Out of Pommern Band II - Ablandige Liebe - Dietrich Bussen - E-Book

Out of Pommern Band II - Ablandige Liebe E-Book

Dietrich Bussen

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Beschreibung

In der Fortsetzung von 'Die Liebe zum Wasser' erleben wir die Hauptfiguren, wie sie die Liebe, der sie begegnet sind, nicht mehr loslässt: den Arzt, Doktor Rankwitz, der sich in Sehnsucht nach seiner Heidelinde verliert , seinen Freund 'Knolle', der zum Äußersten bereit ist, um seine geliebte Ania wieder zu finden, und schließlich den neunjährigen Hannes, der an seiner Hingabe zur katholischen Religion zu zerbrechen droht…

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Dietrich Bussen

Out of Pommern

Band II

- Ablandige Liebe -

Roman

Gott ist gefährlich. Ein neues Zeitalter der Verfinsterung droht.

Die Gesundheitsminister warnen: Religion darf an Jugendliche

unter 18 Jahren nicht weitergegeben werden.

1. Kapitel

Hannes spürte, dass sich jemand in seiner Nähe aufhielt. Zwischen ihm und dem Kirschbaum, zum Greifen nah, unsichtbar zwar, aber anwesend, ganz nah, wie fremde Gedanken, die um einen kreisen, das fühlte er.

Vielleicht der, der ihn angeschrien hatte, er solle die Arme ausstrecken, den Ast vor ihm greifen, sich festhalten, aber dalli?

Die Stimme hatte er gehört, da war er sich ganz sicher und jetzt glaubte er ihn auch zu sehen. Tatsächlich …

Von den Toten auferstanden?, dachte er, während sich die weiße Gestalt neben ihm wieder zu verhüllen schien, wie vernebelt, nur noch schemenhaft sichtbar.

Kanada und deinFreund Bert hatte der ihm auch noch zugerufen, und da hatte er zugegriffen und versucht sich an der rauen Rinde festzuklammern, auch dann noch, als der Ast abzubrechen drohte und die Borke in seine Hand schrammte. Festhalten oder Friedhof hatte er auch noch gehört, als er glaubte, sich nicht mehr an den berstenden Ast klammern zu können.

Hannes lag auf der Wiese unter dem Kirschbaum mit aufgeschürften Händen, einem Ast auf seiner Brust und einem Jungen neben sich.

Also doch der aus der achten, dachte Hannes.

„Na also, geht doch“, hörte Hannes und er sah ein Lächeln, wie er es noch nie gesehen hatte, so klar und eindeutig und ohne Eigennutz, ein vollkommenes Lächeln, wie gemalt auf durchsichtiger Leinwand.

Achtundneunzigprozentig, dachte er, und nach kurzem Zögern: aber der aus der achten Klasse? Aber das geht doch überhaupt nicht, das kann doch gar nicht …

Hannes sah, wie der neben ihm den Kopf bewegte.

Sieht aus, als ob er nickt, dachte er, und wieder hörte er die Stimme.

Ja, das sei er, der Sandmann-Junge, Anselm, dem die Schüler gern und oft Choethe nachgerufen hätten, weil sie glaubten, dass es sich dabei um eine absolut schwere Beleidigung handeln würde, wie Muttersöhnchen, Jammerlappen und Heulsuse. Ihm habe das nicht viel ausgemacht zunächst und Goethe, der habe sich nur über das Hermannsdorfsche ‚ch’ amüsiert, das wisse er aus sicherer Quelle. Aber irgendwann habe er es nicht mehr ausgehalten, dass niemand etwas mit diesem Choethe zu tun haben wollte: Lehrer nicht, die besagten Schüler nicht und der Pastor sowieso nicht. „Übrigens nett, dass du dich noch an mich erinnerst.“ Da bliebe noch sein Onkel. Der habe leider zu viel mit sich selbst zu tun gehabt, aber das sei eine andere Geschichte, die jetzt nur ablenke. Auf jeden Fall habe er sich dann aus dem Staub gemacht und deshalb sei er jetzt hier. „Zum Glück für dich, Hannes.“

„Anselm von Sandmanns, den sie immer geärgert haben auf dem Schulhof?“

Zum Beispiel mit Choethe, ja, ja. Aber, er, der Anselm, habe auch nicht vergessen, dass es da den kleinen Lehrersohn aus der Dritten gegeben habe, der das nicht mitgemacht hätte. Nicht schlecht mein Lieber, darauf könne er sich was einbilden.

„Quatsch nich. Doch nicht Anselm. Den haben se doch beerdigt, auf dem Friedhof, ich meine neben dem Friedhof auf dem …“

Gemeindeacker, das sei richtig. Aber mehr eingebuddelt als beerdigt. Und viel los sei da auch nicht gewesen. Außer seinem Onkel habe er da keinen gesehen, außer … deiner Mutter, fiele ihm ein. Die sei noch gekommen, zwar spät, als alles schon vorbei gewesen sei, aber immerhin und sie hätte für ihn gebetet und seinem Onkel die Hand geschüttelt.

„Dein Vater wollte auch, hat dann aber Schiss gekriegt und so getan, als ob er keine Zeit hätte.“

„Das kannst du doch gar nicht wissen!“

„Unsereiner schon. Bis ihr soweit seid, dauert’s noch ein paar Lichtjährchen und einige Einsteins. Guck nicht so misstrauisch. Wirklich, das ist so.“

„Und jetzt? Erst eingebuddelt, dann hier. Warst du überhaupt nicht, ich meine, hast du noch gelebt, als sie dich … Ach du Scheiße! Lebendig …, und dann wieder raus, ausgebuddelt wie’n Maulwurf und abgehauen und versteckt in ’ner Höhle oder Hecke, so wie unsere Heckenhöhle, bis die Großen uns verjagt haben, und wir nicht mehr rein durften, und wir uns das Stangenzelt gebaut haben, hier am Kirschbaum?“

„Na hör mal, sehe ich etwa so aus?“

„Wie’n Maulwurf?“

„Zum Beispiel.“

„Nee, bestimmt nicht. Kein bisschen Dreck, ganz weiß, fast durchsichtig, wie Milchglas bei uns in der Klotür.“

„Gut beobachtet. So scheinen wir euch, wenn wir euch erscheinen. Übrigens nur in ganz großen Ausnahmefällen. Im Augenblick, das ist so einer. Du, in meinem Kirschbaum sozusagen, auf einem brüchigen Ast und auf dem besten Wege in den Rollstuhl, lebenslang. Da konnte ich einfach nicht anders. Aber in Zukunft, verlass dich besser nicht drauf, da musst du schon selber …, alles klar? Übrigens, durchsichtige Klotür? Seit wann kann man bei euch ins Klo gucken? Bei euch ist doch sonst alles blickdicht, fast wie hinter einem Vorhang, zugezogen eben. Verstehst du, was ich meine?“

„Nee, aber bei der Klotür ist es jedenfalls so.“

„Was?

„Na ein Vorhang, und zugezogen von innen.“

„Hätte mich auch gewundert. Bei Lehrer Falkenmeier und freie Sicht aufs Klo!“

Anselm wandte den Kopf ein wenig zur Seite, sah die Tür mit dem Vorhang und sah auch, dass Hannes’ Vater von Durchfall geplagt wurde. Aber das betrachtete er als Dienstgeheimnis.

„Stimmt“, sagte er. Das mit dem Durchfall behielt er für sich.

„Wann warst du denn bei uns auf’m Klo?“

Hannes dachte, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuginge, und dass bei ihnen noch nie ein anderer …, und Anselm ganz bestimmt nicht, und er dachte, dass das alles an dem Fieber läge, das er wahrscheinlich hätte.

„Denk nicht weiter darüber nach Hannes.“

Dann hatte er noch erklärt, dass Denken im Augenblick absolut nichts nütze, aber nur im Augenblick, nicht dass er meine, denken sei grundsätzlich … Um Cosmos … - um Himmels willen natürlich -, er lächelte entschuldigend, ganz im Gegenteil! Er habe es schließlich am eigenen Leibe erfahren. Von gedankenlos sei es nicht weit bis bedenken- und skrupellos. Wie Zahnräder, die ineinander griffen, müsse er sich das vorstellen, die, einmal in Gang gesetzt, kaum noch zu bremsen seien, und dann … Er kenne ja das Ergebnis. Jetzt aber solle er’s nehmen wie’s komme, wie gesagt, ausnahmsweise.

Das war Hannes auch recht, zumal er nur die Hälfte verstanden hatte, sich Schmerzen in seinem Kopf breit machten, der Ast noch immer auf seiner Brust lag und überhaupt alles mit erhöhter Temperatur zu tun haben könnte.

Anselm erklärte hingegen, dass mit ihm soweit alles in Ordnung sei, außer ein bisschen ohnmächtig, aber das gebe sich wieder, beim Doktor nachher. Der würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

„Genauer gesagt, exakt in … Augenblick“, er hob den Kopf ein wenig, das Oval seiner Augen zog sich zu einem Kreis auseinander - wie bei einer Eule, dachte Hannes -, dann legte sich Glanz über die Iris, so, als sei sie aus Perlmutt.

Anselm tippte auf seine Stirn - links ein Doppelklick, rechts ein einfacher -, die Augen wechselten wieder in ihren ursprünglichen Zustand, er strich mit der Hand über die Stirn, er besah sich die Innenfläche und sagte: „Genau in 5,473330 Minuten, abgerundet. Im Augenblick ist Fräulein Müller noch mit dem Doktor beschäftigt.“

Die versteht ihr Handwerk, dachte er. Die ist ja noch besser als ihr schlechter Ruf.

Mit offenem Mund und verstörtem Blick sah Hannes auf den milchglasweißen Zauberer neben ihm.

Fieber, dachte er, ich hab bestimmt Fieber.

„Und jetzt blinkt’s auch noch bei dir, Anselm, auf der Brust, oder vielmehr da drin.“ Wie eine Lampe mit Wackelkontakt, dachte er. An - aus - an - aus – an …

„Oha, ich muss weiter. Mach’s gut. Bleib schön liegen, bis der Doktor - meine Güte, was macht die denn da mit dem -, na ja, also bis bald und nicht mehr in Kirschbäume hörst du. Den Ästen kann man nicht trauen, glaub mir. Mal brechen sie, mal brechen sie nicht. Du weißt doch, bei meinem Seil und mir hat er gehalten. Sollte ja auch. Aber trotzdem. Ich bin jetzt in C und M , das ist eine Abkürzung für Cosmos-Magnum, beziehungsweise Comag, aber das sagt bei uns keiner - nur damit du Bescheid weißt -, und du bist in Hermannsdorf. Gut, es gibt interessantere Orte als Hermanns…“

Erneutes Blinken unterbrach seine Erklärungen und ehe Hannes fragen konnte, was das alles zu bedeuten habe, sah er, wie Anselm sich langsam in dem Grün der Wiese auflöste, zuletzt das C&M auf seinem Rücken. Zurückgeblieben war nichts. Nicht mal ein kleiner Abdruck da, wo er gesessen hatte. Ein winziger Windhauch vielleicht, den Hannes gespürt hätte, wäre er bei Bewusstsein gewesen, oder ein verträumter Zwirbel, wie er sich abends am Strand über sanft auslaufenden Wellen bildet, allerdings selten und nur an wenigen dafür auserwählten Stellen.

Knolle hatte sich auf der Bank neben der Eingangstür niedergelassen. Es war noch nicht soweit. Die Praxis würde erst in einer viertel Stunde öffnen. Manchmal auch früher, meistens aber pünktlich um vierzehn Uhr. Heute wollte er nur verschnaufen auf seinem Weg in den Wald und die angrenzenden Wiesen und wenn möglich ein paar Worte mit dem Doktor wechseln, nur so, weil es ihm gut tat, mit dem Mann aus Pommern zu reden über dies und das und - bei leerem Wartezimmer - auch über seine beiden Leidenschaften, mit denen er lebte, wie auch schon sein Vater vor ihm. Wobei, genau genommen, hatte der es nur mit der einen, im Wesentlichen. Die andere war erst bei ihm, dem Sohn vom alten Keller, dazugekommen. Zwangsläufig, wie er meinte.

Endlich hatte er jemanden gefunden, der ihn verstand, der sogar etwas beizusteuern hatte zu dem, was ihn umtrieb bei Wind und Wetter.

Ausgerechnet einer aus der Kalten Heimat, dachte er. Der weiß, wovon ich rede und erkundigt sich und probiert aus und hilft weiter. Aber die hier, Dickschädel und Dösköppe. Nur im äußersten Notfall, wenn alle Stricke reißen, dann kommen se angekrochen, heimlich, weil sie Gerede fürchten.

„Ja, ja, wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“, murmelte er vor sich hin.

„Da ist der Doktor aus anderem Holz geschnitzt.“

Mit Keller aus Asseln, genannt Knolle, so hatte er sich dem Doktor vorgestellt.

Macht ja nix, ’ne Assel kommt selten allein. Hauptsache keine Küchenschabe. Derartiges war dem Doktor nicht eingefallen.

Oder eingefallen schon, dachte Knolle. Aber er hatte sie zurückgehalten, die naheliegenden Sprüche.

Das hatte seine Neugierde geweckt auf diesen Flüchtling aus Pommern.

Selbst der Pfarrer hielt besser ’ne Assel im Keller als ’ne Wanze im Bett

für besonders witzig. Der Doktor aber hatte gelächelt, hatte ihn mit angenehm Rankwitz, genannt Doktor die Hand gegeben und ihn hereingebeten. Das war’s und dabei war’s geblieben, die Namen betreffend. Alles andere ergab sich wie von selbst, an üblichen Verläufen gemessen.

Knolles Leidenschaften waren dem Doktor nicht fremd. Die eine teilte er fast. Wenn er sie auch nicht mit Knollscher Hingabe verfolgte, so hatte er sich doch zu Beginn seines Studiums intensiv mit ihr beschäftigt, hatte alles gelesen, was er in Stettin über Medizinmänner, Schamanen und sonstige Randfiguren der Heilkunst auftreiben konnte, hatte in den hellen Nächten am Haff Frösche und Fischlaich miteinander verkocht in der Hoffnung, dass die Kraft des vollen Mondes seinen Sud mit heilenden Kräften verzaubere, hatte Gereimtes von Teufelspriesterinnen zu entschlüsseln versucht, hatte mit Schaudern an vernebelten Abenden Druiden aus den Verästelungen von Eichenmispeln aufsteigen sehen, wie sie mit Mörsern, Pfannen und Tiegeln den geheimnisvollen Kräften dieser Schmarotzer zu Leibe rückten und hatte schließlich nach Hexenfibeln Tees gebraut. Leider war es ihm nicht gelungen, deren Inhaltsstoffe in einer Dosierung aufeinander abzustimmen, die heilbringende Wirkungen zur Folge gehabt hätten. Stattdessen verharrten seine Mischungen im Dunkel des Unberechenbaren. Eilige Gänge zu Toilette und Waschbecken und andere unerfreuliche Begleiterscheinungen seiner Aufgüsse hatten ihn auf den Weg der konventionellen Lehre zurückgeführt. Die Hochachtung vor den Naturheilern und den sonstigen Vertretern der weißen Magie aber hatte er hinübergerettet in sein Studium und seine Praxis. Die hatten allem Anschein nach schon vor Paracelsus die Bedeutung der richtigen Dosis erkannt, die ihm selber bedauerlicherweise verborgen geblieben war.

Knolles zweite Leidenschaft nahm der Doktor zur Kenntnis, sie interessierte ihn auch, immerhin, obwohl er beim Thema Alkohol regelmäßig abwinkte. Den genoss er dann doch lieber in einem Glas Rotwein, oder auch mehreren. Für die Ergebnisse Knollscher Kartoffelexperimente konnte er sich nicht erwärmen. Auch die Einladung, an der Verfeinerung seiner Wässerchen mitzuwirken, lehnte er ab. Selbst der Hinweis, dass eigentlich erst Alkohol - dazu noch selbst erzeugter, da wisse man wenigstens, was man habe - die segensreichen Wirkungen von Kräuterauszügen zur vollen Entfaltung brächten, beziehungsweise ernstzunehmende Essenzen ohne Alkohol nur schwer vorstellbar seien, überzeugten den Doktor nicht.

Da setze er lieber auf seine seit Frau Jankowski, die er ja auch kennengelernt habe, gewachsenen Beziehungen zu den Soldaten Seiner Britischen Majestät, bei allem Respekt vor seinen Bemühungen.

Das bedauerte Knolle. Seine Zuneigung trübte es nicht. Trüb hingegen blieben seine Wässerchen.

Aber eines Tages würde er den Doktor überraschen mit einem Tröpfchen so klar und rein wie die Eiszapfen an seiner Dachrinne in klirrendkalten Vollmondnächten. Daran arbeitete er.

Er hörte Laute, die vom hinteren Teil der Arztpraxis zu kommen schienen. Verschwommenes Stöhnen versetzt mit Klagelauten in höherer Stimmlage.

Dass der Doktor schon vor der Sprechstunde bei der Arbeit sei, dachte Knolle. Sicher ein Notfall bei dem Gejammer, und er richtete sich darauf ein, dass die Tür heute wohl später geöffnet würde.

Er könnte auch weitergehen, überlegte er. Aber warum eigentlich. Und so überließ er sich der wohligen Trägheit dieser frühen Nachmittagsstunde.

Er senkte seinen Kopf weg von den vereinzelten Wolken hin zur Wiese, sah, dass unter dem Kirschbaum ein Junge lag, schob seinen Strohhut bis in die halbe Stirn und gab sich den Zufälligkeiten seiner nachmittäglichen Empfindungen hin. Er sah noch einmal hoch. Irgendein Detail hatte nicht ins Bild gepasst.

Ein Ast auf der Brust eines Jungen, der vor sich hin döst …

Knolle erhob sich, rief, ob alles in Ordnung sei und wusste schon, während er rief, dass den Jungen dort im Gras die Ordnung verlassen hatte.

Er überlegte, ob er sofort zum Arzt oder erst zu dem Jungen, entschied sich für den Jungen, sah, als er sich über ihn beugte, dass den auf jeden Fall kein Schlaf auf die Wiese gestreckt hatte. Er kannte den Widerschein tiefer Abwesenheit, der auf dem Gesicht des Jungen lag.

Er hob den Ast von der Brust, fühlte nach Atem und Puls, spürte Leben, lief zur Eingangstür des Doktors zurück, rief und rüttelte und forderte von Fräulein Müller, als sie - ihr Kleid in Sitz und Halt bringend - in der Tür stand, schnelle Hilfe. Ein Notfall unter dem Kirschbaum.

Mit „herrjee, schon wieder der Kirschbaum“ rief sie den Doktor aus seiner Praxis, und als der „ein Junge, wahrscheinlich ohnmächtig“ von Knolle hörte, fürchtete er das Schlimmste und er hoffte, dass es nicht schon wieder einen Verzweifelten zu diesem Baum getrieben hätte.

Er wies Fräulein Müller an, bei dem Jungen zu bleiben. Er und Knolle würden sich um die Liege kümmern. Auch wenn es sich nur um eine Ohnmacht handeln sollte, Vorsicht sei geboten. Eine Gehirnerschütterung sei auch nicht auszuschließen.

„Kommen Sie, Knolle.“

Zum ersten Mal, dass er Herr vergisst, dachte Knolle auf dem Weg in die Praxis. Er empfand es als Auszeichnung, fast wie das Angebot einer Bruderschaft.

„Siehste, genau in fünf Komma, du weißt schon.“

„Du schon wieder? Komisch, ich dachte du musst zurück nach … nach, na, du weißt schon.“ Oder hast du die Kurve nicht gekriegt, wollte er noch sagen. Lieber nicht, dachte er, nachher ist der noch beleidigt.

Anselm lächelte. „Ich weiß schon, wo’s lang geht, mein Kleiner. Aber auf ein paar Minuten kommt’s nun auch nicht mehr an. Bei uns Neulingen nehmen die es da oben noch nicht so genau.“

Gedanken lesen kann der auch, dachte Hannes.

Anselm saß nun auf der Liege neben ihm. Er informierte Hannes über den Transport vom Kirschbaum in die Praxis und erklärte ihm den Ablauf der folgenden Minuten.

„Gleich wird Knolle dem Doktor ein Angebot machen. Einen Augenblick, ich stelle dich mal kurz auf Knolle ein.“

Sanft strich er Hannes über die Schläfen. „So, jetzt müsste es klappen.“

„Knolle, der Frösche und Würmer kocht und durch den Fleischwolf dreht und auf Bäuche streicht, wenn Vollmond ist?“

„Woher hast du das denn?“

„Hab ich gehört, beim Bauern, beim Milchbetteln. Außerdem sehe ich keinen Knolle, weit und breit nich.“

Erstens sei das dummes Gerede und zweitens sei von sehen nicht die Rede gewesen. Er solle ihm vertrauen. Jetzt gleich …

Knolle räusperte sich, strich sich durch den Schnurrbart, befühlte sein Kinn und sagte: „Doktor, wenn es nur eine Ohnmacht ist, versuchen Sie es mal mit dem Auszug von neulich. Nur ein paar Tropfen auf die Stirn. Sie werden sehn.“

Selbst Heitkämpers Opa habe diese Behandlung nach drei Tagen Schützenfest und gehörigem Vollrausch wieder auf die Beine gebracht, wenigstens für den Transport nach Hause.

„Und was war mit dem Durchfall, Knolle“ - schon wieder ohne Herr, dachte Knolle - „anschließend?“ Der habe es ja nicht mal mehr bis zum Klo geschafft.

„Er hätt’s eben nicht trinken dürfen.“ Damit habe auch er nicht gerechnet, obwohl er den inzwischen eine halbe Ewigkeit kenne. Schon sein Vater habe mit dem seine Last gehabt, aber das gehöre jetzt nicht hierher.

„So Hannes, ich will’s auch nicht übertreiben. Was Knolle gesagt hat, hast du gehört. Gleich wird der Doktor deine Stirn einreiben, du wirst aufwachen, und ich werde nicht mehr da sein. Also hör gut zu. Es wird voraussichtlich lange dauern, bis wir uns wieder sehen, wahrscheinlich sogar sehr lange. Kann sein erst, wenn dein Körper sich von dir verabschiedet. Frag jetzt nicht, du merkst das schon rechtzeitig. Bis dahin kannst du mir alles erzählen, alles, hörst du. Ich werde dir immer zuhören, ganz bestimmt, auch wenn du mich nicht siehst, versprochen. Vergiss das nie! Und noch etwas. Er erhalte gerade die Nachricht, dass der Kirschbaum und die Wiese - in der Ausdehnung des Kirschbaumschattens zur Sommersonnenwende - seit seinem, man könne sagen Abgang und wegen einiger Vorkommnisse in früheren Jahren zum Magischen Ort erklärt worden seien. Auch dieses Qualitätssiegel solle er nicht vergessen. „Frag nicht. Behalte nur Magischer Ort.“

Anselm hielt ihm seine Handfläche entgegen, so, wie sie es gemacht hatten, als sein Freund Bert noch nicht abgereist war, wenn es etwas Besonderes zu besiegeln galt. Hannes legte seine Hand an die dargebotene, strich zwei Diagonale - wie ein Andreaskreuz - über die Handfläche, wollte noch fragen, wie es seinem Freund und dessen Mutter auf dem Schiff nach Kanada gehe, „oder sind die schon in Kanada?“, aber da hatte sich Anselm schon in der Fensterscheibe aufgelöst, wie vorhin auf der Wiese. Eine Gardinenfalte bewegte sich leicht zur Seite, so, als ob sie dem entschwindenden Anselm Platz machen wollte, und Hannes hörte, dass Knolle sagte, dass der Junge zu sich käme, seine Hand, sie bewege sich und sein Mund …, und alle hörten „Kanada“, und sie sahen, wie Hannes die Augen öffnete, und sie wunderten sich, dass er außer ‚Kanada’ auch noch „Anselm“ sagte.

„Da können se mal sehen Doktor, meine Tropfen.“

Knolle lächelte. Hannes dachte, dass das Lächeln ihm gelte und lächelte zurück.

„Wieso Kanada?“, flüsterte Fräulein Müller.

„Donnerwetter“, sagte Doktor Rankwitz und strich über Knolles Oberarm.

„Was ist los?“, fragte Hannes und richtete sich auf.

Anselm, dachte der Doktor. Ausgerechnet Anselm … Er überlegte, ob sie etwas übersehen haben könnten, und er betrachtete und befühlte Hannes’ Hals auf bisher Unerkanntes und bat Knolle, sich die Stelle unter dem Kirschbaum noch einmal genau anzusehen, auch den Ast. Anselm gebe ihm doch zu denken, und er - dazu noch als Arzt - wolle sich später keine Vorwürfe machen müssen.

Beide stellten Befund negativ fest.

Hannes fragte, ob er sich draußen auf die Bank setzen dürfe, in dem Zimmer würde es ziemlich komisch riechen.

Seine Tropfen, dachte der Doktor.

Mein Auszug jedenfalls nich, dachte Knolle.

„Der ist auch nicht der Typ für so was“, stellte Fräulein Müller fest, nachdem Hannes den Raum verlassen hatte.

Das sei beruhigend, sagte Doktor Rankwitz.

„Wer ist schon der Typ für Selbstmord“, murmelte Knolle.

„Na Anselm“, sagte Fräulein Müller, während sie im Spiegel ihr Haar ordnete.

„Ach so“, sagte der Doktor, sah zu Knolle, Knolle sah zum Doktor und beide wussten, dass man mit Fräulein Müller Geduld haben müsste.

Zufrieden mit ihren Haaren bot sie an, Hannes nach Hause zu bringen.

Hilfsbereit is se, dachte Knolle.

Gott sei Dank, fühlte Doktor Rankwitz.

Aber vorher seien noch ein paar Dinge zu besprechen, erklärte der Doktor und bat Fräulein Müller, den Jungen von der Bank draußen wieder hereinzuholen. Er wolle den Johannes heute vor den sicher gut gemeinten, aber doch auch sehr strengen Erziehungsmaßnahmen seines Vaters bewahren und seine Eltern auch nicht unnötig beunruhigen.

Anstelle der Kirschbaumkletterei genüge auch ein unglücklicher Sturz auf der Wiese, aus Unachtsamkeit, bei der Unordnung, die dort herrsche.

Ob das eine Lüge sei, fragte Hannes.

Nu ja, dachte Knolle.

Nettes Kerlchen, dachte Fräulein Müller. Der in groß … und strich Hannes übers Haar.

Gut, dass er die Frage stelle, sagte Doktor Rankwitz. Das sei wirklich eine interessante Frage.

Nu stottert der Motor, dachte Knolle.

Genau genommen, ein bisschen vielleicht, versuchte es der Doktor weiter.

Ein bisschen Lüge?, überlegte Fräulein Müller.

Aber eigentlich würden sie ja nur nicht alles erzählen, ein paar Details …, er überlegte, den Vorgang nicht in allen Einzelheiten berichten. Das Wesentliche, den Sturz, aber schon. Insofern, also ganz streng genommen, sei es eigentlich keine.

Nu ja, der hat schließlich studiert, dachte Knolle.

Ob er das verstanden habe.

Nee, sagte Hannes.

Dann sei es ja gut, wollte Doktor Rankwitz sagen, erschrak jedoch noch rechtzeitig über die Fehlschaltung in seinem Hirn, warf den Hebel um und sagte, er, Hannes solle die Schilderung des Vorfalls mal ruhig Fräulein Müller überlassen. - Fräulein Müller nickte lächelnd. - Wegen seiner Ohnmacht habe er das meiste sowieso nicht mitgekriegt und auf Fräulein Müller sei in dieser Hinsicht Verlass.

Hoffentlich, dachte Knolle.

„Wieso nur in dieser Hinsicht?“, warf Fräulein Müller ein, wobei sich ihr Körper straffte. Wenn sie an die Mittagspausen denke …

Nu wird’s spannend, dachte Knolle.

Das sei eine unscharfe Formulierung gewesen. Der Doktor wirkte jetzt ein wenig nervös. Er bat um Nachsicht und lobte mit Nachdruck ihre Hilfs- und Einsatzbereitschaft.

Vor allem in der Mittagspause, dachte Knolle.

„Dann is ja gut“, sagte Fräulein Müller und nahm Hannes bei der Hand.

Sie solle Falkenmeiers von ihm grüßen, und sie sollten Hannes zwei, drei Tage zu Hause behalten, und Hannes versicherte er, dass Fräulein Müller das schon richtig mache. Morgen werde er in der Mittagspause noch einmal nach ihm sehen.

Ausgerechnet in der Mittagspause, dachte Fräulein Müller und ihr Busen hob sich ein wenig höher als üblich.

2. Kapitel

Herr Falkenmeier streichelte die Hand seiner Frau, kurz, aber lang genug, dass sie die Berührung nicht als zufällig fehlinterpretieren konnte. Sie wusste, dass er sich mit dieser etwas verschämten Geste bei ihr bedankte, auch wenn er - damit das Intime nicht überhand nehme - der Berührung „aufstehen, es wird mal wieder Zeit“ mit auf den Weg gab.

Das ist nun mal seine Art, dachte Frau Falkenmeier.

Tatsächlich hatte sich bei ihrem Mann im Laufe der Jahre ein Hang zum Entzärteln eingestellt, als dürfe er sich emotionale Regungen nur als flüchtige Einmischungen erlauben. Abgleitungen ins Sinnliche mit möglicherweise unkontrollierbaren Nebenwirkungen mussten vermieden werden.

Jeden Freitagnachmittag legte Frau Falkenmeier ihrem Mann ihre Hand zurecht, damit er es einfacher hätte mit seinem Ritual. Auch tat sie ihm den Gefallen, erst nach seinem Weckruf aufzuwachen. Seit einem Vierteljahr ging das so, seit der ersten Übergabe.

Freitags zwischen vierzehn und sechzehn Uhr, so lautete die Vereinbarung zwischen Frau Falkenmeier und Bauer Lohmeier, Ottos Vater. Ihr Verhandlungspartner hatte sich bis jetzt dran gehalten. Es drohten immerhin Anzeige und Ehrverlust. Auch die Mengen stimmten. Frau Falkenmeier wog jedes Stück Fleisch nach. Ebenso die anderen Lebensmittel, soweit sie in Gramm messbar waren.

Nach einer an sich alltäglichen Balgerei auf dem Schulhof, bei der Hannes und sein Freund Bert allerdings krankenhausreif verletzt wurden - verursacht im wesentlichen durch Otto Lohmeiers Fußtritte -, hatte Frau Falkenmeier, die Gunst der bösen Tat erkennend, Wiedergutmachungsleistungen erhandelt, die ihren Mann vor jeder freitäglichen Übergabe zu der flüchtigen Streicheleinheit veranlassten. Der Freitag stand seitdem gleichrangig neben dem Sonntag. Der eine sicherte das materielle Überleben, der andere das geistige.

Falkenmeiers warteten auf Otto mit dem Paket.

Herr Falkenmeier sah immer mal wieder den Weg zu Lohmeiers Hof ab. Noch immer spürte er eine gewisse Spannung, die erst wich, wenn er das Paket unter Ottos Arm sah. Zunächst aber nahm er eine Frau mit einem Kind an der Hand wahr. Das Herannahen dieser beiden empfand er als eher ungünstig. Die Vorstellung, dass Otto nun auch aufkreuzen könnte, bereitete ihm Unbehagen. Diese Aktion sollte möglichst unbeobachtet über die Bühne gehen, dachte er.

Er misstraute den Gedanken der Leute. Böswillige, mit entsprechend böswilligen Unterstellungen, gab es immer, vor allem, wenn ein lernunwilliger Bauernsohn Pakete bei Lehrers ablieferte, in regelmäßigen Abständen.

Befürchtungen ganz anderer Art lenkten ihn jedoch auf ein Problemfeld, das er seit dem Weggang von Frau Jankowski als entsorgt angesehen hatte. Wenigstens auf absehbare Zeit.

Er erkannte in den beiden Herannahenden seinen Sohn Johannes an der Hand von Fräulein Müller. Für diese Konstellation fand er keine Erklärung. Sie war abwegig und gefährlich, nicht nur seinen Sohn betreffend, sondern auch in Bezug auf die unmittelbar bevorstehende Paketübergabe. Er tat das, was er in Situationen, die in seinem inneren Regelwerk nicht vorgesehen waren, immer tat. Er rief nach seiner Frau.

Diese sah das ungleiche Paar, fühlte sich überrumpelt, dachte, mein Gott und sagte: „Ist die das wirklich?“

„Ja natürlich“, sagte Herr Falkenmeier, „mit unserm Sohn.“

Frau Falkenmeier strich über ihr Kleid, schüttelte den Kopf und sagte, dass sie nach unten gehen wolle.

Manchmal ist sie zum Fürchten, dachte Herr Falkenmeier.

„Dieses …, dieses Flittchen kann was erleben. Und du Franz kümmerst dich um Johannes.“

Intuitiv war Herrn Falkenmeier nach Strammstehen, wären seine Blicke nicht noch intuitiver von Gestalt und Gang dieses fleischgewordenen schlechten Rufes, der sich Schritt für Schritt seinem christlichen Heim näherte, abgelenkt worden. Erst als er Teufel auch dachte, erkannte er, dass er seiner Moral den Anblick dieser Frau nicht länger zumuten konnte.

Er zog sich an den Ort in seiner Wohnung zurück, an dem er sich mit seinen Problemen noch am sichersten fühlte, an seinen Schreibtisch. Der freie Blick auf das Pastorat gegenüber mit der Kirche daneben schien ordnend auf Gedanken und Gefühle zu wirken. Der mächtige Kirchturm erinnerte ihn an die Orgel, die er bald wieder spielen würde, an die Knabenstimme seines Sohnes, die er mit Wohlgefallen auf seinem Instrument begleitete und an die verstummenden Misstöne der wenigen Frühmessenbesucher bei den Klängen der Orgel und dem Gesang seines Sohnes.

Vielleicht sollte ich ihn doch einmal loben, dachte er. Mal sehen.

Aber zu Kopf steigen sollte es ihm auch nicht. Hoffahrt und Eitelkeit könnten den kindlichen Glauben leicht ins Wanken bringen. Die Müllers und Jankowskis hätten dann noch leichteres Spiel mit den Lockrufen ihrer sündigen Leiber. Gottvertrauen in Ehrfurcht und Demut, darauf käme es schließlich an, vor allem bei Johannes, der doch Priester werden wolle und von einer Mission in fremden Kontinenten träume.

Und ausgerechnet der kommt mit seinen neun Jahren immer wieder mit solchen Frauen in Berührung. Vielleicht eine Prüfung, dachte er. Dass der liebe Gott auf diese Art seine Auserwählten vor die Wahl stelle, die Entscheidung vorbereite für ein geistliches oder weltliches Leben.

Mit Ungeduld sah Herr Falkenmeier dem Bericht seiner Frau entgegen.

Immerhin ein gutes Zeichen, dass er nicht hinzugezogen würde, dachte er. Allzu schlimm könne es dann ja wohl nicht sein. Dieses Fräulein Müller. Bei dem Aussehen könne man schon leicht auf die schiefe Bahn geraten, wenn Elternhaus und Religion keinen Halt gäben. Eigentlich schade, so eine ansehnliche Frau.

Die Stimme seiner Frau, die Hannes ins Bett schickte, beendete seine Gedanken an Fräulein Müller.

Dass man sich bei einem Sturz auf einer Wiese so verletzen könne, sei auch nicht alltäglich, sagte Herr Falkenmeier. Ein Glück, dass der Doktor und Knolle …, na ja, und Fräulein Müller habe sich schließlich auch tadellos benommen, das müsse man schon zugeben.

Das sehe sie jetzt auch so, sagte Frau Falkenmeier.

Donnerwetter!, Format hat sie. Im Gegensatz zu Fräulein Müller, da sind es mehr die Formen.

Vielleicht, dass die enge Zusammenarbeit mit dem Doktor eine heilsame Wirkung auf das Fräulein habe. Sei doch immerhin möglich.

„Möglich schon“, sagte Frau Falkenmeier. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass entschieden mehr Wirkung von Fräulein Müller auf Doktor Rankwitz ausgeht, aber das sagte sie nicht. Womöglich wecke ich noch schlafende Hunde, dachte sie, und sie besah ihren Mann mit einem prüfenden Blick.

Auf Johannes müsse man in Zukunft verstärkt aufpassen, sagte sie. Sie habe den Eindruck, dass er sich in Fräulein Müllers Gesellschaft sehr wohl gefühlt habe, hoffentlich nicht zu wohl! Andererseits, der Herr prüfe die Seinen oft besonders hart. Vielleicht treffe das ja auch auf Johannes zu.

Daran habe er auch schon gedacht, sagte Herr Falkenmeier.

Die Übereinstimmung mit seiner Frau milderte seine Sorgen und stärkte seine Zuversicht, dass Johannes mit ihrer beider Hilfe schon den rechten Weg finden würde.

Hannes erinnerte sich auf dem Weg nach Hause an der Seite von Fräulein Müller an Frau Jankowski. So warm und weich hatte es sich auch angefühlt, als er zwischen ihren Beinen gesessen hatte, die Schultern an ihre Oberschenkel, den Kopf an ihren Schoß gelehnt.

Während Fräulein Müller von einem besonders spektakulären Sturz erzählte, als sie in seinem Alter gewesen sei - vom Heuboden direkt in den Schweinestall, dort sei sie zum Glück auf dem Bauch einer Sau gelandet, an dem gerade Hochbetrieb gewesen sei wegen der Frischlinge, die Hunger gehabt hätten -, lehnte Hannes seinen Kopf an Fräulein Müllers Taille. Die Bewegungen ihrer Hüfte spürte er am Arm.

Da sei wohl ihr Schutzengel im Schweinestall gewesen. - Bei Schutzengel kam ihm ‚Anselm’ in den Sinn, aber nur flüchtig und ohne Erinnerung. - Alle seien heil davongekommen, außer einem kleinen Schweinchen, leider. Seitdem habe sie Schweine richtig gern.

Auch Hannes liebte in diesem Augenblick Schweine und Fräulein Müller.

In Fräulein Müller wurden Beschützer- und andere Instinkte wach. Sie legte den Arm um Hannes’ Schultern und drückte den Anlehnungsbedürftigen noch ein wenig fester an sich und sie fühlte sich fast so wohl wie Hannes an ihrer Seite.

Nun macht se sich schon an Kinder ran, sagte Frau Steinmüller, die von ihrem Fensterplatz aus den Weg beobachtete. Der arme Junge, und dann auch noch der Jüngste vom Lehrer.

Als ob wir ein Liebespaar wären, dachte Fräulein Müller und lockerte ihren Arm ein wenig.

„Machste wieder so wie eben?“, sagte Hannes.

Dieser kleine Schlingel, dachte Fräulein Müller.

„Aber nur bis zur Kurve“, sagte sie. „Sonst wird mein Arm noch steif.“ Und bei dir …?, na ja, wer weiß, dachte sie. Ob das in dem Alter schon losgeht? Eigentlich reichlich früh, obwohl - sie sah ihn an - bei dem verträumten Blick … Oft kommt es ja über Nacht.

In seinem Bett dachte Hannes an Fräulein Müller. Wegen ihr hatte er keine Prügel bekommen, da war er sich ganz sicher. Außerdem hatte sie sich fast so schön angefühlt wie Frau Jankowski.

Jetzt kenne ich schon drei, die zu den ‚gebenedeiten Weibern’ gehören: die Mutter Gottes, die Mutter von Bert und Fräulein Müller.

Bei allen dreien waren es die Beine, die ihn mit Wohlbehagen erfüllt hatten, was seine frühere Vermutung, dass es eigentlich ‚gebeinedeit’ heißen müsste, zur Gewissheit verfestigte.

Mit dem Gedanken, den Pfarrer in einer der nächsten Religionsstunden darauf hinzuweisen, schlief er ein.

3. Kapitel

Er wolle langsam weiter, sagte Knolle. Dieser Kirschbaum, wie verhext. Erst der Sandmann-Junge, dann der Sohn vom Lehrer. Vielleicht solle man den Baum abhacken.

Abhacken Herr Knolle? - Nu is er wieder bei Herr, dachte Knolle. - Er bezweifle, ob das die richtige Lösung sei. Alles dem Erdboden gleich machen, was einem gefährlich werden könnte oder was einem nicht gefiele? Stellen Sie sich mal Hermannsdorf vor …

Wüste, unterbrach Knolle. Er sehe eine große leere Wüste, wenn’s danach ginge.

Sehnse, Herr Knolle. Er schätze die Lage zwar nicht ganz so düster ein, aber die Richtung stimme schon und nicht nur in Hermannsdorf. Wenigstens die Kirche bliebe doch noch an Ort und Stelle!

Wenn’s nach dem lieben Gott ginge, wahrscheinlich nich, Doktor.

Um Himmels willen. Er sei da gerade erst eingetreten, wehrte Doktor Rankwitz ab. Er solle nicht den Teufel an die Wand malen, schon gar nicht an die Kirchenwand!

Man könne alles so und so sehen. Er sehe es nun mal so, sagte Knolle.

Der Doktor sah Knolle an. Ein richtiger Querkopp, dachte er. Hätte gut nach Pommern gepasst. Gut, dass sie unter sich seien, sagte er. Und noch etwas, er würde in Zukunft gern das Herr weglassen, ob ihm das recht wäre. Es rede sich leichter.

Gern, sagte Knolle.

Ob sie sich jetzt küssen müssten, fragte der Doktor.