Out of Pommern - Band III: Die Beichte - Dietrich Bussen - E-Book

Out of Pommern - Band III: Die Beichte E-Book

Dietrich Bussen

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Beschreibung

Der Wunsch, wieder in seine alte Heimat am "Stettiner Haff" zurückzukehren, ist Doktor Rankwitz im Band II der "Out of Pommern - Trilogie" nur mit Hilfe eines virtuellen Kunstgriffes möglich. Tatsächlich versorgt er in diesem abschließenden Band mit Hilfe seiner Verlobten Fräulein Müller weiter die Hermannsdorfer in seiner Arztpraxis. Auch seine heimliche Liebe Heidelinde scheint nur in verwirrenden Träumen erreichbar. Bert - in kindlichem Glauben an wunderwirksamen himmlischen Beistand - lässt sich zusammen mit seinem Freund Jörg auf ein Unternehmen ein, das nach irdischen Gesetzen - bei Strafmündigkeit - normalerweise unter "Einbruch" in Tateinheit mit "Sachbeschädigung" und "Diebstahl", gehandelt wird. "Mildernde Umstände" nur mit Glück. Aus katholischer Sicht käme noch "Schändung einer heiligen Jungfrau" dazu. "Schwere Sünde" käme hier zum Zuge. Ein von religiöser Doppelmoral und bigotter Verblendung getriebener Vertreter der katholischen Kirche treibt während dessen sexuell irrlichternd sein Unwesen in Hermannsdorf mit dramatischen Folgen. Aber es gibt auch Hoffnung in Gestalt von starken Frauen, die sich selbst treu bleiben, auch wenn Kirche, Stammtisch und Gerüchteküche andere Wege weisen.

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Out of Pommern Band III - Die Beichte

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Dietrich Bussen

Out of Pommern

Band III

Die Beichte

Roman

„Es gibt Sachen, die sind nur für einen selber“, sagte Frau Falkenmeier den Neugierigen.

1

Was soll man sagen. Wieder saß Hannes auf seiner Bank am Stettiner Haff.

Bis hierhin hab ich es also geschafft, ging ihm durch den Kopf. Mit einigen Schlenkern natürlich. Bis jetzt. Berlin, Narbonne, Paris. Das war‘s im Wesentlichen und natürlich das Haff.

Aber auf einen anderen Kontinent? Dafür hat’s nich gereicht. Schon gar nicht damals mit meinen zehn, elf Jahren. Es reichte man gerade für wilde Träume mit wilden Abenteuern besonders, wenn wieder mal ein Brief von Bert angekommen war mit unglaublichen Nachrichten aus seiner neuen Heimat und Briefmarken, die nach galoppierenden Pferden, Federschmuck und Friedenspfeifen rochen.

Aber, wer weiß. Neue Ufer gibt es überall. Möglicherweise auch für mich, dachte er. Vielleicht, dass man länger suchen muss mit den Jahren. Wer weiß. Wobei, perspektivisch gesehen is mit den Jahren auch wieder sone Sache.

Aber Kanada? Damals? Die paar Jahre nach dem zweiten Weltkrieg? Das war was für nächtliche Träume, gern mit Priester im Urwald, oder von Indianern, und manchmal auch von Störtebeker - als Quereinsteiger, entfernungsmäßig, sozusagen. Den kannte ich von Bert.

Mädchen in derselben Klasse und auch noch eins direkt neben ihm mit langen Jungenshosen und überall Autos und seine Mutter ginge jeden Tag arbeiten, manchmal sogar sonntags, und er dürfte wahrscheinlich bald Zeitungen austragen, wegen seiner Mutter, weil die ja bei einer Zeitung arbeiten würde. Unglaublich für eine kindliche Hermannsdorfer Seele.

Und vorstellbar sowieso nicht, damals vier Jahre nach dem Krieg. Wenigstens bei uns auf dem Dorf. Absolut. Oder auch: So, sicher, wie’s Amen in der Kirche. Ob die drüben in Polen den Spruch auch kennen? Aber „Kirche“ und „sicher“ in einem Atemzug will einem heute - wenn überhaupt - nur schwer über die Lippen. Aber in Polen? wer weiß.

Seinen Freund gab es nicht mehr. Beziehungsweise, es gab ihn schon noch, aber - wie gesagt - weit weg, auf einem anderen Kontinent. „Bei Indianern und Eskimos“, hatte er ihm geschrieben. In Kanada eben.

Warum nicht erstmalMünster oder Dortmund oder vielleicht sogar Bielefeld?Und das war schon ein sehr großzügiges Angebot meinerseits, damals, zu Fuß. Wär doch weit genug, erstmal. Anstatt Scheiß-Kanada! Das war meine wütende Grundstimmung. Irgendwas zwischen stocksauer und neidisch. Indianer und Eskimos waren natürlich nicht schlecht, klar. Hatten mir sogar in so manchen Träumen den Gefallen getan, das Kriegsbeil zu schwingen mit einer Runde Friedenspfeife anschließend, oder Iglus gebaut und mit Riesenwalen gekämpft. Aber trotzdem. Auch noch aufem Schiff mit seiner Mutter, wochenlang. Und dann die Horrorvorstellung vom Untergang auf hoher See, mit Mann und Maus und Bert und seiner Mutter. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Flüchen hab ich damals versucht, meiner Trauer Herr zu werden, erinnerte er sich.

Aber Bielefeld hab ich dann doch sofort widerrufen und mich bei meiner Lieblingsheiligen, der Jungfrau Maria, entschuldigt, weil Angst und Schrecken mich überfielen, weil mir eingefallen war, dass erzählt wurde, dass dort die Evangelischen wohnen. Eine ganze Stadt voll mit der Aussicht auf Ewige Verdammnis in der Hölle! Und Bert und seine Mutter hätten dann dazugehört, wenn sie wegen mir dort gelandet wären. Das gehörte sicher zu den Sachen, die man nicht mal denken durfte, da war ich mir damals ganz sicher. Die hätten dann ja keine Chance gehabt, aus dem evangelischen Schlamassel wieder raus zu kommen. Nur wegen mir, hab ich mir eingeredet. Ich habe dann noch abends vor dem Marienaltar auf meinem Nachtschränkchen ein zusätzliches Ave Maria gebetet und den Blumenschmuck vor dem Mutter-Gottes-Bild wieder auf Vordermann gebracht, um meinen verwerflichen Irrtum aus der Welt zu schaffen. Ja, so war das, wenigstens in seiner Erinnerung.

Schon komisch, was man so alles speichert. Vielleicht liegt‘s ja am Kirchturm in Sichtweite drüben in Polen und am Glockengeläut, das mit der leichten Brise heute rüber weht und Stimmung macht für sowas. Obwohl, heutzutage? Heutzutage könnten einem auch ganz andere Gedanken kommen bei Kirchturm und Kirche, von katholisch ganz zu schweigen. Selbst an so einem friedlichen Abend wie heute reicht son Kirchturm und die Stimmung geht flöten. Aber nicht heute, nicht mit mir, verordnete er sich und dem, was ans Licht drängelte.

Abends im Bett tauchten sie immer wieder auf. Bert, seine Mutter und Kanada. Sogar Anselm, wenn es mit dem Einschlafen nicht klappen wollte. Wie an dem Abend, Tage nach ihrer Abfahrt.

- Kannst froh sein, dass du da nicht mitmusstest, oder? – hörte er von irgendwo her.

„Gar nich! Überhaupt nich“ schlug er der fremden Stimme um die Ohren. „Sone Scheiße.“

Oder war der das wieder, der Anselm? Der, als das mit dem Kirschbaum passiert is, wo der Ast abgebrochen is und ich auf der Wiese gelandet bin? Vielleicht war der das wieder. Aber der wollte doch nich mehr kommen aus seinem komischenCosmos-Magnum, sogar für länger nich. Dann sah er ihn wieder, wie er ihm zum ersten Mal erschienen war, obwohl der eigentlich tot war, weil er sich aufgehängt hatte, weil seine Mutter gestorben war und ihn alle immer gehänselt hatten, und dann war er plötzlich doch wieder da und hatte mit ihm geredet und hatte ausgesehen fast wie ein Engel nur ohne Flügel, und dann war er wieder verschwunden, wie wenn Schnee auf der Wiese wegschmilzt, nur schneller. Zuletzt das C&M auf seinem Rücken.

Und gesagt hat er, dass er nun für längere Zeit nich mehr vorbeikommen würde, als der Doktor ihn behandelte, genau. Und was is jetzt, biste doch wieder hier?

Keine Antwort.

Er sagte sich, dass das im Grunde auch egal sei.

Seine Kommunion fiel ihm ein. Er bedauerte, dass Bert nicht mal mehr seineErste Heilige Kommunionmitgekriegt hatte mit seinem neuen Gesangbuch aus Leder und dem neuen Bleyle-Anzug. Nur, dass der so gekratzt hat, war nich so schön. Und die hohen Schuhe … Alle anderen hatten einen richtigen Anzug, nich sowas Gestricktes, und Halbschuhe. Aber alles war wenigstens neu, nagelneu, tröstete er sich.

Dass er mitgefahren wäre stand für ihn fest, felsenfest. Schon wegen der Indianer und Eskimos und wegen Bert natürlich und seiner Mutter auch. BeiMutteraber kamen ihm Bedenken. Er spürte ein komisches Ziehen in der Brust und in dem Ziehen tauchte seine Mama auf, die ganz traurig kuckte, und er fürchtete, dass das wahrscheinlich zusätzlich eine Sünde sei, einfach so abzuhauen, auch wenn man nur dran denken würde.

Sowas war wenigstens mal im Religionsunterricht dran gewesen beim ThemaSündigen in Gedanken und Worten.

Das hatte da natürlich nix mit Kanada zu tun. Da war ja noch alles in Ordnung. Nur so allgemeinAbhauen ohne vorher Bescheid zu sagen.Nich malin Gedankenwar das erlaubt. Und vonFegefeuerwar dann auch noch die Rede gewesen.

Er schloss daraus, dass man schon aufhören müsste an sowas zu denken, wenn man merkt, dass man an sowas denken will.

Ganz schön schwierig, stellte er fest.

Is jetzt auch mal egal. Vielleicht kann man das üben. Dafür hätte er in Kanada Indianer und Eskimos bekehrt, und das wär keine Sünde gewesen, mit Sicherheit nich.

Er würde wahrscheinlich dann sogar noch wasgut habenund nicht zu knapp, wenn er die katholisch gemacht hätte, weil die dann ja nicht mehr in die Hölle kämen, reimte er sich zusammen.

Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr.

Sie waren allein weitergezogen, Frau Jankowski und ihr Sohn Bert. Von Pommern nach Hermannsdorf und weiter nach Kanada.

Dann denke ich eben nur dran, dass es Scheiße is, dass sie nich mehr da sind, und lasse das mitdemMitfahreneinfach weg. Darüber schlief er ein.

Ein letzter Gruß vom Kirschbaum aus war ihm geblieben, der dann mit dem Absturz geendet hatte, und die Geschichte mit der Mutter Gottes vorher natürlich. Aber davon später.

Das Haus - genauer gesagt: die Baracke - hatten sie ihnen über dem Kopf angesteckt.

Damit war der Fall erledigt.

Nichts wie weg aus diesem Dorf; je weiter, desto besser.

Mitten im Frühling 1949, wo sowas wie Hoffnung in der Luft lag, dass nun bald alles besser würde nach den schrecklichen Jahren.

Das hoffte auch Frau Jankowski. Nur, in Hermannsdorf war dafür für sie und ihren Sohn

kein Platz mehr. Sie hatten sich davongemacht, bevor noch Schlimmeres passierte.

Nur weil die nich katholisch waren, deshalb, und weil die sowieso in der Hölle landeten, wie alle Evangelischen, dachte Hannes. Und weil die sich die Lippen färbte und ganz toll aussah. Deshalb wahrscheinlich auch.

So war das damals, erinnerte er sich, im Schatten der katholischen Kirche. Und heute wirbelt alles durcheinander. Die heilige katholische Kirche ist so unheilig, dass einem der Atem stockt. Nazis kriechen wieder aus ihren Löchern und vernebeln sich und anderen freie Sicht und freie Gedanken, als ob nichts gewesen wäre, oder höchstens ein kleiner Ausrutscher, der immer mal passieren kann. Jetzt haben sie‘s doch noch geschafft, die zum Schweigen Verdonnerten und auch noch mit Nazis im Gepäck, stöhnte er. Manchmal kommt’s eben dicke.

„Sowas hat man früher aufem Scheiterhaufen …, aber ehrlich“, hatte Bauer Kamphaus am Tresen von sich gegeben, während er sich offiziell im Hochamt in der sonntäglichen Kirche nebenan aufhielt. Dafür wurde er mit „Jau, jau“ und „chenau“ (Region mit weit verbreitetem G-Defekt, sprachlich gesehen) belohnt, worauf Kamphaus „eine RundeKurzen“ für die anderen Hochamtsschwänzer an der Theke in Auftrag gab.

Er erinnerte sich, wie sie ihn getröstet hatte.

Bert’s Mutter hat es mir beim Doktor auf der Wiese gesagt - was ich schon lange von Bert wusste -, dass sie in wenigen Tagen nach Kanada aufbrechen würden, und als sie merkte, dass ich kurz davor war, loszuheulen, hat sie sich an den Kirschbaum gesetzt, hat mich an sich gezogen, und ich habe mich zwischen ihre Knie geschoben und meinen Kopf an ihren Busen gelehnt, und sie hat mich gestreichelt und irgendwas von „ganz viel Briefe schreiben“ und vielleicht „später besuchen“ geredet.

„Oder nachkommen“, hab ich vorgeschlagen.

Oder einfach so sitzen bleiben und erst auf dem Schiff neben Bert wieder wach werden, hab ich vor mich hin geträumt.

Dann ist meine Mutter aufgetaucht, zufällig, weil sie mit dem Doktor was zu bereden hatte, hat uns beide am Kirschbaum gesehen - ihren Sohn in den Armen dieser Frau -, hat mich zu sich befohlen und gesagt, dass sie alles Weitere zuhause besprechen würden.Das war‘s dann mit dem Aufwachen neben Bert und am Busen seiner Mutter.

Er kann ja schließlich nichts dafür, hatte sie sich nach dem ersten Schrecken auf dem Weg nachhause beruhigt. Ist schon gut, dass sie bald weg sind, das ja. Er will schließlich Priester werden, Missionar sogar. Da schwärmt er von. Da ist es schon besser so. Die Frau hat schon sowas, dass son Junge plötzlich nich mehr Priester werden will. Aber das Haus anstecken, nachts, als die beiden dort schliefen, ist trotzdem ein Verbrechen. Bei lebendigem Leibe hätten die …, meine Güte, und das nur wegenevangelisch.Aber glücklich wären die auch ohne das Feuer nich geworden, hier, wo selbst der Pfarrer so getan hat, als ob er davon nichts mitgekriegt hätte. Mit einem englischen Offizier soll sie was gehabt haben und vom Doktor war auch die Rede. Was so erzählt wird im Dorf, wenn eine nicht reinpasst, auch äußerlich. Und das eben am Baum? Da kann son Junge schon mal auf dumme Gedanken kommen und auf einmal is nix mehr mit Priester und Missionar. Ist schon besser so mit Kanada. Mein Gott, dass die sich das traut, alleine mit dem Kind. Das is schon … Von sowas träumt man normalerweise nur. Oder in Romanen. Auf einem Schiff nach Kanada. Wochenlang nix als Wasser, meine Güte. Obwohl mit nem Flugzeug wär auch nich viel besser. Ich würd mich das nicht trauen; na ja, mit vier Kindern und Mann is ja auch was Anderes. Mein Mann …, eigentlich ein Glücksgriff, und geachtet is er außerdem im Dorf.

- Muss man nicht unbedingt stolz drauf sein, auf die Achtung, huschte durch ihr Hirn in einem Tempo, dass bei Frau Falkenmeier nichts als eine flüchtige Irritation haften blieb.

Nach so einem Lehrer müssten sie ziemlich lange suchen, wenn …

„Mama gehen wir noch woanders hin, weil …“ - Vielleicht in die Kirche wegen eben mit der Mutter von Bert?, rauschte durch sein Hirn -

„Wieso woanders?“

„Weil, die Pforte war schon.“

Kann man mal sehen, vergesse ich noch Haus und Hof wegen sowas.

Sie wolle nur noch mal in den Schulgarten, erklärte sie. Notlüge lässliche Sünde schob sich über ihre Ausrede. Er könne ja schon mal in sein Zimmer. Geige üben, zum Beispiel.

Da kommt er hoffentlich auf andere Gedanken.

Und das mit der lässlichen Sünde. Man kann’s auch übertreiben, sagte sie sich.

In mein Zimmer is irgendwie Kacke (Kacke im Sinne von: man weiß nich so recht.) Erst wenn sein Vater hinzugezogen würde, wäre richtig beschissen an der Reihe.

Er fühlte, dass da noch was nachkommen könnte. Aber was? Dazu fiel ihm nichts ein, absolut nichts. Was die Sache nicht besser machte. Ganz im Gegenteil. Wenn man nicht weiß, was einen erwartet. Richtig beschissen, rückte immer näher.

Wie kurz vor Dünnschiss war die allgemein gängige Bezeichnung für das, was sich bei Hannes in Brust und Bauch breitmachte.

Vielleicht, weil ich mich mit der Sonntagshose auf die Wiese gesetzt habe, wegen schmutzig und so, überlegte er. Aber Bert’s Mutter setzt sich doch nich in Dreck. Auf keinen Fall. Die doch nich mit dem schönen Kleid.

Vorsichtshalber wollte er in seinem Zimmer seine Hose nach eventuellen Verunreinigungen untersuchen. Dann weiß ich wenigstens, ob mir was blüht. Kuhscheiße war’s auf jeden Fall nich. Zur Sicherheit tastete er seinen Hosenboden ab. Wusst ich doch. Obwohl, wenn son Teil richtig schön eingetrocknet is im Gras. Kann man schon mal übersehen, und dann, klatsch, rein ins Vergnügen. Hauptsache, Papa is nich dabei. Noch hat er Schule, noch …

Der Zustand der Ungewissheit um ihn herum machte ihm große Sorgen. Richtig beschissen rückte näher und näher.

Er nahm sich vor, zusätzlich besonders gründlich seine Hände zu waschen und - für jeden sichtbar, vor allem für seine Mutter nach ihrer Schulgartenvisite - für seine Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium zu üben. Mit solchen Sachen - auch noch freiwillig - hatte er bisher gute Erfahrungen gemacht.

Immerhin war von „fleißig, fleißig“ bis zu einer Tracht Prügel noch alles drin.

Zu seiner Erleichterung war seine Mutter allein erschienen und zu seiner Überraschung hatte sie nicht mal geschimpft. Auch sie hatte versucht ihn darüber hinweg zu trösten, dass sein bester Freund in den nächsten Tagen zu einer „weiten Reise“ aufbrechen würde. Wenn sie auch anders getröstet hatte, nur mit Worten, und nicht mit Umarmen und Streicheln, wie Bert’s Mutter.

Hannes‘ Einwand - mit dem sie nicht gerechnet hatte, und den sie als außerordentlich hinderlich, und zu allem Unglück auch noch als ziemlich logisch empfand - mit dem er seine Mutter darauf aufmerksam machte, dass man von einer Reise immer wieder zurückkäme, Bert und seine Mutter aber nicht, hatte sie mit der etwas holprigen Erklärung, dass es eben unterschiedliche Reisen gäbe, zu entkräften versucht. „Die einen nur für Hin und die anderen für Hin und Zurück .“ Außerdem sei es besser, sie jetzt in Ruhe zu lassen. Die hätten so kurz vor der Abreise noch eine Menge zu tun, da würden Andere nur stören.

Nicht, dass im letzten Moment noch was schief geht. Dass sie störrisch werden oder sich irgendwo verkriechen. Die Bahn und das Schiff warten schließlich nich auf ne Mutter mit Sohn. Is ein Wunder, dass das alles überhaupt so schnell geklappt hat. Andere warten weiß Gott wie lange. Der Engländer soll nachgeholfen haben, haben sie beim Doktor im Wartezimmer erzählt. Wer weiß. Könnte aber auch genauso gut eine Fügung sein, dass der liebe Gott sich unsern Sohn nicht wegschnappen lassen will von einer Frau mit dem gewissen Etwas und evangelisch außerdem.

Bei dem Gedanken hellte sich ihr Gesicht mit einem vorsichtigen Lächeln auf und beinahe hätte sie ihren Sohn gestreichelt.

Dann wollte ich eben heimlich hinlaufen, erinnerte er sich, mit anschließender Beichte und Buße inklusive.

Die näheren Einzelheiten der Verabschiedung wollte er am folgenden Morgen mit Bert und Jörg besprechen. Jörg, der von Hause aus eigentlich Jürgen hieß und der mächtig stolz war auf seinen neuen Namen, den er Bert und Hannes verdankte. Jörg, das schmale Handtuch, der als eher doof galt und sich zudem noch mit dem Makel roter Haare herumschlagen musste. Den beiden aber war er ein guter Freund und kompetenter Berater bei der Bewältigung der kindlichen Alltagsprobleme, vor allem, wenn sie mit Werkzeugen aller Art zu tun hatten, trotz schmächtig. Zum Beispiel bei solchen Sachen wie: Entwenden einer größerer Menge Klümpchen abends aus der - nach Angaben des Hausmeisters - von ihm persönlich diebstahlgesicherten Schulküche, ohne Spuren zu hinterlassen. Sowas eben.MitSpuren, kein Problem, aberohne… Da gab es weit und breit keinen Besseren. Da war Jörgs Feinmotorik gefragt. Oder beim Anlegen von unterirdischen Verstecken, also Höhlen, in statisch einwandfreier Ausführung. Ohne Jörg aussichtslos. Für Anforderungen schulischer Art war da nun mal kein Platz mehr bei der Fülle außerunterrichtlicher Begabungen und den daraus folgenden Verpflichtungen.

Dennoch würde er wahrscheinlich in diesem Jahr endlich mal wieder versetzt werden, dank Hannes‘ Hilfe.

Jörg schlug vor, die Angelegenheit nachmittags in der Heckenhöhle zu besprechen. Die Pause würde für so eine schwierige Sache nicht reichen.

„Wenn aufem Schulhof Fußball is. Dass wir da mitspielen wollen. Jetz nich wirklich. Nur so, dass wir raus dürfen. Und weil die sons die Mannschaften nich vollkriegen und nich spielen können.“ Sichtlich erleichtert, dass er eine derart ausgefeilte Erklärung hingekriegt hatte, schob er noch abrundend: „Eingestanden?“, hinterher.

Das kapiert er einfach nich, dachte Hannes. Eingestanden, komisch.

Da auch Bert einverstanden war, legten sie wie gewohnt die Hände aufeinander. Damit war die Sache abgemacht und nicht widerrufbar, es sei denn auf Grund elterlicher Eingriffe. Meistens in Form von Garten- (Unkraut jäten) oder Stallarbeiten (misten). Bert kannte solche Einschränkungen nicht.

2

Die Eltern hatten keine Steine in den Weg gelegt. Alle drei waren pünktlich zur Stelle.

Sie hatten sich für die Heckenhöhle entschieden. Durch Zurseiteschieben bestimmter Zweige im vorgelagerten Eingangsgebüsch (Plan und Ausführung: Jörg) konnten sie sich jederzeit über etwaige ungünstige Bewegungen im umliegenden Gelände informieren. Die Erdhöhle, die auch noch zur Verfügung gestanden hätte, kam diesmal nicht in Betracht, da sie entfernungsmäßig ungünstiger gelegen war als die in der Hecke. Immerhin brauchte man eine gute Viertelstunde für Hin- und Rückweg, und das in Dauerlauf. Hagemanns Busch lag nämlich noch ein ganzes Stück hinter dem Friedhof. Zeitverkürzung durch Rennen war nicht erlaubt, weil, Rennen war immer irgendwie verdächtig (Bert’s Beitrag zum Thema: Vorsichtsmaßnahmen). Das hatte ihm seine Mutter auf der Flucht eingetrichtert. „Nur auf mein Kommando, sonst nicht!“

Wegrennen weckt nur den Jagdinstinkt, fürchtete sie, und die Beute wäre dann nicht nur sie, sondern auch ihr Sohn.

Der Schutz ihres Sohnes war für sie das Wichtigste auf der Flucht. Und sie hatte es geschafft, den langen Weg von Stettin nach Hermannsdorf. Sie hatte ihn vor dem Schlimmsten bewahrt. Darauf war sie stolz.

„Kein Wort zu keinen“, erklärte Jörg einleitend (mit den ‚Fällen‘ hatte er’s nicht so), „sonst geht noch alles in die Hose und ne Tracht Prügel außerdem, wenigstens für mich und Hannes.“

So klar wie Kloßbrühe, dachte Hannes und nickte deutlich Übereinstimmung.

Was die immer mit ihrer Prügel haben, ging Bert durch den Kopf. Mama hat mich noch nie geprügelt. Oder machen das vielleicht nur Väter, und weil ich keinen habe, vielleicht deshalb nich? überlegte er. Komisch. Er selbst hätte schon gern einen Vater gehabt. Den Doktor zum Beispiel, oder besser noch den englischen Offizier wegen der Kaserne und dem Vorratslager, aus dem er ihnen immer was mitbrachte, wenn er seine Mutter besuchte. Und ihm hatte er sogar einen Fußball, und auch noch aus Leder, zum Geburtstag geschenkt, erinnerte er sich voller Dankbarkeit und Anerkennung. Der Doktor wär aber auch nich schlecht mit seinem Motorrad. Obwohl, der englische Offizier hatte einen Jeep und dazu noch eine tolle Uniform und Briefmarken mit einem König und einer Königin und von daher … Egal, sagte er sich. Jetzt fahren wir jedenfalls erstmal nach Kanada und da is sowieso alles anders und wenn Mama da is, brauch ich auch nich unbedingt einen Vater. Zum Prügeln schon gar nich, tröstete er sich.

Nachdem die Frage, wer als Erster die Beobachtungsposition einnehmen solle, damit ihnen keiner in die Quere käme, geklärt war - Hannes hatte sich bereit erklärt -, erkundigte sich Jörg nach dem genauen Abfahrtstermin.

Bert sagte, dass sie übermorgen ab acht Uhr bereit sein müssten, also mit gepackten Koffern, hätte der englische Offizier gesagt.

Morgens oder abends, erkundigte sich Jörg.

„Morgens natürlich.“

„Das ist scheiße“, stellte Jörg fest.

„Wieso scheiße?“

„Ich sehe etwas, was noch viel beschissener is“, meldete Hannes von seinem Beobachtungsposten, bevor Jörg sich näher erklären konnte.

„Ein Hund, in unsere Richtung.“

„Na und? Ne Töle is doch eigentlich …“, er suchte nach dem passenden Wort, „is doch eigentlich scheißegal. Hauptsache nicht Wiesenkötters Jumbo. Der is nämlich aufem Hof angekettet“, erklärte Jörg.

„Das is Wiesenkötters Jumbo, und der knurrt außerdem.“ Hannes‘ Gesicht sah so aus, wie er sich anhörte, zittrig.

Diese Auskunft bezweifelte Jörg, da Jumbo ja angekettet sei und nur an der Leine raus dürfte und zwar mit Wilhelm, weil der den nämlich bändigen könnte wegen seiner Muskeln.

„Ne Leine hat er ja auch, aber die schleift er hinter sich her, aber ohne Wilhelm. Kuck doch selber.“

Jörg schob Hannes und sichtbehindernde Zweige zur Seite, sah, wer auf die Hecke zugetrottet kam, gelangweilt, aber zielgerichtet, wie es schien, und er flüsterte: „Ach du Scheiße, du dicke fette Scheiße.“

Auch Bert kannte Jumbo, wie er zähnefletschend und kettenrasselnd und mit Lauten, furchterregend aus einem Gemisch von Röcheln und Knurren, vor seiner Hütte auf und ab lief, so weit es die Kette zuließ. Da hatte sich Angst und Bange in ihm breit gemacht, fast so wie auf der Flucht, wenn seine Mutter mal länger als gewöhnlich wegblieb, wenn sie was zu essen besorgte.

Die Mahnung seiner Mutter auf keinen Fall weglaufen fiel ihm ein, und er sagte: „Auf keinen Fall weglaufen.“

Jörg stimmte zu, da Jumbo auf alle Fälle schneller sei. „Aber ich hab was in der Hose.“

Ich auch, dachte Hannes. Schiss, aber wie.

„Und?“, flatterte Hannes‘ Stimme.

„Ich hab drei Kochwürstchen in der Hose.“

„Für jeden eine“, stellte Bert fest.

„Deshalb ja.“

„Zeig mal.“ Die Aussicht auf eine Kochwurst hatte auf Hannes‘ Stimme beruhigende Wirkung.

„Hast du se noch alle“, fuhr Bert dazwischen, dann nimmt der Witterung auf und ade du mein lieb Heimatland.“

„Äh?“ Jörg war diese Wortwahl nicht geläufig.

Dass er das von dem englischen Offizier und seiner Mutter wüsste, klärte Bert auf, und das sei eben so.

An dem mit der Witterung schien Jörg was dran zu sein.

Deshalb: nicht zeigen. Füttern!

Jörg forderte Hannes auf, zur Seite zu kriechen, er brauche ordentlich Platz.

Hoffentlich macht er jetzt keinen Fehler, dachte Hannes.

Bert fürchtete das Schlimmste, da Jörg schon mal zu unkonventionellen Mitteln griff bei Gefahr im Verzuge.

Zum Beispiel, wenn das Fräulein mit dem Rohrstock in der Faust in der Klasse durch die Reihen schritt und zuschlug, wenn sie bei den Hausaufgaben Unregelmäßigkeiten erblickte, oder wenn ihr gar der Anblick eines leeren Blattes zugemutet wurde. Dann gab es einen Nachschlag extra. In Erwartung solchen Unheils ereilte Jörg schon mal - während er in seinem Tornister nach seinem nicht vorhandenen Hausaufgabenheft kramte -, eine Ohnmacht mit einem gehauchten „is mich schlecht“, wobei er sich in Fräuleins Richtung fallen ließ und zwar gezielt auf die Zone ihres knöchellangen Rockes, wo man ihre Oberschenkel vermuten konnte. In höchster Not und wegen der Abwechslung geriet auch schon mal seine Blase außer Kontrolle in unmittelbarer Nähe von Fräulein. Solche Sachen eben. Fräulein beschleunigte ihren Gang seitdem, wenn sie in seine Nähe beziehungsweise die seines Hausaufgabenheftes geriet. Der Platz neben Jörg war seit Fräuleins schnellen Schritten in seiner Nähe sehr begehrt.

Nich sowas, hoffte Bert. Jumbo vielleicht anpinkeln, oder so.

Jörg gab den Befehl, in Deckung zu gehen, griff in seine Hosentasche zeigte den beiden eine der drei Kochwürstchen, holte aus und warf sie, so weit er konnte, in Jumbos Richtung. Der witterte die Leckerei bereits während ihres Anfluges - der Duft von Räucherware schwebte in der Luft -, riss das Maul auf, fing das Würstchen, nahm - auf seine Pfoten gestreckt - Platz und zermalmte die unerwartete Beute mit Wohlbehagen. Dann beleckte er seine Lefzen, schnüffelte um sich rum, drehte ein paar Runden und trottete vom Gelände.

„Na?“, strahlte Jörg.

„Leck mich am Podex“, sagte Bert.

„Wodran?“, erkundigte sich Jörg.

„Dasselbe wie Arsch“, klärte Bert auf. „Sagt meine Mutter immer.“

Das machte Jörg nachdenklich. Warum denn nich gleich Arsch, wenn es dasselbe is wie Arsch, überlegte er. Vielleicht wegen evangelisch, dass bei denen Arsch Podex is. Arsch is irgendwie besser, beschloss er. Geht auch schneller.

Hannes gingen diese semantischen Feinheiten - um im Bilde zu bleiben - am Arsch vorbei. Er staunte über Jörgs genialen Einfall mit der Wurst, wobei ihn der Gedanke, dass nun leider für jeden ein Kochwürstchen nicht mehr infrage kam, beunruhigte.

Zwei durch drei, schwierig, huschte durch sein Hirn, aber … und auf einmal fühlte er ein wohliges Gefühl und auch auf seinem Gesicht spiegelte sich Wohlbehagen.

Zwei Würste geteilt durch drei, brachte auch Bert ins Grübeln. Das Ergebnis seiner Lösungsansätze blieb jedes Mal gleich. Erstens: „geht irgendwie nich“ und zweitens: „das soll Hannes machen, der will auf’s Gymnasium.“

Hannes hatte seinen Beobachtungsposten wieder eingenommen und er sagte in Richtung Gelände in der Tonlage ach da fällt mir gerade ein: „Könnt ihr haben. Ich hab sowieso keinen Hunger.“

- Ein goldenes Sternchen für deine hochherzige Lüge. Ganz selten übrigens: Sternchen für Lüge - wehte ihm entgegen. Wie auf einer Wolke von warmem Streuselkuchenduft erreichte ihn die Auszeichnung, in Konkurrenz höchstens mit der überraschenden Wohlfühlwelle neulich in der Badewanne in der Gegend von seinem Pippimann. Aber das würde jetzt zu weit führen.

Zumal es sich in der Zone ereignet hatte, die in einem streng katholischen Haushalt außer zum Pinkeln nur zum Beichten gut war. Diese Gegend hatte die Kirche zu ihrem Hoheitsgebiet erklärt. Bewaffnet mit dem Katechismus schlug sie jeden Mitbewerber in die Flucht, hier ließ sie keinen anderen ran. Tja, so hält man den Betrieb am Laufen. Selbst der arme kleine Pippimann musste herhalten. Er, mit den Berichten über sein jeweiliges Befinden, gehörte gezwungenermaßen zu den Stammgästen im Beichtstuhl. Aber damit konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht dienen, zum Leidwesen des Vikars, der sich nach Kräften um erste Aussagen aus der Dunkelzone auch meines Unterleibs bemühte.

Hannes hörte die Nachricht mit dem goldenen Sternchen gern. Es war ihm diesmal auch egal, woher sie kam. Nur nach hochherzig wollte er sich noch näher erkundigen. Zum wiederholten Male bedauerte er es sehr, dass er seine Schwester nicht mehr fragen konnte, weil sie ja inzwischen Nonne war. Aber hoch und herzig is sicher nich schlecht, sagte er sich für’s erste.

„Und die Wurst, willste nich?“ Bert traute dem Braten nicht. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, in denen Unglaube und Misstrauen lauerten.

„Hab ich doch schon gesagt.“

Is ja gut und okay, dachte Bert. Wo er sonst immer Hunger hat.

In diesem Augenblick erreichte Hannes die Räucherwürze aus Jörgs Hose und sie begann ihr verführerisches Werk auf Hannes‘ Gaumen, in seinem Magen und in seinem Hirn.

War ein Witz, oder reingelegt, oder wer‘s glaubt wird selig breitete sich in seinem Hirn aus, und er sagte, nachdem er tief eingeatmet hatte: „Haut rein.“ Vielleicht gibt mir ja einer was ab, dachte er.

Jörg erinnerte an den Zweck ihrer Zusammenkunft und daran, dass sie die Sache mit acht Uhr erstmal regeln müssten. Das sei jetzt erstmal das Wichtigste.

Nach längerem Hin und Her stellte er resigniert fest: „Jetz fällt mir auch nix mehr ein.“

Eine halbe Stunde früher als gewöhnlich zur Schule zu müssen, um dann in den ersten beiden Stunden - wenigstens - durch Abwesenheit aufzufallen, das den Eltern glaubhaft klar zu machen, übertraf auch Jörgs strategische Fähigkeiten. Allein Hannes schien, gestärkt durch sein heldenhaftes Verhalten in der Kochwürstchenfrage, noch über Lösungsreserven zu verfügen. Zuckungen im Nasenflügelbereich signalisierten angestrengtes Denken.

Damals war ich der absolute Experte in Sachen Glauben und seinen vielfältigen rituellen Darbietungen, fiel ihm ein, wenigstens im Vergleich zu den beiden anderen. Als solchem waren mir Aussagen wie der Glaube versetzt Berge, oder wo die Not am größten, ist der liebe Gott am nächsten, bestens vertraut. Auch der schon in der Antike gebräuchliche Muntermacher - wenn auchin Hermannsdorf ausschließlich in seiner endemischen Verfeinerung: hilf dich selbst, dann hilft dich Chott -, gehörte zu meiner intellektuellen Grundausstattung. Und da der liebe Gott (Chott) nicht alles allein erledigen kann, gab es jede Menge Heilige, die ihn unterstützten, wobei die meisten für ein festgelegtes Aufgabengebiet zuständig waren. Dann noch ein paar ohne eingeschränktes Tätigkeitsfeld und einige die nur regional zum Einsatz kamen, und dann natürlich noch die Größte von allen, direkt nach dem lieben Gott: Die Mutter Gottes oder auch die heilige Jungfrau Maria, was ja ein und dasselbe ist. Das alles war mir geläufig.

Zweifel an der Gleichzeitigkeit von Mutter und Jungfrau entbehrten auf Grund des geheimnisvollen Wirkens des Heiligen Geistes jeder sachlichen Grundlage und hatten somit keine Chance, bei mir sowieso nicht.

Wenn einem nichts mehr einfällt, und der Liebe Gott was Besseres zu tun hat, dann bleibt nur die beste von allen, die Mutter Gottes, und im Mai sowieso, dem Marienmonat. Das wär ja noch schöner, wenn nich, war damals Standard, wenigstens bei mir.

In jeder Maiandacht wurde sie, die Mutter Gottes und Jungfrau Maria um Hilfe angesungen. Besonders ein Bittgesang war sehr beliebt, in dem sie Meerstern genannt wurde, und bei dem am Ende jeder Strophe die Bitte - nach ausgesuchten Schmeicheleien in den Zeilen davor -Maria hilf uns allen aus dieser tiefen Not in den heiligen Kirchengewölben gesanglich verklang. Dieses Lied hatte auch er viele Male mit Inbrunst mitgesungen, auch wenn er mit Meerstern in diesem Zusammenhang nicht viel anfangen konnte.

Ob solche Lieder heute auch noch gesungen werden?, ging ihm durch den Kopf auf seiner Bank mit Blick über das Haff bis zum Kirchturm in Nowe Warpno. Vielleicht sogar in Polen, wo die es doch so mit der Mutter Gottes haben? Ich hatte damals jedenfalls fest an die wundermächtige Jungfrau Maria geglaubt.

Hannes‘ Nasenflügel zuckten weiter. Bert wusste, dass er jetzt angestrengt am Überlegen war und Jörg erwog, dass sie erstmal die Kochwürstchen essen könnten, wobei ihm Bedenken kamen, dass Hannes vielleicht nicht mehr richtig denken könnte, wenn sie mit den Kochwürstchen rummachten. Also abwarten.

Hab ich doch gewusst, lobte sich Jörg, als Hannes das Zucken einstellte und sagte: „Dann kann uns nur noch die Jungfrau Maria helfen.“

Damit hatte Jörg nun wieder nicht gerechnet. Er sah Hannes an und es fiel ihm nichts Besseres als ein sehr lang gezogenes: „ÄÄÄH“ ein.

Bert erkundigte sich, wer das denn sei, und Jörg beendete sein ÄH mit dem Gedanken, dass die Evangelischen arme Schweine seien, dass die nicht mal die Mutter Gottes kannten.

Nach einer kurzen Einführung in das Meersternlied unter besonderer Berücksichtigung der immer gleichlautenden letzten Strophenzeile (siehe oben) erklärte Hannes: „Mit der Jungfrau Maria könnte es klappen. Die is für höchste Not da. Das kommt in jeder Strophe.“

Das klang überzeugend, jedenfalls für Jörg.

„Ich bin evangelisch. Ich kenn mich mit Jungfrau Maria nich aus“, sagte Bert.

Arme Sau, dachte Jörg, wobei erste strategische Ahnungen keimten.

„Am Sandweg steht jedenfalls eine Mutter Gottes im Heiligenhäuschen“, sagte er. „Mit Prozession, jedes Jahr.“

Hannes nickte deutlich. Dabei streifte sein stumpfwinklig abgleitender Blick Jörgs Hosentasche mit den leicht gewölbten Abdrücken der Kochwürstchen und in Begleitung von leichtem Magenknurren sah er plötzlich den Heiligen Martin, wie er - hoch zu Ross - mit noch höher ausholendem Schwert seinen Mantel fixierte und zuschlug und es irgendwie hinkriegte, dass zwei Hälften entstanden. Eine Hälfte für ihn und eine für den frierenden Bettler am Wegesrande.

So blitzartig ihn die Erscheinung heimgesucht hatte, so fix war sie auch wieder verschwunden. Geblieben war der knurrende Magen, gedanklich flankiert durch das kleine Wörtchen teilen, was aber zu seinem Bedauern nicht mehr zum Zuge kommen würde.

Nach quälend langen Augenblicken der Ratlosigkeit wollte Bert vorschlagen, jetzt erstmal die Kochwürstchen …, aber dazu kam er nicht.

In Jörg kreiste bereits Strategisches. Klare Konturen schienen nicht mehr weit.

Hannes hatte sich den eher theologischen Aspekten des Problems zugewandt und war über die Begriffe teilen - fleißig sein - opfern - sich aufopfern - zu einem Ergebnis gekommen.

„Wir gehen zum Heiligenhäuschen, machen da alles schön sauber, auch rundrum, und besonders da, wo die Mutter Gottes steht, und wir gießen neues Wasser in das Einmachglas vor der Mutter Gottes - „Ich bring lieber noch ein neues mit“, bot Jörg an, „das klauen die nämlich auch öfters.“ - „und stellen neue Blumen rein“, ergänzte Hannes.

„Und dann?“ Jörg schien noch irgendwas Erfolgversprechendes zu fehlen.

„Dann beten wir das Meersternlied.“

„Muss man das nicht singen?“

„Geht auch nur mit beten“, sagte Hannes.

„Dann is ja gut.“ Jörg war sichtlich erleichtert. „Und was dann?“

„Dann warten wir ab.“

„Ach so.“ Nach einer kleinen Bedenkzeit schob er: „worauf warten wir ab?“ nach.

„Dass die Mutter Gottes uns ein Zeichen gibt, oder was vorschlägt, oder so.“

„Ach so.“ Der muss es ja wissen. Vater is Lehrer und spielt Orgel, sagte er sich.

„Und was mach ich die ganze Zeit?“, erkundigte sich Bert.

„Du kannst ja wechkucken solange“, sagte Jörg. Vielleicht stört das die Mutter Gottes, wenn ein Heide zukuckt und alles war für die Katz, dachte er. „Oder …“

Nun bekamen seine Augen Glanz. Jetzt war Strategie gefragt und da machte ihm so leicht keiner was vor. Dafür hatte er ein Näschen. Mehrere Vorschläge lagen ihm auf der Lippe.

„Oder du stehst Schmiere. Oder Hannes steht Schmiere und du klaust die Blumen für das Einmachglas. Aber nich son Zeug von ner Kuhweide. Richtig schöne, wie bei Heitkämpers im Garten.“

„Is zu weit weg“, gab Hannes zu Bedenken. Außerdem wurde ihm ein wenig mulmig. Klauen und Mutter Gottes schienen ihm irgendwie nicht zueinander zu passen.

„Ich mein ja nur. Gibt auch noch genuch andere.“

„Was?“ Bert’s Stimme hatte was von Wüsst ich aber.

„Gärten, du Döskopp.“

Hannes ungute Gefühle waren inzwischen argen Schwankungen unterworfen, in einer Bandbreite von irgendwie Kacke bis irgendwie toll mit der Tendenz nach Schmierestehn is beschissen.

Außerdem beschlichen ihn Zweifel, dass Klauen immer was Schlechtes sein müsste. Wenn man zum Beispiel für andere klaut, weil es denen dreckig geht oder weil man einen besonders gern hat - in diesem Fall die Mutter Gottes - wär das schon was ganz anderes. Und sogar für sich selber, weil man sonst vielleicht verhungert - nich wie beim Klümpchenklauen aus der Schulküche natürlich -, ist das nochmal was anderes; wie zum Beispiel bei Berts Flucht aus Pommern. Is doch sonnenklar.

Also, in diesem Fall überwog das Positive, eindeutig, davon war ich damals felsenfest überzeugt. Vielleicht wollte ich auch nur überzeugt sein, weil die Erkenntnis sozusagen Hand in Hand mitgeliefert wurde, dass Überlegungen, die etwas mit Beichte, Buße und Reue zu tun hatten, in diesem Zusammenhang nichts zu suchen hatten.

„Außerdem“, fuhr Jörg fort, wobei sich ein Hauch von Lächeln auf Wangen und Mundwinkel legte, „wir sagen zuhause, dass wir uns vorgenommen hätten, dass wir uns im Marienmonat ganz besonders um die Mutter Gottes kümmern wollten, auch um die im Heiligenhäuschen und sogar schon vor der Schule. Und das könnte ja auch schon mal ein bisschen länger dauern“, ergänzte er noch.

Hannes nickte anerkennend, Bert nahm‘s wie’s kommt.

„Oder“ - und jetzt funkelte es geradezu aus seinen Augen - „wir lassen den ganzen Krempel mit saubermachen.“

- Was möglicherweise auch was mit seiner Abneigung gegen Schweinstall und ausmisten zu tun hatte. -

„Und wir nehmen die gleich ganz mit.“

Hannes und Bert sahen sich mit hast du auch keine Ahnung? an, und Hannes fragte: „Wen?“, wobei er hoffte, dass der Gedanke, den er gerade dachte, total bescheuert wäre.

„Wen wohl“ - Jörg klang ein wenig verärgert - „die Jungfrau natürlich, oder meinste das ganze Heiligenhäuschen. Is doch wohl klar.“

Der hat se nich mehr alle, dachte Hannes.

Bert fragte sich: ne Jungfrau, wo kommt die denn her, aufeinmal? Höchstens, dass ich was nich mitgekriegt habe, weil ich zuviel an die Kochwürstchen gedacht habe, erklärte er sich und bat um Aufklärung.

Dafür war ich natürlich zuständig als anerkannter Spezialist in Glaubensfragen. Bei Unbefleckte Empfängnis, die er seinen Freunden leichtfertig und ohne Not dargeboten hatte, und zu der Bert nähere Erklärungen wünschte, war ich dann allerdings mit meinem Latein am Ende. „Muss man glauben, wenn man katholisch is.“ Mehr war mir dazu nicht eingefallen. Daran hat sich bis heute eigentlich nichts geändert. Wie auch.

Bert nahm Hannes‘ Erläuterung ohne weitere Nachfragen zur Kenntnis. Aufrichtige Bewunderung empfand er allerdings für Jörgs kühnen Vorschlag, der zudem den Vorteil hatte, dass er aus der Blumennummer raus war. Dachte er. Dann übernahm Jörg, der glaubte auf Hannes‘ Gesicht Anzeichen von Missmut zu erkennen, flink wieder das Wort und erklärte nähere Details zu der Jungfrauenentführung, vor allem deren Vorteile.

Zusammengefasst etwa so: Saubermachen entfiele und damit Zeitersparnis, einfacher Transport, da die Jungfrau nur ungefähr 40 Zentimeter groß sei, eine einfache Einkaufstasche mit ein bisschen Stroh zum Einpacken würde reichen, der neue Standort wäre dann die Erdhöhle, wo man die genaue Stelle, also da, wo sie stehen sollte, noch ein bisschen schön machen müsste, natürlich auch mit Blumen.

- Scheiße, dachte Bert. -

Der entscheidende Vorteil aber sei, dass sie die Mutter Gottes jederzeit, also auch bei kommenden Sachen, schnell erreichen könnten und, „dass sie es von jetz ab nur noch mit uns zu tun hat und nich mehr mit Jupp und Wilhelm, den Arschlöchern, zum Beispiel.“

„Und wie willste die aus dem Häuschen kriegen?“ Hannes schien noch nicht überzeugt.

„Stemmeisen, Hammer und Eisensäge bringe ich mit im Stroh in der Einkaufstasche.“

Heiliger Strohsack steuerte Hannes‘ Hirn bei.

Er witterte erhebliche Schwierigkeiten und unkalkulierbare Gefahren. Aber vielleicht würde gerade das die Mutter Gottes beeindrucken, dass sie davor nicht zurückschreckten, sogar nicht vor den Prügeln, die ihnen bei Misslingen drohten, und sie würde noch mehr auf ihrer Seite stehen, immer vorausgesetzt, sie würden zusätzlich gut für sie sorgen, zum Beispiel blumenmäßig, in ihrer Erdhöhle.

In ihm keimte die Hoffnung, dass sie es schaffen würden übermorgen mit der Verabschiedung um acht Uhr, dass sie dabei wären, wenn der englische Offizier sie abholen würde, Bert und seine Mutter. Wenigstens das, wenn sie schon nicht mitfahren könnten. Und dann sagte er so, als ob er eine persönliche Botschaft der Jungfrau Maria überbrächte: „Wir machen Beides, das mit dem Putzen und zusätzlich nehmen wir sie mit in die Höhle.“

Einige wenige Atemzüge herrschte Stille in der Heckenhöhle bis Jörg: „Leck mich am Arsch“, sagte.

Pragmatisch, wie er nun mal veranlagt war, kam ihm noch der sozusagen abrundende Gedanke, dass man - sollte etwas schief laufen - alles Bert in die Schuhe schieben könnte. Der sei dann ja sowieso wech. Aber das wollte er erstmal für sich behalten.

3

Und dann ging alles Schlag auf Schlag, erinnerte er sich. Dank Jörg.

„In einer halben Stunde am Heiligenhäuschen. Ich hol noch schnell Werkzeug. Aber nich trödeln.“ Jörg spürte, dass er es nun regeln musste, dass die Last dieses heiklen Vorhabens jetzt auf seinen Schultern lag.

„Vergiss das Einmachglas nich“, rief ihm Hannes hinterher.

Die Arbeiten an der Jungfrau stellten sich als relativ simpel heraus - für Jörgs Verhältnisse.

Jörg setzte das kleinere von den vorsorglich besorgten zwei unterschiedlich großen Stemmeisen zwischen Sockel und Jungfrau an. Schon nach wenigen vorsichtigen, fast zarten Hammerschlägen, die eher an Vortasten erinnerten, spürte er schwindenden Widerstand.

„Sie bewegt sich“, flüsterte er vor sich hin. Nich mal angeschraubt, nur geklebt, die alten Kniepersäcke. Ein Glück, dass das noch keiner vor uns …, sons wär die aber schon Weißchottwo (regionaltypische - sozusagen endemische - Sprech- und Schreibvariante) und im Takt seiner sensiblen Hammerführung flüsterte er weiter: „Hat se (zwei Schläge) nochmal (zwei Schläge) Glück (is klar) gehabt (einen, der eigentlich fälligen zweite war nicht mehr nötig). „Hannes, festhalten, aber ganz vorsichtig; Bert, ein Bett machen, ne Kuhle aus Stroh in der Tasche is das, meine Güte.“

„Und Vorsicht mit dem Einmachglas.“ Hannes lag ein angemessener Blumenschmuck besonders am Herzen. Wenigstens so wie bei mir, stellte er sich vor. - Auf seinem Nachtschränkchen hatte er einen kleinen, sozusagen privaten Marienaltar hergerichtet. Mangels Statue leider nur mit einem Bild mit Jungfrau Maria. -

Wenn’s um Heilige geht, muss man denen alles dreimal erklären, den armen Säuen mit ihrem evangelisch, dachte Jörg. Eigentlich schade wegen Bert. Aber bei den Eskimos und Indianern in Kanada is das wahrscheinlich scheißegal. Inne Kirche brauch er da auch nich, sonntags. Hat auch Vorteile. Aber hier durfte er gar nich. Komisch alles.

Er kam zu der Schluss, dass nich brauchen auf jeden Fall besser wäre als nich dürfen.

Nach kurzer Diskussion war entschieden, dass Bert die Vorhut bilden sollte. Er solle sich aber nicht weiter als auf Sicht- und Rufweite entfernen, gab ihm Jörg mit auf den Weg. „So, wie der Schulhof lang is, ungefähr“, verdeutlichte er seine Anweisung. „Und dann kannste dich auch gleich um die Blumen kümmern, aber nur wenne keine Sau siehst.“

Im Bewusstsein seiner Verantwortung, wollte er von Anfang an alle etwaigen Stolpersteine aus dem Weg räumen.

Scheiße, dachte Bert zum wiederholten Male. Er hatte gehofft, dass sich durch seine Vorhutaufgabe das Blumenklauen erledigt hätte.

Jörg war es zunächst mal zufrieden. Jeder hatte seine Aufgabe. Bert war geklärt, Hannes auch, er selbst war für den Transport von Jungfrau und Einmachglas zuständig und darüber hinaus hatte er den ordnungsgemäßen Ablauf zu organisieren und zu beaufsichtigen. Dennoch fühlte er eine gewisse Unruhe. Sie mussten auf ihrem Weg zur Höhle an Rankes Hof vorbei und da gab es den Jupp, und Jupp hatte sich schon mit seinen gerade mal sechzehn Jahren den Ruf des mit Abstand gefährlichsten Maibolzen von Hermannsdorf erarbeitet. Die Gegenstände, die ihm bei dem Ritual der nächtlichen Streifzüge zum ersten Mai - ausschließlich von Jugendlichen des Dorfes praktiziert - in die Hände fielen, waren entweder nur von der Feuerwehr wieder beschaffbar, oder aber sie entzogen sich auf Grund der robusten Handhabe jeglicher weiteren Verwendung.

Wenn wir da nur schon vorbei wären trieb ihn - begleitet von einem tiefem Seufzer - um.

Er zog in Betracht, ob man nicht vielleicht jetzt schon die Jungfrau Maria um was bitten könnte, aber, sagte er sich, wo die da in der Tasche liegt in dem schönen Stroh, will die wahrscheinlich erstmal ihre Ruhe haben. Lieber nich. Vielleicht is er ja schon besoffen, hoffte er.