Otto Dix - Olaf Peters - E-Book

Otto Dix E-Book

Olaf Peters

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Beschreibung

Otto Dix (1891 - 1969) prägte wie kaum ein anderer Maler das Gesicht der Weimarer Republik. Seine Bilder der Neuen Sachlichkeit wirken wie Ikonen einer so schillernden wie bedrückenden Zeit. Im Nationalsozialismus als "entartet" geächtet, lebte er zurückgezogen am Bodensee und wandte sich unverfänglichen, z.T. christlichen Themen und der Landschaft zu. Nach 1945 setzte er seine Karriere trotz der vorherrschenden Abstraktion fort, erfuhr in beiden deutschen Staaten Anerkennung, ließ sich aber von keiner Strömung und Kulturpolitik vereinnahmen. Eine neue, kompakte Darstellung von Leben und Werk des Künstlers ist längst überfällig, gibt es doch seit Anfang der 90er Jahre keine neue, den Forschungsstand berücksichtigende Gesamtdarstellung in dieser Form mehr. Olaf Peters verarbeitet zeitgenössische Quellen und Publikationen sowie den privaten Nachlass des Künstlers. Er stellt die Dix-Rezeption und die künstlerischen Strategien des Malers dar und ihm gelingt eine neue Analyse von Hauptwerken. Das Ergebnis ist eine fundierte, epochenübergreifende Gesamtdarstellung des von Brüchen gekennzeichneten Lebenswerks.

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Seitenzahl: 377

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Olaf Peters

Otto Dix

Der unerschrockene Blick

Eine Biographie

Mit 19 Farb- und 57 Schwarzweißabbildungen

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Reihengestaltung: büroecco!, Augsburg Umschlaggestaltung: Simin Bazargani, Berlin

Umschlagabbildung: Otto Dix, Selbstbildnis mit nacktem Modell, 1923

© VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Mit freundlicher Genehmigung des Otto-Dix-Archivs, Bevaix, CH

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2013

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960385-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010938-0

www.reclam.de

Inhalt

Vorbemerkung

 1 Eltern und Kinder

 2 Frühwerk, Nietzsche und Krieg

 3 Avantgarde in Dresden und Düsseldorf

 4 Schockästhetik: Lustmord

 5 Krieg und Kunsthandel

 6 Porträt und Neue Sachlichkeit

 7 Blick auf Dix

 8 Tradition und Krise

 9 Dix im »Dritten Reich«

10 »Innere Emigration« und Zusammenbruch

11 Zwischen den Welten

12 Erneute Anerkennung

Anhang

Dank

Quellen

Literaturhinweise

Literatur- und Quellennachweise zu den Kapiteln

Abbildungsnachweise

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Vorbemerkung

Wir leben in einer grausamen Welt und bilden uns oft ein, wir seien in der Lage, die Realität mit informiertem und schonungslosem Blick erfassen zu können. Die umfassenden Dokumentationsmöglichkeiten des Medienzeitalters zeichnen ein Bild unserer Gegenwart der Krisen und Kriege, das an Schrecken kaum überbietbar scheint. Doch wer wagt heute tatsächlich einen schonungslosen Blick auf die Realität, und wie wäre dieser Blick zu begründen: mit einem radikal aufklärerischen Impuls des kritischen Dokumentarismus oder gar mit der Vision einer Ästhetik des Bösen? Otto Dix hat eine solche Unerschrockenheit des Blicks besessen und das Menschliche, Allzumenschliche und Unmenschliche, das Schöne wie das Böse geschaut. Seine in den frühen 1920er Jahren entwickelte, radikale Ästhetik des Schreckens besitzt paradigmatischen Rang, an ihr hat sich jede heutige Form des Realismus zu messen.

Otto Dix (1891−1969) ist ein deutscher Jahrhundertkünstler: Aufgewachsen und ausgebildet im späten Wilhelminischen Kaiserreich, ist er der Maler und Dokumentarist des Ersten Weltkriegs (1914−1918) und wird in der Weimarer Republik zu einer künstlerischen Zentralfigur. Dabei bestätigt und dementiert er zugleich den so beliebten und immer wieder erzählten Mythos der sogenannten »Goldenen Zwanzigerjahre«. Ab 1933 ist er ein Visionär der inneren Emigration, ein Kritiker des Nationalsozialismus und doch auch ein an die Heimat gebundener Maler. Im geteilten Deutschland nach der doppelten Staatsgründung 1949 und im Kalten Krieg schließlich droht die Zeit über ihn hinwegzugehen: Die Abstraktion regiert die Kunst. Als Dix 1969 stirbt, ist er gerade erst wieder aus dem Schatten des Vergessens getreten. Postum etabliert er sich als einer der wichtigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts. Auch international setzt er sich schließlich trotz aller Widrigkeiten und trotz seiner so »deutschen« Kunst durch. Dabei ist immer wieder deutlich geworden, dass Dix als Künstler, der gravierende zeitgeschichtliche Brüche verarbeitet, und als facettenreicher Stilist ungebrochen aktuell ist. Otto Dix, über zwei Dekaden ein faszinierendes und teilweise verstörendes Phänomen im Zeitalter der Avantgarden, ist einer der großen Maler der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dieses Buch will dieser anhaltenden Faszination, die bei einigen auch auf Ablehnung beruhen mag, nachspüren.

1 Eltern und Kinder

Woher kommt Otto Dix, der wie kaum ein anderer Maler das Gesicht der Weimarer Epoche prägte und dessen Bilder uns als Ikonen einer gleichermaßen schillernden wie bedrückenden Zeit erscheinen? Wie lässt sich in das soziale Milieu und die persönliche Entwicklung eines Malers einführen, der vom Proletarierkind zu einem der angesehensten Porträtisten der Weimarer Republik avancierte und von da an in relativem Wohlstand lebte? Vielleicht kann gerade der Blick auf Porträts ihm nahestehender Menschen dabei helfen, der Person und ihrer Herkunft näher zu kommen. Dix hat in den frühen 1920er Jahren als junger, sich allmählich etablierender Maler seinen Eltern, zu denen er zeitlebens ein gutes Verhältnis unterhielt, mit zwei eindringlichen Doppelbildnissen ein künstlerisches Denkmal gesetzt. Sie zeigen das Paar mit abgearbeiteten Händen und gezeichneten Physiognomien auf einem biedermeierlichen Sofa sitzend. Die Gemälde sind von subtiler Einfühlung und beobachtender Distanz geprägt, unterscheiden sich aber deutlich in ihrer kompositionellen Anlage. Beide Werke vermitteln etwas von der bezeugten Hochachtung, die der Maler und Sohn den Eltern gegenüber angesichts ihrer Lebensleistung, ihres Fleißes und ihrer Tüchtigkeit empfand.

Die frühere, heute im Kunstmuseum Basel aufbewahrte Leinwand von 1921 (Löffler 1921/12) schiebt die Figuren auf engem Raum gegeneinander und verkeilt sie im Bildrahmen. Die Anlage des Werkes zehrt noch vom Expressionismus, obwohl die Figuren, in Anlehnung an das berühmte Elternbildnis des romantischen Malers Philipp Otto Runge, selbst äußerst realistisch erfasst sind – hier manifestiert sich ein künstlerischer Paradigmenwechsel vom Expressionismus über einen realistisch-veristischen Zwischenschritt zur Neuen Sachlichkeit. Die Bildkomposition erweist sich als labil, wenn man den abschüssigen Linien der Köpfe, der Schulterkontur und dem Band der schweren Hände folgt. Dem diagonalen Abgleiten nach rechts unten wird durch die blockhaft sperrige Figur des Vaters entgegengearbeitet, gleichwohl sie die diagonalen Richtungswerte der Ehefrau aufnimmt. Vor allem die bloßen, hell aufscheinenden Unterarme und die Neigung des Oberkörpers stabilisieren die Komposition.

Das spätere, heute im Sprengel Museum in Hannover zu sehende Bild von 1924 (Löffler 1924/4) zeigt dieselbe Szene und fällt doch ganz anders aus. Frontal schaut der Betrachter auf die streng nebeneinander Sitzenden, die als Dreiviertelbildnis auf das altertümlich anmutende Möbel »geheftet« zu sein scheinen. Erneut fällt die Beziehungslosigkeit der Figuren untereinander ins Auge. Sie steht im Kontrast zu der die Figuren einander annähernden physiognomischen Zeichnung, zu den korrespondierenden Farbwerten der Kleidung und den von Arbeit und Gicht gleichermaßen verformten groben Händen.

Bildnis der Eltern I, 1921, Öl auf Leinwand, 101 × 115 cm, Kunsthalle Basel

Bildnis der Eltern II, 1924, Öl auf Leinwand, 118 × 130,5 cm, Sprengel Museum Hannover

Auf beiden Bildern kreuzen sich die in divergierende Richtungen schauenden Augen, ohne sich zu treffen. Distanz und Empathie, expressiver Ausdruck und sachliche Objektivierung, realistisches Figurenstudium und konstruktives Bildgefüge gehen eine spannungsreiche Synthese ein. Diese Leistung konnte nur ein Maler erbringen, der gleichermaßen ein sachliches Interesse am Bildthema Porträt (Doppelbildnis), eine akademische Ausbildung und genaue Kenntnisse der jüngsten Kunst besaß.

Vorbereitet hatte Dix die beiden Doppelbildnisse in für ihn typischer Weise durch große Zeichnungen, die er 1920 jeweils von seinem Vater, der damals 58 Jahre alt war, und seiner um ein Jahr jüngeren Mutter fertigte. Während der Vater den Betrachter über den Rand seiner Brille anschaut, sitzt die Mutter (auf dem anderen Blatt) mit nachdenklich-konzentriert aufgestütztem Kopf und liest. Der Wunsch, die Eltern in repräsentativen Gemälden innerhalb weniger Jahre gleich zweimal zu verewigen, entsprang Dix’ Idee, seinen künstlerischen Wandel zu dokumentieren: Er malte 1921 expressiv-veristisch und 1924 objektivistisch-neusachlich und lotete in seinen Porträts immer wieder aus, inwieweit die Malerei der Fotografie bei der Deutung eines Menschen überlegen ist. Die Auseinandersetzung mit der zeitgleich auftretenden sachlichen Porträtfotografie, etwa eines August Sander oder eines Hugo Erfurth, bildet den künstlerischen Hintergrund; der aus Halle (Saale) stammende und in Dresden ansässige Erfurth war seit etwa 1920 mit Dix bekannt und fotografierte die Eltern 1925/26. Zum anderen aber ging es Dix bei seiner Motivwahl um die Nähe zu seinen Eltern. Beständig hielt er Kontakt zu ihnen, schrieb ihnen und schickte 1904 ein Foto von sich, um die Eltern so einmal persönlich zu besuchen, wie er schrieb. Er unterstützte sie finanziell, als ihm dies nach ersten künstlerischen Erfolgen möglich war, und schickte ihnen zu Weihnachten Wollkleidung, für die sich die Eltern bei ihm herzlich bedankten.

Otto Dix stammt aus proletarischen Verhältnissen und wurde am 2. Dezember 1891 in einem Ort namens Untermhaus geboren. Seit 1819 war die Familie Dix in Untermhaus ansässig, die väterliche Linie stammte aus dem Dorf Pohlen bei Wünschendorf, wo sie im 18. Jahrhundert als Bauern erfasst wurden. 1890 besaß der Fleck 3274 Einwohner, 1900 waren es 6256, und er war nach der Vereinigung mit dem kleineren Städtchen Kuba der zweitgrößte Ort des Fürstentums Reuß. Dix’ Vater Ernst Franz Dix (1862–1942) arbeitete als Formgießer in dem nahe gelegenen Gera. Franz Dix hatte 1889 die Näherin Louise Pauline Amann (1863–1953) geheiratet. Das künstlerische Talent Ottos wird in der Literatur immer wieder auf die Mutter und die mütterliche, aus dem süddeutschen Raum (Esslingen-Tuttlingen) stammende Familie zurückgeführt. Die Mutter dichtete und trug vor, und in der Familie Amann gab es weitere künstlerische Talente. Vor allem der mehr als zehn Jahre ältere Cousin Fritz Amann soll dafür verantwortlich sein, dass Dix Künstler werden wollte. Ihm saß Dix als Junge Modell, war von der Atelieratmosphäre fasziniert und es wurde sogar spekuliert, ob er sich in dem eindrucksvollen ersten Bildnis eines Arbeiterjungen im Atelier (Löffler 1914/6) nicht selbst gemeint haben könnte. Nun mag es in der Tat zutreffen, dass der inzwischen 23jährige Maler sich bei der Arbeit an dem Gemälde an seine eigene Jugend erinnerte und daran, selbst einmal Modell gestanden zu haben. Aber Dix fühlte sich der Arbeiterschaft insgesamt verpflichtet oder nahe und wählte wohl daher – und nicht nur, um Kosten zu sparen – immer wieder Modelle für seine Werke aus diesem Milieu. Insbesondere die Darstellungen von Arbeiterfrauen mit ihren Säuglingen oder von Arbeiterkindern zählen zu den wichtigsten und berührenden Werken des Malers zu Beginn der 1920er Jahre. Mädchen am Sonntag (Löffler 1920/1) oder Zwei Kinder von 1921 (Löffler 1921/10) kontrastieren die zerbrechlichen Figuren mit hart geschnittenen Kastenräumen, welche die Figuren bedrängen und einsperren – und damit auch die Bedingtheit des Individuums durch sein soziales Umfeld markieren. Hier besaß Dix trotz aller Härte ein sensibles Gespür für die Abhängigkeit der Existenz von äußeren Umständen, Limitierungen und Möglichkeiten.

Der Vater von Otto Dix wird im Kontrast zur musisch veranlagten Mutter von der Literatur mit knappen Strichen als politische Figur gezeichnet, die in sich gefestigt und zurückhaltend war, aber bestimmt auftrat. Er arbeitete u. a. für die Maschinenfabriken H. Güntsche und A. Harwieg sowie für die Geraer Maschinenfabrik & Eisengießerei A. G. und trat 1891 dem Deutschen Metallarbeiterverband bei. Er engagierte sich aktiv für die Sozialdemokratische Partei, die erst 1907 bei Wahlen die Mehrheit an die bürgerlichen Kandidaten verlor. 1903 erschien Franz Dix auf den sozialdemokratischen Mitgliederlisten, war der Partei aber wohl schon 1898 beigetreten und engagierte sich im Arbeiter-Bildungsverein und im Arbeiter-Gesangsverein. In den darauffolgenden Jahren erwarb der Vater, der aufgrund seiner Qualifikation eher zu den gut verdienenden Arbeitern gehörte, ein Stück Land an dem kleinen Fluss Elster, nahm einen Kredit auf und baute. Das Haus an der Uferstraße 4 konnte nach einigen voraufgegangenen Umzügen Anfang Juli 1908 von der Familie bezogen werden, auch wenn keine Bäder vorhanden waren. Die Restschuld der Hypothek in Höhe von 27 500 Mark beglich er erst Ende 1939, wohl auch mit Hilfe des Sohnes Otto, der inzwischen gut von seiner Kunst leben konnte.

Zwei Kinder, 1921, Öl auf Leinwand, 96 × 76 cm, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique Brüssel

Dix entstammt also dem relativ großen Teil einer qualifizierten, in der Eisen- und Metallindustrie und vorwiegend im großstädtischen Raum angesiedelten Arbeiterschaft, die verhältnismäßig gut gewerkschaftlich und parteipolitisch organisiert war. Er wuchs in einer Art sozialdemokratischer Subkultur (Josef Mooser) auf, die einerseits die bürgerliche Lebenswelt in Ansätzen nachahmte und sich anderseits selbst aggressiv abgrenzte. Im Kaiserreich wurde die Sozialdemokratie stark diskriminiert und musste um ihre Rechte kämpfen. Das künstlerische Selbstverständnis des Malers Dix und sein mitunter vehement antibürgerlicher Habitus sowie sein sozialer Geltungsdrang sind durch diese Herkunft entscheidend geprägt worden.

Die beiden Elternbildnisse zeigen aber nicht das Bild von politisch organisierten Arbeitern, die sich für ihre Rechte einsetzen. Hier sollte Heinrich Vogeler mit seinem Hamburger Werftarbeiter 1928 ein realistisches, und mit Blick auf die Kommunisten nicht parteikonformes Hauptwerk der politischen Weimarer Kunst schaffen. Der private, gleichzeitig emphatische und distanzierte Blick des Sohnes Otto auf die Eltern und damit auch auf die eigene Herkunft hält sich eher an der häuslichen Enge und der Bescheidenheit der Verhältnisse fest. Man hat die Arbeiterkultur im Deutschen Kaiserreich einerseits als eine Kultur der Armut und anderseits als eine um moralische Selbstbehauptung ringende Kultur gedeutet, die sich zugleich am Kleinbürgertum orientierte und sich von ihm abgrenzte. Diese Selbstbehauptung als Stolz auf eine Lebensleistung, auf moralische Integrität und auf die Fähigkeit, den Mangel zu verwalten, wird durch die beiden Bilder der Eltern eindrücklich vermittelt. Vor allem das zweite Gemälde bezeugt daneben eine fast schicksalhaft-symbiotische Verbindung der Eltern, die sehr nahe zusammensitzen. Es suggeriert gemeinsame Werthaltungen und Moralvorstellungen; das Bild selbst ist akkurat geordnet: die Kleidung der Eltern ist reinlich, und das Sofa fungiert als Symbol bescheidenen Wohlstands trotz beengter Verhältnisse. Inhalt und Form fallen zusammen.

Diese persönlichen sozialen Verhältnisse hatte Dix bereits zu Beginn der 1920er Jahre hinter sich gelassen, ohne sie zu negieren. Vielmehr hielt er in erstaunlichem Maße an der Familie als Bindeglied an die Herkunft fest. Als Student in Dresden konnte er freilich auch etwas überheblich werden. An seinen Freund Hans Bretschneider schrieb er wohl Mitte 1912: »Aus der Reise nach Gera wird selbstverständlich nichts, denn was soll ich dort, bah, mich von diesen Proleten ankohlen lassen? Auch habe ich keine Sehnsucht nach meinen Angehörigen.« Dass Dix dennoch einen ausgeprägten Familiensinn besaß, geht nicht zuletzt aus seiner Teilnahme an den regelmäßigen Familientreffen hervor, etwa an einem Ausflug nach Thieschitz bei Gera 1930 oder an einem größeren Familientreffen in Gera Ende Mai 1931, die beide fotografisch dokumentiert sind. Neben Dix sind auch die Geschwister des Malers festgehalten: die Schwester Toni (geb. 1893), der Bruder Fritz (geb. 1895) und die jüngere (Lieblings-)Schwester Hedwig (geb. 1898). Ein viertes Geschwisterchen, Lisbeth, starb – wie Otto seinen Geschwistern unter Tränen mitteilte – bereits wenige Wochen nach der Geburt um den Jahreswechsel 1899/1900.

Dix war im Mai 1931 schon eine nationale Berühmtheit und gab bei solchem Anlass anhand von Reproduktionen seiner Gemälde bereitwillig Auskunft über sein künstlerisches Schaffen. Der Bruder Fritz dagegen setzte sich passioniert mit der Familiengeschichte auseinander und gab bei gleichem Anlass seine Nachforschungen zu einem Bauernführer Dix, der sich eventuell an einem Bauernaufstand im späten 18. Jahrhundert beteiligt hatte, zum Besten. Dix zahlte regelmäßig seinen Betrag von 5 RM und erhielt die Mitteilungen des Verbandes der Familie Dix auch dann noch, als sich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten der Tonfall dieser Mitteilungen änderte. Willy Dix meinte in der 16. Mitteilung des Familienverbandes, die am 11. April 1933 erschien, die Familienmitglieder ermahnen zu müssen: »Gedenke, dass Du ein Ahne bist!« und stellte sich in den Dienst des neuen Staates: »Jeder, der mit uns zäh festhält an unserem Ziel und lebendige Familiengeschichte treibt, hilft mit an der Gesundung unseres Volkes. Und das wollen doch alle Dixe.« Otto Dix dürfte das kurz nach seiner plötzlichen Entlassung durch die an die Macht gelangten Nationalsozialisten mit einigem Sarkasmus aufgenommen haben.

Das Foto vom Mai 1931 zeigt im Vordergrund eine etwas trotzig dreinblickende, die Arme verschränkende Nelly Dix, das erste Kind von Otto und Martha Dix, das 1923 geboren wurde. Immer wieder hat sich Dix malerisch mit Kindern beschäftigt, und seine Kinderdarstellungen gehören zu den eindrucksvollsten der deutschen Malerei; sie stellen sich zum Teil bewusst in die große Tradition romantischer Kinderbilder von Phillip Otto Runge und Karl Friedrich Schinkel. Auch an dieser Gruppe zeigt sich – neben anderen Beweggründen – ein sehr spezieller Familiensinn des Malers, der jetzt die eigene, 1923 gegründete Familie betraf. Die Faszination durch neues Leben kommt auch in der ungewöhnlichen Reihe von Darstellungen Neugeborener zum Ausdruck, etwa wenn Nelly 1923 schreiend mit gerade verbundenem Nabel gezeichnet wird, wenn isolierte Hände 1927 ein neugeborenes Kind (Ursus) mit zerknautschtem Gesicht in die Höhe heben (Löffler 1927/5) oder wenn im selben Jahr der Plan für ein großformatiges Geburtsbild (Löffler 1927/12) verfolgt, nicht aber zu Ende geführt wird. Auch ein weiteres Bild des neugeborenen Ursus (1927/6), noch bläulich angelaufen und etwas verschrumpelt auf einem strahlend weißen Tuch liegend, ist in dieser bemerkenswerten Reihe zu nennen sowie das heute verschollene Hauptwerk der Serie mit dem schreienden und strampelnden nackten Ursus neben einem üppigen roten Mohnstrauß. (Löffler 1927/8) Der Strauß greift tentakelhaft nach dem Kind aus und vereinigt die Motive von Geburt und Tod.

Mit diesen Werken verwirklichte Dix ein eigenes Programm, das das große Vorbild Runge sehr ernst nahm, ohne freilich bei einer Wiederholung der Romantik und ihrer Verherrlichung der Unschuld des Kindes stehen zu bleiben. Heinrich Lützeler – später Professor für Ästhetik in Bonn – stellte in der katholisch geprägten Zeitschrift Hochland 1931/32 dann auch fest: »Allerdings schlägt auch in einigen Kinderbildern das Grauen vorm Leben durch. So malt er zwei Bilder neugeborener Kinder – verzerrte Masken, vor denen man schaudert, malt die tiefste Hilflosigkeit dieser Geschöpfe und Fremdheit in der Welt. Es ist das erste Mal, daß die Kunst zu diesem krassen Thema greift.« Für Lützeler thematisierte Dix primär den Schock der Geburt, das Geworfensein des neuen Lebens in ein unbarmherziges Dasein.

Runge – der neben Caspar David Friedrich bedeutendste romantische Maler, auf den Dix teilweise zurückgeht und dem der frühe Dix-Förderer Paul Ferdinand Schmidt 1923 eine Monographie gewidmet hatte – war es zudem gewesen, der in seinem großformatigen, bekannten Elternbildnis von 1806 (Hamburger Kunsthalle) eben nicht nur die eigenen Eltern, sondern auch die eigenen Kinder, das heißt die Generation von Großeltern und Enkeln bildnerisch zusammengeführt hatte. Dix lotete diese Spannung der Generationen in beide Richtungen aus, wenn er einerseits die Eltern und anderseits die eigenen Kinder mitunter recht drastisch ins Bild brachte. Und spät, 1935, sollte er Runges Kombination der Generationen nochmals in faszinierender Weise aufgreifen, in dem Bild Mutter und Eva (Louise Dix und Enkelin Eva Kolberg; Löffler 1935/1), auf dem in altdeutscher Manier die ruhig dasitzende Großmutter mit dem sie hinterfangenden Baum zu verschmelzen scheint und in die Landschaft übergeht. Die faltige Gesichtshaut der inzwischen über 70jährigen wird von der schuppenartigen Rinde des Nadelbaums aufgenommen, während die ganz kindlich-neugierige, unbefangen-unschuldige Enkelin mit den blühenden Blumen als Symbolen des Lebens spielt. In diesem Gemälde treffen ein resignierter, müder und nach hinten gewandter Blick und ein offener, nach vorne gerichteter kontrastierend aufeinander. Hier will die Dynamik des Kindes die Statik der Großmutter überwinden, wie das Leben den Tod immer wieder überwindet und sich fortzeugt. Diese Polarität des Lebens zwischen Werden und Vergehen ist eine Schlüsselthematik im Werk des Künstlers.

Familie Dix, 1927, Mischtechnik auf Holz, 80 × 50 cm, Städelsches Kunstinstitut Frankfurt a. M.

Das Frankfurter Familienbild von 1927 zeigt dagegen die Eltern Martha und Otto Dix mit ihren beiden Kindern Nelly und dem gerade geborenen Ursus. (Löffler 1927/4; Familie Dix) Das Bild ist wegen seiner ungewöhnlichen, intensiven Farbigkeit bemerkenswert. Ferner spielt Dix gekonnt und ironisch mit den Bildtraditionen, schiebt er sich doch selbst von rechts wie die Karikatur eines das Heilige Kind anbetenden Hirten ins Bild, während die Gesamtkomposition an Maria mit dem neugeborenen Christus erinnert. Es greift die Tradition der christlichen Ikonographie zwar auf, aber karikiert oder invertiert sie gar, verkehrt sie in ihr Gegenteil. Statt der Anbetung des Kindes sehen wir die groteske Neugierde des Vaters Dix, der seinem kleinen, hässlich-böse gezeichneten Sohn – der sicher kein Erlöser der Menschheit sein wird – nahezukommen versucht, und den die Mutter etwas distanziert hält. Nelly taucht links hinter ihrer Mutter auf und hält eine rote Nelke in der Hand. Die Tochter ist in den Hintergrund geschoben und zeigt mit der Blume ikonographisch das blutrote Symbol der zukünftigen Passion Christi. Zugleich aber steht die rote Nelke für den 1. Mai und die sozialistische Bewegung und damit auch für die proletarische, freilich inzwischen verblassende und doch weiter prägende Herkunft des Malers Otto Dix. Mit anderen Worten: Die erhabene Bildformel der Heiligen Familie wird selbstironisch gebrochen und zum Ausweis der proletarischen Abstammung wie der kunsthistorischen Bildung eines seit kurzem gesellschaftlich etablierten Professors für Malerei – darin dem roten Hintergrund des Arbeiterbildnisses Max John (Löffler 1920/16) vergleichbar. Dix hatte seine Kindheit als Sohn eines Formgießers und einer Näherin nicht vergessen, ja er war in selbstironischer Weise stolz auf sie, als er sich bürgerlich etabliert hatte und seine Malerei sich selbstbewusst in die Tradition der Altdeutschen Meister und der Romantiker stellte. Es war gerade diese Tradition, die dem modernen Maler die Möglichkeit gab, sich selbst und seine Familie bildnerisch zu interpretieren.

Otto Dix versuchte sich noch spät in seinem Leben, 1966 in dem Manuskript Erinnerungen aus meiner frühesten Jugend, auf seine frühesten Kindheitserinnerungen zu besinnen: »Der erste Eindruck meines Lebens war folgender: Ich lag in einem dunklen Raum. Es war sehr kalt. Eine große, volle Lichterscheinung sah ich und hörte die dunklen, dröhnenden Klänge einer Orgel.« Dix’ Geburtshaus steht noch heute neben der Kirche, und wenn man den Ort in Gera aufsucht, verwundert der später geschilderte nachhaltige Eindruck aufgrund der Nähe der beiden Gebäude nicht. Über die eigenen Kinder äußerte sich der Künstler freilich weit weniger dramatisch. Am Tag der Geburt seiner Tochter Nelly in Düsseldorf, am 14. Juni 1923, schrieb Otto Dix eine Postkarte an den befreundeten Maler Arthur Kaufmann, die er mit einer kleinen Zeichnung des neugeborenen Kindes versah: »Lieber Kaufmann & und liebe Frau Kaufmann. Wir haben heut früh ein wunderschönes Fräulein bekommen Können daher leider Eurer Fete am Sonnabend nicht beiwohnen Wir wünschen Euch allen viel Pläsier. Besuche sind vorläufig nicht erwünscht Herzlich grüßt Dix nebst Frau und Tochter.«

Nelly in Blumen, 1924, Öl auf Leinwand, 81 × 55,5 cm, Privatbesitz

Dix hatte mehrere Geschwister, mehrere Kinder und Enkelkinder, auf die er offensichtlich sehr stolz war und mit denen er sich auch noch im hohen Alter in eindringlichen Bildern, wie den Selbstbildnissen mit Bettina und Marcella, selbst darstellte. (vgl. Löffler 1951/1 und 1969/1) Für einige von ihnen gestaltete der Maler Kinderalben, so für seine drei eigenen Kinder Nelly, Ursus und Jan sowie für die Enkelin Bettina. Sie machen auf einen wichtigen Sachverhalt aufmerksam, der für das Werk von Dix von übergeordneter Bedeutung ist: Der Künstler sparte, auch als es um die Illustrationen ging, die in einem Kinderbuch erscheinen sollten, in keiner Weise den Schrecken und die Grausamkeit aus. So wie er bei der Geburt eines Kindes bildnerisch den Schmerz und den Schock des Auf-die-Welt-gekommen-Seins einfing, so wie er bei den Darstellungen von blassen Proletarierkindern um 1920 keineswegs die erbärmlichen Lebensumstände der Arbeiterklasse kaschierte, so wenig bemühte er sich darum, die Schrecken und Grausamkeiten bestimmter Erzählungen abzumildern. Allerdings sticht der gestalterische Unterschied ins Auge, je nachdem, ob Dix ein Buch für ein Mädchen oder einen Jungen zeichnete und aquarellierte.

Ein erstes Kinderbuch verschenkte Otto Dix Ostern 1922 an das Kind aus erster Ehe seiner zukünftigen Frau Martha. Der junge Maler war gerade ins Rheinland gekommen und hatte dort die Familie des Arztes, Sammlers und Kunsthändlers Hans Koch kennengelernt, der bereits zwei Kinder hatte. Schon kurze Zeit später sollte Dix die Frau des Sammlers heiraten und mit Martha einen eigenen Hausstand gründen. Die freundschaftliche Beziehung zum Sammler und Schwager blieb bestehen, zumal dieser mit Marthas Schwester liiert war und sie bald nach der Scheidung von Martha heiraten sollte. 1922 entstand in Dresden das Porträt der beiden Kinder aus der Ehe von Hans und Martha Koch. Es zeigt Hana und Martin Wenzel Koch, die nach der Scheidung der Eltern beim Vater blieben. Das Gemälde – erst Mitte der 1990er Jahre wieder entdeckt – verdeutlicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt und lange vor den oben erwähnten Bildern, die ab 1924 Dix’ eigene Kinder zeigen, dass sich der Maler im eigenen Familienkontext häufig für ein an Runge orientiertes, romantisches Stilidiom entschied. Bereits hier finden wird einen für Dix entscheidenden Aspekt, dass das Motiv letztlich über die Art und Weise seiner Repräsentation entscheidet, das Was das Wie präjudiziert. Eltern und Kinder werden vom Maler schon früh im Rückgriff auf die deutsche Romantik geschildert und diese persönlich wichtigen Bilder in der Tradition der deutschen Malerei verortet – parallel entstehen freilich die frühen veristischen Kinderbildnisse um 1920/21, die sich ganz bewusst eines sozialkritisch-veristischen Stils bedienen und Dix’ Stilpluralismus im Rahmen einer Bildaufgabe verdeutlichen.

Zurück zum Kinderbilderbuch: Es entführt den fünfjährigen Jungen Martin Wenzel Koch, genannt Muggeli, in die farbenstarke Welt der Indianer und Cowboys, der Walfisch- und Krokodiljagd, in die Hochhausschluchten New Yorks und zu den Pyramiden, in den Zirkus, den deutschen Wald und zu den Dinosauriern und Mammuts der Vorzeit. Das Spektakel endet mit dem nächtlichen Ritt hässlicher Hexen zum Blocksberg, bei dem selbst der kleine Halbmond erschaudernd zurückweicht. Einige Blätter stehen den zeitgleichen Aquarellen des Malers nahe und zeigen, dass er sich mit seinen Kunstthemen als Kinderbuchillustrator versuchte.

Das Kinderbuch für die eigene Tochter Nelly, um 1926 gezeichnet und gemalt, ist dagegen wirklich ein Kinderbuch, illustriert Rotkäppchen, zeigt aber vor allem Nelly, etwa im Zoo oder bei dem Missgeschick, in den Goldfischteich zu stürzen. Selbst vor gerechter Strafe scheut Dix nicht zurück, wenn die Tochter nach grausamen Spielen mit der Katze verdientermaßen zerkratzt wird. Stilistisch ist dieses Buch nah an zeitgenössischen Kinderbüchern mit ihren etwas steifen Figuren angelehnt und das Zeugnis eines wohl eher teilnehmend-beobachtenden, denn mitfühlenden Vaters, der für seine Tochter ein kleines Bilder-Tagebuch zusammenstellte.

Die beiden Bücher für Ursus und Jan, zwischen 1930 und 1933 gestaltet, führen dagegen wieder in eine vermeintliche, Dix näherstehende Jungen-Welt. Immer wieder fließt Blut, zeigen sich Ungeheuer, sieht man groteske Szenen, wird gehauen und gestochen. Dix ist in beiden Büchern zur losen Aquarelltechnik zurückgekehrt, und er lässt beide mit einer identischen Szene beginnen, mit einer Fastnacht, die er 1933 zu einem seiner beeindruckendsten Bilder gegen die Nationalsozialisten ausarbeiten sollte: Die sieben Todsünden (Löffler 1933/1); d. h. ein Hauptwerk der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts – im Rückgriff aus Kinderbuchillustrationen entwickelt. Und auch nach 1945 sollte Dix das Thema der Fastnacht wieder aufgreifen, um eine von ihm als grotesk wahrgenommene Nachkriegssituation zu verbildlichen.

Die sieben Todsünden, 1933, Mischtechnik auf Holz, 179 × 120 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Otto Dix’ künstlerisches Talent wird in der Literatur zum Maler auf die mütterliche Familie zurückgeführt. Dix wurde von seinem Onkel, dem Leipziger Porträtfotografen Heinrich Heller, künstlerisch ermutigt und gefördert und bekam von ihm erste Skizzenbücher zugesteckt – jedenfalls ist aus dieser Zeit (um 1903) das erste Skizzenbuch von Dix überliefert. In diese Bücher zeichnete er Verwandte, das Haus der Nachbarn oder die Reiseeindrücke seiner Bahnfahrten – als Junge von sechs Jahren wurde Dix mit einem Schild um den Hals in den Zug gesetzt, um seine Tante in Leipzig zu besuchen und bestand die Herausforderung ohne Schwierigkeiten – Bäuerinnen mit Wagen, Bäume und Sträucher, Windmühlen und Telegraphenmasten. Uns begegnen hier ganz früh, als naheliegendes Motiv, die Eltern wieder, im Profil gezeichnet, lesend und auch schon als in sich und gegeneinander verschränktes Doppelbildnis, wie der Sohn es dann wieder 1921 und 1924 realisieren sollte. Ein frühes gezeichnetes Stillleben zeigt ferner die elterlichen Utensilien des Alltags: Zeitung (Leipziger Neueste Nachrichten), Lesebrille, Kaffeetassen und Rauchmittel; andernorts finden sich Zigarren für Feinschmecker neben einem geschrumpften Stück Butter.

1897 eingeschult, besuchte Dix, der überwiegend als kluger und fleißiger Junge geschildert wird, die Volksschule in Untermhaus. Er traf dort auf den Lehrer Ernst Schunke, der sich in München bei Hermann Obrist und Wilhelm von Debschitz künstlerisch weitergebildet hatte. Schunke erteilte als Elementarlehrer ab 1903 Zeichenunterricht an der Bürgerschule Untermhaus, aber er ging mit seinen Schülern auch auf Ausflüge, die etwa an einem Sonntag die Umgebung Geras erkundeten und eine Hinwendung zur Landschaft ermöglichen sollten. Offensichtlich hat Dix auch immer wieder Hinweise und Ermahnungen erhalten, die vor allem dem Primat der Zeichnung galten: »Lieber Zeichnen als Malen! Muß alles viel genauer gezeichnet werden!« So erhielt Dix frühe Prägungen, die er in dankbarer Erinnerung behielt. Bei einem Kurzbesuch in Gera traf er 1931 seinen inzwischen fast 70 Jahre alten Lehrer wieder und zeichnete ihn als eine wegweisende Autorität mit klarem Blick. Schließlich war es Dix’ Lehrer Schunke, der bei einer Audienz bei Erbprinz Heinrich XXVII. Reuß j. L. 1906 eine fürstliche Förderung des 15jährigen Schülers in Höhe von jährlich 500 Mark erwirken sollte, allerdings verbunden mit der soliden Ausbildung zum Dekorationsmaler.

Diese Ausbildung – eine bittere Erfahrung – absolvierte Dix nach der Unterzeichnung eines Lehrvertrags am 17. Dezember 1905 beim Malermeister Carl Senff in Gera vier Jahre lang. Mit Kunst hatte das freilich wenig zu tun, denn Dix hatte nach eigenem Bekunden entweder Hühnerställe auszumisten oder Wände und Decken von Farbe zu säubern. Im Lehrvertrag war zudem unter Paragraph 7 festgehalten, dass der Lehrling »der väterlichen Zucht des Lehrherrn unterworfen« sei, und davon machte Senff auch Gebrauch, wenn sein Lehrling sich die nur teilweise freien Sonntage herbeisehnte, um in der Natur zu zeichnen und zu malen, statt seinen ihm übertragenen Aufgaben nachzugehen. Dix, der zu Beginn drei Mark und am Ende sechs Mark pro Woche als Lohn erhielt, war auch verpflichtet, die »Fortbildungs-, Fach- und Sonntagszeich[n]enschule zu besuchen« (§ 8). Was heute als Jugendwerk des Malers bekannt ist, entstand entweder hier oder während der herbeigesehnten sonntäglichen Ausflüge in die Natur.

Die frühe Freundin Marga Kummer hat in kleinen Karikaturen das zwiegespaltene Leben des jungen Dix geschildert. Sowohl sie als auch der ein Jahr ältere Lehrling Alfred Ahner haben Dix als Maler und Zeichner dargestellt, etwa wie Dix unter der Untermhäuser Brücke am 17. Juli 1907 mit Schemel und Hut, von neugierigen Kindern umringt, nach der Natur arbeitet. In diesem Jahr entstehen sehr unterschiedliche Bilder und Blätter, was der Lehrtätigkeit einerseits und dem Wunsch nach kleinen Freiräumen anderseits geschuldet ist. Genaue florale Dekorationsstudien, die – wie Ulrike Lorenz plausibel macht – an der Stilornamentik des Jugendstils wie an Ernst Haeckels Kunstformen der Natur (1899–1904) orientiert sind, stehen neben spätimpressionistischen oder frühexpressionistischen Ölskizzen. Dazwischen tauchen Blätter auf, die sich am Symbolismus Klingers oder Böcklins orientieren, so die Skizze Pilger und Tod, auf der der Knochenmann mit Stundenglas in der Hand eine Steinlawine auslöst, die den Pilger in enger Schlucht zu Tode bringen wird. Dix setzte das Motiv auch in Öl um. Bemerkenswert an alldem ist, dass Dix sehr offen versuchte, seine künstlerischen Interessen zu befriedigen. Dabei war er ohne Zweifel auch jugendlich orientierungslos und durch die sauer schmeckende Lehre in einen unbequemen Spagat von solider, später sich bewährender Ausbildung und freier Gestaltung gezwungen. Möglicherweise ist aber der oft irritierende Stilpluralismus von Dix schon hier verwurzelt und als Resultat des Konflikts zwischen angewandter und freier Arbeit bei dem jungen Auszubildenden zu denken; jedenfalls konnte Dix sich von Anfang an und gezwungenermaßen in verschiedenen Modi ausdrücken.

Dix war als Schüler und Lehrling durchaus fleißig und führte sich gut – dafür wurde er auch am 23. Juni 1908 von Rektor und Lehrkörper der Fortbildungsschule für eine Auszeichnung vorgeschlagen. Allerdings wurde er ein Jahr später für Unfug auf der Fasaneninsel (u. a. Beschädigung einer Schlittschuhbahn) umgehend bestraft. Doch bald war diese Zeit ohne größeren Schaden beendet, und nachdem Dix im April 1910 dem Prüfungsausschuss der Gerarer Maler- und Lackierinnung Probearbeiten vorgelegt und eine Gebühr von fünf Mark entrichtet hatte, wurde er als Geselle ›freigesprochen‹ und konnte ein halbes praktisches Jahr in Pößneck (Thüringen) absolvieren. Und obwohl der Malermeister Senff für Dix’ schnell und deutlich sichtbare Ambition Maler zu werden zuvor nur Spott und Verachtung übrig gehabt hatte – Senff traute dem Jungen nur ein Dasein als ›Schmierer‹ zu –, ließ sich der junge Dix nicht kleinmachen oder gar entmutigen und ging in die Kunstmetropole Dresden. Im Herbst des Jahres 1910 begann er dort sein Studium an der Königlichen Kunstgewerbeschule. Dix trat damit in den Bannkreis der Kunst ein, zunächst als dekorativer Entwurfskünstler, der parallel dazu die künstlerische Avantgarde für sich entdeckte und ihr ehrgeizig nacheiferte.

2 Frühwerk, Nietzsche und Krieg

Die Residenzstadt und Kunstmetropole Dresden war in den 1910er Jahren eine wichtige Drehscheibe für die moderne Kunst. Allerdings handelte es sich auch um ein hartes Pflaster, wie der endgültige Weggang der Brücke-Künstler nach Berlin 1911 belegt. Dresden war seit Gründung der Künstlergemeinschaft Brücke 1905 ein frühes Zentrum des Expressionismus, der sich allerdings erst nach 1910 allmählich durchsetzen sollte. Diese Entwicklung verdankte die Stadt unter anderem ihrer Kunstakademie – einer der bedeutendsten überhaupt –, ihren exquisiten Kunstsammlungen und ihrem Status als Zentrum der Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie einigen wichtigen Ausstellungen zur Moderne um 1900. So war die Internationale Kunstausstellung von 1897 ein nationales Ereignis, das nicht zuletzt die zwischenzeitlich verlorengegangene künstlerische Bedeutung der Barockstadt Dresden restituieren sollte. Zu sehen waren in der Malerei Werke von Degas, Ensor, Hodler, Monet, Pissarro, Segantini und Sisley, flankiert von Böcklin, Klinger, Leibl, Liebermann, Menzel und anderen. In der Bildhauerei waren Meunier und Rodin vertreten – Rodins Männlicher Torso war von dem Mäzen Woldemar von Seidlitz für die Kunstsammlungen erworben worden – und auch das ansonsten in solchen Ausstellungen eher vernachlässigte Kunstgewerbe war mit Gallé, Tiffany oder van de Velde hervorragend präsentiert. Ergänzend zu der Ausstellung war ein Vortragsprogramm konzipiert worden, das sich darum bemühte, das Publikum mit den neuesten künstlerischen Strömungen, und das hieß vor allem mit der französischen Entwicklung, vertraut zu machen. Bedeutende Kunsthistoriker wie Alfred Lichtwark und Cornelius Gurlitt referierten über die Farbe und das Sehen, andere über die neue Landschaftsmalerei oder französische Meister der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, namentlich Courbet und Manet.

1906 fand in Dresden die 3. Deutsche Kunstgewerbeausstellung statt, ein herausragendes kulturelles Ereignis, das am 12. Mai vom sächsischen König Friedrich August III. feierlich eröffnet wurde. Hier zeigten sich die Reformansätze des deutschen Kunstgewerbes, das um Anschluss an die internationalen Entwicklungen bemüht war und zum Beispiel mit den 1898 in München gegründeten Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk und später mit dem Deutschen Werkbund (ebendort 1907 gegründet) in der Tat bald auch eine führende Position einnehmen konnte. Wichtig war auch die Errichtung der nahe bei Dresden gelegenen Gartenstadt Hellerau. Der Möbelfabrikant Karl Camillo Schmidt, den Otto Dix sehr viel später (Löffler 1942/10) porträtieren sollte, stand als treibende Kraft hinter dem Unternehmen. Er hatte hier insgesamt 140 Hektar Land erworben, und der Münchner Architekt und Designer Richard Riemerschmid fertigte ab 1906 einen Gesamtentwurf für den Komplex, der neben einer Möbelfabrik der Deutschen Werkstätten auch öffentliche Gebäude sowie Kleinhäuser und Villen vorsah.

Die Königliche Kunstgewerbeschule in Dresden, Fotopostkarte, um 1910

Vor allem aber das klassisch-karge Festspielhaus von Heinrich Tessenow, der später als Architekt an der Dresdner Akademie lehrte, sollte ästhetisch eine enorme Strahlkraft entwickeln, die noch in den neusachlichen 1920er Jahren des Bauhauses zu spüren war. Émile Jaques-Dalcroze und Adolphe Appia reformierten hier ab 1910 Tanz und Theater. In den wenigen Jahren bis zum Ersten Weltkrieg sollten Künstlerpersönlichkeiten wie Kafka, Rilke, Werfel oder Kokoschka und Nolde sowie Lasker-Schüler, Hauptmann und Reinhardt nach Dresden-Hellerau kommen, um den Festspielen beizuwohnen.

Und doch war die auf Repräsentation bedachte Kunstmetropole Dresden insgesamt eher konservativ orientiert. Die wirklich innovativen kulturellen Impulse des Wilhelminischen Kaiserreichs gingen neben der aufstrebenden Reichshauptstadt Berlin von mittelgroßen, ehemaligen Residenz- oder neuen Industriestädten wie Darmstadt, Hagen oder Weimar und von herausragenden Einzelpersönlichkeiten wie Karl Ernst Osthaus oder Harry Graf Kessler aus. Zwar strebte man auch an der Elbe nach Reformen, besaß phasenweise eine herausragende Theater- und Musikkultur, die in der expressionistischen Epoche Maßstäbe setzte, sodass die Vossische Zeitung gar die Erfindung der Eisenbahn im Nachhinein damit gerechtfertigt sah, das Berliner Publikum »rechtzeitig in die Dresdner Premieren zu befördern«; die Höhepunkte blieben aber punktuell, und die Künstler der Stadt beschwerten sich in der Folgezeit über die allgemeine Situation. Das Brücke-Mitglied Karl Schmidt-Rottluff schrieb 1908 in einem Brief an Cuno Amiet, ihm sei es unbegreiflich, dass Dresden überregional überhaupt den Ruf einer Kunstmetropole genießen könne. Er behauptete, dort herrsche Feindseligkeit gegenüber der Moderne und der Avantgarde vor. Dieser Vorwurf kann nur teilweise bestätigt werden. In Dresden waren es insbesondere die Galeristen Ernst Arnold und Emil Richter, die andere Impulse vermitteln und neue Maßstäbe in der bildenden Kunst setzen konnten. Emil Richter hatte die Brücke 1908 das erste Mal im Kontext des kommerziellen Kunstbetriebs in Dresden präsentiert, nachdem die Ausstellung in der Lampenfabrik Karl-Max Seifert in Dresden-Löbtau 1906 als kuriose Ausstellungsidee, wenn überhaupt wahrgenommen, eher belächelt worden war. In der Rückschau wurden diese Veranstaltungen von Ernst Ludwig Kirchner denn auch als Fehlschläge bewertet.

1910 sollte sich das Bild grundlegend ändern. Die von Ludwig Gutbier geführte Galerie Arnold zeigte den ganzen September in der Schlossstraße 34 in von Henry van de Velde und Wilhelm Kreis gestalteten Räumen eine Ausstellung der Künstlergemeinschaft Brücke, die fast 100 Werke umfasste – darunter so ikonische Arbeiten wie Karl Schmidt-Rottluffs Deichdurchbruch, Heckels Schlafender Mann (Pechstein) oder Ernst Ludwig Kirchners Marzella, das sich heute in Stockholm befindet. Es erschien ein für damalige Verhältnisse recht umfangreicher, von den Künstlern selbst gestalteter, 38 Seiten starker Katalog mit 87 Katalognummern und 20 Originalholzschnitten. Für die Brücke bedeutete dies einen fulminanten Auftritt. Wichtige Werke der Künstlervereinigung waren auch in ihrer ersten Ausstellung im Sächsischen Kunstverein bis November 1910 auf der Brühlschen Terrasse zu sehen. Hier wurden auch die spätimpressionistischen Werke des jungen Max Beckmann sowie der älteren Protagonisten der Berliner Sezession, Lovis Corinth und Max Liebermann, gezeigt. Spuren ihrer Malereiauffassung finden sich im pastosen spätimpressionistischen Duktus des frühen Dix wieder.

In der Galerie Arnold folgte 1912 eine von Paul Cassirer übernommene, als sensationell empfundene Van-Gogh-Ausstellung, die mit 41 Gemälden reich bestückt war. Zentrales Kunstereignis des Jahres war die berühmte Sonderbund-Ausstellung in Köln, die internationale Strahlkraft entfaltete. Im Oktober 1913 präsentierte der Kunstsalon Richter eine aus Berlin von Herwarth Walden übernommene Ausstellung der italienischen Futuristen, die Hauptwerke wie Umberto Boccionis Die Straße dringt ins Haus (1911) umfasste. Zu Beginn des Jahres 1914 zeigte die Galerie Arnold dann einen repräsentativen Überblick über die jüngsten Entwicklungen der zeitgenössischen Avantgarden unter dem Titel Expressionistische Ausstellung: Die neue Malerei, der ebenfalls auf die Tätigkeit Waldens in der Berliner Sturm-Galerie zurückging und große Teile des Ersten Deutschen Herbstsalons von 1913 umfasste.

Der mit Dix befreundete Maler Otto Griebel hielt dazu in seinen Lebenserinnerungen Ich war ein Mann der Straße fest:

»Die Galerie Arnold bescherte den Dresdner Künstlern im Januar mit der umfassenden expressionistischen Ausstellung ›Die neue Malerei‹ eine besondere Sensation. Zum allerersten Mal sah ich hier die Bilder der Münchner Gruppe ›Der Blaue Reiter‹ sowie anderer gleichgerichteter Maler in reicher Fülle. Während das breite Publikum das Ganze für einen hoffnungslosen Blödsinn hielt, entstand in der Künstlerschaft ein heftiges Für und Wider, wobei sich viele von uns für das erstere entschieden. Fast jeden Tag besuchten wir die Ausstellung und fochten Kämpfe vor den Bildern aus. Aber nicht genug damit, wir begannen selbst expressionistisch zu malen.«

Diese bahnbrechenden Ausstellungen bewegten und prägten die jungen Künstler in der Metropole. Dix war seit dem Herbst 1910 in der Dresdner Kunstgewerbeschule eingeschrieben und dort mit angehenden Künstlern wie Otto Baumgärtel, Otto Griebel und Kurt Lohse befreundet. Pastos gemalte Landschaften und religiöse Bilder, detaillierte Pflanzenstudien in Gouache, dramatische und Gewalt darstellende Tuschpinselzeichnungen sowie erste Porträts bilden sein Frühwerk. Diese Arbeiten zeigen, wie der junge Maler an der Kunstgewerbeschule auf der Suche nach einer eigenen Kunstsprache war und sich dabei vielen unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt fand. Das Frühwerk besticht weniger durch seine Qualität, auch wenn es manches bislang übersehene sehr gute Werk enthält. Dix ist verhalten – er lehnt das Subjektive ab, will die Natur sehen und nicht immer »das ›Ich‹ mit hinein bringen« wie er an Hans Bretschneider, wohl 1911, schrieb – und bewegt sich im Rahmen noch limitierter Möglichkeiten, in Abhängigkeit von zeitgenössischen Entwicklungen. Wenig später zeigt sich vor allem der Wille zur Kunst und eine Spur von Dünkel, als er an den Freund Bretschneider zu Beginn des Jahres 1912 schreibt: »Ich weiß auch nicht, ob ich einst ein Maler werde. Aber ich ›hoffe u arbeite‹ und sage mir, Du musst etwas Großes werden. Verstehst Du, ich muß und wenn ich dabei alles verlieren sollte. Ich habe jetzt alle meine Kollegen in der Abteilung unter meinem Zepter, d. h. ich stehe geistig höher als sie.«

Aber anders als der etwas ältere Max Beckmann, der in seinen Bildern vor dem Ersten Weltkrieg mitunter das übergroße Format zur dramatischen Schilderung des Tagesgeschehens (so die Katastrophen des Erdbebens von Messina oder des Untergangs der Titanic) wählte und sich dabei mit Meistern wie Géricault oder Delacroix maß, zeigt Dix zunächst programmatische Momente im Selbstbildnis: forschende, kritische Introspektion (vgl. das nicht von Löffler erfasste Selbstbildnis von 1912 im Stadtmuseum Dresden und Löffler 1913/1) und später gewollte dämonische Selbststilisierung. In dem wohl auf 1914 zu datierenden, dramatischen Gemälde Köpfe (Löffler 1913/3) – Dix hat viele Frühwerke erst sehr viel später (und dann mitunter vor-)datiert –, das den Maler mehrfach zeigt, wird dieses Wollen durch die Signatur verdeutlicht. »DIX« steht in leuchtend roten Lettern im Bildmittelpunkt, um den sich mehrere gemalte Köpfe des Malers staffeln. Gerade die expressionistisch übersteigerten Werke ab 1913 belegen, dass Dix nun zur Avantgarde gehören will und sich zum jungen, avantgardistischen Künstler stilisiert.

Um 1911, unter dem Eindruck des späten Symbolismus und der Kunst des Fin de Siècle, hatte er noch über Motive wie eine Salome-Darstellung, einen Königsmörder oder einen gefangenen Ritter nachgedacht. Die farblich ausgewogenen landschaftlichen Darstellungen seiner Heimat und der Elblandschaft bei Dresden (vgl. Straße bei Milbitz; Löffler 1910/6, oder Gießerei; Löffler 1910/3; beide wohl eher 1912 zu datieren) geben sich kurze Zeit später in der Nachfolge des Spätimpressionismus und thematisieren dabei mitunter die rapide verlaufende Industrialisierung. Auch die Stillleben um 1912/13 sprechen die Sprache eines modernen Akademismus, den Dix an der Kunstgewerbeschule durch Lehrer wie den gleichwohl moderne-skeptischen Dekorationsmaler Richard Guhr vermittelt bekam, bei dem er ab 1912/13 studierte. Von Guhr distanzierte sich Dix zwar, doch hat Birgit Schwarz überzeugend darauf hingewiesen, dass seine künstlerischen Grundlagen eindeutig der Gewerbeschule entstammen und nachfolgend von ihm kritisch reflektiert benutzt wurden.

Die Selbstbildnisse und Männerporträts von 1913/14 – unter anderen die beiden Porträts des Malers Kurt Lohse –, das rot glimmende Nächtliche Haus (Löffler 1914/17 und Löffler 1914/18) oder der kristalline, vielleicht von Robert Delaunay inspirierte Traum (Löffler 1914/2) sprechen dagegen die Sprache der zeitgenössischen Kunst und verraten ein inneres Ringen, das in einer Gruppe rot-blauer Tuschezeichnungen von 1913/14 schließlich konvulsivisch ausbricht und eine ungeheure künstlerische Intensität enthüllt. Zahlreiche ästhetische Einflüsse lassen sich hier diskutieren, etwa die von van Gogh und Hodler oder die von Klinger, Kokoschka und Oppenheimer, die Dix an seine eigene und von der Kunstgewerbeschule oder auch der Kunstakademie (Richard Guhr, Otto Gussmann und Robert Sterl) geprägte Auffassung anschloss. Zentral ist aber die Beobachtung, dass Dix in der Tat zunächst nicht bedingungslos auf die Seite der jüngsten Moderne wechselte, sondern Tradition und Avantgarde miteinander verschmolz oder antithetisch aufeinanderprallen ließ, wie altmeisterliche Stiladaptionen belegen.

Spätestens 1913/14 jedoch erfolgte ein Grenzübertritt des Malers, für den die Kenntnis der jüngsten Kunst und der Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches zwei sich wechselseitig steigernde notwendige Bedingungen darstellen. Otto Dix hat in seinem Leben eine einzige Plastik geschaffen: eine Büste des 1900 im Wahnsinn verstorbenen »Modephilosophen« der Epoche, die er wohl 1914 in Gips ausführte. (Löffler 1912/18) Angeregt wurde diese Arbeit, so wurde oft vermutet, von Richard Guhr, Professor an der Kunstgewerbeschule, der Dekorationsmalerei unterrichte, selbst aber auch Bildhauer war und den Goldenen Mann des Dresdner Rathauses geschaffen hat. Unabhängig von dieser Begründung war das plastische Arbeiten aber schon durch den Lehrplan vorgegeben: Dix hatte im Verlauf seiner Studien – die auch das Zeichnen nach Gipsmodellen beinhalteten – Modellierkurse zu belegen, die von Adolf Sonnenschein angeboten wurden. Dies erklärt freilich nicht, dass seine Wahl auf Nietzsche fiel und macht schon gar nicht die Intensität der Darstellung verständlich. Deren Hintergrund ist die breite Nietzsche-Rezeption in Deutschland, die um 1914 bereits in eine neue Phase getreten war. Bedeutende Künstler wie Edvard Munch oder Max Klinger hatten sich mit Nietzsche auseinandergesetzt. In Weimar war mit dem Nietzsche-Archiv ein nahes Zentrum des Nietzsche-Kults entstanden. Und auch Dix hatte sich ab 1911 intensiv mit dem Philosophen beschäftigt und sich zu einem nietzscheanischen Künstler gewandelt.

Aus einem Brief an den Jugendfreund Hans Bretschneider, der ebenfalls aus einem linken Milieu stammte, dessen Vater Gewerkschaftsfunktionär in Gera war und der 1925 sogar SPD-Landtagsabgeordneter werden sollte, geht diese frühe Begeisterung für Nietzsche hervor. Wohl 1911 schrieb Dix seinem Freund davon, wie sehr er auf seinen Körper achte, dass er kein Fleisch esse, keinen Alkohol trinke und sich auch das Rauchen abgewöhnen wolle. In einem ›gesunden Körper‹ vermute er die Voraussetzung für ein ›gesundes Wissen‹. Dix lobte die Spartaner und hielt die gegenwärtige Kunst im Vergleich mit der griechischen für »krankhaft geistreich«. Er zitierte Nietzsche und hielt fest: »[I]ch suche mir jetzt überall weh zu tun und suche gerade die unangenehmen Wahrheiten.« Es sind neben dem direkten Nietzsche-Zitat diese fehlende Scheu vor unangenehmen Wahrheiten, das Lob der griechischen Kunst und die Sorge um den Leib, die den Einfluss Nietzsches auf den jungen Dix belegen, der beileibe kein Intellektueller war und in dessen Kopf es nach eigener Aussage ungeordnet, »furchtbar wüst« war.

Die Sexualität – altersgemäß, aber auch stilisiert vor dem Hintergrund von Nietzsches Leibesästhetik, die die Wilhelminischen Konventionen radikal in Frage stelle – spielt für Dix um 1911/12 eine zentrale Rolle. Überdies ist er verliebt: in die ein Jahr jüngere Kommilitonin Marga Clementine Kummer, die in der Modeklasse der Kunstgewerbeschule eingeschrieben und deren Vater Schriftsteller und Redakteur des Dresdner Anzeigers ist. Marga Kummer war neben Helene Jakob – mit der Dix sehr gut befreundet, wohl aber nicht liiert war –, die zweite für den Maler wichtige junge Frau zu Beginn der 1910er Jahre. Wohl spätestens 1913 kam er mit ihr zusammen. Zuvor hat er fast programmatisch einen sehr ungebundenen Lebenswandel gepflegt; er berichtet etwa Hans Bretschneider – vermutlich im Herbst 1911 – in einem undatierten Brief von einer »tolle[n] Liebesnacht. Ich hatte ein kleines Mädchen mit auf der Bude. Ich habe ziemliche Angst, daß die Sache Folgen haben kann.« Überhaupt sucht er das Leben und will sich ausleben, von einer frühen Bindung an das »Weib« hält Dix nicht viel, wie er seinem Freund auch bei Gelegenheit deutlich macht: »Ich war jetzt 3 Tage lang zum Schwoof […] und habe ein sehr niedliches Mädelchen. Aber ich bin eigentlich nur in ihren Körper und in ihre Brüstlein verliebt. Schade. Wenn ich sie genossen habe, ist meine ›Liebe‹ auch allemal wieder futsch. […] denn ›das Weib was nicht ge – – liebet wird hat seinen Zweck verfehlt‹«. Diese und ähnliche Äußerungen verraten misogyne Einstellungen beim Maler, der eine Frau nicht nur als reines Sexualobjekt sondern auch als »zu gescheit« wahrnehmen konnte.

Mitte 1912 wandelt sich Dix, er verzichtet auf sein zuvor bewusst bohèmehaftes Äußeres und kleidet sich betont modisch – ein Zug, der in den frühen 1920er Jahren nochmals programmatischen Charakter annehmen sollte, Dix aber zeit seines Lebens auszeichnen wird. An seinen Freund schreibt er: »Ich spiele nicht mehr Bohème, sondern gehe in modernen Halbschuhen mit Schleifen bunten Strümpfen und hochmodernem Sporthut umher. Ich bin Gott sei Dank längst über den Punkt hinaus, sein Individuelles äußerlich zu zeigen, das machen nur Holzköpfe, plumpe Menschen. Lange Haare, Dallesmantel und Künstlerkrawatte kenne ich auch nicht mehr. Es ekelt mich jetzt an, mich anstaunen zu lassen, kurz und gut, äußerlich bin ich Alltagsmensch geworden, aber innerlich bin ich noch derselbe Hartköpfige, der Gott sei Dank noch gesunden Geist hat. Auch meine Ansicht über die Weiber habe ich geändert. Die laufen mir jetzt nach, daß es mir jetzt selbst lästig wird. […] Über Deine Idealliebe lächle ich. So etwas kommt hier gar nicht vor. Wild stürme ich hinan ins brausende Leben und lasse meinen Menschen sein Recht. Heute die, morgen jene. Künstler sein heißt Mensch sein und Mensch sein heißt, gute und schlechte Seiten haben.«

Ab 1913 war Otto Dix mit Marga Kummer, die sein Interesse an Nietzsche teilte, liiert, und der Lebenswandel passte sich den neuen Gegebenheiten an. Im Sommer 1914 war die Nietzsche-Büste fertig, und Dix bat seinen Freund Otto Baumgärtel Anfang Juli, Fotos der Plastik aufzunehmen. Marga Kummer hatte im selben Jahr Dix beim Modellieren der Plastik gezeichnet. Dix selbst spielte 1915 mit dem Gedanken, seine Geliebte als Plastik zu porträtieren; diese zweite Plastik kam aber nie zustande, und im Verlauf des Krieges kühlte die Beziehung zwischen Dix und Marga Kummer ab. Ob die Distanznahme von Dix ausging und sogar auf den Einfluss der Philosophie Nietzsches zurückzuführen ist, wie Rainer Beck nahelegt, muss spekulativ bleiben. Wichtig ist aber, dass sich mit Marga Kummer, Otto Dix, Kurt Lohse und Otto Baumgärtel vor dem Ersten Weltkrieg in Dresden ein künstlerisch-intellektueller Kreis zusammenfand, der sich brennend für Nietzsche und die verwandte Mazdaznan-Lehre interessierte, welche die Philosophie Zarathustras, die moderne Lebensreform und Körperhygienebewegung sowie andere geistig-weltanschauliche Strömungen der Zeit miteinander vermengte.

Die bemerkenswerte Nietzsche-Gipsbüste (Löffler 1912/8) reihte sich in eine prominente Gruppe von Porträtbüsten ein, formulierte einigen Anspruch und besaß Signalwirkung. Bereits 1895 und 1898 hatten Siegfried Schellbach und Max Kruse Nietzsche als Gips- beziehungsweise Marmorbüsten gefertigt. Hans Oldes berühmte Radierung des wahnsinnigen, ans Bett gefesselten Nietzsche, die 1899 das eindrucksvolle Haupt des Philosophen mit einem seltsam entrückten Blick und buschigen Augenbrauen sowie dem wildwüchsigen Oberlippenbart ikonisch isolierte, und Max Klingers Bronzeherme von 1902 entfalteten eine kaum zu überschätzende Breitenwirkung in der Popularisierung der Züge des Meisterdenkers. Dix kannte Klingers Bildnis und auch den Weimarer Nietzsche-Kult, der schon vor 1900 und dann ab 1903 im von Henry van de Velde gestalteten Weimarer Nietzsche-Archiv von der Schwester des inzwischen verstorbenen Philosophen betrieben wurde, nur zu gut und griff darauf zurück. Aber Dix übersteigerte die bereits vorgenommenen Stilisierungen nochmals, denn seine Büste ließ Nietzsches Haupt jäh nach vorne ragen, die Stilisierung des in groben Strähnen fallenden Haares und die Bewegtheit des Kopfes erzeugten zudem eine expressive Energetik.

Friedrich Nietzsche, Gipsbüste, ca. 1914, ehemals Kunstmuseum Dresden, verschollen

Die künstlerische Pointe des grünen Anstrichs der Gipsbüste machte den unkonventionellen Denker zu einem expressiven Farbblitz. Das ungewöhnliche Inkarnat lässt sich aus Nietzsches Schriften ableiten und verdeutlicht, dass der Künstler Dix den Denker Nietzsche mit einem besonderen, auf ästhetisch verwertbare Passagen achtenden Blick las. Nietzsche spricht im vierten Buch der Dix bekannten Fröhlichen Wissenschaft von Wille und Welle. Schon der Anfang des Abschnitts erinnert an die Nietzsche-Büste, die ja nicht nur Gesicht, sondern auch furchiger Felsen ist: »Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es etwas zu erreichen gälte! Wie kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des felsigen Geklüftes hinein! Es scheint, sie will jemandem zuvorkommen; es scheint, dass dort Etwas versteckt ist, das Werth, das hohen Werth hat.« Das Bild verschränkt Dauer und Bewegung, so wie die Plastik felsartige Starre und dynamischen Drang in eins fasste.

Und indem Nietzsche die immer gierigeren und wilderen Wellen mit den Wollenden und so mit sich selbst identifiziert, kommt er zu einer farblichen Charakterisierung dieser gierig Wollenden:

»Ihr zürnt auf mich, ihr schönen Unthiere? Fürchtet ihr, dass ich euer Geheimnis ganz verrathe? Nun! Zürnt mir nur, hebt eure grünen gefährlichen Leiber so hoch ihr könnt, macht eine Mauer zwischen mir und der Sonne – so wie jetzt! Wahrlich, schon ist Nichts mehr von der Welt übrig, als grüne Dämmerung und grüne Blitze. Treibt es wie ihr wollt, ihr Uebermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit – oder taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab in die tiefsten Tiefen […]«.