchte Tipps bei Sommerfeldt. So manchen Dialog in ihrem Manuskript war er schon mit ihr durchgegangen. Inzwischen hatte sie verstanden, dass jede Person in ihrem Roman eine eigene Sprache brauchte und nicht einfach sprechen durfte wie sie selbst.
Sie hieß Tanja Bottmer und träumte davon, die neue Patricia Highsmith zu werden.
Sommerfeldt las ihren Text. Er war besser als die erste Fassung, aber immer noch viel zu unentschlossen, viel zu unkonzentriert.
Er legte das Manuskript beiseite und blickte, um sich abzulenken, auf sein Handy. Er wollte die Morgenzeitungen checken. Eine E-Mail ploppte auf. Was er dann sah, ließ ihn zusammenzucken. Eine Frau in den Dünen, offensichtlich mit einer Garrotte getötet. Oder ein Stümper hatte versucht, sie mit einem Schwert zu köpfen.
Unter dem Bild stand der Satz: Es ist ganz einfach.
Er schaltete das Handy sofort aus und versteckte es wieder zwischen seinen Büchern, ganz so, als wolle er mit der Sache nichts zu tun haben. Ja, er schämte sich fast, als hätte er etwas Schlimmes getan, fühlte sich schuldig.
Oder machte sich da jemand einen Spaß mit ihm? War das ein Bild aus irgendeinem Hollywoodstreifen? Waren die in der Lage, so echte Bilder zu produzieren?
Die KTU-ler in ihren weißen Ganzkörperkondomen wirkten zwischen den aufgebrachten Touristen, die um die Leiche herumstanden, wie Marsmenschen, die gerade gelandet waren.
Für Ann Kathrin war klar, dass die Spurensicherung hier im Grunde kaum noch etwas finden konnte. Alles war zertrampelt. Es gab hier jetzt DNA- und Fußspuren von mindestens fünfzig Personen. Einige rauchten und traten ihre Kippen im Dünensand aus. Auch wenn sie von Angestellten des Tourismusservice darauf hingewiesen wurden, dass so etwas nun wahrlich nicht ging, und sie die Menschen zum Verlassen der Dünen aufforderten, hatten die Spuren an diesem Tatort jede Beweiskraft verloren.
Die ersten Touristen kamen den Ermahnungen nach und verließen den Tatort. Natürlich nicht, ohne vorher noch ein paar Fotos zu machen. Wahrscheinlich, dachte Ann Kathrin, sind auf Facebook und Instagram jetzt mehr beweissichernde Aufnahmen, als wir sie noch machen können.
Weller kümmerte sich um Annika Schmelzin. Sie war blass, wirkte schwer verstört und erschüttert. Weller sah ihr nicht in die Augen, sondern auf den Busen. So kannte Ann Kathrin ihren Mann gar nicht. Es war ihr richtig unangenehm zu sehen, wie Weller den Oberkörper des Mädchens anstarrte.
Ann Kathrin stand so, dass sie Annika nur von hinten sah. Ihrem Mann konnte sie direkt ins Gesicht schauen. Mit zwei Schritten war Ann bei ihm. »Gibst du jetzt hier den Rupert oder was?« Ann Kathrin zeigte auf ihren eigenen Busen. »Ihre Augen sind nicht hier, sondern«, sie deutete an, wo beim Menschen die Augen sind, »da.«
Weller nickte.
Annika drehte sich zu ihr um. Jetzt sah Ann Kathrin, warum Weller so geglotzt hatte. Auf Annikas blauem T-Shirt stand groß mit weißer Schrift: Nicht alles in Norddeutschland ist flach.
Holger Bloem hatte sich entschieden, Weller und Ann Kathrin zu begleiten. Er war mit dem Filmteam ohnehin erst ab elf Uhr verabredet. Er unterdrückte den Impuls, Fotos zu machen. Wahrscheinlich lag es an den vielen Menschen, die den Moment mit ihren Handys festhalten wollten. Er fand es der Leiche gegenüber respektvoll, einfach einen Moment zu schweigen und innezuhalten. Er hatte seine Canon um den Hals hängen.
»Sie kennen die Tote also?«, fragte Weller.
»Ja, nicht wirklich. Sie wurde gestern von Judith Rakers interviewt. Meine Mutter kennt sie besser, die hat mir gesagt, das ist eine berühmte Schauspielerin. Ich hab sie auch getroffen, bei Vier Beaufort.«
»Haben Sie das T-Shirt von dort?«, fragte Weller.
Ann Kathrin warf ihm einen tadelnden Blick zu. Was sollte das? Doch dann begriff sie: Weller versuchte, das Mädchen ein bisschen runterzuholen. Sie war jünger als seine Töchter. Vielleicht konnte er mit ihr ganz gut umgehen. Er wollte nicht nur über den Fall sprechen, sondern sie in ein Gespräch verwickeln, um dann langsam mehr zu erfahren.
»Eine berühmte Schauspielerin? Aus dem Fernsehen? Theater? Kino?«
Annika zuckte mit den Schultern und verzog den Mund.
Holger Bloem stand nicht weit von den beiden weg. Er warf ein: »Wir könnten Judith Rakers fragen. Wenn sie die Frau interviewt hat, dann wird sie ja wohl wissen, wer das ist …«
Weller mochte es nicht, wenn sich jemand in ein Zeugengespräch einmischte, aber er musste Holger natürlich recht geben.
»Wo ist deine Mutter denn jetzt?«
»Bei Flörke. Mit meinem Papa. Die wissen noch von nichts.«
Mit einem Blick erkundigte Weller sich bei Ann Kathrin, ob es o.k. wäre, wenn er mit Annika diesen Tatort verlassen würde. Sie nickte nicht einmal, trotzdem wusste Weller, dass sie einverstanden war. Holger Bloem registrierte genau, wie die zwei sich verstanden. Wahrscheinlich redeten sie nur, damit jeder mal die Stimme des anderen hörte. Nötig war es kaum.
Bloem machte Fotos von Ann Kathrin: Die Kommissarin wütend bei den Ermittlungen …
Marco Zielinski traute sich nicht so nah ran wie die anderen. Er hatte Angst, dass jemand auf ihn zeigen würde: Der da ist es, der hat ihr unter den Rock fotografiert!
Niemand hatte es bemerkt, niemand hatte ihn beobachtet. Trotzdem breitete sich diese Angst in ihm aus.
Er hatte die Bilder längst hochgeladen und fürchtete, wenn er den Vorgang rückgängig machen würde, könnte das nur noch mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Einfach stillhalten und hoffen, dass keiner etwas merkt, dachte er. Ja, vielleicht war das in diesem Fall wirklich die bessere Taktik.
Die Tote da oben in den Dünen war ganz klar Astrid Thoben. Die verhasste Lehrerin. Sie abzuschießen, sie vorzuführen, der Lächerlichkeit preiszugeben, das war das eine. Aber ihr den Kopf abzuschneiden, etwas ganz anderes.
In der Gruppe nannte er sich nur M. Niemand machte so etwas unter seinem Klarnamen. Er hoffte, seine Spuren ausreichend verwischt zu haben. Aber er hatte ihren E-Mail-Account geknackt und so herausgefunden, dass sie, die in der Schule immer nur in Jeans und Hosenanzügen auftauchte, im Urlaub gerne Röcke trug. Nur im Urlaub. Das war ihre Freizeitkleidung. In der Schule schlüpfe sie aus rein professionellen Gründen in ihre Hose, wie ein Ritter in seine Rüstung. Ja, genau so hatte sie es einer Freundin mitgeteilt.
Er hörte, was die Leute erzählten, die zu ihren Fahrrädern zurückgingen. Einer hatte aufgeregt gesagt, der Kopf sei abgeschnitten. Eine junge Frau behauptete aber vehement, der Kopf sei noch dran. Nicht mal darin waren sie sich einig. Nur eines war klar: Die Frau war tot.
Wenn ich jetzt zur Polizei gehe und ihnen sage, dass ich weiß, wer sie ist, dann mache ich mich verdächtig. Sie werden mich als Erstes verhören, und alles fliegt auf. All die Fotos, das Punktesammeln, einfach alles. Nein, er musste schweigen. Es war sogar falsch, jetzt hier zu sein. Allein durch die Nähe machte er sich verdächtig, fürchtete er.
Musste er den anderen Bescheid sagen? War er das der Community schuldig?
Ein Gedanke ließ ihn erschaudern. War einer von ihnen der Mörder? Wer hasste diese Frau so sehr? Ein ehemaliger Schüler?
Marco Zielinski hatte ein blödes Gefühl dabei, jetzt die Punkte zu kassieren, aber sie waren ihm bereits gutgeschrieben worden.
Gab es überhaupt noch einen richtigen Schritt? Konnte er irgendetwas machen, das jetzt in Ordnung war? War es klug, die Insel sofort zu verlassen und so zu tun, als hätte er von dem Mord nichts mitgekriegt? War das glaubhaft?
Aber er musste nicht wissen, wer dort ermordet worden war. Nein, so weit ging es nicht. Es würde der Polizei schwerfallen, zwischen ihm und der Leiche eine Verbindung herzustellen. Es sei denn, sie fanden die geheime Seite im Netz.
Jetzt, da alle Touristen den Tatort verlassen hatten und nur noch die miesgelaunten Kriminaltechniker und Ann Kathrin Klaasen sich hier oben in den Dünen befanden, war die Leiche mit einer Plastikplane abgedeckt worden.
Ann Kathrin reckte sich, als sei sie gerade erst aufgestanden. Sie blickte zum Meer und genoss für einen kurzen Moment die Stille. Sie versuchte, alle Stimmen auszublenden. Autolärm gab es hier sowieso nicht. Und dann waren da nur noch die Möwen und das beständige Rauschen der Wellen.
Es war nicht wirklich still. Sie konnte sogar hören, woher der Wind kam. Und irgendwo flatterte eine Fahne. Es war halt die Stille, die ein Morgen am Meer bot, wenn die Geräusche der Naturgewalten nicht vom menschlichen Lärm zerfetzt wurden.
Sie hielt das Gesicht in den Wind, spürte das Flattern ihrer Haare an den Ohren. Ganz nah bei ihr lag die Tote. Was war hier geschehen? Ann Kathrin schloss die Augen. Den Verletzungen nach zu urteilen, musste der Täter eine Stahlschlinge benutzt haben. Aber er hatte die Frau damit nicht einfach erwürgt, sondern immer fester zugezogen und ihr dabei fast den Kopf vom Hals getrennt. Sie musste längst tot gewesen sein, und er hatte immer weiter an seiner Schlinge gezerrt.
So etwas nannte man Übertötung. Das machten Menschen in äußerster Wut. Oder völlig Wahnsinnige, wenn sie dem Opfer noch über den Tod hinaus Schaden zufügen wollten.
Das Ganze war sicherlich nicht zufällig geschehen. Kein Streit unter Liebenden, keine Handlung im Affekt. Nein, wer immer das war, der ist schon mit dem Plan hierhingekommen, dachte Ann Kathrin. Er musste das Mordwerkzeug bei sich geführt haben. Er hatte nicht einfach irgendein Stahlseil benutzt, dann hätte er sich selbst die Finger dabei abgeschnitten. Auf jeden Fall wären seine Verletzungen heftig gewesen. Er musste eine Stahlschlinge mit Griffen dran benutzt haben.
War er der Frau schon nach Langeoog gefolgt? Hatten sie sich hier erst kennengelernt? Warum hatte er nicht versucht, die Leiche im Sand zu vergraben? Es wäre hier ein Leichtes gewesen. Dann wäre sein Opfer nicht so schnell gefunden worden. Stattdessen hatte er sie den Raubvögeln zum Fraß hingelegt.
War das ein bewusster Akt? Auch eine Art Erniedrigung oder Bestrafung?
Das Geräusch der Wellen war jetzt so heftig, dass Ann Kathrin das Gefühl hatte, gleich könnten die Wellen ihre Füße erreichen. Dabei war sie in Wirklichkeit noch gut hundertfünfzig Meter von den ersten Ausläufern der Wellen entfernt. Die Worte eines KTU-lers rissen sie aus ihren Gedanken.
»Hoffentlich hat die Kleine sich keine Blasenentzündung geholt.«
Ann Kathrin fuhr herum und funkelte ihn an. »Nur weil diese Frau tot ist, verliert sie nicht ihre Menschenwürde! Was soll dieses Geschwätz?! Stellen Sie sich vor, das wäre Ihre Frau oder Ihre Mutter! Wie würden Sie sich fühlen, wenn dann einer so über sie redete? Wir haben ein Opfer respektvoll zu behandeln, wie einen lebenden Menschen!«
Er zuckte zurück, als hätte er Angst, eine Ohrfeige zu bekommen. Er hatte ein birnenförmiges Gesicht, eine schmale Stirn und dicke Hamsterbacken. Er erinnerte Ann Kathrin an den Chefredakteur einer Tageszeitung, mit dem sie mehrfach wegen seiner undifferenzierten Berichterstattung aneinandergeraten war.