Paar für ein Jahr - Toni Lucas - E-Book

Paar für ein Jahr E-Book

Toni Lucas

0,0

Beschreibung

Die Fortsetzung des Romans "Vom Tanz der Pierrots". Leas Glück scheint perfekt. Lilia hat sich tatsächlich für sie entschieden und ist bei ihr eingezogen. Doch wie kann sie mit einer Frau zusammenleben, die gerade erst dabei ist, sich selbst zu finden und die so ganz eigene Vorstellungen von einer Beziehung hat? Ihr bleibt nur ein Jahr, um das herauszufinden ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 427

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Toni Lucas

PAAR FÜR EIN JAHR

Die Fortsetzung des Romans

Originalausgabe: © 2009 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-035-6

Coverfoto:

Lil war hier! Ich saß mit zurückgelehntem Kopf in der fast leergeräumten Küche meiner verstorbenen Großmutter und blies Rauchkringel in die Luft. Lil, Lil, Lil! Drei kleine Kringel verließen in schönster Harmonie und Wohlgeformtheit meinen Mund, stiegen lautlos nach oben, um dann beschaulich zu zerrinnen. Eine Weile schaute ich ihnen versonnen nach. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass sie es wirklich getan hatte. Wieder sog ich an meinem kubanischen Zigarillo und produzierte eine ganze Armada von Kringeln. So gut schaffte ich das sonst nie. Was ein paar Hormone in Wallung so alles bewirkten!

Neben mir auf dem Campingtisch stand eine halbvolle Flasche Whisky sowie ein mäßig gefülltes Glas. Ohne die Füße von dem Campingstuhl zu nehmen, der mindestens genauso wacklig erschien wie der, auf dem ich saß, griff ich nach dem Glas und nahm einen Schluck. Ich legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss das warme Gefühl, die goldgelbe Flüssigkeit langsam in Richtung Magen vordringen zu spüren. Ich fühlte mich behaglich. Nur wenn ich ganz tief in mich hineinhorchte, grummelte dort Unbehagen. Ein weiterer Schluck Whisky aber brachte es zum Schweigen.

Durch das weit geöffnete Fenster kam warme Sommerluft herein. Die Straßengeräusche des schläfrigen Sonntagabends drangen nur gedämpft herauf.

Die Küchentür knarrte leise. Ich blinzelte zwischen den Lidern hindurch und erkannte Lil. Sie sah verschlafen aus; Falten zogen sich quer über ihre linke Wange den Hals hinab, ihre dunklen Locken räkelten sich medusenhaft.

Behutsam schloss sie die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Hier bist du also.«

Ich öffnete die Augen etwas weiter, entgegnete jedoch nichts.

»Ich hab’ dich schon überall gesucht. Seit wann rauchst du?« Lil klang verwundert. Sie trug nunmehr eines meiner Hemden, die viel zu langen Ärmel waren hochgekrempelt. Seitdem sie am Tag zuvor völlig überraschend hier aufgetaucht war, hatten wir es noch nicht geschafft, ihre Koffer auszupacken. Selbst den Slip, den sie trug, schien sie aus meinem Schrank genommen zu haben.

Ich wandte ihr den Kopf vollends zu. »Tue ich nicht. Nur wenn ich bei Granny bin. Willst du auch einen Schluck?« Ich deutete auf den Whisky und drückte den Zigarillo aus.

Sie schüttelte den Kopf. »Ist noch ein bisschen früh dafür. Findest du nicht?«

Ich zuckte die Schultern. Da trat sie hinter mich und ließ ihre Hände in die weiten, kurzen Ärmel meines Hemdes gleiten. Ihre Berührung ließ mich wohlig erschauern, während ich die sanften Küsse auf meinem Hals genoss. Ihr Haar fiel über mich, und sie flüsterte mir ins Ohr: »Was machst du denn hier unten?«

Eine Welle warmer Zärtlichkeit deckte mich zu. Zugleich spürte ich sie wieder, diese schmerzhaft ziehende Sehnsucht nach Dauer, nach Beständigkeit. Den Wunsch, Lil nahe zu sein, mich förmlich in ihr aufzulösen. Andererseits war da diese panische Angst, sie zu verlieren.

Dabei schien alles in schönster Ordnung.

Nachdem Lil gestern morgen im Laden aufgetaucht war und mir mitgeteilt hatte, erst einmal das nächste Jahr, ja besser noch, wenn es gut lief, das Leben mit mir verbringen zu wollen, hatten wir zunächst ihre Sachen in meine Wohnung geschafft. Meine leichte Verärgerung darüber, dass sie mich einfach so überrumpelt hatte, war schnell euphorischer Freude gewichen. Ich hatte nur noch Augen für sie. Und natürlich Hände, Mund, Haut, kurz meinen ganzen Körper.

Nach heftigem, von Wiedersehensfreude inspiriertem Sex, hatten wir am späten Abend eine Flasche Wein getrunken und über Vergangenes geplaudert. Wir hatten viel gelacht, doch es sorgsam vermieden, über die Zukunft und damit über mögliche Probleme zu reden.

Immer wieder hatten wir im Gespräch innegehalten, einander nur stumm angesehen, so, als wären wir verwundert darüber, zu dieser Stunde, an diesem Ort einander so nahe zu sein. Es folgten Berührungen, zarte Versuche zu überprüfen, ob die Existenz der anderen auch real war. Dann waren wir zu Bett gegangen. Auch hier zögerndes Aneinanderherantasten, zärtliche Berührungen, sanftes Streicheln.

Plötzlich wurde mir der Sinn des biblischen »Und sie erkannten einander« viel klarer. Es war, als müssten wir neu zueinanderfinden und doch schien alles so vertraut. Auf Sanftheit folgte Begierde, dann Mattheit, wieder aufflackernde Lust, müde Sattheit. Wir liebten uns bis in die frühen Morgenstunden, bis wir völlig erschöpft und eins miteinander einschliefen.

Am späten Vormittag dann hatte ich es genossen, Lil beim Aufwachen zuzusehen und dabei in einem Gefühl purer Glückseligkeit zu schweben. Auch sie hatte keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass das, wozu sie sich entschlossen hatte, richtig war.

Nach einem ausgiebigen Frühstück hatte ich ihr meine Stadt gezeigt. Wir stromerten stundenlang durch die Straßen, Gassen und Winkel, die ich so gut kannte. Ich zeigte ihr, wo ich als Kind herumgestrolcht war, welche Ecken ich besonders mochte. Lil, noch immer im hellen Sommerkleid, in dem sie angekommen war, mit einem roten Band im Haar und auf hohen Absätzen, schien die Führung sichtlich zu genießen. Wir alberten herum wie Zwölfjährige. Ich wusste kaum, wohin mit all meinen Gefühlen, hätte aller Welt zurufen mögen: »Schaut her! Diese Frau gehört zu mir! Ist sie nicht umwerfend, einzigartig, wunderbar?«

Zum ersten Mal seit wir uns kannten, und das waren nun immerhin schon zwei Jahre, verhielten wir uns völlig unbefangen. Wir konnten einander berühren, umarmen, ja sogar küssen, ohne Angst vor Entdeckung und negativen Folgen. Es war einfach großartig. Wir waren wie von einer schweren Bürde befreit. Eine Welle unbeschwerter Freude trug uns durch die Stadt und spülte uns schließlich am frühen Nachmittag in den Garten eines kleinen Restaurants. Nicht, dass ich Hunger gehabt hätte, zu viele Glückshormone vermutlich. Doch Lil klagte über ihre schmerzenden Füße, und ich zog sie einmal mehr mit ihrem Hang zu Stöckelschuhen auf.

Nach einem leichten Mahl aus Fisch, Salat und Wein verspürten wir jene Mattigkeit, die ein gutes Essen in angenehmer Gesellschaft mit sich brachte. Wir schlenderten nach Hause, Lil barfuß, die Schuhe in den Händen und ihren Arm fest bei mir eingehakt.

Zu Hause ließ sie sich auf die Couch fallen und verweigerte jede weitere Bewegung. Ich fühlte mich viel zu aufgewühlt, um auch nur an Schlafen denken zu können. Also wartete ich, bis sie eingeschlummert war, und schlich mich dann nach unten in Grannys Küche. Und nun saß ich hier. Eigentlich war also alles in Ordnung. Trotzdem. Ich flüsterte in die dunklen Kaskaden ihres Haars hinein: »Meine Welt ist aus den Fugen!«

Lil richtete sich auf und zog dabei ihre Hände zurück. Dann trat sie vor mich hin und betrachtete mich forschend. »Schmach und Gram, dass du zur Welt, sie einzurichten, kamst? Meine liebe Princess Hamlet, jetzt wirst du aber melodramatisch. Erstens ist das mein Satz, wenn ich mich richtig erinnere, und zweitens wolltest du doch immer, dass ich zu dir ziehe. Nun bin ich hier, und du verfällst in Trübsal. Hab’ ich irgendwas verpasst?« Sie hob meine Füße vom Stuhl, zog ihn zu sich und setzte sich so, dass sich unsere Knie ineinander verschränkten und ich durch den Stoff meiner Shorts ihre weiche Lebendigkeit spüren konnte. »Liebchen, was ist los mit dir?«

»Bist du sicher, dass du dir gut überlegt hast, zu mir zu ziehen? Denkst du etwa, du kannst im Zweifelsfall einfach wieder zurück in dein altes Leben, so ganz ohne Schrammen und Getuschel? Glaubst du, du wirst es leicht haben, wenn du an die Schule zurückkehrst? Was hast du denen eigentlich gesagt?«

Lil schaute mich verblüfft an und beantwortete nur meine letzte Frage, in einem hoheitsvollen Ton. »Ich habe offiziell verkündet, dass ich nach mehr als fünfzehn Jahren Schuldienst ein Jahr Pause brauche, dass ich mich nach dem unbestrittenen Erfolg meiner Ausstellungen neu orientieren möchte. Dazu käme auch die nicht zu übersehende Krise in meiner Ehe, von der ja inzwischen alle wüssten. Deshalb hätte ich mir eine kleine Wohnung in der Großstadt gemietet, um mich volle zwölf Monate auf meine künstlerische Arbeit konzentrieren zu können. Danach würde ich eine Entscheidung treffen, wie es mit meinem Leben weitergeht.« Sie sah mich erwartungsvoll an. »Reicht das?«

Ich erwiderte ihren Blick voller Zweifel. »Und mich hast du nicht erwähnt?«

Leichte Röte überzog Lils Gesicht. »Nein.«

»Warum nicht? Schämst du dich etwa für mich? Volker wird es doch sicher sowieso herumposaunen. Wäre es da nicht pfiffiger gewesen, deine Version zuerst unter die Leute zu bringen? Jetzt blüht der Tratsch doch erst recht!«

Lil blickte betreten. »Weißt du, es gab einen Zeitpunkt, da wollte ich einfach nur noch weg. Mir war alles zuviel, jedes Gespräch, jede Erklärung. Ich war so froh, als ich das mit der Scheidung endlich in die Wege geleitet und den ganzen bürokratischen Wust meines Sabbatjahres bewältigt hatte, dass mir am Ende die Kraft gefehlt hat. Außerdem waren ja Ferien und keiner da.« Sie zuckte die Schultern. »Lass sie doch reden, was macht das jetzt noch.«

»Und deine Familie? Was meint deine Mutter zu all dem?«

»Ach die.« Lil lachte bitter auf. »Die stand schon immer auf Volkers Seite. Was er alles kann, macht und tut. Wen er alles kennt und wie erfolgreich er ist. Was ich doch für ein Glück hatte, so einen Mann abzubekommen, wo ich doch nur Lehrerin bin.« Sie legte eine Pause ein, dann ergänzte sie: »Sie hat meine neue Adresse. Ich habe ihr erzählt, dass ich zu einer Freundin ziehe und sie wie immer anrufen werde.«

Ich kippelte mit dem Stuhl, musterte Lil kritisch und fragte spöttisch: »Du hast natürlich nicht erwähnt, um welche Art von ›Freundin‹ es sich handelt. Oder täusche ich mich?«

»Lea, meine Mutter ist einundsiebzig, und sie als konservativ zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres. Volker weiß das auch und wird ihr nichts sagen, egal wie wütend er ist. Zumal er ja selbst einiges auf dem Kerbholz hat. Ich kann nicht alles auf einmal. Lass mich doch kleine Schritte gehen. Bitte.«

»Wann hast du vor, es ihr zu sagen?«

Sie zuckte die Schultern. »Bald, hoffe ich. Das wird sich ergeben. Ich rufe sie ja oft an. Oder wir laden sie mal ein – natürlich nur, wenn es dir recht ist.«

Ich nickte, blieb aber unerbittlich; dieses Gespräch war überfällig. »Und dein Sohn?«

»Tobias?«

Ja klar, welcher denn sonst. Hat sie etwa noch einen? Ich brummte zustimmend.

Lil wurde tiefrot. »Lea, ist das hier die spanische Inquisition, oder was? Genau das ist der Grund, weshalb ich dich nicht vorher angerufen habe. Ich hatte Angst, dass du furchtbar vernünftige Argumente ins Feld führen würdest. Ich hätte dann so furchtbar vernünftig reagiert. Wahrscheinlich hätte ich es mir dann nicht mehr zugetraut, hätte einen Rückzieher gemacht und mich wieder brav in meine Rollen gefügt. Ich habe es so satt, vernünftig zu sein. Müssen wir denn ständig darüber diskutieren, was sein wird und sein könnte? Was die anderen dazu sagen? Und wie moralisch wertvoll und politisch korrekt ich mich zu verhalten habe? Herrgott noch mal! Können wir nicht einfach leben?« Lil hatte sich in Hitze geredet, war aufgestanden und ging nun aufgeregt im Zimmer umher. Sie gestikulierte heftig, stemmte dann entschlossen die Hände in die Hüften und blieb herausfordernd vor mir stehen.

Ich ignorierte ihre Angriffslust. »Klingt mir ein bisschen nach vorgezogener Midlife-crisis. Und welche Rolle hast du mir in deinem Anti-Vernunft-Szenario zugedacht? Versuchskaninchen? Seitensprung für ein Jahr? Was wird danach? Wenn dein Sabbatjahr vorüber ist? Machst du dann eine Soll-und-Haben-Liste und überprüfst, was dir vorteilhafter erscheint: Suche nach einem neuen Mann mit Haus und Prestige plus geachteter Beruf plus gutes Gehalt oder lesbische Geliebte mit alternativem Freundeskreis plus Szenegelüste plus unsicheres Künstlerinnendasein? Meinst du, du hast bis dahin herausgefunden, was du wirklich willst? Und wenn nicht? Wenn du dich nicht entscheiden kannst? Wirfst du dann eine Münze? Lil, ich bin froh, dass du hier bist, aber ich weiß nicht, ob ich das aushalte. Ein Jahr Bewährung für uns beide, das klingt fast ein bisschen wie eine Strafe, aber doch nicht wie etwas, worauf man sich freuen sollte.« Ich schaute bittend zu ihr hoch.

Lil ließ die Arme sinken und blickte mich ein wenig resigniert an. »Na toll. Wir sind noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden zusammen und streiten uns schon. Ich glaube, ich nehme jetzt doch einen Schluck.«

Ich sah entgeistert zu, wie sie das Glas zu Dreivierteln füllte, ansetzte und in einem Zug hinunterstürzte. Das ist dreißig Jahre alter Whisky! Ich gönnte mir selten mehr als zwei Fingerbreit des edlen Tropfens. Das war heute nicht anders gewesen. Lil hatte so hastig getrunken, dass der Whisky eine glitzernde Spur von ihrem Mundwinkel bis hinunter in ihren Ausschnitt zog. Sie schien das Gleichgewicht zu verlieren und griff suchend nach dem zittrigen Campingtisch.

Ich sprang auf, fasste sie bei den Oberarmen und zog sie an mich. »Als Streit würde ich das nun nicht gerade bezeichnen. Aber sollten wir nicht wenigstens ein paar grundlegende Dinge geklärt haben, ehe wir uns in den Alltag stürzen? Wir leben schließlich nicht im luftleeren Raum. Außerdem, meine Süße, das ist Alkoholmissbrauch, was du da betreibst.« Genießerisch folgte meine Zunge der kostbaren Spur.

Durch den dünnen Stoff unserer Hemden hindurch spürte ich, wie Lils Brüste augenblicklich auf mich reagierten. Ich vergrub meine Nase in ihrer Halsbeuge und atmete tief ein. Sie roch so gut. Ich kostete von ihrem zarten Fleisch und begann vorsichtig die Knöpfe zu öffnen. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, ihr das Hemd einfach herunterzureißen, aber ein Hauch von Bewusstsein flüsterte mir noch zu, dass dies eines meiner Lieblingshemden war, das ich nicht einfach so zerstören durfte.

Lil schaute mir mit einem amüsiert-interessierten Lächeln zu und zog mich ein wenig fester an sich. »So gefällst du mir schon besser.«

Ich schnaubte und schob ihr das Hemd über die Schultern. Eine Sekunde lang genoss ich den üppigen Anblick, der sich mir nun bot, und strich andächtig über Lils leicht gebräunte Haut. Doch mit dieser Berührung war es plötzlich, als wäre mir eine Sicherung durchgebrannt. Ich tickte förmlich aus. Mit fast schon verzweifelter Gier stürzte ich mich auf Lil, vergrub mich in ihren Brüsten, leckte und biss, streichelte und kratzte, bis ich nicht mehr unterscheiden konnte, ob es lustvoller Schmerz oder schmerzvolle Lust war, die aus Lil herausstöhnte.

Auch sie konnte sich nicht entscheiden, drängte mich fort und suchte gleichzeitig nach meinem Mund, um mich zu küssen.

Ich presste sie an die Wand zwischen zwei Fenstern und streifte ihr ungeduldig den Slip herunter. Dann hob ich sie auf die Fensterbank. Für einen Moment war ich selbst überrascht, dass ich das konnte. Mein Kopf versank zwischen ihren Beinen, hielt sich aber nur kurz dort auf. Ihr verlangender Geruch machte mich nur noch unbeherrschter und jeder Biss in ihre Schenkel, jedes Kosten von der inzwischen mehr als feuchten Quelle dauerte mir schon zu lange. Ich wollte sehen, wie sie kam, wollte sie vor Lust schreien hören.

Entschlossen richtete ich mich auf, schob meine Hand zwischen ihre Beine und drang derb in sie ein. Sie hielt mich mit ihren Schenkeln wie in einer Eisenklammer, fand mit beiden Händen Halt an den Wänden des Fensters und warf sich mir entgegen. Wieder und wieder. Mir war, als hätte ich mein letztes Quäntchen Verstand verloren. Ich hörte und sah nur noch sie, und auch das nur peripher. Erst ihr finaler Aufschrei brachte mich zur Besinnung. Keuchend stand ich vor ihr, ein paar feuchte Strähnen hingen mir wirr ins Gesicht. Ich löste mich vorsichtig aus ihr und begann sie wie entschuldigend zu liebkosen.

Auch Lil atmete heftig. Dann stieß sie mich zurück und glitt geschmeidig vom Fensterbrett. Sie streifte den Slip über und zog das Hemd zurecht. »Geht’s dir jetzt besser?«

Ich zuckte verlegen mit den Schultern.

Sie beäugte kritisch einige unübersehbare rote Stellen an ihrem Oberkörper und an den Schenkeln. »Macht nichts.« Sie zuckte die Schulter. »Ist ja zum Glück Stoff drüber.«

Nur gut, dass sie die Bissspuren an ihrem Hals nicht sehen kann. Vielleicht sollte ich besser die Spiegel im Haus verhängen? Oje, das wird sicher noch Ärger geben. Ich fühlte mich ein wenig betreten. Das war eigentlich gar nicht mein Stil. Normalerweise achtete ich schon auf die Bedürfnisse meiner Partnerin und war mehr kopf- als bauchgesteuert. »Hab’ ich dir sehr weh getan?« Ich sah sie wie ein reuiger Sünder an.

»Ich wird’s überstehen. Außerdem.« Sie lächelte. »Es ist ja nicht, dass ich nichts davon gehabt hätte. Volker wird schon nichts sehen, falls ich ihn überhaupt antreffe.«

Meine Hand, die eben noch spielerisch an Lils Hemd herumgenestelt hatte, stockte. Ich versuchte ruhig zu klingen. »Volker?«

»Ja, ich fahre morgen noch mal nach Hause. Ich habe einen Anwaltstermin und muss noch ein paar Sachen holen, die nicht mehr in den Wagen gepasst haben. Außerdem muss ich den Anhänger wieder zurückgeben. Keine Angst.« Sie wuschelte beruhigend in meinen Haaren. »Ich komme wieder. Versprochen.«

Ich atmete tief durch, gab mich völlig entspannt und sagte leichthin: »Morgen also. Soll ich mitkommen?«

Lil hielt den Kopf schief und sah mich aus zusammengekniffenen Augen spöttisch an. »Willst du sichergehen, dass ich keine kalten Füße bekomme?«

Ich fühlte mich ertappt, meine Ohren begannen zu glühen.

Sie fuhr amüsiert fort. »Du willst doch nicht etwa wegen mir die Buchhandlung schließen. Ich glaube, deine Granny würde mir das nie verzeihen. Und was wären wir ohne ihren Segen.« Sie schaute sich im Zimmer um, als suchte sie nach Grannys Geist. Dann fasste sie mich schwungvoll bei den Hüften und zog mich Richtung Tür. »Komm, lass uns essen. Ich habe einen Bärenhunger.« Dann biss sie mich in den Hals. Sozusagen als Vorspeise. Oder war es Rache?

Wohl doch eher Vorspeise, denn unser Abendessen fiel bescheiden aus. Schließlich hatte ich nicht mit Besuch gerechnet und nur für mich eingekauft. Lil jedoch schien dies nichts auszumachen. Sie verschlang mit Begeisterung mehrere Käseschnitten, während sie gesprächig versuchte, meine Bedenken bezüglich unserer gemeinsamen Zukunft zu zerstreuen.

Den Rest des Abends verbrachten wir damit, ihre Sachen in meiner respektive unserer Wohnung zu verteilen. Dieses Unterfangen drohte unter anderem daran zu scheitern, dass mein Schrank schlichtweg zu klein war. Um uns herum türmten sich Berge von Blusen, Röcken, Kostümen, Hosenanzügen, Jeans, Tüchern und Dessous. Kurz: alles was eine Frau wie Lil eben trug.

Nach dem Auspacken des zweiten Koffers ließ ich mich aufs Bett fallen. »Wow, ich habe noch nie eine Frau gekannt, die so viele Klamotten besitzt. Irgendwelche Ideen, wie wir die alle unterbringen? Vielleicht solltest du morgen einen Schrank von zu Hause mitbringen.«

Lil seufzte und ließ sich neben mich fallen. »Sieht ganz danach aus.«

Ich zeigte auf die restlichen drei Koffer. »Was ist da drin?«

Lil überlegte stirnrunzelnd. »Handtücher, Bettwäsche, Tischdecken, Bücher, CDs. Na so was eben.«

Ich täuschte einen Ohnmachtsanfall vor. Die erwartete Wiederbelebungsmaßnahme erfolgte sofort und zeigte den gewünschten Erfolg. Vorsichtig öffnete ich die Augen und griente Lil an, die über mir war und mich gespannt anschaute. »Können wir das bitte noch einmal wiederholen?«

Sie gab mir einen kräftigen Knuff. »Kindskopf!«

Oh, wie habe ich das vermisst. Ich grinste weiter. »Das bitte auch.«

Lachend entwand sie sich mir. Da stand sie nun mitten im Chaos, blickte auf ihre üppige Habe und raufte sich die Locken. »Was machen wir nun?«

Ich setzte mich auf und half ihr beim Verzweifeltaussehen. »Wir brauchen definitiv einen Schrank für dich. Am besten einen großen. Lass uns nächste Woche gleich einen kaufen. Besser noch, du machst das allein. Vorläufig habe ich noch niemanden, der im Lesbar aushilft. Die Studenten kommen erst im Oktober wieder. Ich kann da wirklich vor halb sieben nicht weg. Aber du hast ja ein bisschen Zeit und vor allem«, ich griff nach Lils Hand und küßte sie, »das gewisse Händchen dafür.«

»Denkst du nicht, wir sollten das gemeinsam tun? Er muss dir schließlich auch gefallen.«

Ich wehrte ab. »Lass es einfach auf uns zukommen. Komm, sehen wir zu, dass wir das Wichtigste unterbringen. Der Rest kann ja erst einmal im Koffer bleiben. Ist das okay für dich?«

Sie brummte zustimmend und widmete sich wieder ihrem Kleidungsgebirge.

~*~*~*~

Am nächsten Morgen stand ich vor sieben auf. Kurz bevor ich hinunterging, weckte ich Lil.

Sie blinzelte mich schlaftrunken an. »Du bist schon fertig? Wollten wir nicht zusammen frühstücken?«

Ich streichelte sie liebevoll. »Du hast so fest geschlafen und dabei so friedlich gelächelt, ich hab’ es einfach nicht übers Herz gebracht, dich zu wecken. Frühstück steht in der Küche.«

Sie lächelte ironisch. »Was du so unter Küche verstehst.«

Sie hatte recht. Außer einem Kühlschrank, einem Tisch und zwei Stühlen gab es dort nur noch einen kleinen zweiflammigen Propangaskocher. Nach der Mammutaktion »Ich trete Grannys Erbe an und renoviere ein ganzes Haus« war ich einfach noch nicht dazu gekommen, hier ein wenig Kultur ins Heim zu bringen. Zugegebenermaßen war es mir bis vergangenen Samstag auch ziemlich egal gewesen. Ich kochte zwar gern, aber es hatte niemanden mehr gegeben, für den ich es hätte tun können. Und für mich allein, da reichte auch eine Dosensuppe. Nun ja, das hatte sich ja jetzt geändert. Gott sei Dank. Ich schmunzelte dem Objekt meiner Begierde zu. »Ich wette, auch dieses Problem wirst du bald gelöst haben.« Dann hauchte ich ihr einen Kuss auf die Wange. »So, ich muss jetzt los. Kommst du dann durch den Laden, wenn du gehst?«

Lil räkelte sich wohlig. »Klar, ich muss doch sehen, ob du auch ordentlich unsere Brötchen verdienst.«

Gegen halb zehn erschien sie im hellen Kostüm im Laden. Da ich gerade kassieren musste, dauerte es einige Minuten, bis ich Zeit für sie hatte. Obwohl sie hinter mir stand, spürte ich ihre Ungeduld, und das Klappern ihres Autoschlüssels machte mich nervös. Trotzdem entging mir nicht, wie der Kunde, ein junger Mann Mitte zwanzig, sich ebenfalls nicht so richtig auf das Bezahlen konzentrieren konnte. Immer wieder schielte er zu Lil hin, wobei ihm fast die Augen aus den Höhlen traten. Endlich ging er, nicht ohne an der Tür noch einen letzten Blick zurück auf Lil zu werfen.

Ich drehte mich zu ihr um. »Herzblatt, wenn du hier so herumstehst, machst du mir die Kundschaft ganz verrückt. Hast du gesehen? Der hat dich fast mit den Augen verschlungen.«

Lil sah mich irritiert an. »Wer?«

Sie schien so weit weg, dass ich auf eine Erklärung verzichtete. »Lil?«

»Ja?«

»Geht’s dir gut?«

Sie lächelte schwach. »Geht so. Wird bestimmt besser, wenn ich erst im Wagen sitze.«

»Soll ich nicht doch mitkommen?«

Suchend griff sie nach meiner Hand. »Du weißt, dass das nicht geht. Aber danke für das Angebot. Es war meine Idee, noch mal hinzufahren. Da muss ich jetzt auch durch.« Sie hielt meine Hand fest in ihrer. »Ich geh’ dann also mal.«

»Fahr vorsichtig, und ruf an, wenn was ist.«

»Sicher, mach’ ich. Wir sehen uns dann heute Abend.«

»Pass auf dich auf.« Ich wollte ihr einen Kuss zum Abschied geben, doch sie machte eine rasche Bewegung, um sich mir zu entziehen, und eilte mit klappernden Absätzen davon. Hätte ich mir denken können. Schließlich hatte die Ladenglocke gerade schrill gebimmelt und drei junge Leute drängten herein. Das mussten wir also noch ein bisschen üben.

Durch die Schaufensterscheiben sah ich Lil in ihren BMW einsteigen. Wieder einmal staunte ich, wie mühelos sie trotz Anhänger ausparkte und davonfuhr.

Obwohl ich nun den ganzen Tag das Handy mit mir herumtrug, damit mir auch ja kein Anruf entging, was ich normalerweise absolut hasste, hörte ich nichts von Lil.

Es hatte am Vorabend endlich ein paar Tropfen geregnet, und die Stadt bekam wieder etwas mehr Luft, was sich sogleich am Kundenstrom bemerkbar machte. Die Leute wirkten viel aufgekratzter, als in den letzten Wochen, und ließen sich mehr Zeit beim Einkaufen. Ich hatte den ganzen Tag über gut zu tun, und die Einnahmen waren dementsprechend.

Trotzdem war ich nicht ganz bei der Sache. Ständig musste ich an Lil denken. Wie mochte es ihr ergehen? Würde sie vielleicht doch nicht wiederkommen? Ich war so nervös, dass ich sogar Mühe hatte, mittags die Schnitten zu essen, die ich mir wie üblich mitgenommen hatte, um den Tag zu überstehen.

Als ich Punkt sechs den Laden schloss, war Lil noch immer nicht zurück. Wo sie nur blieb? Ich schaute alle zwei Minuten auf die Uhr, doch davon bewegten sich die Zeiger auch nicht schneller. Eilig brachte ich die Tageseinnahmen zur Bank.

Als ich zurückkam, hielt ich Ausschau nach Lils Wagen, doch umsonst. Auch die Wohnung lag in dunkler Stille. Langsam schritt ich den Korridor hinab und warf einen Blick in jedes Zimmer. Ich wusste, dass es unsinnig war, doch ich musste mich beruhigen.

Die Wohnung war groß, viel zu groß für mich allein. Auf der rechten Seite des Flurs lagen das Bad, das Schlafzimmer und die große Wohnküche nebeneinander. Die letzteren zwei waren durch eine Tür verbunden. Auf der linken Seite gab es drei weitere Zimmer: eines, das ich als Büro nutzte, eine kleine Abstellkammer sowie eines, in dem wir Lils Sachen untergebracht hatten. Der Flur selbst mündete in das große helle Wohnzimmer, das auch eine Verbindung zur Küche hatte.

Grannys Wohnung unter mir, über deren weitere Verwendung ich mir nach Lils ursprünglicher Weigerung, mit mir zu kommen, noch keine Gedanken gemacht hatte, war gleichermaßen aufgebaut. Schon als Kind hatte es mich fasziniert, dass ich Granny immer wieder entschlüpfen konnte, wenn sie irgendwelche anstrengenden Aufgaben wie Müllrunterbringen oder Saubermachen für mich hatte. Ich musste nur die richtige Fluchtstrategie entwickeln.

Nach meinem Inspektionsgang ließ ich mich im Wohnzimmer nieder. Wie in all meinen früheren Wohnungen gab es auch hier eine Menge Grünpflanzen, die dschungelartig auf Boden und Fensterbrettern wucherten. Auch das Kissengebirge durfte nicht fehlen. Ich setzte mich allerdings auf die Couch. Nicht zuviel Bequemlichkeit, nur nicht einschlafen und Lils Rückkehr verpassen. Ich gestattete mir nicht einmal, ein Glas Rotwein zu trinken. Wenn ihr was passiert war und ich noch fahren musste!

Obwohl ich übernervös war, wagte ich nicht anzurufen. Ich wusste, sie hätte mich nur unwirsch angefaucht. Also ließ ich es. Gegen halb neun klingelte es an der Tür. Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich von der Couch und hechtete zur Sprechanlage. »Lil, bist du’s?«

»Erwartest du sonst noch jemanden?« Ihre Stimme klang müde und irgendwie seltsam. »Kannst du runterkommen und mir helfen?«

»Sicher. Ist alles in Ordnung mit dir?« Doch sie war schon nicht mehr dran. Ich ignorierte den Fahrstuhl und flitzte die Treppen hinunter, wobei ich mir beinahe den Hals brach, da ich unterwegs meine Pantoffeln einbüßte. Barfuß und etwas außer Puste fand ich Lil an ihrem Wagen. Sie sah blass um die Nase herum aus, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Ihre Wimperntusche war ein wenig verwischt, als ob sie geweint hätte.

Ich wollte sie an mich ziehen, doch sie schien die Bewegung im Ansatz erahnt zu haben und ging rasch um den Wagen herum. »Ich hab’ hier noch ein paar Kisten. Meinst du, wir bekommen die noch unter?« Sie wies matt auf den Stapel.

Ich versuchte so zu tun, als bemerkte ich nichts, und täuschte Munterkeit vor. »Kein Problem. Wenn wir alles soviel hätten wie Platz. Lass mich nur schnell die Sackkarre aus dem Lager holen, dann laden wir die paar Kisten in den Fahrstuhl.«

Als ich zurückkam, saß Lil mit teilnahmslosem Blick auf dem Fahrersitz. Die Beine baumelten nach draußen, ihr Gesicht hielt sie in den Händen gestützt. Ich blieb vor ihr stehen und hüstelte leicht. Erschrocken zuckte sie zusammen und sprang aus dem Auto.

Als sie die hintere Tür öffnen wollte, hielt ich sie am Arm fest. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Was ist passiert?«

Sie schüttelte mich ab und öffnete die Tür. »Lass uns jetzt nicht darüber reden. Ich bin einfach nur müde und hungrig. Nimmst du die bitte?« Damit drückte sie mir die erste Kiste in die Hände. Dem Gewicht nach enthielt sie Kanonenkugeln, doch ich hütete mich nachzufragen.

Schweigend entluden wir das Auto. Sackkarre und Aufzug bildeten eine gute Kombination, so dass wir sehr bald die letzte Kiste in Lils Zimmer verstauen konnten. Während ich die Wohnungstür schloss, zog sich Lil das Tuch vom Hals und ließ es fallen, wo sie gerade stand. Ähnlich verfuhr sie mit ihren Pumps.

»Soll ich dir etwas zu essen machen?«

Sie lächelte schwach. »Vielleicht später. Ich geh’ jetzt erst einmal in die Wanne. Es war ein anstrengender Tag.« Sie ließ ihre Jacke fallen und ging ins Bad. Dass diese Kleiderspur, die mit dem BH vor der Badtür endete, keinesfalls auch nur andeutungsweise sexuelle Avancen bedeutete, wurde dadurch unterstrichen, dass diese Tür hinter ihr nachdrücklich ins Schloss fiel.

Ich machte mir ernsthaft Sorgen. Lil legte sonst sehr viel Wert auf ihre Kleidung. Diese Achtlosigkeit passte überhaupt nicht zu ihr. Ich sammelte die Teile ein und brachte sie ins Schlafzimmer, um sie auf den Bügel zu hängen. Dann bereitete ich in der Küche Salat und Schnittchen zu. Danach ging ich ins Wohnzimmer, um eine Flasche Rotwein zu entkorken. Die Zeit tröpfelte vor sich hin.

Nach einer halben Stunde tarnte ich mich mit einem Glas Rotwein und wagte mich ins Bad vor. Behutsam öffnete ich die Tür. Leise Klänge einer Entspannungs-CD wehten mir entgegen. Der große Raum wurde lediglich durch das flackernde Licht einer Kerze beleuchtet. Die Umrisse der beiden Waschbecken, der Waschmaschine sowie der riesigen Wanne, die auf Löwenfüßen direkt unter dem gegenüberliegenden Fenster stand, zeichneten sich nur schwach ab.

Von Lil war nur das schwache Leuchten ihres Gesichts zu sehen und die Haarkaskade, die über den Wannenrand brandete. Sie hielt die Augen geschlossen und rührte sich auch dann nicht, als ich zu ihr hinging und mich über die Wanne beugte, um den Wein auf dem Fliesenvorsprung abzustellen.

»Hier, vielleicht möchtest du ja einen Schluck.« Ich setzte mich auf den Wannenrand und ließ meine Hand durch das Wasser treiben, ohne Lil zu berühren. Langsam öffnete sie die Augen und schaute durch tiefhängende Wimpern erst zu mir und dann zum Rotwein. Wie in Zeitlupe hob sie ihren rechten Arm aus dem Schaum und griff nach dem Glas. Andächtig nahm sie einen Schluck, wobei sie den Kopf leicht hob. Dann ließ sie sich wieder zurückgleiten und schien mit geschlossenen Lidern dem Wein und der Musik nachzulauschen. Unschlüssig blieb ich noch einen Moment sitzen. Doch Lil rührte sich nicht. Also ging ich leise ins Wohnzimmer zurück.

Eine dreiviertel Stunde später kam Lil endlich. Sie hatte sich in ihren flauschigen, roten Bademantel gehüllt und ein weißes Handtuch turbanartig um den Kopf geschlungen. Hungrig begutachtete sie die Dinge, die ich zurechtgestellt hatte, und setzte sich mit angezogenen Beinen in einen Sessel. »Hast du auch noch nicht gegessen?«

»Nein, ich wollte auf dich warten.«

Wir aßen schweigend, jede eingehüllt in ihre eigenen Gedanken. Lil blieb versunken und in sich gekehrt, als ich den Tisch abräumte. Wieder ließ ich mich in meiner Couchecke nieder und nippte am Wein. Eine ganze Weile verharrten wir so – Lil zusammengekauert und gedankenverloren im Sessel, ich angespannt, doch regungslos jeden ihrer Wimpernschläge registrierend. Irgendwo im Hintergrund zählte eine Uhr tickend die Zeit ins Nichts.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stand Lil plötzlich auf, nahm sich eine Decke und kam zu mir herüber. Sie kuschelte sich an mich. »Halt mich einfach ein bisschen fest.«

Ich schlang den Arm um sie und streichelte sie. »Schön, dass du wieder da bist.«

Sie seufzte tief. »Ich hätte nie gedacht, dass mir das so schwerfällt. Es schien heute so endgültig zu sein. Verstehst du? Ich habe dort einundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht. Und es waren meist gute Jahre. Wenn Volker bösartig gewesen wäre oder mich geschlagen hätte, dann wäre es vielleicht einfacher gewesen.«

»Man kann jemanden auch mit Desinteresse und Ignoranz verletzen.«

Lil reagierte nicht darauf. »Der Anwaltstermin war harmlos. Es ging lediglich um zwei Unterschriften, die ich noch leisten musste. Das war in einer Viertelstunde erledigt. Eigentlich hätte es auch zu Hause nicht lange dauern sollen. Alles, was ich noch mitnehmen wollte, hatte ich bereits gepackt und bereitgestellt. Jedoch als ich ankam, war Volker zu Hause. Er hatte sich extra freigenommen. Ich kann mich nicht erinnern, wann er das das letzte Mal getan hat, und schon gar nicht für mich. Er sah völlig fertig aus, als wäre er in den letzten Wochen um Jahre gealtert. Ich kam mir so mies vor. Wir haben dann stundenlang miteinander geredet. Vielleicht wie noch nie zuvor. Über unsere Vergangenheit, über Dinge, die schön waren, was schiefgelaufen ist. Über Tobias. Manchmal saßen wir nur da und haben geschwiegen. Dann wieder haben wir uns angeschrien, und er hat furchtbar verletzende Sachen gesagt. Er hat mich beschimpft und meine Gefühle für dich in den Dreck gezogen. Ich war völlig entsetzt, dass er über solch ein Vokabular verfügt. Im nächsten Augenblick tat es ihm leid, und er hat geweint und mich um Verzeihung gebeten. Er kam mir vor wie ein hilfloser kleiner Junge, der Angst vor der Dunkelheit hat.«

Ich spürte, dass Lil mit den Tränen kämpfte und hielt sie einfach nur fest.

Nach einer Weile fuhr sie fort. »Dann hat er mir geholfen, die letzten Kisten im Wagen zu verstauen, einfach so, ohne ein Wort. Als ich losfahren wollte, hat er mich umarmt, ganz fest, und gesagt, dass ich jederzeit zurückkommen könnte. Er würde immer auf mich warten. Da war ich drauf und dran dort zu bleiben. Aber dann meinte er noch, ich würde sicherlich sowieso bald wieder auftauchen, wenn das Geld alle wäre und ich genug von meinem kleinen Abenteuer hätte. Den Unsinn von der freien Künstlerin hätte er eh nie geglaubt, dazu wäre ich einfach nicht gut genug. Das wäre doch nur ein Vorwand, um mal ein wenig über die Stränge zu schlagen. Da wusste ich, dass er nichts verstanden hatte. Ich habe ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen und bin losgefahren. Glaubst du, dass er recht hat?« Lil legte ihren Kopf in meinen Schoß und schaute mich an.

Ich strich ihr zärtlich übers Gesicht. »Red keinen Unsinn. Es wird sich alles zeigen. Ich denke, du brauchst Zeit, um zu dir zu finden. Lass uns schlafen gehen. Du bist viel zu müde, um noch einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Außerdem bist du völlig mit den Nerven runter.«

Sie murmelte: »Ich fühle mich so furchtbar leer und ausgebrannt. Ob das je wieder vergeht?«

»Sicher doch, aber gib dir Zeit. Komm jetzt.«

Wie in Trance ließ sie sich willig ins Schlafzimmer führen und kroch unter die Decke. Ich legte mich zu ihr und zog sie an mich. Schnell spürte ich, wie ihr Körper erschlaffte, doch immer wieder wurde sie von Seufzern und Schluchzen geschüttelt. Da löste ich mich sanft von ihr und rutschte unter die dünne Decke zwischen ihre Beine. Ich ließ meine Zunge beruhigend kosend wandern. Wieder und wieder. Tiefer und tiefer. Dann endlich spürte ich, wie Lil fast lautlos von einem leichten Zittern durchschauert wurde. Fünf Minuten später war sie eingeschlafen.

~*~*~*~

Die nächsten Tage verbrachte Lil in einem Zustand vollkommener Lethargie. Morgens, wenn ich aufstand, schlief sie noch. Abends, wenn ich wieder nach oben kam, lag sie dösend auf der Couch oder hatte sich einen Sessel vor das weit geöffnete Fenster gerückt und genoss die laue Abendluft. Neben ihr stets ein Glas Rotwein.

Ich setzte mich dann zu ihr, und wir plauderten über Belanglosigkeiten. Über Dinge, die ich in der Buchhandlung erlebt hatte, über die Hitze, die in diesem Jahr kein Ende nehmen wollte, über gemeinsame frühere Unternehmungen. Genau genommen redete ich und sie hörte geistesabwesend zu, nickte manchmal oder, schlimmer noch, schlief einfach ein. Oft saßen wir auch nur und sahen fern oder hörten Musik. Es schien nichts falsch daran zu sein. Ich versuchte den Haushalt im Griff zu behalten und schaffte es gerade noch, vor zehn in den Supermarkt zu stürmen, um uns vorm Verhungern zu retten.

Lil tat nichts, absolut rein gar nichts. Oft aß sie nicht einmal, wenn ich ihr nicht etwas hinstellte. Nicht, dass sie sich körperlich vernachlässigte. Sie verzichtete jedoch auf jegliche Art von Make-up und mied ihre eigenen Sachen. Mit Vorliebe trug sie meine Hemden, die für sie gute Minikleider abgaben.

So hatte ich mir unser Zusammenleben nicht vorgestellt, verstand aber, dass sie Zeit brauchte, und ließ sie gewähren. Ich brachte ihr Blumen oder CDs, die ich glücklicherweise im Laden hatte oder bestellen konnte. Lil dankte es mir meist mit einem matten Lächeln und versank dann wieder in sich selbst.

Nach einigen Tagen gab ich es auf, zu fragen, was sie tagsüber getan hatte. Ich erhielt eh nur Schulterzucken als Antwort. Abends im Bett suchte sie stets meine Nähe, was nicht hieß, dass wir miteinander schliefen. Wenn ich doch einen Versuch wagte, waren unsere Begegnungen martialisch, ja beinahe verzweifelt. Jetzt war sie es, die mich kratzte und kniff, biss und mir wehtat, als wollte sie mich für ihren derzeitigen Zustand bestrafen. Sie selbst wollte nicht angerührt werden. Jede Berührung, die über Kuscheln hinausging, wehrte sie wütend ab.

Ich ertrug es mit stoischer Ruhe, wuchs in mir doch mehr und mehr das Gefühl, es verdient zu haben. Hatte ich sie nicht so lange umworben, bis sie einer Affäre zugestimmt hatte? Sie gedrängt, ihr gutbürgerliches Leben aufzugeben und zu mir zu ziehen? Ihr versprochen, dass es uns hier bei mir gutgehen würde?

Nach Ablauf der ersten Woche fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht. Sicher hätte ich sie niemals animieren dürfen hierherzuziehen. Hatte ich jetzt ihr Leben auf dem Gewissen? Vielleicht sollte ich ihren Mann anrufen, damit er sie abholte, zurück in ihr altes Leben. Oder sollte ich besser einen Arzt bitten herzukommen, um sie sich einmal anzuschauen?

Letzteres verwarf ich umgehend. Ich wusste von Freunden, dass man auf einen Termin bei einem Psychiater mindestens ein halbes Jahr warten musste.

Ich konnte also nur abwarten. Innerlich gab ich ihr noch ein paar Tage, dann würden wir reden müssen, und zwar gründlich. Doch die zweite Woche verrann ohne Änderung. Mein schlechtes Gewissen hatte sich inzwischen schon mehrfach potenziert, so dass ich vor einer Aussprache immer wieder zurückscheute.

~*~*~*~

Während Lil offensichtlich mit ihren Dämonen kämpfte, hatte ich nicht weniger komplizierte Probleme zu lösen. Nun waren es nicht gerade Dämonen, die ich zu bändigen hatte, aber meine Mutter war auch kein erstrebenswerter Gegner. Damals, vor beinahe zweieinhalb Jahren, hatte sie fast der Schlag getroffen, als sie erfuhr, dass mich meine langjährige Freundin Helen nach meinem One-Night-Stand mit der Frau meines damaligen Schulleiters vor die Tür gesetzt hatte und ich mich an eine Schule in die tiefste Provinz versetzen ließ. Es hatte Monate gedauert, bis sie gewillt gewesen war, mir huldvoll zu vergeben und sich nicht mehr darüber zu mokieren.

Damit, dass ich lesbisch war, konnte sie gerade noch leben. Zumindest oberflächlich betrachtet. In ihrem Inneren jedoch, wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, würde sie wohl nicht darüber hinwegkommen und grollte auf ewig ihrem ach so bitteren Los. Dabei hatte ich noch drei Geschwister, die willens und in der Lage waren, sich heterosexuell zu binden und die Welt mit Nachwuchs zu beglücken. Doch anscheinend zählte nur vollständiges familiäres Glück.

Meine Mutter also hatte ich in den ersten Tagen nach Lilias überraschender Ankunft beinahe völlig vergessen; mir war in der zweiten Woche sogar entfallen, sie pünktlich wie immer am Dienstag gegen acht anzurufen. Oh Gott, welch ein Desaster! Am Mittwochabend rief sie wütend an. Rasch verzog ich mich aus dem Wohnzimmer. Schließlich musste Lil das Spektakel nicht mitbekommen. Ihr ging es noch immer nicht wirklich besser.

»Na, kaum brauchst du uns nicht mehr für die Renovierung der Buchhandlung, hältst du es schon nicht mehr für nötig, dich mal bei uns zu melden.« Mutters Stimme tönte mir kampfeslustig und mit jenem von mir so gehassten schnippischen Unterton aus dem Hörer entgegen.

Für einen Moment verschlug es mir die Sprache, doch ich hatte mich schnell wieder im Griff, schließlich kannte ich ihre absurden Unterstellungen. Ich sagte beschwichtigend: »Tut mir leid, Mama. Aber ich hatte wirklich viel zu tun. Ich hätte dich schon noch angerufen. Mach’ ich doch immer.« Wäre ich ein Hund gewesen, hätte man mich um Frieden bettelnd mit dem Schwanz wedeln sehen. So klang nur meine Stimme etwas ölig.

Wie immer beeindruckte das meine Mutter in keiner Form. »Ach, red doch nicht. Und sag nicht immer ›Mama‹ zu mir.« Das klang zwar noch wütend, aber der Sturm flaute schon ab. »Was hast du denn soviel zu tun? Läuft der Laden gut?«

Ha! Das ist doch endlich eine Gesprächsgrundlage. Freudig ergriff ich das hingeworfene Thema. »Ach, ich kann nicht klagen. Du weißt ja, noch fehlen die Studenten, und die Hitze ist auch nicht gerade verkaufsfördernd, aber der Umsatz ist trotzdem recht akzeptabel. Jedenfalls werde ich nicht verhungern müssen.« Innerlich schüttelte es mich allerdings beim Gedanken an meinen chronisch leeren Kühlschrank und die ewigen Wurstschnitten.

»Na dann ist’s ja gut.« Sie klang beruhigt. Dachte ich. Doch schon holte sie zum nächsten Schlag aus. »Sag mal, Lea, magst du uns am Wochenende nicht mal besuchen kommen? Wir haben uns schon eine Weile nicht mehr gesehen. Ich backe auch.«

Auweia. Wenn meine Mutter anbot zu backen, dann wollte sie mich wirklich zu sich locken. Auch wenn wir uns normalerweise auf Distanz am besten verstanden, ihren Backkünsten hatte ich mich noch nie verweigert. Aber diesmal? Ich konnte Lil doch nicht allein lassen. Andererseits – meine Eltern hatten nicht den blassesten Schimmer, dass es Lilia überhaupt gab. Zwar hatte ich ihnen in meiner Neuburgstedter Zeit gelegentlich von ihr als Kollegin erzählt, darüber dass unsere Beziehung außerhalb der Schule weit mehr als kollegial war, hatte ich aber tunlichst geschwiegen.

Ich wand mich. »Mutti, das geht zur Zeit ganz schlecht. Du weißt, ich schätze deinen Kuchen sehr, aber im Moment habe ich soviel um die Ohren . . .«

»Erzähl keinen Unsinn. Du wirst doch am Sonntagnachmittag mal zwei Stunden Zeit haben. Oder hast du schon was vor?«

Wieso war sie nicht Anwalt geworden? Den inquisitorischen Ton hatte sie gut drauf. Ich war leicht genervt. »Nein, ich habe noch nichts vor. Nur die Buchhandlung. Rechnungen prüfen und so.«

»Lea, du warst schon immer eine schlechte Lügnerin. Wenn du eine Neue hast, mit der du lieber als mit uns das Wochenende verbringst, dann sag mir das und veralbere mich nicht.« Ihr Ton klang ärgerlich.

Woher wusste sie das bloß? Als Kind hatte ich stets das Gefühl gehabt, dass sie schon im Voraus Bescheid wusste, noch bevor ich etwas ausgefressen hatte. Zerknirscht murmelte ich: »Tut mir leid, Mama. Lilia ist hier.«

Ich konnte förmlich sehen, wie sie ihre Ohren spitzte und ihr Gehirn zu arbeiten begann. »Lilia? Kenn’ ich die?

»Ja, ich hab’ dir von ihr erzählt. Wir waren in Neuburgstedt gemeinsam an der Schule.«

»Ach, die. Ist das nicht die ›Künstlerin‹, die mit dem Bankdirektor verheiratet ist? Ist sie auf Besuch bei dir?«

Na immerhin. Mutters Gedächtnis funktionierte auch mit fast sechzig noch tadellos. Musste sie aber bei dem Wort ›Künstlerin‹ so ironisch klingen? »Mama, ihr Mann war nur Filialleiter, und außerdem ist sie nicht zu Besuch, sondern sie wohnt jetzt bei mir.«

Nun war mir einer der äußerst raren Momente beschert, in denen ich meine Mutter sprachlos erleben durfte. Innerlich zählte ich mit: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig . . . Bei fünfundzwanzig hatte sie sich gefasst und stammelte: »Sie wohnt bei dir? Aber wieso denn? Fährt sie etwa jeden Tag bis Neuburgstedt?«

»Nein, Mama. Wir hatten schon eine Beziehung, als ich noch in Neuburgstedt war. Sie ist zu mir gezogen und lässt sich scheiden.« Dass ich das in einem grammatisch-semantisch nachvollziehbaren Satz herausbringen würde, hatte ich nicht gedacht. Aber ausgesprochen klang es ziemlich heftig. Ich schluckte.

Mutter war erwartungsgemäß auf hundertachtzig. »Das ist jetzt nicht dein Ernst! Hast du schon wieder eine Ehe kaputtgemacht?«

»Was heißt denn hier schon wieder? Du weißt genau, dass das vor zwei Jahren nicht meine Schuld war. Und soweit ich weiß, ist Kuczynski noch verheiratet!« Jetzt war es an mir, wütend zu sein.

»Ach, erzähl mir doch nichts. Du wirst dich nie ändern! Und dass du es nicht einmal für notwendig erachtest, mir davon zu erzählen! Warte nur, was dein Vater dazu sagen wird.« Tututut. Sie hatte aufgelegt.

Verstört betrachtete ich den Hörer und überlegte, was nun zu tun war. Wegen meines Vaters hatte ich die geringsten Bedenken. Der würde irgend etwas grummeln, damit Mutter zufrieden war, und sich dann wieder hinter seine Zeitung verziehen. Was bisher auch passiert war, zu mir hatte er stets gesagt: »Es ist dein Leben. Sieh zu, was du daraus machst.« Außerdem hatte ich den Verdacht, dass er meinen Geschmack bei Frauen mochte. Zuweilen nämlich, wenn er unbeobachtet zu sein glaubte, sah ich, wie er seine Blicke genießerisch über meine jeweilige Freundin schweifen ließ. Meine Mutter aber machte mir Sorgen. Sie war nun definitiv auf dem Kriegspfad. Oh Gott! Ich schlich resigniert ins Wohnzimmer zurück.

Lil wandte mir matt den Kopf zu. Wie oft in letzter Zeit hatte sie ein bisschen zuviel getrunken. Ihr Blick war verschleiert, als sich beiläufig erkundigte: »Wer war das denn?«

»Nur meine Mutter.« Ich winkte ab und ließ mich in einen Sessel fallen.

Lil horchte auf. »Was Schlimmes?«

Schlimm? Aber nicht doch. Es haben sich nur gerade die vier apokalyptischen Reiter auf den Weg gemacht, um mich zu vernichten. »Nein, nichts weiter. Nur die üblichen Diskussionen.«

Lil schaute mich plötzlich ein wenig nüchterner an. »Sie hat herausgefunden, dass ich hier wohne. Stimmt’s?«

Verdammt! Wieso sind diese Weiber eigentlich alle so hellsichtig? Ist das genetisch bedingt, oder muss man dafür über vierzig sein? Ich griff nach dem Weinglas und brummte mürrisch: »Ja, hat sie. Na und?«

»Sie fand das bestimmt nicht so witzig. Oder? Wo sie deinen Lebenswandel doch sowieso nicht gutheißt.«

Empört schaute ich Lil an. »Was heißt denn hier meinen ›Lebenswandel‹? Das hört sich ja an, als würde ich irgendwo in der Gosse herumkrabbeln. Ich schufte seit Monaten wie ein Tier, um das Lesbar wieder in Schwung zu bekommen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann ich das letzte Mal im Les Mesdemoiselles war, und du sprichst von ›Lebenswandel‹. Nun mach aber mal ’nen Punkt!« Wütend knallte ich das Glas auf den Tisch. Ich war außer mir. Spielten denn jetzt alle verrückt?

Angesichts meines Ausbruchs trieb es Lil von der Couch. Sie setzte sich zu mir auf die Sessellehne und sagte vorwurfsvoll: »Lea, nun übertreibst du aber. Du weißt, wie ich das gemeint habe. Hast du ihr denn nie von uns erzählt?«

Uns? Hat sie wirklich uns gesagt? Von den ersten beiden Tagen mal abgesehen hatte ich bisher lediglich ein sie und ein ich erleben dürfen. Von einem wir waren wir wohl noch Lichtjahre entfernt. »Lass das!« Noch immer grimmig packte ich sie am Handgelenk, da sie mir die ganze Zeit über im Haar herumfuhrwerkte, was ich nicht sonderlich mochte. »Und nein, ich hatte ihr nichts erzählt. Wozu auch? Damit sie mir von Anfang an die Hölle heiß macht? Ich konnte ja nicht wissen, dass du plötzlich hier auftauchst.« Da das fast so klang, als wäre es mir nicht recht, fügte ich etwas weicher hinzu: »Worüber ich natürlich sehr froh bin. Das mit meiner Mutter bekomme ich schon irgendwie auf die Reihe.«

»Bist du dir sicher?« Lil blickte mich zweifelnd an. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann . . .«

Ich lächelte und fuhr ihr liebevoll über die Wange. »Keine Sorge, das ist nicht die erste Schlacht, die ich mit meiner Mutter schlage. Ich denke allerdings, du musst dir im Moment in erster Linie selbst helfen. Ist es wirklich so furchtbar für dich, hier zu sein?«

Lil wehrte müde ab. »Darum geht es doch gar nicht.«

»Worum denn dann? Red doch bitte mit mir.« Ich versuchte sie an mich zu ziehen, doch sie entwand sich.

Sie nahm das Glas vom Tisch, kauerte sich in ihre Couchecke und blickte mich bittend an. »Nicht jetzt, Lea. Nicht heute. Gib mir noch ein bisschen Zeit.« Sie schaltete die Stereoanlage an, die sofort einen trauernden Tschaikowski durch die Stille sandte, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Damit war unsere abendliche Unterhaltung beendet, wie so oft, seit sie hier wohnte.

Eine Weile betrachtete ich sie schweigend, doch sie rührte sich nicht. Kein Seufzer, kein Wimpernzucken, nichts. Als wäre sie erstarrt. Am liebsten hätte ich mich auf sie gestürzt, sie geschüttelt und angeschrien, doch auch das hätte nichts geholfen. Soviel fühlte ich. Wieder einmal ging ich allein zu Bett.

~*~*~*~

Am nächsten Tag dann, kurz vor Ladenschluss, kreuzte meine Mutter im Lesbar auf. Jede Furie hätte bei ihrem imposanten Auftreten erschreckt das Weite gesucht. Sie öffnete so schwungvoll die Ladentür, dass ich befürchtete, sie würde die vorsintflutliche Türglocke ins All befördern. Dann verharrte sie in voller Größe mitten vor der Kasse und spähte suchend umher. Sie sah wie immer beeindruckend aus: kurzes weißes Haar, dunkelblauer Hosenanzug mit elegantem Tuch um den Hals sowie riesige Ohrringe, die angriffslustig schaukelten. Ich konnte das ziemlich gut beobachten, befand ich mich doch mit einem Kunden hinter einem der Regale, wo sie mich nicht sehen konnte. »Lea, bist du da?« Ihre Stimme hallte fordernd durch den Raum.

Der junge Mann neben mir schaute mich verstört an. »Wer ist das denn?«

Ich lächelte belustigt und zuckte die Schultern. »Meine Mutter.«

»Oje.« Er wurde sichtbar blasser, »Dann sollten Sie wohl besser nach vorn gehen.«

»Das sehe ich auch so. Tut mir leid.«

Als ich mich auf den Weg machte, hörte ich noch, wie er mir ehrfurchtsvoll »Viel Glück!« hinterhermurmelte. Das konnte ich zweifelsohne gebrauchen.

»Mama!« Ich heuchelte freudige Überraschung, »Was machst du denn hier?«

»Da Madame es nicht für nötig befindet, zu uns zu kommen, muss ich eben hierherkommen. Schließlich bist du mir noch einige Erklärungen schuldig.«

Ich ihr Erklärungen schuldig? Wohl kaum. Schließlich hatte sie aufgelegt. Und außerdem, auch wenn sie meine Mutter war, stand nirgends geschrieben, dass ich ihr über mein Leben Rechenschaft ablegen musste. Ich versuchte ruhig zu bleiben, immerhin befand sich noch Kundschaft im Laden. »Mama, ich verstehe gar nicht, weshalb du dich so aufregst. Schließlich war es Lilias Entscheidung, zu mir zu ziehen.«

»Und wovon gedenkt die Dame zu leben? Denn zu unterrichten scheint sie ja offensichtlich nicht mehr!«

Brrr. Wie kann man nur so giftig klingen. Ich lächelte meiner Mutter betont arglos entgegen. »Das lass mal unsere Sorge sein. Erstens hat sie genügend Geld, zweitens wird sie hier eine Galerie eröffnen, und drittens habe ich ja das Lesbar.«

»Na, wusste ich’s doch. Du wirst sie durchfüttern. Prima. Lass dich nur wieder ausnutzen. Wenn deine Großmutter das wüsste!«

Was meinte sie mit ›wieder ausnutzen‹? Ich konnte mich nicht erinnern, dass dies jemals jemand getan hatte. Langsam wurde ich wirklich sauer. »Granny wusste von Lil! Sie fand unsere Beziehung keineswegs so verabscheuungswürdig, wie du dies offensichtlich tust.«

Na, da hatte ich ja etwas gesagt. Nun ging der Streit erst richtig los. Meine Mutter ließ nichts aus. All meine Sünden der letzten Jahre wurden noch einmal zur Sprache gebracht. Mutter stellte mein ganzes Leben in Frage. Dabei ließ sie sich auch nicht davon irritieren, dass immer mal wieder Kunden mit betretenem Gesicht zur Kasse kamen, um schnell zu bezahlen und eiligst den Laden zu verlassen. Als die letzten gegangen waren, eilte ich hastig zur Tür und schloss ab. Ich hatte kein Interesse daran, die Show vor größerem Publikum zu zelebrieren.

Meine Mutter redete sich mittlerweile in Hochform; sie wurde immer lauter und ihre Stimme immer spitzer. Ich beherrschte mich nur mühsam, spürte, wie mir die Halsader schwoll und mein Herz zu rasen begann. Um mich abzulenken, ballte ich die Fäuste und bohrte mir die Fingernägel ins Fleisch. Irgendwann musste doch schließlich auch meiner Mutter mal die Luft ausgehen. Doch weit gefehlt. Als sie sich dazu verstieg, Helen nachzutrauern und meinte, diese hätte völlig richtig gehandelt, als sie mich damals rauswarf, platzte mir endgültig der Kragen.