Out of Control - H. D. Kittsteiner - E-Book

Out of Control E-Book

H. D. Kittsteiner

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Beschreibung

Anhand von Kant, Schelling und Hegel wird hier noch einmal die Konstruktion des Sinns in der unbewussten Produktion der Geschichte aufgedeckt. Burckhardt bezweifelt ihn; Marx hält in seiner Weise daran fest. Mit Nietzsche beginnt eine neue Stufe des Geschichtsdenkens. Heidegger und Carl Schmitt stehen als Exponenten eines Blicks auf die Geschichte jenseits des geschichtsphilosophischen Sinns: Sie changiert nun zwischen "Weltverdüsterung" und "Freund und Feind". Das Bedenken des in der Geschichte angerichteten größtmöglichen Übels bildet den Abschluss des Bandes. Entgegen der "Gedächtniskultur" plädiert Kittsteiner für eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Geschichtsschreibung. Mit dem Titel "Out of Control" reagiert Kittsteiner auf Saskia Sassens "Losing Control?". Er fragt nach: "Losing Control? Welche Kontrolle? Hatte Sie jemals bestanden? Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle des Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage 'Losing Control?' wird die konstatierende Aussage 'Out of Control'."

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„Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt? Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an dem sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert“, schrieb Kittsteiner 2004 zur Einführung. Er ging in seinen Studien den Reaktionen auf eine menschengemachte, aber außerhalb menschlicher Kontrolle sich vollziehenden Geschichte nach. Angesichts einer Dynamisierung der Geschichte in der Moderne – „dem Einbruch des Kapitalismus in die bisherige Geschichte“ – wollen die immer wiederholten Versuche der ‚Sinngebung des Sinnlosen‘, seien es Selbsttäuschungen oder Selbstermächtigungen, nicht gelingen. „In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist.“ – Die Frage betrifft die Gegenwart.

H. D. Kittsteiner, geboren 1942 in Hannover, lebte ab 1965 in Berlin, wo er 2008 verstarb. Er begann sein Studium bei Ernst Bloch, wurde 1978 bei Jacob Taubes promoviert, 1988 bei Reinhart Koselleck habilitiert. Professor für Vergleichende Europäische Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Sein Werk und seine zahlreichen Publikationen werden in einer ausführlichen Bibliographie im Anhang dieser Neuausgabe von „Out of Control“ gewürdigt.

J. Wagner, Historiker und Kulturwissenschaftler, studierte und arbeitete an der Europa-Universität Viadrina. Forschungen an den Nachlässen von H. D. Kittsteiner und Felix Hartlaub. Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung.

Mit Dank an Richard Faber für Anregung und Rat.

H. D. Kittsteiner

Out of ControlÜber die Unverfügbarkeit deshistorischen Prozesses

Herausgegeben und mit einem Vorwortvon Jannis Wagner

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021Alle Rechte vorbehalten.Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, BerlinSignet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub: ISBN 978-3-86393-579-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich: Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021Print: ISBN 978-3-86393-119-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unterwww.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Jannis Wagner: Vorbemerkungen zur Neuausgabe von Out of Control

Zur Einführung

I.Geschichtsphilosophie

1.Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie

2.Freiheit und Notwendigkeit in Schellings ‚System des transcendentalen Idealismus‘

3.Jacob Burckhardt als Leser Hegels

II.Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität

1.Ist das Zeitalter der Revolutionen beendet?

2.Romantisches Denken in der entzauberten Welt

3.Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen

4.Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung

5.Erkenne die Lage: Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken

III.Geschichte und Gedächtniskultur

1.Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte

2.„Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung

IV.Coda

Empire. Über Antonio Negris und Michael Hardts revolutionäre Phantasien

Bibliographie H. D. Kittsteiner

Jannis Wagner

Vorbemerkungen zur Neuausgabe von Out of Control

„Es gibt keine Vernunft in der Geschichte.Das Ziel und das innere Zentrumder Geschichte sind leer.“Kittsteiner

Out of Control – der einprägsame englische Titel irritiert zunächst bei einem Band mit Aufsätzen, die von einem sehr deutschen Traditionsbestand geschichtsphilosophischen Denkens ausgehen. Doch was ist außer Kontrolle? Der Untertitel verweist auf die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses. Geht man Kittsteiners Schriften durch, taucht die titelgebende Wendung bereits 1982 in einer in englischer Sprache publizierten Rezension auf. Nicht der Mensch sei mehr das Subjekt der Geschichte, schreibt Kittsteiner hier, „today history is the active subject of history – and man is submitted to a strange process, which is out of control. Its (sic!) just the process of capitalist accumulation which Marx declared to be the ‚self-moving substance‘ of history.“1 Gerahmt von einigen der zentralen Themen Kittsteiners, tritt diese Formulierung hier erstmals auf. Der Rückgriff Kittsteiners in die eigene, scheinbar ferne Textgeschichte, verweist auf eine Charakteristik seines Werkes: die fortgesetzte Auseinandersetzung mit einem festen Bestand von Grundfragen. Der erstmals 2004 erschienene Sammelband Out of Control hat insofern eine jahrzehntelange Vorgeschichte. In der Einführung ist ausgesprochen, dass dieser Titel zudem auf einen anderen reagiert: Saskia Sassens Losing Control? Sovereignty in an Age of Globalization von 1996, das vom Souveränitäts- oder eben Kontrollverlust der Nationalstaaten in der Globalisierung handelt. Kittsteiner fragt hier nach: „Losing control? Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden?“ Seine Antwort ist der Titel dieses Buches: „Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage ‚Losing Control?‘ wird dann die konstatierende Aussage ‚Out of Control‘.“2

Dies ist, über Jahrzehnte wiederholt, ein Kernthema in Kittsteiners Werk und kennzeichnet seinen intellektuellen Entwicklungsweg. Denn bedenkt man, wo dieser seinen Ausgang nahm, war eine solche Überzeugung keineswegs selbstverständlich. Vielleicht aber kann man sie als naheliegend bezeichnen: Kittsteiner, 1942 geboren, begann sein Studium 1962 in Tübingen bei Ernst Bloch, wechselte bald nach West-Berlin und wuchs so in die Studentenbewegung hinein. Wie er in autobiographischen Texten wiederholt betonte,3 kannte er den Impuls, Geschichte ‚machen‘ zu wollen oder vermeintlich gar zu müssen, aus eigener Erfahrung. Die Negation dieser Möglichkeit war also auch eine Revision vergangener eigener Überzeugungen und ihre Dringlichkeit für Kittsteiner erschließt sich daraus, dass er sie ins Zentrum seiner Arbeit rückte.

Der hier wieder vorgelegte Band gehört ins Vor- und Umfeld eines Forschungsvorhabens, das Kittsteiner in der eingangs zitierten Rezension von 1982 bereits implizit benannt und in Ansätzen skizziert hatte: Die Stufen der Moderne. In ihm verfolgte Kittsteiner die Frage weiter, in die er seine bei dem stets an Geschichtsphilosophien interessierten Jacob Taubes verfasste Dissertation Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hatte münden lassen und auf die er auch in der Einführung zu Out of Control wieder verwies: „Schlägt man sich die Vorstellung aus dem Kopf, ihres [der Geschichte, JW] inhaltslosen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr auf die Aufgabenstellung an, sie durch ‚gesellschaftliche Praxis‘ auf einen imaginären Kontrollzustand zu bringen, sondern man muß nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt.“4

Wer allerdings meint, der Geschichte eine andere Richtung oder Form aufzwingen zu müssen, wird mit der Frage konfrontiert, wie weit er zur Erreichung seiner Ziele zu gehen bereit ist. Diese Problematik führt von der Geschichtsphilosophie zur Geschichte des Gewissens. Kittsteiners kulturgeschichtliche Habilitationsschrift zur Formung des „modernen Gewissens“ im Spannungsfeld von Elitendiskursen und Alltagsrealitäten in Deutschland zwischen Reformation und der ‚langen‘ Aufklärung – bzw. in der „Sattelzeit“, wie Reinhard Koselleck, der die Arbeit betreute, die Übergangszeit zwischen Alter Welt und Moderne, zwischen magischem und rationalem Weltbild bezeichnet hatte – war ein erster Versuch diese Thematik zu erfassen.5 Unmittelbar nach Fertigstellung 1988 schrieb Kittsteiner an Koselleck über seine kommenden Vorhaben: „Ich habe hier einen Plan entworfen, wie man die menschlichen Reaktionsweisen auf übermächtige Geschichtsstrukturen untersuchen könnte […]. Also im Grunde mein Dauerthema, angesiedelt jetzt jenseits der Sattelzeit, also im 19. und 20. Jahrhundert.“6 Bei diesem Vorhaben handelte es sich um das vorläufige Forschungsprogramm der Stufen der Moderne, das Kittsteiner nach mehreren Ansätzen schließlich als mehrbändige Deutsche Geschichte zu schreiben begann. Dieses Großwerk wäre eine Fortsetzung seiner Geschichte der Gewissensentwicklung in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geworden und eine Untersuchung der Verbindungen zwischen Geschichtsauffassungen und Gewissensformationen. Kittsteiner schrieb über seine Auseinandersetzung mit Geschichtsphilosophie und Gewissensgeschichte: „Wenn ich überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten auf den Gebieten der Geschichte und der Philosophie getrieben habe, dann waren es eigentlich zwei Gegenstandsbereiche: Das ganz Kleine und das ganz Große. Ich habe mich befaßt mit dem innersten Kern des Ichs, und den Philosophien über den Verlauf der Geschichte im Ganzen.“7

In Out of Control versammelte Kittsteiner 2004 zehn seit 1996 geschriebene Aufsätze, die er mit einer den Gesamtzusammenhang dieser Texte umreißenden Einführung und einem skeptischen Blick auf die ungebrochene Euphorie des ‚Geschichte machens‘ in neuerer postmoderner Theorie, also einem Ausblick in die Gegenwart, einfasste.

Die zwanzig Seiten, die hier unter dem schlichten Titel Zur Einführung folgen, sind ein prägnanter Überblick über die Fragen und Themenkomplexe, die Kittsteiner zu Beginn der Ausarbeitung seiner Fragment gebliebenen Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne bewegten. Die versammelten Texte werden hier über ihre Bedeutung im Rahmen dieses Vorhabens verortet. Im ersten Abschnitt Geschichtsphilosophie sind drei Texte versammelt, welche die Entdeckung der „Unverfügbarkeit der Geschichte“ und ihre Überlagerungen behandeln. Nach dem Verblassen der diese ursprüngliche Einsicht in die Unverfügbarkeit überdeckenden teleologischen Konstruktionen machte Kittsteiner die Herausbildung einer „heroischen Moderne“ aus, in der ‚die Geschichte‘ gewaltsam bezwungen werden sollte. In deren Ideenwelt werden in den Aufsätzen im Abschnitt Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität Vorstöße unternommen. In Geschichte und Gedächtniskultur schließlich werden die gewissensgeschichtlichen Folgen und Herausforderungen dieser Stufe der Moderne für Erinnerung und Historik thematisiert. Als sicher kann gelten, dass Out of Control und die beiden weiteren von Kittsteiner zusammengestellten Sammelbände das Material und das theoretische Kondensat des Konzepts der Stufen der Moderne enthalten.8

Die Zeichnung Giorgio de Chiricos auf dem Buchumschlag zeigt ein chaotisches Firmament, ein wahres Weltentheater, das dem Betrachter – mit wenig hilfreichen Antennen auf dem Kopf steht er am Bildrand – zwar viel Geschehen bietet, doch wenig Sinn. Sterne stürzen durcheinander, Saturnringe und Sonnen kreisen. Das Buch beginnt, wo das Denken des Betrachters einsetzt. Seine Setzungen, seine Suche nach einem Sinn dessen, was sich vor seinen Augen entfaltet, sind Thema der hier folgenden Texte.

Diese Vorstellungen von der Geschichte wirken auf das menschliche Verhalten zurück – und ‚formen‘ so selbst das Geschehen mit. Allerdings geschieht dies meist in anderer Weise, als von den Akteuren intendiert: „Geschichte ist eine Bewegung hinter dem Rücken der agierenden Personen, die genau genommen nicht wissen, was sie tun. Da ich selbst mich aber in der gleichen Situation befinde, bin ich weit entfernt davon, mich über meine Protagonisten zu erheben, ganz im Gegenteil, ich kann sie in einer um die Erfahrung der Unverfügbarkeit erweiterten Hermeneutik verstehen.“9 Diese Überzeugung verweist auf Kittsteiners Prägung durch die Studentenbewegung der 60er Jahre, ihre Nachgeschichte im Folgejahrzehnt und die drängenden Fragen, Themen und Lektüren dieses kulturellen und gesellschaftlichen Verwandlungsvorgangs. Für Kittsteiner „waren diese Jahre der großen Demonstrationen biographisch ganz einzigartig; es war eine Zeit monatelanger Hochstimmung. Unterlegt war das Ganze von der Musik der Beatles, der Rolling Stones, von Jimi Hendrix – und Gustav Mahler. Nur leider waren die politischen Ziele nicht durchsetzbar.“10 Auf die euphorischen Aufbrüche folgte der Kollaps des optimistischen Elans. Die Erkenntnis, dass die Revolution nicht hinter der nächsten Straßenecke warten und das gute Ende der Geschichte vorerst ausbleiben würde, wirkte sich in vielfältiger Weise auf die Protagonisten dieser Bewegung aus, die nun in Szenen zerfiel. Bei Kittsteiner führte sie zu vertiefter Lektüre – und der Entdeckung des ökonomisch-analytischen Marx hinter dem revolutionären der zunächst bevorzugten Frühschriften. Es war die Entdeckung des „Marktes“, der sich von den eigenen Weltveränderungsphantasien als gänzlich unberührt erwiesen hatte – und sogar die neue counter culture als lifestyle in neue Warengenerationen übersetzte. Dieser Markt folgte ganz offenbar seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, ohne vom Wollen und (bewussten) Tun der Menschen, seien es Einzelne oder Massen, zielgerichtet beeinflusst zu werden. Doch es geschah noch mehr. Hinter dem Kanon der 60er Jahre, hinter Marx, Benjamin und Freud, tat sich ein weiter Horizont auf und ein verzweigtes Pensum, das zu bewältigen war: „Hinter Marx lauerte Hegel – und hinter Freud (was wir aber erst später merkten) zumindest zum Teil Schopenhauer und Nietzsche.“11 Kittsteiner gelangte von der identifikatorischen zur kritischen Lektüre und zur gedanklichen Verbindung von Geschichtsverlauf, Geschichtsvorstellungen und den historischanthropologisch deutbaren menschlichen Reaktionen auf diese.

In dieser intellektuellen Sozialisation liegt auch die eigentümliche Doppelstruktur von Kittsteiners Denken begründet. Denn während Kittsteiner Geschichtsvorstellungen analysierte, nahm er selbst an, dass es einen bestimmenden und dynamischen, wenn auch zielloschaotischen Motor des Geschehens gebe, der in und hinter dem verworrenen Treiben der menschlichen Akteure wirke. Hierin folgte er selbst einem Bild von der Geschichte. Es war ein von seinen Marxlektüren geformtes Geschichtsdenken. „Die Form der Geschichte“: für Kittsteiner ist es ihre – oft schwer erträgliche – Ziel- und Sinnlosigkeit, ihre Unverfügbarkeit. Die spezifische Form der Geschichte ist es, dass sie sich dem menschlichen Formwillen entzieht. Der Mensch, der die Geschichte ‚machen‘ und zu seiner Geschichte machen will, ist zum Scheitern verurteilt. Zwar ist das menschliche Aufbegehren gegen diese Negation der freien Bestimmung des Menschen in der Geschichte immer wieder wirksam oder formgebend – aber eben nicht so, wie es die Akteure intendieren.

Kittsteiner proklamierte die „Unhintergehbarkeit der geschichtsphilosophischen Erfahrung“.12 Die ursprüngliche, aber unmittelbar überspielte und später vergessene Erkenntnis der klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfe sei die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte.13 Allerdings hätten die Geschichtsphilosophen stets höhere Prinzipien konstruiert, Listen der Vernunft, unsichtbare Hände, Weltgeister oder fallende Profitraten, die auf wunderbare Weise den Weltenlauf zu einem guten Ende bringen sollten: „Den ungeschützten Anblick der Geschichte kann man nicht ertragen.“14 Die an sich berechtigte Kritik an der Geschichtsphilosophie habe sich an diesen teleologischen Konstruktionen abgearbeitet, dabei aber die Unverfügbarkeit der Geschichte und das, was das historische Geschehen in Bewegung hält, aus den Augen verloren. Dieser „machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.“15 Wer Geschichtsphilosophien als belanglos abtut, läuft Gefahr, ihnen selbst wieder aufzusitzen. Die uneingestandenen Teleologien so vieler Geschichtsdarstellungen zeigen es. Eine Geschichtsschreibung, wie sie Kittsteiner konzipierte, stellte hingegen die Geschichtsvorstellungen der Menschen und deren Auswirkungen selbst in den Fokus der Untersuchung. Von einem Fallstrick wird das Geschichtsdenken zum Gegenstand einer „geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte“.16

Die Wissenschaft von der Geschichte und die Philosophien ihres Verlaufs waren für Kittsteiner nicht mehr zu trennen. Diese Haltung gegenüber ‚der Geschichte‘ war geprägt von der eigenen biographischen Erfahrung: „Clio dichtet nicht – sie bezieht aber den Zusammenhang der Geschichte aus geschichts-philosophischen Entwürfen. Die verändern sich mit den historischen Erfahrungen der jeweiligen Epochen; sie haben ihre Zeit, sie versinken – und tauchen wieder auf. Man muß den Aufstieg und Niedergang mehrerer solcher Denkmodelle miterlebt haben, um zu einer gewissen Skepsis zu kommen. Resultat dieser Skepsis ist es, das, was unvereinbar miteinander scheint, nun nebeneinander gelten zu lassen.“17 Das ist nicht mit gleichgültigem Relativismus zu verwechseln. Denn es war die „Frage nach dem Verhältnis von Gewissen und Geschichte“, die ihn antrieb. „Es ist das Bewußtsein, mit allem Denken und Handeln in einen historischen Prozeß verstrickt zu sein, dessen Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Fortgang man nicht ohne Gewissensbedenken betrachten kann.“18

Kittsteiner betonte wiederholt dieses Bewusstsein, als Mensch in die historische Erfahrung selbst eingebunden zu sein. Das Bild vom überhistorischen Geschichtsphilosophen war ihm, wie das des unbeteiligt-objektiven Wissenschaftlers, eine Schimäre. Zeit und Ort bestimmen die Erfahrung und das Denken aller Menschen – ob sie über Geschichte nachdenken, oder nicht. „Es entsteht beim Schreiben der Geschichte eine geschichtsphilosophisch gebrochene, dialektische Hermeneutik. Ich verstehe nicht nur die Intentionen der Akteure, ich verstehe auch deren Mißlingen; ich verstehe nicht nur den Ausdruck der Formgebenden, ich ‚verstehe‘ auch den Nexus der Unverfügbarkeit. Historische Einsicht mündet in ein theoretisch distanziertes Mitleiden.“19 Vor diesem Hintergrund leitete Kittsteiner – am nicht beliebigen Beispiel seines Gewissens-Buches – seine eigene Haltung gegenüber dem Geschehen und den daraus resultierenden Stil der Darstellung ab: „Eine ‚Geschichte des Gewissens‘ ist dann der Nachvollzug des Scheiterns von Gewissens-Entwürfen bei gleichzeitiger Umformulierung von dessen Normen im Übergang von einem theologischen zu einem philosophischen Diskurs. Wer das im Längsschnitt einmal nachvollzogen hat, kann einer gewissen Ironie als Stilmittel nicht entraten.“20

Auch ging es Kittsteiner nicht darum, welchen Stellenwert die von ihm behandelten ‚Geschichtsdenker‘ im kulturellen Gedächtnis, in der Hierarchie der Erinnerung einnehmen. Er befasste sich mit namhaften Philosophen von Kant über Hegel und Marx bis Heidegger, aber ebenso mit vergessenen, verschütteten oder gar verrufenen Autoren. So nehmen Karl Heussi und Oswald Spengler in seinem Werk tragende Rollen ein. Daneben stehen in Kittsteiners Texten immer auch die Zeugnisse derjenigen, die keinen großen Namen hinterlassen haben, die für niemanden schrieben als für sich selbst, oder deren Äußerungen ohne ihr Wissen aufgezeichnet und überliefert wurden: Das Tagebuch des Söldners Peter Hagedorn aus dem Dreißigjährigen Krieg in Die Stabilisierungsmoderne, dem einzig veröffentlichten Band der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne, sei als Beispiel erwähnt. „Geschichts-Philosophie im weitesten Sinne ist ein Nachdenken über die Form der Geschichte.“21 Verbindungen zwischen solchen Quellen und über disziplinäre Grenzen hinweg herzustellen, ist selten. Kittsteiner verband den philosophisch geschulten Historiker mit dem Mentalitätengeschichtler.

Das Werk Kittsteiners wurde – auch dadurch, dass sein synthetisches Hauptwerk, die Zusammenführung der zahlreichen thematischen Pfade seines Denkweges, als das die Stufen der Moderne angelegt waren, Fragment geblieben ist – noch wenig wahrgenommen. Dies gibt seinen Aufsatzsammlungen eine besondere Bedeutung. Er betrachtete sie selbst als Versuchsanordnungen und Steinbruch, ja als Exposés für das Großprojekt, an dem er arbeitete. Daher hat sich in diesen drei Bänden die Essenz dessen, worum es in den Stufen der Moderne gehen sollte, erhalten.

Die Neuausgabe des umfangreichsten dieser drei Bände erfolgt zu einer Zeit, in der das Gefühl des Kontrollverlustes zum beherrschenden gesellschaftlichen Thema geworden zu sein scheint. Die Unverfügbarkeit der Geschichte scheint eigentlich kein theoretisches Konzept mehr zu sein, das irgendwie erklärungsbedürftig wäre. Oder ist es gerade in Zeiten der Verunsicherung notwendig, an vergessene Einsichten zu erinnern? Die Hybris der angeblich posthistorischen Jahre um die Jahrtausendwende ist ebenso verpufft wie der vermeintliche Triumph einer liberalen Weltordnung mit ihrem Mythos einer sich selbst optimierenden Ökonomie. Die ‚Globalisierung‘ scheint allgemein fragwürdig geworden zu sein, und wir erleben vielschichtige Aufstände gegen eine Weltanschauung, die sich selbst zum zwangsläufigen Ergebnis der Geschichte erklärt hatte, deren Verheißungen aber offenbar an Strahlkraft verloren haben. Unverstanden bleibt hier, dass es heute, wie immer schon, nur eine Weltunordnung gibt, also keine Puppenspieler greifbar sind, die man für finstere Machenschaften und Manipulationen haftbar machen könnte. Wenn man sich mit Kittsteiner klarmacht, dass hinter dem modischen Schlagwort nichts anderes steckt, als die altbekannte Logik der Kapitalverwertung, kann man sich die ‚progressiven‘ wie die ‚reaktionären‘ Illusionen abschminken: Weder steht die ‚Globalisierung‘ per se für gesellschaftlichen Fortschritt, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder gar Völkerverständigung, noch kann man einen umzäunten Kapitalismus ohne sie – oder gar in kontrollierter Stasis – haben. Es gibt viele neue Worte für dasselbe alte Phänomen, aber das kümmert sich nicht um unsere Ideen, Träume oder Ängste. Der Weltmarkt – „wir nennen das heute Globalisierung“22 – bringt, was man bis 2008 zu vergessen suchte, regelmäßig Krisen hervor. Doch anders als vom Geschichtsphilosophen Marx gedacht, bringt das den Prozess nicht an ein Ende. Er erzeugt Chaos und Leid, läuft aber ungerührt weiter. Mit dem Versprechen von ‚Control‘ wird im Politischen wieder gewuchert, Hasardeure inszenieren sich als ‚Große Männer‘ und Macher, die der Geschichte in die Speichen greifen können; doch das wird nicht ohne krachende Knochen abgehen. Die Gespenster der von Kittsteiner ausgemachten heroischen Moderne, in der Geschichte gewaltsam geformt werden sollte, kehren wieder. Diese Inszenierungen und Appellationen an Sehnsüchte zeigen an, wie groß die Angst vor dem Gegenteil ist – dem unerwünschten Wissen: „… man is submitted to a strange process, which is out of control.“

1Heinz-Dieter (sic!) Kittsteiner, The Sediments of Modernity. A Review of Benjamin Nelson‘s Der Ursprung der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1977), in: The Comparative Civilizations Review No. 9, Dickinson College, Carlisle 1982, S. 86–89, hier S. 87.

2In diesem Band: Zur Einführung, S. 12.

3Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, in: Daniel Becker u. a. (Hg.), ansichtssache – alternative festschrift, 18 semester studentisches leben an der europa-universität viadrina, Frankfurt/Oder 2001, S. 50–66; ders., Karl Marx 1968 und 2001, in: Richard Faber, Erhard Stölting (Hg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Hamburg 2008 [EA Berlin, Wien 2002], S. 214–237; ders., Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4/2008, Die Insel West-Berlin, hg. v. Wolfert von Rahden, Stephan Schlak, S. 31–44.

4Heinz-Dieter [sic] Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M., Berlin 1980, S. 221.

5Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M., Leipzig 1991.

6Undatierter Brief [Paris, 1988] Heinz Dieter Kittsteiners an Reinhart Koselleck, im Nachlass Koselleck im DLA Marbach, Signatur A: Koselleck. Zu Reinhart Kosellecks Begriff der Sattelzeit siehe: ders., Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV.

7Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Vortrag an der Universität Basel, 20.05.2005, Manuskript im Nachlass Kittsteiner im Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, Signatur 129.

8Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/M. 1998; ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, erstmals Berlin, Wien 2004; ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006.

9Heinz Dieter Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, in: Jürgen Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 62), München 2005, S. 84.

10Heinz Dieter Kittsteiner, Karl Marx. 1968 und 2001, S. 228 f.

11Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, S. 57.

12Heinz Dieter Kittsteiner, Zur Einführung, in diesem Band, S. 17.

13Ganz ähnlich argumentiert auch: Tamás Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens, München 2016.

14Heinz Dieter Kittsteiner, Adornos Blick auf die Geschichte, in: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2016, S. 243–258, hier S. 256.

15Heinz Dieter Kittsteiner, Zur Einführung, in diesem Band, S. 17.

16Ebd.

17Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, S. 81.

18Kittsteiner, Vorwort zu: Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 11.

19Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, S. 84.

20Ebd.

21Ebd., S. 80

22Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Troeltsch-Studien, Neue Folge 1., Gütersloh 2006, S. 21–47, hier S. 42.

Zur Einführung

„Mir missfällt der Gedanke, mein Lebennicht unter Kontrolle zu haben.“Neo, in: Matrix I0 h – 25 min – 47/50 sec.

I. Erläuterung des Umschlagbildes

Umständlich erklärt Giambattista Vico seinen Lesern das Frontispiz seines Werkes von der „Neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“. Die Metaphysik in ekstatischer Haltung blickt in Gottes schauendes Auge der Vorsehung. Der Lichtstrahl von dessen Vorsehung bricht sich am Brustpanzer der Metaphysik, und ein Strahl dieses Wissens fällt auf die Statue Homers. Und indem Vico die poetische Weisheit Homers in seine neue Wissenschaft umformt, entsteht eine „rationale politische Theorie der göttlichen Vorsehung.“ Die Ausdeutung dieser Allegorie mitsamt allen emblematischen Details umfasst 42 Paragraphen auf 36 Druckseiten.1 Das Bild auf dem Titelblatt dieser Aufsatzsammlung ist einfacher zu erklären. Es handelt sich um einen Bühnenbildentwurf von Giorgio de Chirico zu einer Aufführung der Oper „Mefistofele“ des Arrigo Boito in der Mailänder Scala 1951/52.2 Boitos Adaption des Goetheschen Fausts fiel im Oktober 1875 in Bologna bei der Uraufführung durch, geriet in den Schatten von Gounods Margarete und wird relativ selten gespielt. De Chiricos Blatt bezieht sich auf den Prolog.

„Die Sonne tönt nach alter WeiseIn Brudersphären Wettgesang,Und ihre vorgeschriebne ReiseVollendet sie mit Donnergang.“

„Der Anblick gibt den Engeln Stärke,Da keiner dich ergründen mag,Und alle deine hohen WerkeSind herrlich wie am ersten Tag.“

„AVE, Signore de gli angeli e dei santi e dei volanti cherubini“ beginnt es bei Boito.3 Doch die hohen Werke sind bei de Chirico etwas durcheinander geraten, Sonne, Saturn, stürzende Sterne, Kometen. Der extraterrestrische Beobachter ist ebenso klein wie ratlos angesichts dieser chaotischen Himmelsmechanik. Ist denn nicht Gott ihr Schöpfer und Erhalter? Und vor allem: Galten nicht die supralunarischen Bewegungen am Himmel als ewig und vollkommen – im Gegensatz zur sublunarischen Welt des Menschen und seiner Geschichte?

Kant in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte“ hatte diese Ordnung der Natur noch der Unordnung der Geschichte entgegengesetzt: „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, – die Geschichte des menschlichen Geschlechts – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals darin eine vollendete und vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringen, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?“4 Kants Ausflucht war es, der Physikotheologie – denn auf die spielt er an – eine Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen, die das Ganze des menschlichen Geschlechts, obwohl es ohne „verabredeten Plan im Ganzen“5 zustande kommt, dennoch nach einer gewissen Ordnung vorrücken lässt.

Bereits Giambattista Vico hinterlässt seinen Lesern ein vergleichbares Problem. Die Philosophen, so sagt er, hätten sich bemüht, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur. Doch die Natur sei Gottes Werk und daher schwer zu erforschen. Dagegen könne es nicht in Zweifel gezogen werden, dass diese „politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.“6 Wir verstehen die Geschichte, weil wir sie selbst gemacht haben. Was auf den ersten Blick so einleuchtend klingt, ist die Lehre von der genetischen Definition, die auch Spinoza und Hobbes verwendet haben. Wir begreifen nur dasjenige, was unser Verstand selbst erschaffen hat.7 Vico hätte dann dieses Prinzip lediglich auf die Geschichte übertragen. Aber gerade da liegt das Problem. Gadamer hat es in Hinblick auf Dilthey und Vico so formuliert: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur geschichtlich erkennen, weil wir geschichtlich sind – haben wir uns damit wirklich eine erkenntnistheoretische Erleichterung verschafft? „Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig? Überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von ‚Machen‘, d.h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann? Wo soll hier die erkenntnistheoretische Erleichterung herkommen? Ist es nicht in Wahrheit eine Erschwerung?“8 Was Gadamer an dieser Stelle unterschlägt: Vico hat diese Erschwerung selbst bemerkt. Die „Welt der Völker“ ist von den Menschen gemacht, kein Zweifel. Aber die Natur der Menschen ist verderbt; sie sind von der Selbstsucht getrieben und verfolgen nur ihren eigenen Vorteil. Mit dem „Machen“ des Ganzen von Geschichte ist es menschlicherseits schlecht bestellt. Nur die göttliche Vorsehung kann, indem sie die Eigensucht der Menschen für ihre Zwecke nutzt, eine gerechte Gesellschaft hervorbringen. „Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtlicher Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufiger gegen deren eigenen Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat.“9

Vicos Lösung liest sich wie eine Vorwegnahme des Adam Smith und wiederholt sich in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx. Das Grundmotiv dieses Nachdenkens über Geschichte war es, dass dem Nicht-Machbaren eine gnädige „List der Vernunft“ zur Hilfe kommt, ein Prinzip, das das nicht-intendierte Resultat menschlichen Handelns zum eigenen bewussten Zweck einer fremden Instanz hinter unserem Rücken umbiegt.10 Paul Ricœur urteilt darüber, der Ausdruck „List der Vernunft“ mache uns nicht einmal mehr neugierig, „er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“11 Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagiert. Zugleich hatte sie sich aber an einer Therapie versucht, die nicht zu halten war.

Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.

II. Out of Control

Im Jahre 1996 erschien eine Vorlesungsreihe der linksliberalen amerikanischen Ökonomin Saskia Sassen unter dem Titel: „Losing Control?“ Der Untertitel „Sovereignity in an Age of Globalization“ verrät ihren Ausgangspunkt. Es hat einmal eine traditionelle Souveränität der Nationalstaaten gegeben, aber es gibt keine mehr. „State sovereignity, nation-based citizenship, the institutional apparatus in charge of regulating the economy, such as central banks and monetary policies – all of these institutions are being destabilized and even transformed as a result of globalization and the new technologies.“12 Sassen fragt, was aus diesen Insignien des Staates geworden sei, aus seiner Souveränität, aus der territorialen Exklusivität, aus der Staatsbürgerschaft seiner Bürger. Sie antwortet, dass große Teile der Souveränität auf supranationale Organisationen wie GATT oder WTO übergegangen sind, und dass mit der Globalisierung der Kapitalmärkte eine „economic citizenship“ entstanden sei. Eine profitorientierte Gesellschaft von globalen Spielern,13 deren neue Finanzinstrumente für den Fluss der globalen Kapitalströme die Kontrolle der Zentralbanken für die Geldmengenregulierung und die Investitionsanreize unterhöhlt haben.14 Fast scheint es so, als stünden wir wieder vor der Ausgangsfrage des John Maynard Keynes, nur unter verschärften Bedingungen. Wenn die globalen Finanzmärkte höhere Profite erbringen als Investitionen in die Produktion, dann wird die Entwicklung eines Landes das Nebenprodukt „of the activities of a casino“.15 Losing control?

Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden? Es gibt in Hegels Rechtsphilosophie den berühmten Übergang vom Staat in die Weltgeschichte. In 339 Paragraphen hatte der Meister das Kunstwerk seines idealen Staates mit Fleiß aufgebaut und das System der „substanziellen Sittlichkeit“ entfaltet, in dem die partiellen Interessen des Bürgers mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Und nun, im § 340, wird all das wortwörtlich aufs Spiel gesetzt – „ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staates, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“ Nur der Trost, dass auch in diesem Spiel noch „Geist“ sei, kann Hegel sagen lassen, das Recht dieses Weltgeistes sei das höchste und die Weltgeschichte sei das Weltgerichte.16 Schon Marx hatte erkannt, dass dieser Weltgeist in Wahrheit der Weltmarkt ist.17 Auf Hegels Trost wird man daher verzichten müssen, wenn das Spielcasino mit Aktien und Derivaten sich als Weltgericht etabliert hat. Zugleich wird deutlich, dass das Bewusstsein, einem nicht kontrollierbaren Prozess unterworfen zu sein, sehr viel älter ist, als das Abschätzen der Folgen der Globalisierung. Grundlage bleibt die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, und diese Einsicht ist in den Theorien der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel in einer Prägnanz ausgedrückt, die manches gegenwärtige Verwundern über den Verlust der „Kontrolle“ obsolet erscheinen lässt. Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage „Losing Control?“ wird dann die konstatierende Aussage „Out of Control“.

In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort zu geben; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist. Nur eines kann nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gesagt werden: Die Versuche, die Geschichte unter Kontrolle zu bringen, waren immer noch schlimmer als der unkontrollierbare Prozess selbst. Es geht offenbar darum, ein Denken zu entwickeln, das sich von Kontroll- und Machbarkeitsvisionen verabschiedet und es lernt, kleine Korrekturen an der Richtung des Geschehens vorzunehmen, sozusagen Reparaturen bei laufendem Motor.18

III. Stufen der Moderne

Damit sind wir auch bei der Ausgangsfrage dieser Sammlung von Aufsätzen aus den letzten zehn Jahren angelangt. Sie alle umkreisen eine Problemstellung, die dem Autor seit dem Schlusssatz seiner Dissertation aus dem Jahre 1980 nachhängt: Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt?19 Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an der sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. In dem Versuch zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Epochengliederung der europäischen Geschichte zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert würde diese Zeitspanne zwei Perioden umfassen. Zur Erläuterung: Ich unterscheide eine „Stabilisierungsmoderne“ mit ihrem Zentrum etwa zwischen 1640 und 1720 von einer „evolutiven Moderne“, die mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt und die etwa bis 1880 reicht. Gemeint ist die Zeit der ökonomischen und politischen Doppelrevolution, der institutionellen und ökonomischen Dynamisierung der Geschichte. Diese einmal begonnene Stufe des Kapitalismus hat bis heute nicht aufgehört zu wirken; insofern ist sie nicht abgeschlossen und niemals abschließbar. Sie wird seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch überlagert von einer zivilisationskritischen Einstellung, für die Nietzsche einer der entscheidenden Stichwortgeber war. Ich nenne sie die „heroische Moderne“. Als ihren Grundzug betrachte ich die Einsicht, dass der geschichtsphilosophische Synergismus eines Hegel nicht mehr gültig ist. Die Geschichte hilft nicht mehr mit, ist keine „List der Vernunft“ hinter unserem Rücken; alles was getan werden kann, muss gegen sie durchgesetzt werden. Dafür braucht man keine Menschen, sondern über-menschliche Kräfte. Das war die Zeit der „Heroischen Moderne“, in der gerne vom Neuen Menschen und seiner historischen Sendung fabuliert wurde.20 Die heroische Moderne ist ungleichzeitig zu Ende gegangen; im Westen schwand sie seit 1945 dahin. Im Herrschaftsbereich der UdSSR hielt sie sich noch bis 1989/90. Dort durften die Sozialisten noch länger heroisch bleiben.21

Ich spreche nicht von einer Moderne und auch nicht, wie Ulrich Beck, von einer ersten und zweiten Moderne, sondern spalte den Begriff in historische Schichten oder Stufen auf. Stellt man die Frage so, dann kommt es darauf an herauszuarbeiten, was die Menschen in diesen verschiedenen Formen der Geschichte als ihre „Grundaufgabe“22 betrachtet haben, wie sie es mit der Geschichte aufnehmen wollten. Diese Aufgaben verändern sich mit der Formveränderung der Geschichte. Was die „Stabilisierungsmoderne“ betrifft, so hat Theodore K. Rabb sie auf den prägnanten Punkt gebracht: Es ging in der Mitte des 17. Jahrhunderts um die Stabilisierung einer krisenhaften Zeit auf allen Gebieten.23 Daran zeigt sich übrigens, dass diese Stufen der Moderne sich in ihrer Aufgabenstellung durchdringen. Die Kontrolle über Krieg und Krise ist niemals endgültig; es wandelt sich nur die Fragestellung, wenn die Form der Geschichte sich ändert. Die Idee einer Stabilisierung ist in der „evolutiven Moderne“ nicht aufgegeben, sie ist lediglich an das Ende des historischen Prozesses verlegt. Jetzt stellt sich die Alternative so: entweder mit dem dynamischen Fortschritt liberal mitzugehen und ihn selbst als die Lösung aller Probleme zu betrachten – oder aber dem Kapitalismus eine neue Gesellschaftsform entgegenzusetzen. Für Marx als den Schüler Hegels sollte aus dem Prozess selbst die Revolution entspringen: Der Übergang aus einer entfremdeten „naturwüchsigen“ Geschichte in eine Assoziation von Produzenten, die dann ihre eigene historische Entfaltung unter Kontrolle gebracht haben würden.24 Aber selbst dafür musste der historische Prozess in Form des tendenziellen Falls der Profitrate die krisenhafte Vorbedingung liefern. Auch bei Marx stand die Geschichte insofern noch unter der Herrschaft der „allpfiffigen Vorsehung“, so sehr es ihn auch belustigte, wenn andere, wie etwa der Utilitarist Jeremy Bentham sich dieser Denkfigur bedienten.25

Die „heroische Moderne“ teilt die Voraussetzungen dieses Denkens nicht mehr. „Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine ‚Vorsehung‘ braucht so etwas“, notiert sich Nietzsche im Sommer 1875. Und: „Was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegeneinander chaotisch wirken.“26 Ob unmittelbar aus dem Fortschritts-Prozess oder auf dem Umweg über seine revolutionäre Negation – weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege ist eine Vernunft in der Geschichte zu erwarten.

Nietzsche erwägt den lähmendsten Gedanken – den der „Dauer mit einem ‚Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck.“ Zu dieser Wiederkehr des Immergleichen will er herzhaft „Ja“ sagen. „Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß?“27 Seit dem Beginn einer effektiven europäischen Akkulturationsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert musste immer der Mensch mit seinen Affekten vor der Geschichte sich verantworten, ob er sich hinreichend angepasst habe, ob er friedensfähig, ob er zukunftsfähig sei. Nun wird umgekehrt die Geschichte vor das Tribunal des „Lebens“ gestellt und angeklagt. Die kulturellen Anforderungen haben schon zu viel „Lebendiges“ verschlungen – und wofür? Für einen Prozess, dem die Zielsetzung abhanden gekommen ist.28 Wenn die moralisch gebotene Mitarbeit an einer besseren Zukunft nicht mehr wirklich geglaubt wird, erweist Geschichte sich als feindliche Macht. Und es ändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihr. Natürlich darf man nicht sagen „die Menschen“. Die Einstellung zur Geschichte ist nach Schichten, oder wie es heute heißt: Nach Lagen oder Milieus aufgespalten. Unter diesem Blickwinkel finden sich die Antipoden Liberalismus und Sozialismus plötzlich im gleichen Boot wieder: Beide glaubten auf ihre Weise an die Zukunft, und auf diese bessere Zukunft hin war ihr Handeln ausgerichtet. Was aber geschieht, wenn ein „Milieu“ die kulturelle Hegemonie übernimmt, für das Geschichte in der Tat als ein durch und durch verpfuschter Prozess gilt, sozusagen als die Schöpfung eines bösartigen „Demiurgen“? So dachte auch noch Marx; doch der „Heiland Proletariat“ verspielte seine welthistorische Chance, ironischerweise durch die Form seiner eigenen „Partei“. Gnostische Denkmotive brechen in den 20er Jahren erneut auf29 – eine radikale Ablehnung der Welt wie sie ist – getragen von der Erwartung des „Ganz anderen“?

Zwischen diesen beiden Grundhaltungen, der teleologischen Geschichtsphilosophie der „evolutiven Moderne“ und der Kritik der „heroischen Moderne“ an ihr, sind die meisten der hier versammelten Aufsätze angesiedelt. Da ein Sammelband kein neu geschriebenes Buch ist, vermag keine Einführung ihn zu einem solchen umzudichten.30 Der Autor könnte nur einen Kommentar zu seinen wiederabgedruckten Texten schreiben. Ein Kommentar setzt allerdings eine gewisse Distanzierung voraus. Da die nicht immer gegeben ist, bleibt nichts anderes übrig, als die Zusammenstellung der Aufsätze zu thematischen Gruppen zu erläutern. Sie sind unter drei Rubriken zusammengefasst.

IV. Geschichtsphilosophische Zeichendeutung

Das Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte behauptet die Unhintergehbarkeit der geschichtsphilosophischen Erfahrung. Mit der längst geleisteten Kritik an der Teleologie der Geschichtsentwürfe zwischen Kant und Hegel ist das Problem nicht gelöst; denn die Teleologie überlagerte nur die Grunderfahrung der Nicht-Verfügbarkeit des Geschehens.31 Paul Ricœurs Einsicht, dass die „Fabel aller Fabeln“ nicht geschrieben werden könne, geht gleichwohl mit einer Trauerarbeit an Hegel einher. Wir können nicht mehr wie Hegel, sondern nur noch nach Hegel denken – so müssen wir von Hegel auf Kant zurückgehen. Die crux aller Geschichtsphilosophie liegt aber schon in ihrem Anfang bei Kant. Seine Orientierung am Geschichtszeichen schiebt paradigmatisch ein Ereignis mit einer moralphilosophischen Überlagerung ineinander. Sollte sich herausstellen, dass wir bei unserer Orientierung in der Geschichte zwangsläufig auch nicht anders verfahren, bleibt nur der Appell zu einem kritischen Umgang mit dieser „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“.32 Keinesfalls darf es wieder zur Einhüllung der vorfindlichen Empirie in den schützenden Gang eines Geistes kommen. Umgekehrt hat die siegesgewisse Entteleologisierung der Geschichtsphilosophie auch nicht viel erbracht, es ist nur die spekulative Überlagerung von einem durch diese Kritik nicht beeindruckten, unverfügbaren Prozess abgezogen worden. Dieser machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.

Der junge Schelling stellt sich in Anschluss an Kant der Frage, ob eine Philosophie der Geschichte überhaupt möglich sei. Im Philosophischen Journal von 1797/98 antwortet er noch mit einem „Nein“. Aber schon zwei Jahre später entwirft er im System des transcendentalen Idealismus selbst eine Geschichtsphilosophie, ja er bezeichnet das Fehlen der Reflexion über Freiheit und Notwendigkeit auf dem Gebiet der Geschichte als das höchste noch nicht aufgelöste Problem der Transzendentalphilosophie. Es besagt, dass ich glaube, mit Bewusstsein zu handeln – aber aus meinem Handeln entsteht mir unbewusst eine objektive Welt, die ich so nicht gewollt habe. Für einen kurzen Moment durchdenkt Schelling rückhaltlos diese Paradoxie, bevor er sie dann mit der „absoluten Synthesis“ wieder glättet.

Das Vertrauen auf die teleologischen Numen schwindet in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Junghegelianer und Feuerbach hatten ihren Anteil an dieser Wende. Nach 1848 war ihr Denken aber nicht mehr gefragt, so dass im 19. Jahrhundert alles zwei Mal gesagt werden musste – einmal vor und einmal nach 1848. Das Denken des Vormärz war revolutionär und stand politisch links; das Denken nach 1848 wird zunehmend ästhetisch-zivilisationskritisch und ist politischen Richtungen nicht eindeutig zuzuordnen. Beiden Linien gemeinsam ist anfänglich noch einen Kritik an Hegel. Daher sind zunächst Jacob Burckhardt und Karl Marx gegenübergestellt.

Jacob Burckhardt als Leser Hegels ist keineswegs der philosophische Laie, als der er sich gerne dargestellt hat. Man sieht an seinen Notizen zu Hegels Geschichtsphilosophie, dass er sich sehr genau den Kernkomplex des Theodizeeproblems in Hegels „Vernunft in der Geschichte“ vorgenommen hatte. Aus der vermeintlich begriffenen Einordnung der historischen Übel als vorwärts treibendes Element im historischen Prozess wird die Vorlesung über „Glück und Unglück in der Weltgeschichte“, die in dem von J.G. Schlosser entlehnten Satz kulminiert: „Die Macht ist böse an sich“. Ein Übel ist ein Übel, und ob aus ihm Gutes hervorkommen könne, ist nur unserer Neigung zum kompensatorischen Denken beim Betrachten der Weltgeschichte geschuldet. Ein Weltplan kann nicht behauptet werden. Aus dem erschlichenen Gesichtspunkt des „Weltgeistes“ wird der Ausgangspunkt vom duldenden und handelnden Menschen; daher wird Burckhardts Standpunkt „gewissermaßen pathologisch“. Und doch lehnt Burckhardt die Arbeit der „geschichtsphilosophischen Centauren“ nicht rundweg ab. Man sehe sie gerne am Waldesrand der geschichtlichen Studien, weil sie in der Lage seien, einzelne mächtige Ausblicke in den Wald zu hauen. Denn den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen – das ist ein weit verbreitetes Schicksal der Historiker.

V. Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität

Wenn man fragt, ob das Zeitalter der Revolutionen beendet sei, dann ist man über Marx hinaus. Denn Marx ist der letzte Methusalem des teleologischen Denkens, auch wenn sich seine Teleologie darauf beschränkt hatte, in der Bewegung des kapitalistischen Substanz-Subjekts die krisenhaften Vorbedingungen für die revolutionäre Tat der Arbeiterklasse bereitzustellen. Insofern hatte Marx die politische an die ökonomische Revolution gebunden und in der kapitalistischen Krise noch einmal eine „List der Vernunft“ am Werke gesehen. Die Geschichte des sozialistischen Denkens zeigt selbst schon eine Entkoppelung dieser Prämissen; als die Oktoberrevolution in Russland dann stattfindet, ist sie der Akt einer Kaderpartei und keineswegs notwendig im Sinne von Marx. Inzwischen hat der globale Weltmarkt als der Nachfahre des Weltgeistes dieses „sozialistische“ Gebilde wieder in sich zurückgenommen. Nun zeigt es sich: Die ökonomische Umwälzung aller Verhältnisse durch das Kapital war die eigentliche Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts; die sozialistischen Revolutionen waren nur die Reaktion darauf. So ist das, was Marx zusammengedacht hatte, heute auseinandergefallen. Der unbewussten Einsicht in die Unentrinnbarkeit des Kapitalverhältnisses korrespondiert ein frei flottierender Enthusiasmus, der sich in der nun auch schon wieder am Ende ihrer Herrlichkeit angekommenen „Postmoderne“ an Geschichtszeichen relativ beliebiger Art attachieren konnte.

Ich hatte oben eine revolutionäre von einer zivilisationskritischen Linie im deutschen Denken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterschieden. Die Unterscheidung darf nicht zu streng sein, denn beide Linien überschneiden sich vielfach und bilden in der Zeit um den Ersten Weltkrieg ein brisantes Gemisch. Romantisches Denken in der entzauberten Welt zieht anhand einer Passage aus Thomas Manns Doktor Faustus einige Linien dieses Selbstverständnisses nach. Die als Stufe der „Heroischen Moderne“ charakterisierte Grundhaltung zur Geschichte versucht sich an der Sinngebung des Sinnlosen. An einigen Büchern und programmatischen Verlautbarungen des Eugen Diederichs Verlags in Jena wird dieses Denken näher umrissen: Immer ist es auf der Suche nach einer Kraftzufuhr, denn um diesen an sich selbst sinnlosen Prozess des Geschehens noch bändigen zu können, bedarf es offenbar übermenschlicher Kräfte, die schließlich fichteanisch im Rückgriff auf die Deutschen als das Urvolk auch gefunden werden. So gerät das romantische auf die abschüssige Bahn des völkischen Denkens.

Oswald Spengler neben Thomas Mann zu stellen kommt nicht von ungefähr. Der Schriftsteller war fasziniert von dem Denker der morphologischen Welt-Geschichte, von dem er sich zunächst einen schwerelosen Übergang in die Zivilisation versprochen hatte. Am 5. Juli 1919 schreibt er: „Man muß sich kontemplativ stimmen, auch fatalistisch-heiter, Spengler lesen und verstehen, daß der Sieg England-Amerikas die Civilisierung, Rationalisierung, Utiliarisierung des Abendlandes, die das Schicksal jeder alternden Kultur ist, besiegelt und beendigt. (…) Was nun kommt, ist die angelsächsische Weltherrschaft, d.h. die vollendete Civilisation. Warum nicht? Es wird sich ganz komfortabel unter ihr leben lassen.“33 Welch ein Irrtum. Die Zivilisation Spenglers war nicht die „Zivilisation“ des Westens, sondern der Endkampf zwischen „Geld“ und „Blut“ im Zeichen des Cäsarismus. Der Erfolgstitel: Der Untergang des Abendlandes täuscht. Nichts geht hier unter – außer der Kultur. Der Erfolg Spenglers beruht darauf, dass er den Deutschen erklärt, der Weltkrieg sei noch gar nicht verloren und zu Ende. Er wird nur im Rahmen jener späten Endform jeder Kultur, der Zivilisation, weitergeführt. Darauf soll man sich einrichten und sich dafür „in Form“ bringen. Die kleine Skizze Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen endet mit dem Verweis auf einen jungen Soldaten, der 1941 von einem kleinen Büchlein mit Aphorismen Spenglers in Form gebracht werden wollte.

Dem losen Geplauder der Studenten im Doktor Faustus und dem in Form gebrachten Oswald Spengler wird nun ein Denker entgegengesetzt, der auf den Schultern Nietzsches den Terminus der „Weltverdüsterung“ aufnimmt und ihn 1935 gegen Russland und Amerika zugleich wendet. „Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.“34 Martin Heideggers Amerika als der Ursprungsort der Weltverdüsterung wird auf seine historische Situierung hin befragt. 1935 ist Heideggers Enthusiasmus für den Nationalsozialismus (genauer gesagt: für einen von ihm er-dachten, eigenen Nationalsozialismus)35 schon der Skepsis gewichen und im Übergang zu den „Beiträgen zur Philosophie“ begriffen.36 Gleichwohl glaubte er 1935 noch die Rolle des Volkes in Europas Mitte genau zu kennen. Es ist die Bändigung der Gefahr der Weltverdüsterung – der geistige Zweifrontenkrieg vor dem wirklichen. Diese Denkfigur wird in den weiteren Umkreis der damaligen amerikakritischen Literatur gestellt. Durch die Ereignisse des 11. Septembers 2001 und der patriotischen Auslegung dieses Geschichtszeichens seitens der USA, ist dem Wiederabdruck dieses Textes von 1997 eine gewisse Aktualität zugewachsen. Der Aufsatz endete mit der Warnung, sich nicht allzu schnell den gängigen Klischees der deutschen Amerikadeutung37 anzuschließen. Es ist wahr: das Amerika des George W. Bush verdient Kritik; es bedarf sogar der Kritik. Diese Kritik kam früher von links und von rechts und hatte zum Fundament immer die These, dass die Europäer, insbesondere die Deutschen, eine bessere Gesellschaftsform in historischer Bereitschaft hielten. Diese Prämisse darf man in der Globalisierungsmoderne getrost fallen lassen. Heute kritisiert bestenfalls Demokratie „Demokratie“, eine Spielart des Kapitalismus kritisiert eine andere. Es geht um keinen gesellschaftlichen Gegenentwurf mehr, sondern um den Streit um den besten Kapitalismus. Das sollte man sich vergegenwärtigen, sonst endet man sehr schnell beim Duktus des Maßlosen Kontinents des Giselher Wirsing von 1942, selbst wenn sich in diesem Buch Passagen finden, die heute in jeder Tageszeitung stehen könnten.38

Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken. Auch das klingt aktuell. Gemeint ist aber die Auslegung einer Sentenz von Carl Schmitt, der Gedanke, dass Gott mit uns spiele, könne ebenso sehr eine optimistische Theodizee wie eine verzweifelte Ironie hervorbringen. Die Ironie wird durchgespielt anhand Hegels Kritik an den Romantikern, denn er selbst hielt eine substanziellere bereit: die Ironie des Weltgeistes, der die Intentionen der Akteure prismatisch bricht und zu seiner eigenen Sache macht. Mit der Kritik an der Geschichtsphilosophie zerfällt diese spielerische Ironie. Der Ernstfall bricht in die Geschichte ein. Die Akteure betrachten sich nun selbst als die letzten Instanzen des historischen Handelns. Sie spalten sich auf in Freund und Feind, doch scheint hier eine gewisse Asymmetrie am Werk. Denn Carl Schmitts „Feind“ kämpft nicht mit offenem Visier. Die anglo-amerikanische Kampfeinheit „Ethik & Ökonomie“ bedient sich politisch der Weltmoral des Völkerbundes und ist der deutschen Traditionsfirma „Freund & Feind“ haushoch überlegen. Seinem Glossarium vertraut Carl Schmitt seinen späten Ärger über die Ironie an: die elende Selbstgefälligkeit, mit der Hegel sich mit der „Ironie“ in der Geschichte identisch gewusst habe. C.S. hingegen sieht sich als Opfer dieser Ironie in doppelter Weise – habe er doch zuzeiten mit „intensivster Ironie“ gearbeitet, dadurch aber „Caliban/Papageno“ in eine Prüfung versetzt, die er nicht bestehen konnte.

VI. Geschichtsschreibung und Gedächtniskultur

Der Text über Carl Schmitt endet mit der Bemerkung, man brauche sich über die Zukunft der Ironie keine Sorgen zu machen, denn die Erinnerungskultur in Deutschland bringe mit ihrem Denkmals-Betrieb von eitlen Auslobern, undurchsichtigen Jury-Entscheidungen und geschäftstüchtigen Künstlern langsam aber sicher einen ironischen Tonfall in die düsterste Epoche der deutschen Geschichte. Anstatt mit der Ermordung der europäischen Juden beschäftigt sich der literarische Saus in den Feuilletons nun mit Denkmälern über die Ermordung der Juden. Vielleicht war es politischerseits sogar so gewollt. Bedenken dieser Art ist der dritte Abschnitt der Textsammlung gewidmet.

Er beginnt mit einem verwilderten Aufsatz, der mit Nietzsche einsetzt. Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte. In ihm überlagern sich geschichtsphilosophische Erwägungen mit Forschungen zur Geschichte des (deutschen) Gewissens.39 Nietzsche variiert zum Lob des Vergessens den Satz Goethes, der Handelnde sei immer gewissenlos. Nach diesem Befund dürfte die politische Handlungsfähigkeit nicht zu viel Wissen und Gewissen haben – sonst wird sie gelähmt. Ist dieser Satz heute nicht zeitgemäß? Dieser Frage stellt der Text ein Lob des Erinnerns entgegen – um dann in einem Exkurs zum Deutschen Gewissen den „Aufbruch in das transmoralische Gewissen“ zu beschreiben – ein Terminus von Paul Tillich, der jenseits seiner intendierten Bedeutung mir brauchbar scheint für die Darstellung der deutschen Befindlichkeit in den 2oer/3oer Jahren. Ein Vergleich zwischen den Endsituationen der beiden Weltkriege schließt diese Überlegungen ab. Max Scheler konnte 1918 noch von „Reue und Wiedergeburt“ sprechen – Karl Jaspers in seinen Heidelberger Vorlesungen über die Schuldfrage vom Wintersemester 1945/46 kann das nicht mehr. Seither leben die Deutschen mit einem zerrissenen Selbstbewusstsein, auch wenn sie immer wieder versuchen, es zu flicken. Und sie stehen vor der Aufgabe, vor dem Hintergrund dieses Gewissens dennoch politisch zu handeln. Eine feine psychologische Beobachtung Nietzsches zeigt die Schwierigkeiten mit der zerrissenen Identität: „‚Das habe ich gethan‘ sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht gethan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“

Der nachfolgende Aufsatz „Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung ist noch nicht zu Ende gedacht; er endet mit einer Frage. Einmal geht es um die Artikulierung eines Unbehagens an der ausufernden „Gedächtniskultur“, in der sich politisch geforderte Korrektheit mit dem Kunstbetrieb verbündet hat. Dabei heraus kommen Denkmäler als politische Allegorien, in denen das Design-arsenal einer epigonalen Moderne zum halb-verrätselten Träger einer Sinndeutung wird, die der Betrachter schon im Voraus weiß. Wo entsteht hier historische Einsicht? Es wirkt eher wie das Ritual einer Selbstbestätigung. Wäre nicht eine Rückkehr zu einer kritischen Geschichtsschreibung der zwar beschwerliche, aber einzig gangbare Weg? Anhand des Buches „Zachor. Erinnere Dich!“ von Yosef Hayim Yerushalmi werden diese Spannungen zwischen Geschichtsschreibung und kulturellem „Gedächtnis“ aus jüdischer Sicht beschrieben. Denn sobald Geschichtsschreibung – frei nach Nietzsche – dem Leben dienen soll, schleichen sich Mythen ein. Kritische Historiker hingegen, die sich den Mythen verweigern, können eine umfassende Sinnstiftung nicht bieten, es bleibt, wie Yerushalmi konstatiert hatte, ein Unbehagen in der modernen Geschichtsschreibung. Nun ist jedoch keine Geschichtsdarstellung ganz frei von solchen Bezügen; sie schleichen sich ein über die „Wertbeziehung“ zum einen, oder über „Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie“ zum andern. Nimmt man den ersten Ansatz, dem faktisch die Mehrzahl der Historiker folgt, dann stellen sich zwei Probleme. Zum einen sollen direkte politische „Werturteile“ ausgeklammert bleiben. Dieser Fall ist an einem krassen Beispiel anhand einer Schrift von Ernst Nolte durchgespielt. Wichtiger ist aber das andere von Max Weber hinterlassene Dilemma. Aus der Perspektive seines „Objektivitätsaufsatzes“ von 1904 sind praktisch alle Wertbezüge gleichwertig. Das würde bedeuten, dass das gesamte politischkulturelle Wertspektrum von rechts bis links gleichberechtigt zum Ausgangspunkt des Herangehens an das historische Material werden kann. Natürlich gibt es ein gewisses Vetorecht der Quellen und es gibt den Punkt, an dem eine Darstellung in einseitige Geschichtsklitterung umschlägt. Es gibt aber auch eine breite Grauzone, denn die Quellen lassen zwar nicht alles, aber doch vieles mit sich machen. Meine Überlegung war: kann man theoretisch eine Hierarchie unter den Wertbeziehungen begründen? Das läuft auf die Frage hinaus: Wer darf legitimerweise wen kritisieren? Die in diesem Text nur erst angedeutete Antwort wäre es, eine Abstufung der Wertbeziehungen nach dem Maße zu begründen, in dem historische Mythen in sie eingegangen sind. Dieser Vorschlag folgt einem Hinweis Ernst Cassirers, der davor gewarnt hatte auf Stimmen zu hören, die zwischen Mythos und Geschichte keine klare Abgrenzung mehr machen.

Leider ist die Problemlage jedoch komplexer. Mit dem Schwinden der geschichtsphilosophischen Sinnstiftung ist eine Leerstelle entstanden, in die wieder Geschichtstheologie eingedrungen ist. Man kann sich das an den Thesen Über den Begriff der Geschichte von Walter Benjamin verdeutlichen. Mein Befund hinsichtlich der gegenwärtigen „Gedächtniskultur“ wäre es nun, dass aus Denkfiguren dieser Art heute ein theoretisch diffuses Mischgebilde entstanden ist, in dem bestimmte Wertbeziehungen quasi-theologisch überhöht werden. Ich habe anhand der Kritik Peter Novicks an der These von der „Einzigartigkeit“ der Vernichtung der europäischen Juden darauf verwiesen. Hält man sich an den Satz Kants: „Der kritische Weg ist allein noch offen“, dann müssen neue Fragen in die wissenschaftliche Arbeit am Holocaust eingebracht werden; sonst besteht die Gefahr, dass das „Eingedenken“ zum Ritual erstarrt. Es gibt eine bedenkenswerte Bemerkung von Paul Ricœur, an die man anknüpfen könnte. Auch sie fällt in Auseinandersetzung mit dem Buch Yerushalmis – und mit Hegel.

Vom Historiker werde moralische Neutralität erwartet, so etwa wie François Furet die bloß verherrlichende Geschichtsschreibung der Französischen Revolution kritisiert habe. „Doch wenn es um Ereignisse von größerer Nähe geht wie etwa Auschwitz, scheint eine moralische Neutralisierung, wie sie vielleicht angebracht ist, wenn man eine bestimmte Vergangenheit durch ihre distanzierte Betrachtung besser begreifen und erklären will, weder möglich noch wünschenswert zu sein. Hier erschallt vielmehr das biblische Losungswort aus dem Fünften Buch Moses: Zachor! (erinnere Dich!), das nicht zwangsläufig mit einer Aufforderung zur Geschichtsschreibung identisch ist.“ Aus dem Buch Yerushalmis hebt Ricœur hervor, „daß die Juden jahrhundertelang die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ignorieren konnten, sofern sie nur dem „erinnere Dich!“ (….) treu blieben, und daß ihr Zugang zur historischen Forschung im Zeitalter der Aufklärung in weitem Maße eine Folge der Assimilation an die nichtjüdische Kultur war, die sie umgab.“ Wenn man dennoch davon ausgehe, dass das „Heilige“ eine unausrottbare Dimension des historischen Sinns bleibe, ergeben sich für Ricœur zwei Denkwege. Zum einen unterlegt er Hegels aufblickende Verherrlichung der welthistorischen Individuen mit Rudolf Ottos „tremendum fascinosum“.40

Es gebe aber auch ein tremendum horrendum. „Das Entsetzen ist das Gegenbild der Bewunderung, wie der Abscheu das der Verehrung. Das Entsetzen wird von Ereignissen verursacht, die man nie vergessen darf. In ihm findet die Geschichte der Opfer ihren letzten moralischen Beweggrund. (….) Die Opfer von Auschwitz vor allem sind es, die in unserem Gedächtnis alle Opfer der Geschichte vertreten. In ihnen, den Opfern, zeigt sich jene Kehrseite der Geschichte, die keine List der Vernunft zu rechtfertigen vermag und die vielmehr den Skandal jeder Theodizee der Geschichte offenbart.“41 Bewunderung wie Entsetzen aber beziehe sich jeweils auf ein Einmaliges in der Geschichte; beide erfüllen eine Individualisierungsfunktion. Damit entziehe sich das Entsetzen der kausalen Erklärung, die Zusammenhänge herstellt. „Der Konflikt zwischen der Erklärung, die Zusammenhänge herstellt, und dem Entsetzen, das vereinzelt, erreicht hier seinen Höhepunkt, und doch darf dieser latente Konflikt nicht zu einer ruinösen Dichotomie führen zwischen einer Geschichte, die das Ereignis in der Erklärung auflöste, und einer rein emotionalen Entgegnung darauf, die einen davon dispensiert, das Undenkbare zu denken.“ Was er hier beschreibt ist nichts anderes, als der Konflikt zwischen Gedächtniskultur und Geschichtsschreibung. Ricœur bemüht sich, einen dialektischen Zusammenhang zwischen Erklärung und Entsetzen herzustellen: „Je mehr wir historisch erklären, um so entrüsteter sind wir; je mehr uns das Entsetzen faßt, um so mehr versuchen wir zu begreifen.“ Den Stand der gegenwärtigen Literatur zum Holocaust sieht er noch jenseits dieser Dialektik: „Entweder das Zählen der Leichen oder der Bericht der Opfer.“ Zwischen beiden – das ist seine theoretische Forderung – müsste eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche historische Erklärung angesiedelt sein, die den Regeln der singulären Kausalzurechnung gehorchte. Er fordert ein negatives Epos der Opfer, so wie es einmal ein Epos der Helden gegeben habe, denn das Leiden der Opfer schreie „weniger nach Rache als danach, erzählt zu werden.“42

In diese wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die zugleich nicht gedächtnislos sein solle, müsse die literarische Fiktion mit eingehen, der die Rolle der Individualisierung zukomme. Diese ganze Passage findet sich kurz vor jenem Abschnitt, in dem Ricœur kategorisch fordert: „Auf Hegel verzichten.“

In ihm kritisiert er, wie bereits oben erwähnt, die Unmöglichkeit, die Fabel aller Fabeln – das gewusste Ganze der Weltgeschichte zu erzählen und jedes Ereignis im Rahmen einer dynamisierten Theodizee an seinen begriffenen Platz zu stellen. Gleichwohl sieht Ricœur deutlich, dass mit einer Kritik an Hegel das Problem der Nicht-Beherrschbarkeit der Geschichte nicht gelöst ist.43 Geht man zur Verdeutlichung hier noch einmal auf Burckhardts Hegelkritik zurück, so kann es die Aufgabe des Geschichtsschreibers nur sein, vom „duldenden und handelnden“ Menschen auszugehen. Das Leiden und Handeln der Akteure ist aber eingespannt in diesen Rahmen der Nicht-Verfügbarkeit. Die bewusst in der Geschichte handelnden oder duldenden Menschen sind einem ihnen unbewussten Gesamtprozess eingeordnet, der aus ihren Aktionen hervorgeht, aber jenseits ihrer Kontrolle sich bewegt. Erst die Einbeziehung dieses Rahmens würde wohl jenes Epos schreibbar machen, das Ricœur avisiert. „Täter“ und „Opfer“ können dann keine letzten Kategorien des historischen Verstehens sein, genauso wenig wie wir versuchen würden, Geschichte mit den Kategorien „Freund“ und „Feind“ bei Carl Schmitt zu schreiben. Die Geschichten von Freunden und Feinden, von Tätern und Opfern sind in die Geschichte verstrickt. Ricœur hat diese condition humaine so formuliert, es seien handelnde Subjekte, „die versuchen, ihre Geschichte zu machen, und die die Übel erdulden, die aus diesem Versuch hervorgehen.“44

VII. Coda

Jedes Musiklexikon weiß es: Coda leitet sich ab vom lat. cauda, Schwanz, Schwänzchen. Dem durchgeführten Motiv fügt sie eine letzte Bestätigung hinzu oder ein Verklingen der Grundtonart. Unser Motiv war die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, durchgespielt in verschiedenen Sätzen. Der Text über die Frage, ob das Zeitalter der Revolutionen beendet sei, endete mit der Feststellung eines frei flottierenden Enthusiasmus. Der Enthusiasmus, den Kant zuerst an die Revolution gebunden hatte, hat sich mit deren welthistorischem Scheitern wieder von ihr abgelöst. Was wird aus ihm? Er wird an sich selbst revolutionär, der Prophet erschafft sich seine Massen und gebiert das Phantasma der revolutionären „Multitude“. Dem unkontrollierbar rasenden Prozess hat sich ein unkontrollierbar rasendes Denken anverwandelt. Es schleudert Bedenkenswertes, aber auch puren Unsinn aus sich heraus und nivelliert beides in einem kaum zu durchdringenden Wortdickicht. Rhizom. Intermezzo.45 Dieses Zwischenstück ist hier als Endstück, als Coda angehängt. Diese Coda variiert aber nicht den Grundton der hier versammelten Texte, sondern bietet ein kontradiktorisches Scherzo. „In Wahrheit nämlich sind wir die Herren dieser Welt, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend neu erschaffen. Die biopolitische Welt ist ein unerschöpfliches Zusammenwirken generativer Handlungen, deren Motor das Kollektiv (als Treffpunkt der Singularitäten) ist. Keine Metaphysik (es sei denn eine im Delirium liegende) kann behaupten, die Menschheit sei isoliert und machtlos.“46 Der Leser steht vor diesem Weltwunder ebenso ratlos wie der kleine Beobachter des Kosmos auf dem Titelbild von de Chirico. Unser Sammelband grüßt diese Herren der Welt aus dem Delirium der Metaphysik.

H. D. KittsteinerBerlin, 30. Juli 2003

Nachweise

Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, in: 19. Deutscher Philosophen-Kongreß Konstanz 1999, erweiterte Fassung in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, Berlin 2000, S. 67-77.

Freiheit und Notwendigkeit in Schellings System des transcendentalen Idealismus – Zur Aktualität geschichtsphilosophischen Denkens, in: Moshe Zuckermann (Hg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Band XXIX, 2000. Geschichte denken: Philosophie, Theorie, Methode, Gerlingen 2000, S. 85-104.

Jacob Burkhardt als Leser Hegels, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 511-534.

Ist das Zeitalter der Revolutionen beendet? in: Rüdiger Bubner, Walter Mesch (Hrsg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999, Stuttgart 2001, S. 429-447.

Romantisches Denken in der entzauberten Welt, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen-Diederichs-Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. München 1996, S. 486 – 507.

Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: Alfred Opitz (Hg.): Erfahrung und Form. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problemkomplexes, Trier 2001, S. 147-160.

Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/97. Berlin 1997, S. 559 – 617.

Erkenne die Lage. Über den Einbruch des Ernstfalls in das Geschichtsdenken, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie. Sprachen des Ernstes, Frankfurt am Main 2000, S. 233-252.

Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Gary Smith/Hinderk M. Emrich (Hrsg.): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, S. 133-174.

„Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung, in: Volkhard Knigge/ Norbert Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 306-326.

Empire. Über Antonio Negris und Michael Hardts revolutionäre Phantasien. (Originalbeitrag)

1Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Hg. Vittorio Hösle, Hamburg 1990, Bd. I, S. 3-39.

2Isabella Far: Giorgio de Chirico, Herrsching 1979, S. 24/124. Es entwickelt sich allmählich zu meinem Lieblings-Titelblatt, denn ich hatte es auch schon für Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999 verwendet.

3Arrigo Boito: Mefistofele. Opera in un prologo, quattro atti e un epilogo, 1962 (Ricordi), S. 6 f.

4Immanuel Kant: Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. VIII, S. 30.

5Kant, ebd., S. 17.

6Vico, Prinzipien, a.a.O., Bd. I, S. 142 f.

7Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Darmstadt 1974, Bd. II, S. 98.

8Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 217.

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