Paidagogos - Clemens von Alexandria - E-Book

Paidagogos E-Book

Clemens von Alexandria

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Beschreibung

Der Titel dieses Werkes, der mit "Tutor" oder "Lehrer" übersetzt werden kann, bezieht sich auf Christus als den Lehrer aller Menschen. Obwohl es eine ausgedehnte Metapher von Christen als Kindern enthält, ist es nicht einfach nur erzieherisch gedacht: Clemens will zeigen, wie ein Christ authentisch auf die Liebe Gottes reagieren soll. In Anlehnung an Platon unterteilt er das Leben in drei Elemente: Charakter, Handlungen und Leidenschaften. Nachdem das erste Element im "Protrepticus" behandelt wurde, widmet Clemens den Paidagogos Überlegungen zur Rolle Christi, der die Menschen lehrt, moralisch zu handeln und ihre Leidenschaften zu beherrschen. Trotz seines explizit christlichen Charakters stützt sich Clemens' Werk auf die stoische Philosophie und heidnische Literatur; allein Homer wird in dem Werk mehr als sechzig Mal zitiert.

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Seitenzahl: 461

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Paidagogos

 

CLEMENS VON ALEXANDRIA

 

DIE SCHRIFTEN DER KIRCHENVÄTER

 

 

 

 

 

 

Paidagogos, Clemens von Alexandria

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849660239

 

Cover Design: Basierend auf einem Werk von Andreas F. Borchert, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35892522

 

Der Text dieses Werkes wurde der "Bibliothek der Kirchenväter" entnommen, einem Projekt der Universität Fribourg/CH, die diese gemeinfreien Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Die Bibliothek ist zu finden unter http://www.unifr.ch/bkv/index.htm.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Erstes Buch. 2

I. Kapitel. Was der Erzieher verspricht.2

II. Kapitel. Daß der Erzieher unserer  Sünden wegen die Leitung hat.4

III. Kapitel. Daß der Erzieher die Menschen liebt.7

IV. Kapitel. Daß der Logos in gleicher Weise Erzieher von Männern und Frauen ist.9

V. Kapitel. Daß alle die sich mit der Wahrheit beschäftigen, bei Gott Kinder sind.10

VI. Kapitel. Gegen die Annahme, daß die Bezeichnung Kinder und Unmündige sich auf den Unterricht in den ersten Wissensgegenständen beziehe.19

VII. Kapitel. Wer der Erzieher ist  und über seine Erziehung.38

VIII. Kapitel. Gegen die Auffassung,  daß das Gerechte nicht gut sei.44

IX. Kapitel. Daß wohlzutun und gerecht zu strafen Sache der gleichen Macht und was in dieser Hinsicht die Erziehungsweise des Logos ist.53

X. Kapitel. Daß ein und derselbe Gott durch ein und denselben Logos sowohl mit Drohungen von den Sünden abhält als auch die Menschheit mit Ermahnungen rettet.62

XI. Kapitel. Daß der Logos  durch Gesetz und Propheten erzog.67

XII. Kapitel. Daß der Erzieher  in Übereinstimmung mit dem Verhalten eines Vaters Strenge und Güte anwendet.69

XIII. Kapitel. Daß, wie die sittlich gute Handlung in Übereinstimmung mit der richtigen Vernunft geschieht, so umgekehrt jede sittliche Verfehlung im Gegensatz zu der Vernunft.48272

Zweites Buch. 74

I. Kapitel. Wie man sich beim Essen benehmen soll.74

II. Kapitel. Wie man sich beim  Trinken verhalten soll.88

III. Kapitel. Daß man sich nicht  um kostbaren Hausrat bemühen soll.99

IV. Kapitel. Wie man sich bei Gastmahlen unterhalten soll.103

V. Kapitel. Über das Lachen.107

VI. Kapitel. Über unanständige Reden.110

VII. Kapitel. Wovor sich die hüten müssen, die anständig zusammenleben wollen.113

VIII. Kapitel. Ob man Salben und Kränze verwenden soll.119

IX. Kapitel. Wie man sich  beim Schlafen verhalten soll.130

X. Kapitel. Was man über das Kinderzeugen besprechen muß.134

XI. Kapitel. Über die Fußbekleidung.156

XII. Kapitel. Daß man nicht auf Edelsteine und Goldschmuck erpicht sein soll.158

Drittes Buch. 166

I. Kapitel. Über die wahre Schönheit.166

II. Kapitel. Daß man sich nicht herausputzen soll.168

III. Kapitel. Gegen die putzsüchtigen Männer.176

IV. Kapitel. Mit wem man verkehren soll.184

V. Kapitel. Wie man sich in  den Bädern verhalten soll.188

VI. Kapitel. Daß allein der Christ reich ist.190

VII. Kapitel. Daß für den Christen die Einfachheit eine treffliche Wegzehrung ist.193

VIII. Kapitel. Daß die Vorbilder und die Beispiele ein sehr wichtiger Teil der richtigen Lehre sind.196

IX. Kapitel. Weswegen man das Bad benützen soll.200

X. Kapitel. Daß man für die vernunftgemäß Lebenden auch Leibesübungen zulassen muß.202

XI. Kapitel. Eine gedrängte Zusammenfassung der besten Lebensregeln.205

XII. Kapitel. Ebenfalls eine gedrängte Zusammenfassung der besten Lebensregeln: Welche Worte der Heiligen Schrift das Leben der Christen schildern.224

 

 

Paidagogos

 

Bibliographische Angaben:

 

Titel Version: Paidagogos (BKV) Sprache: deutsch Bibliographie: Paidagogos (Paedagogus) In: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften / aus dem Griechischen übers. von Otto Stählin. (Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften Bd. 1; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 7) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet, 1934. Unter der Mitarbeit von: Frans-Joris Fabri und Jürgen Voos.

 

 

 

Erstes Buch

 

I. Kapitel. Was der Erzieher verspricht.

 

1.

 1. Gelegt ist, ihr Kinder, der Grund der Wahrheit für uns selbst, das unerschütterliche Fundament der Erkenntnis des heiligen Tempels des großen Gottes, eine herrliche Ermahnung, ein Streben nach ewigem Leben durch vernunftgemäßen Gehorsam, auf geistigem Boden errichtet. Da sich nun bei dem Menschen diese drei finden, Gesinnungen, Handlungen, Gemütsbewegungen, so hat das ermahnende1 Wort die Gesinnungen des Menschen als sein Arbeitsfeld zugeteilt erhalten, als ein Führer zur Gottesfurcht; wie ein Schiffskiel bildet es die Unterlage für den Bau des Glaubens; in großer Freude über dieses Wort sagen wir uns feierlich von dem alten Wahn los und werden jung für das Heil, indem wir in das Loblied des Propheten einstimmen: „Wie gütig ist Gott gegen Israel, gegen die, welche geraden Herzens sind!“2

2. Die Leitung aller Handlungen aber hat das beratende, und die Gemütsbewegungen heilt das tröstende Wort. Es ist aber dies alles nur ein und dasselbe Wort, das den Menschen aus der ihm von Jugend an vertrauten weltlichen Gewohnheit herausreißt und ihn zu dem einzigartigen Heile des Glaubens an Gott erzieht.

3. Der Führer zum Himmel, das Wort, hieß, solange es zum Heile einlud, ermahnend (in besonderem Sinne ist es das Wort, das wegen eines Teils seiner Tätigkeit überhaupt ermunternd genannt wird; denn ermahnend  ist die ganze Frömmigkeit, insofern sie in dem angeborenen Denkvermögen das Verlangen nach dem jetzigen und dem zukünftigen Leben erzeugt).

4. Jetzt aber ist es beides zugleich, sowohl heilend als beratend, indem auf die eine seiner Wirkungen die andere folgt; deshalb gibt es dem, der die Ermahnungen gehört hat, guten Rat und, was die Hauptsache ist, es verspricht die Heilung der in uns vorhandenen Leidenschaften. Wir wollen es aber mit einem einzigen, ihm angemessenen Namen „Erzieher“ nennen, da es ihm ja darauf ankommt, zum Handeln hinzuführen, nicht grundsätzliche Erwägungen anzustellen, wie es ja auch sein Ziel ist, die Seele besser, nicht sie klüger zu machen und zu einem sittsamen, nicht zu einem gelehrten Leben den Weg zu weisen.

  

2.

1. Freilich hat das gleiche Wort auch die Aufgabe zu lehren, aber nicht jetzt; denn das belehrende Wort hat die Aufgabe, bei der Behandlung der Glaubenssätze zu erklären und zu offenbaren; der Erzieher dagegen, der auf das Handeln gerichtet ist, trieb zuerst zur Bildung eines sittlichen Charakters an; jetzt aber mahnt er auch zur Erfüllung unserer Pflichten, indem er uns die lautersten sittlichen Weisungen gibt und das Beispiel derer, die früher in die Irre gingen, den Späteren vor Augen führt.

2. Beides ist vom größten Nutzen, das eine, nämlich die Art, gute Ermahnungen zu geben, mit Rücksicht auf den Gehorsam; das andere, daß man etwas als Beispiel anführt, hat auch seinerseits, ähnlich wie das soeben genannte Paar, einen doppelten Zweck: erstens daß wir das Gute annehmen und nachahmen und zweitens daß wir das andere von uns weisen und ihm aus dem Wege gehen. 3

  

3.

1. Heilung der Leidenschaften ist die Folge davon, daß der Erzieher durch die ermutigenden Beispiele die Seelen kräftigt und mit liebevollen Ratschlägen wie mit  „lindernden Heilmitteln“ 4 die Kranken zu einem anderen Leben, zu der völligen Erkenntnis der Wahrheit, führt. Gesundheit und Erkenntnis sind aber nicht gleichbedeutend, vielmehr entsteht die eine durch Unterweisung, die andere durch Heilung.

2. Ein Kranker kann also nicht früher etwas von den Lehrstoffen gründlich erlernen, bevor er nicht völlig genesen ist. Es wird auch nicht immer jede Lehre in der gleichen Weise den Lernenden und den Kranken vorgetragen, sondern bei den einen zum Zweck der Erkenntnis, bei den andern zum Zweck der Heilung.

3. Wie also die körperlich Kranken einen Arzt brauchen, so haben die seelisch Leidenden einen Erzieher nötig, damit er unsere Leidenschaften heile und uns dann in die Schule des Lehrers führe, indem er die Seele reinigt und für die Erkenntnis empfänglich macht, so daß sie die Offenbarung des Logos in sich aufnehmen kann. Da er aber bestrebt ist, uns in heilsamem, stufenweisem Fortschreiten zur Vollkommenheit zu führen, verwendet der in jeder Hinsicht liebreiche Logos die vortreffliche und für eine wirksame Ausbildung zweckmäßige Erziehungsweise, indem er zuerst ermahnt, dann erzieht und zuletzt lehrt.

 

 

II. Kapitel. Daß der Erzieher unserer Sünden wegen die Leitung hat.

 

4.

1. Unser Erzieher, meine Kinder, gleicht Gott, seinem Vater, dessen Sohn er ist; er ist sündlos, ohne Tadel und ohne Leidenschaften der Seele, ein unbefleckter Gott in der Gestalt eines Menschen, dem väterlichen Willen dienstbar, der Logos Gott, der in dem Vater ist,5 der zur Rechten des Vaters ist,6 der Gott ist auch in Menschengestalt.

2. Er ist für uns das fleckenlose Vorbild;  ihm unsere Seele ähnlich zu machen, müssen wir mit aller Kraft versuchen.7 Aber er ist von menschlichen Leidenschaften völlig unberührt; deshalb ist er ja auch allein Richter, weil er allein sündlos ist. Wir aber wollen, soweit es in unserer Macht steht, versuchen, so wenig wie möglich zu sündigen.8 Nichts ist so dringend nötig wie, daß wir uns zuerst von den Leidenschaften und Krankheiten der Seele befreien und sodann es vermeiden, leichtfertig in die Gewohnheit der Sünden zu verfallen.

3.9 Das beste ist, überhaupt nicht zu sündigen, in gar keiner Weise, was, wie wir wissen, Gottes Sache ist; das zweite ist, sich nie mit irgendeiner absichtlichen Übeltat zu befassen, was Eigenart des Weisen ist; das dritte ist, nicht in gar zu viele unfreiwillige Verfehlungen zu geraten, was denen zu eigen ist, die gut erzogen wurden; an letzter Stelle soll genannt sein, daß man nicht allzu lange bei seinen Fehlern verharrt; aber auch dieses bedeutet für die zur Buße Gerufenen eine heilbringende Wiederaufnahme des Kampfes.

  

5.

1. Und vortrefflich scheint mir der Erzieher durch Moses zu sagen: „Wenn jemand in seiner Gegenwart plötzlich stirbt, so wird sofort das Haupt seiner Weihe (sein geweihtes Haupt) befleckt werden, und es soll geschoren werden.“ 10 Den unfreiwilligen Fehler nennt er hier einen plötzlichen Tod und sagt von ihm, daß er beflecke, weil er die Seele verunreinigt; deshalb gibt er auch schnellstens die Behandlung an, indem er rät, sofort das Haupt scheren zu lassen und damit anempfiehlt, die den Verstand beschattenden Haare der Unwissenheit  abschneiden zu lassen, so daß der Verstand (dieser thront nämlich im Gehirn), befreit von dem dichten Wald der Schlechtigkeit, wieder der Buße zueilen kann.

2. Nachdem er dann einiges hinzugefügt hat, fährt er fort: „Aber die früheren Tage sind unvernünftig (oder: werden nicht angerechnet)“,11 womit offenbar auf die Sünden hingewiesen wird, die wider die Vernunft (oder: unabsichtlich) geschehen sind. Und das Unabsichtliche nannte er plötzlich, das Sündigen aber unvernünftig. Deshalb hat der Logos, der Erzieher, die Leitung übernommen, um die unvernünftige Sünde zu verhindern.

3. Überlege von hier weiter auf Grund der Schrift: „Deshalb sagt der Herr folgendes“; 12 auf die zuvor vorhandene Sünde wird tadelnd durch das folgende Wort hingewiesen, dementsprechend daß das gerechte Gericht folgt; und dies wird auch ganz klar durch die Propheten, wenn sie sagen: „Hättest du nicht gesündigt, so hätte er dies nicht gedroht“,13 und „Deswegen spricht der Herr also“, 14 und „Deswegen weil ihr auf diese Rede nicht hörtet, deswegen sagt der Herr folgendes“, 15 und „Deswegen, siehe, spricht der Herr“. 16 Denn deswegen ist die Weissagung gegeben, wegen des Gehorsams und wegen des Ungehorsams, damit wir wegen des einen gerettet, wegen des andern gestraft werden.

  

6.

1. Unser Erzieher ist also das Wort, das durch Ermahnungen die widernatürlichen Leidenschaften der Seele heilt. Denn im eigentlichen Sinn heißt Heilkunst die Hilfeleistung bei den Krankheiten des Körpers, eine durch menschliche Weisheit lehrbare Kunst.17 Aber das Wort des Vaters ist allein heilender Arzt menschlicher Schwachheit und heiliger Beschwörer für die Krankheiten der Seele. „Rette, mein Gott,“ so steht geschrieben, „deinen Knecht, der auf dich hofft; erbarme dich meiner,  Herr, denn zu dir werde ich den ganzen Tag rufen!“ 18

2. „Denn die Heilkunst“, sagt Demokritos, „heilt die Krankheiten des Körpers, die Weisheit aber befreit die Seele von den Leidenschaften.“ 19 Aber der gute Erzieher, die Weisheit, das Wort des Vaters, er, der den Menschen erschuf, sorgt für das ganze Geschöpf, und seinen Leib und seine Seele heilt der allheilende Arzt der Menschheit.

3. „Stehe auf“, sagt der Heiland zu dem Gichtbrüchigen, „nimm das Bett, auf dem du liegst, und gehe nach Hause!“ 20 Und sofort wurde der Kranke gesund. Und zu dem Gestorbenen sagte er: „Lazarus, komm heraus!“ Und der Tote kam aus dem Grabe heraus, 21 so wie er war, bevor er krank wurde, da er sich (während des früheren Lebens) innerlich auf die Auferstehung vorbereitet hatte.

4. Aber auch die Seele für sich allein heilt er durch Gebote und Gnadengaben; doch hält er mit den Anweisungen vielleicht noch etwas zurück, an Gnadengaben aber reich sagt er zu uns Sündern: „Vergeben sind dir die Sünden.“ 22

5. Wir aber sind gleichzeitig mit dem Gedanken daran unschuldige Kinder geworden, indem wir die beste und sicherste Stelle von seiner alles herrlich ordnenden Macht zugewiesen erhalten, die es zuerst mit dem Weltall und dem Himmel und den Umdrehungen und Kreisen der Sonne und den Bewegungen der übrigen Gestirne wegen des Menschen zu tun hat, dann aber mit dem Menschen selbst, dem die ganze Mühe gilt.

6. Und da sie ihn für ihr erhabenstes Werk hält, hat sie seine Seele mit Weisheit und Besonnenheit für den richtigen Weg ausgerüstet, seinen Körper aber mit Schönheit und Ebenmaß gebildet; was aber die Taten des Menschengeschlechtes betrifft, so hat sie ihnen sowohl das, was an ihnen selbst gut und glücklich ist, als auch ihre eigene schöne Ordnung eingeflößt.

 

 

 

III. Kapitel. Daß der Erzieher die Menschen liebt.

 

7.

 1. In allem nützt der Herr und in allem hilft er sowohl als Mensch wie auch als Gott: unsere Sünden vergibt er uns als Gott; nicht zu sündigen, lehrt er uns nach und nach als Mensch. Und begreiflicher Weise ist der Mensch Gott lieb, da er ja sein Geschöpf ist. Und alles andere hat Gott durch sein bloßes Machtwort geschaffen, den Menschen aber hat er mit seiner eigenen Hand gebildet 23 und ihm auch ein Stück seines eigenen Wesens eingehaucht. 24

2. Das Wesen also, das von ihm und nach seinem Bilde geformt worden ist, ist entweder von Gott selbst geschaffen worden, weil es seiner selbst wegen für Gott wünschenswert war, oder es ist von ihm gebildet worden, weil es eines anderen wegen wünschenswert war.

3. Wenn nun der Mensch seiner selbst wegen wünschenswert war, so hat Gott, da er gut ist, etwas Gutes liebgewonnen; und das Mittel, Liebe zu erwecken (der Liebeszauber), ist innen im Menschen, eben das, was wir den Hauch Gottes nennen. Wenn aber der Mensch des anderen wegen wünschenswert gewesen ist, so hatte Gott keine andere Veranlassung, ihn zu schaffen, als die, daß es ohne ihn nicht möglich gewesen wäre, daß einerseits Gott ein guter Schöpfer wurde und andererseits der Mensch zur Erkenntnis Gottes gelangte; denn sonst, wenn der Mensch nicht gewesen wäre, hätte Gott das nicht geschaffen, dessentwegen der Mensch geworden ist: und Gott ergänzte die Kraft, die er in sich verborgen hatte, das Wollen, durch die äußere Macht des Schaffens, indem er vom Menschen nahm, was die Erschaffung des Menschen veranlaßte; und was er hatte, sah er, und was er wollte, geschah; es gibt aber nichts, was Gott nicht vermag.

  

8.

 1.25 Der Mensch, den Gott geschaffen hat, ist also seiner selbst wegen wünschenswert; das seiner selbst wegen Wünschenswerte ist aber mit dem verwandt, dem es seiner selbst wegen wünschenswert ist; für dieses ist es aber auch angenehm und liebenswert. Ist es aber möglich, daß etwas für jemand liebenswert ist, aber trotzdem von ihm nicht geliebt wird? Als liebenswert aber ist der Mensch erwiesen, geliebt wird also der Mensch von Gott.

2. Denn wie sollte der nicht geliebt werden, dessentwegen der eingeborene Logos des Glaubens aus dem Schoße des Vaters herabgesandt wird? 26 Beweis ist zum Überfluß der Herr selbst, der ausdrücklich bekennt und sagt: „Denn der Vater selbst liebt euch, weil ihr mich geliebt habt;“ 27 und wieder sagt der nämliche: „Und du liebtest sie, wie du mich liebtest“. 28

3. Was also der Erzieher will und was er verheißt, wenn er in Tat und Wort darauf bedacht ist, das zu gebieten, was man tun muß, und das Entgegengesetzte zu verbieten, 29 ist wohl bereits klar. Es ist aber auch offenbar, daß die andere Gattung der Reden, die belehrende, der Sprache nach schlicht und dem Inhalt nach geistlich ist, daß sie auf Genauigkeit bedacht sein muß und für die tiefer Eingeweihten bestimmt ist; doch dies soll auf später verschoben sein.

  

9.

1. Es geziemt sich aber für uns, den wiederzulieben, der uns in liebevoller Weise Führer zum besten Leben ist, und nach den Anordnungen seines Lebensplanes zu leben, indem wir nicht nur das Gebotene vollbringen und uns vor dem Verbotenen hüten, sondern uns auch von den Beispielen der einen Art abschrecken lassen, die anderen dagegen soviel wie möglich nachahmen 30 und so die Werke des Erziehers durch Ähnlichwerden vollenden,  damit das Wort „nach Bild und nach Ähnlichkeit“ 31 wirklich erfüllt werde.

2. Denn da wir im Leben wie in tiefer Finsternis umherirren, haben wir einen nicht strauchelnden und zuverlässigen Führer nötig. Der beste Führer ist aber nicht der Blinde, der, wie die Schrift sagt, Blinde in den Abgrund führt, 32 sondern der scharf sehende 33 und die Herzen durchschauende Logos. 34

3. Wie es nun kein Licht gibt, das nicht leuchtet, und nichts Bewegendes, das nicht bewegt, und nichts Liebendes, das nicht liebt, so gibt es auch nichts Gutes, das nicht heilsam ist und den Weg zur Rettung weist.

4. Wir wollen also die Gebote des Herrn durch Taten lieben; denn auch der Logos selbst hat dadurch, daß er Fleisch wurde, 35 deutlich gezeigt, daß die Tugend auf das Handeln ebensosehr wie auf das Erkennen gerichtet (praktisch und theoretisch) ist; 36 so wollen wir denn den Logos als Gesetz annehmen und in seinen Geboten und Ermahnungen kurze und zielsichere Wege zum ewigen Leben 37 erkennen; denn seine Befehle sind voll Überzeugungskraft, nicht voll Schrecknis.

 

 

 

 

IV. Kapitel. Daß der Logos in gleicher Weise Erzieher von Männern und Frauen ist.

 

10.

1. Indem wir uns also auf diese Weise den guten Gehorsam mehr und mehr zu eigen machen, wollen wir uns dem Herrn hingeben und das unzerreißbare Tau des Glaubens an ihn erfassen in der Erkenntnis, daß die Tugend für Mann und Frau dieselbe ist.

2. Denn wenn beide nur einen Gott haben, so haben beide auch nur  einen Erzieher; eine und dieselbe ist die Kirche, die Sittsamkeit, das Schamgefühl ist eines, die Nahrung ist gemeinsam, die Ehe verbindet beide, Atmen, Sehen, Hören, Erkennen, Hoffen, Gehorchen, Lieben, alles ist gleich. Bei welchen aber das Leben gemeinsam ist, die Gnade gemeinsam und auch das Heil gemeinsam ist, bei denen ist auch die Tugend und die Lebensführung gemeinsam.

3. „Denn in diesem Weltalter“, so heißt es, „heiraten sie und lassen sie sich heiraten“, in dem doch allein das Weib von dem Mann unterschieden wird, „in jenem aber nicht mehr“, 38 wo die Siegespreise für dieses aus der Ehe hervorgehende, gemeinsame und heilige Leben nicht für Mann und Weib, sondern für den Menschen aufbewahrt sind, der dann von der Begierde befreit ist, die ihn (in zwei Geschlechter) trennte.

  

11.

1. Männer und Frauen haben nun auch einen gemeinsamen Namen, der Mensch. In der gleichen Weise scheinen mir die Attiker39 das Wort παιδάριον gemeinsam für beide Geschlechter, zur Bezeichnung nicht nur von Knaben, sondern auch von Mädchen gebraucht zu haben, wenn man dem Lustspieldichter Menandros glauben will, der in seiner Rhapizomene („die Geschlagene“) ungefähr so sagt;

„Mein kleines Töchterlein, … denn es ist gewiß Das Kindchen (παιδάριον) freundlich von Natur in hohem Maß.“ 40

2. So ist das Wort ἄρνες (Schafe) ebenfalls eine gemeinsame Bezeichnung der Einfalt für das männliche und das weibliche Tier. Aber der Herr selbst ist „unser Hirte“ 41 in Ewigkeit, Amen. „Ohne einen Hirten sollen aber weder Schafe noch irgendein anderes Herdentier je leben, und ebensowenig sollen Knaben ohne den Erzieher oder auch Sklaven ohne den Herrn sein.“ 42

 

 

 

V. Kapitel. Daß alle die sich mit der Wahrheit beschäftigen, bei Gott Kinder sind.

 

12.

 1. Daß die Pädagogik ein Führen von Kindern ist, das ist aus dem Wort klar; es bleibt noch übrig, genau zu betrachten, was die Schrift mit dem Wort „Kinder“ meint, und dann ihre Leitung dem Erzieher zu übergeben. Die „Kinder“ sind wir; auf vielerlei Art aber spricht die Schrift von uns, und auf mancherlei Weise benennt sie uns sinnbildlich (allegorisch), indem sie abwechselnd mit verschiedenen Worten die Einfalt des Glaubens bezeichnet.

2. So heißt es in dem Evangelium: „Der Herr stand am Ufer und sagte zu seinen Jüngern, die gerade fischten: Kinder, habt ihr nichts zu essen?“, 43 wobei er die als Kinder anredete, die bereits im Stande von Jüngern waren.

3. „Und sie brachten Kinder zu ihm“, heißt es, damit er ihnen die Hände auflege und sie segne; und als die Jünger es hindern wollten, sagte Jesus: „Lasset die Kinder und hindert sie nicht, zu mir zu kommen, denn solcher ist das Himmelreich.“ 44

4. Was aber das Gesagte bedeutet, wird uns der Herr selbst erklären, wenn er sagt: „So ihr nicht umkehrt und wie diese Kinder werdet, werdet ihr nimmermehr in das Himmelreich eingehen“, 45 wobei er in diesem Falle nicht sinnbildlich von der Wiedergeburt sprach, sondern uns die bei Kindern zu findende Einfalt zur Nachahmung vor Augen stellte.

5. Auch der Geist der Weissagung meint mit den Kindern uns: „Die Kinder nahmen“, heißt es, „Zweige des Ölbaums oder der Palmen und gingen hinaus dem Herrn entgegen und riefen laut: Hosanna dem Sohne Davids; gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ 46 Licht und Herrlichkeit und Preis mit demütigem Flehen dem Herrn;  denn dies bedeutet, in die griechische Sprache übersetzt, das Hosanna.

  

13.

1. Und die Schrift scheint mir mit diesem soeben erwähnten weissagenden Wort die Leichtfertigen andeutungsweise zu tadeln und ihnen einen Vorwurf zu machen: „Habt ihr nie gelesen: aus dem Munde der kleinen Kinder und Säuglinge hast du dir Lob bereitet?“ 47

2. So spornt auch der Herr im Evangelium seine Jünger an, wenn er sie antreibt, auf ihn zu merken, da er bald zu dem Vater gehe, und die Hörer dadurch begieriger machen will, daß er ihnen vorher verkündigt, er werde binnen kurzem nicht mehr da sein, und wenn er sie darauf hinweist, daß sie mit um so größerem Eifer Früchte von der Wahrheit zu ernten bestrebt sein müßten, als der Logos gar bald zum Himmel aufbrechen werde.

3. Er nennt sie also wieder Kinder; er sagt nämlich: „Kinder, nur noch kurze Zeit bin ich mit euch.“ 48 Und wiederum vergleicht er das Himmelreich 49 mit Kindern, „die auf dem Markt sitzen und sagen: Wir haben euch die Flöte geblasen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben einen Klagegesang angestimmt, und ihr habt nicht getrauert“, 50 und was er sonst diesem entsprechend hinzufügte.

4. Und nicht nur das Evangelium denkt so, sondern auch die Weissagung hat die gleiche Anschauung mit ihm. Wenigstens sagt sie durch David: „Lobt, Kinder, den Herrn, lobt den Namen des Herrn!“ 51 Sie sagt aber auch durch Jesaias: „Siehe, ich und die Kinder, die mir Gott gegeben hat.“ 52

  

14.

1. Wunderst du dich, daß die, die bei den Heiden Männer genannt werden, beim Herrn Kinder heißen? 53 Du scheinst mir den attischen Sprachgebrauch nicht zu  verstehen, aus dem man lernen kann, daß die schönen und blühenden und dazu auch freien jungen Mädchen παιδίσκαι genannt wurden, die Sklavinnen, die auch junge Mädchen waren, dagegen παιδισκάρια, indem sie wegen der Blüte des kindlichen Alters mit dem schmeichelnden Verkleinerungswort genannt wurden. 54

2. Und wenn er sagt: „Die Lämmer sollen sich zu meiner Rechten stellen,“ 55 so meint er damit die Schuldlosen, da sie ihrer Art nach jung wie die Lämmer, nicht erwachsen wie die Schafe sind; und die Lämmer würdigte er des Vorzugs, weil er bei den Menschen die Zartheit und Einfalt der Gesinnung, die Unschuld, vorzieht. Und wiederum, wenn er sagt: „wie säugende Kälber“, 56 so meint er mit dieser sinnbildlichen Bezeichnung wieder uns und mit „wie eine arglose und sanftmütige Taube“ 57 ebenfalls uns.

3. Ferner befiehlt er durch Moses, zwei junge Tauben oder ein Paar Turteltauben für eine Sünde darzubringen; 58 damit will er sagen, daß das Sündlose der Zarten und das Arglose und Versöhnliche der Jungen Gott wohlgefällig sei, und deutet an, daß ein Wesen durch ein ihm ähnliches Wesen entsühnt werden könne. Aber außerdem ist die Furchtsamkeit der Turteltauben ein Sinnbild für die Scheu vor den Sünden.

4. Daß er aber uns mit den Jungen meint, dafür ist ein Zeuge das Schriftwort: „Wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel versammelt“, 59 so sind wir Junge des Herrn, indem der Logos bewunderungswürdig und tiefsinnig die Einfalt der Seele nach dem Bild des jugendlichen Alters schildert.

5. Denn bald nennt er uns Kinder, bald Junge, manchmal auch Unmündige, und an einer anderen Stelle Söhne und oft Erzeugte und junges Volk und neues Volk. „Meinen Dienern“, so steht geschrieben, „wird ein neuer  Name gegeben werden“ (mit dem neuen Namen meint er das Ungebrauchte und Ewige, das Reine und Einfältige und Unmündige und Wahre), „der auf der Erde wird gepriesen werden.“ 60

  

15.

1. Wiederum nennt er uns sinnbildlich Füllen, 61 als die, die noch nicht ins Joch der Schlechtigkeit gespannt, noch nicht von der Bosheit gebändigt sind, sondern noch ihre unverdorbene Einfalt besitzen und nur zu dem Vater selbst hinspringen wollen, nicht wie die ins Joch gespannten und „von rasender Brunst erfaßten“ Pferde, „die nach den Weibern der Nächsten wiehern“, 62 die vielmehr frei und neugeboren, die freudig stolz wegen des Glaubens sind, die gern zur Wahrheit laufen und schnell zur Erlösung eilen, die die weltlichen Dinge unter ihre Hufe treten und zerstampfen.

2. „Freue dich sehr, Tochter Zion; jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und hilfreich, und er ist sanft und reitet auf einem Lasttier und auf einem jungen Füllen.“ 63 Es genügte ihm nicht nur Füllen zu sagen, sondern er fügte noch das „jung“ hinzu, da er auf das Jungvolk der Menschheit in Christus und auf das in Einfalt ewig junge, unendliche Leben hinweisen wollte.

3. Als solche jungen Füllen zieht uns Unmündige unser göttlicher Füllenbändiger auf. Und mag auch das Junge in der Schrift ein Esel sein, so ist doch auch dies ein Füllen von einem Esel. „Und das Füllen“, heißt es, „band er an einen Weinstock“, 64 indem er dieses einfältige und unmündige Volk an den Logos band, den er sinnbildlich Weinstock nennt. Denn Wein bringt der Weinstock hervor wie Blut der Logos; beide aber sind den Menschen ein Trank zum Heil, der Wein für den Körper, das Blut für den Geist. Dafür aber, daß er uns auch Lämmer nennt, ist ein zuverlässiger Zeuge der Geist durch Jesaias: „Wie ein Hirte wird er seine Herde weiden und mit seinem Arme die Lämmer sammeln,“ 65 indem er mit dem  sinnbildlichen Ausdruck Lämmer das bezeichnet, was hinsichtlich der unverdorbenen Einfalt noch zarter als die Schafe ist.

  

16.

1. So haben auch wir die herrlichsten und vollkommensten Lebensgüter mit einer vom Wort παῖς (Kind) abgeleiteten Bezeichnung geehrt und sie παιδεὶα (Bildung) und παιδαγωγία (Erziehung) genannt. Und hinsichtlich der Erziehung sind wir darin einig, daß sie eine gute Führung zur Tugend von Kindheit an ist. Da uns nun der Herr die Bedeutung der Bezeichnung Kind noch deutlicher offenbaren wollte, „stellte Jesus, als unter den Aposteln die Streitfrage entstand, wer von ihnen größer sei, ein Kind in ihre Mitte und sprach: wer sich demütig macht wie dieses Kind, der ist größer im Himmelreich“. 66

2. Er verwendet also die Bezeichnung Kinder nicht, weil dies das Lebensalter der Unvernünftigen ist, wie einige meinten; und auch, wenn er sagt: „Wenn ihr nicht wie diese Kinder werdet, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen,“ 67 darf man dies nicht töricht auffassen.

3. Denn wir rollen doch nicht mehr als unvernünftige Kinder auf dem Boden herum und kriechen nicht mehr auf der Erde nach der Weise von Schlangen, indem wir uns mit dem ganzen Körper im Schmutz nach den unvernünftigen Begierden herumwälzen, sondern strecken uns mit unserem Sinnen nach oben, haben der Welt und den Sünden entsagt, „berühren nur noch mit leichtem Fuße die Erde“, 68 so daß wir auf der Welt nur zu sein scheinen, und jagen der heiligen Weisheit nach; als Torheit aber erscheint diese denen, deren Scharfsinn allein auf Bosheit gerichtet ist. 69

  

17.

1. Kinder sind also in Wahrheit die, welche Gott allein als Vater kennen, die einfältig und kindlich und unschuldig sind, die das Einhorn 70 liebhaben. Den in der  Lehre Fortgeschrittenen also gab er jene Mahnung, womit er sie aufforderte, nicht auf die Dinge auf dieser Erde zu achten, und sie ermahnte, wie Kinder nachahmend nur auf den Vater zu merken.

2. Deshalb sagt er auch in den darauf folgenden Worten: „Sorgt nicht um den morgigen Tag; jeder Tag hat an seiner eigenen Plage genug.“ 71 So mahnt er, die Lebenssorgen aufzugeben und sich nur fest an den Vater zu halten.

3. Und wer dieses Gebot erfüllt, der ist in der Tat unmündig und ein Kind für Gott und die Welt, für die Welt als vom rechten Wege abgeirrt, für Gott als von ihm geliebt. Wenn aber zugestandenermaßen „ein einziger Lehrer im Himmel“ ist, wie die Schrift sagt, dann werden alle auf Erden mit Recht Schüler heißen. 72 Denn die Wahrheit verhält sich so, daß das Vollkommene und Erwachsene 73 bei dem immer lehrenden Herrn, das Kindliche und Unmündige bei uns, den immer Lernenden, ist.

  

18.

1. So hat auch die Weissagung das Vollkommene mit der Bezeichnung Mann geehrt und sagt durch David in bezug auf den Teufel: „Den Mann des Blutes verabscheut der Herr“ 74 und nennt ihn Mann als vollkommen in der Bosheit; es wird aber auch der Herr Mann genannt, weil er in der Gerechtigkeit vollkommen ist.

2. So sagt z. B. der Apostel in einem Brief an die Korinthier: „Ich habe euch mit einem Manne verlobt, um euch als eine reine Jungfrau Christus vor die Augen zu stellen“75 oder auch als Unmündige und Heilige, in jedem Fall aber niemand anders als dem Herrn.

3. Aufs deutlichste aber hat er das, was wir untersuchen, in dem Schreiben an die Ephesier mit etwa folgenden Worten geoffenbart: „Bis wir alle zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis Gottes gelangen, zum volljährigen Mann, zum Maß des Alters der Fülle Christi, damit wir nicht mehr  unmündig seien, wie von Wogen hin und her geworfen und umhergetrieben von jedem beliebigen Wind der Lehre im falschen Würfelspiel der Menschen, in der Tücke zu der Arglist des Irrwahns, vielmehr die Wahrheit in Liebe reden und in allen Stücken auf ihn hin wachsen.“ 76

4. Dies sagt er „zur Erbauung des Leibes Christi,“ 77 der „das Haupt“ 78 ist und der Mann, der allein in der Gerechtigkeit vollkommen ist. Wenn wir Unmündigen uns aber vor den uns auf den Irrweg der Aufgeblasenheit treibenden Winden der Irrlehren 79 hüten und denen kein Vertrauen schenken, die uns durch ihre Satzungen andere Väter verordnen wollen, gelangen wir dann zur Vollkommenheit, wenn wir eine Kirche sind dadurch, daß wir das Haupt, den Christus, 80 angenommen haben,

  

19.

1. Hier ist es am Platze, unser Augenmerk auf das Wort νήπιος81 zu richten; denn dies Wort wird nicht im Sinn von unverständig verwendet; denn dies heißt νηπύτιος, νήπιος aber ist der νεήπιος, von ἤπιος zartsinnig, da er gleichsam erst vor kurzem in seinem Wesen sanftmütig und milde geworden ist.

2. Dies gab ganz deutlich der selige Paulus zu verstehen, wenn er sagte: „Obwohl wir als Apostel Christi gewichtig hätten auftreten können, zeigten wir uns doch in eurer Mitte sanft, wie eine Amme ihre Kinder pflegt.“82

3. Der Unmündige ist also sanft und deshalb auch mehr zart, 83 mild und einfältig und arglos und ohne Heuchelei, geraden Sinnes und aufrecht; so ist aber das Wesen der Aufrichtigkeit und Wahrheit. „Denn auf wen“, so heißt es, „werde ich hinschauen als auf den Sanftmütigen und Friedliebenden?“ 84 Denn so ist der jungfräuliche Logos, sanft und schlicht;  deshalb ist es auch üblich, daß die Jungfrau ein zartes Mädchen und der Knabe „zartsinnig“ 85 heißt.

4. Und zart sind wir, die wir für die Überredung empfänglich und leicht für die Güte zu gewinnen sind und keinen Groll hegen und von Bosheit und Verkehrtheit nichts wissen; denn das alte Geschlecht ist verkehrt und verstockten Sinnes; 86 die Schar der Unmündigen aber, wir, das neue Volk, ist weich wie ein Kind.

5. Und über „die Herzen der Arglosen“ 87 freut sich der Apostel, wie er in dem Brief an die Römer zugesteht; und er gibt sozusagen eine Art Begriffsbestimmung von den Unmündigen, wenn er sagt: „Ich will, daß ihr weise zum Guten und einfältig zum Bösen seid.“ 88

  

20.

1. Auch wird das Wort νήπιος nicht so von uns verstanden, daß es die Verneinung von etwas bedeutete, weil die Kinder der Grammatiker die Vorsilbe νη als verneinend bezeichnen. Denn wenn uns die Verlästerer der Unmündigkeit unverständig nennen, so schaut, wie sie den Herrn schmähen dadurch, daß sie die zu Gott Geflüchteten für unvernünftig halten!

2. Wenn aber auch sie das Wort νήπιος im Sinn von einfältig verstehen – und das ist die richtigere Auffassung –, so sind wir mit dieser Bezeichnung zufrieden; denn νήπιοι sind die neuen Sinne, die inmitten des alten Unverstandes jüngst verständig geworden sind, die erst zur Zeit des neuen Bundes hervorkamen. Denn erst vor kurzem ist Gott erkannt worden zur Zeit der Erscheinung Christi. „Denn niemand erkennt Gott als der Sohn und wem es der Sohn offenbart.“ 89

3. Aus Jungen also besteht das neue Volk im Unterschied zum alten Volke, aus solchen, die die neuen Güter kennen gelernt haben. Und wir besitzen den Lebensabschnitt, dem strotzende Fülle zu eigen ist, diese nicht alternde Jugendzeit, in der wir immer  jugendkräftig für die Erkenntnis sind, immer jung und immer zart und immer neu; denn neu müssen die sein, die an der neuen Lehre Anteil bekommen haben.

4. Was aber an der Ewigkeit Anteil bekommen hat, pflegt dem Unvergänglichen ähnlich zu werden, so daß für uns die Benennung mit dem Kindesalter den Frühling des ganzen Lebens 90 bedeutet, weil die Wahrheit in uns ewig jung und unser ganzes Wesen von der Wahrheit durchflutet ist.

  

21.

1. Und die Weisheit ist immerblühend; sie bleibt immer sich selbst gleich und verändert sich niemals. „Ihre Kinder“, so heißt es, „sollen auf den Schultern getragen und auf den Knien getröstet werden; wie wenn einen seine Mutter tröstet, so will auch ich euch trösten.“ 91 Die Mutter zieht die Kinder freundlich zu sich heran; und wir suchen die Mutter, die Kirche.

2. Alles Schwache und Zarte ist nun, weil es wegen seiner Schwachheit Hilfe nötig hat, gern gesehen und angenehm und erwünscht, wobei Gott einem solchen seine Hilfe nicht versagt. Denn wie die (irdischen) Väter und Mütter besonders gern ihre Sprößlinge sehen, die Pferde die Füllen, die Rinder die kleinen Kälber und der Löwe sein Junges und der Hirsch das Hirschkalb und der Mensch sein Kind, 92 so nimmt auch der Vater aller Geschöpfe die zu ihm Geflüchteten gern bei sich auf; und nachdem er sie durch den Geist zur Kindschaft wiedergeboren hat, weiß er, daß sie sanft sind, und diese allein liebt er und hilft ihnen und streitet für sie, und deswegen gibt er ihnen den Namen Kind.

3.93 Ich rechne auch den Isaak zu den Kindern; mit Lachen wird Isaak übersetzt. Diesen sah spielen mit Rebekka, seinem Weibe und  seiner Gehilfin, 94 der sich um alles kümmernde König. Der König (Abimelech war sein Name) scheint mir eine überirdische Weisheit zu sein, die das Geheimnis des kindlichen Spiels erforscht. Rebekka aber übersetzt man mit Geduld.

4. O wie verständig ist das Spiel! Das Lachen hat zur Gehilfin die Geduld, und Zuschauer ist der König. Es frohlockt der Geist der Kinder in Christus, wenn sie in Geduld ihr Leben führen, und dies ist das göttliche Spiel.

  

22.

1. Ein Spiel dieser Art läßt Herakleitos seinen Zeus spielen. 95 Denn welche andere Betätigung ist für den Weisen und Vollkommenen geziemend als zu spielen und sich mit der Geduld der Guten und der Verwaltung der Guten zu freuen und zusammen mit Gott Feste zu feiern?

2. Es ist aber möglich, das durch die Weissagung Angedeutete auch anders aufzufassen, indem wir uns über unser Heil freuen und darüber fröhlich sind wie Isaak. Es lachte jener aber, weil er vom Tod errettet war, und scherzte und freute sich mit der Braut, die bei unserem Heil Gehilfin ist, der Kirche; ihr ist ein dauerhafter Name gegeben, Geduld, entweder weil sie allein, immer sich freuend, in Ewigkeit bleibt oder weil sie aus der Geduld der Gläubigen 96 besteht, die wir Glieder Christi 97 sind; und das Zeugnis derer, die bis zum Ende beharren, 98 und die dankbare Freude über sie, das ist das geheimnisvolle Spiel und das Heil, das zusammen mit der heiligen Herzensfreude uns zu Hilfe kommt.

3. Der König Christus beobachtet aus der Höhe unser Lachen und betrachtet, „durch das Fenster schauend“, 99 wie die Schrift sagt, die Danksagung und den Lobpreis und den Jubel und die Freude, dazu auch die mitwirkende Geduld und die Vereinigung von alledem, seine eigene Kirche, indem er nur sein Angesicht zeigt, das der  Kirche fehlte, die durch das königliche Haupt zur Vollendung kommt. 100

  

23.

1. Und wo war wohl das Fenster, durch das der Herr sich zeigte? Das war das Fleisch, durch das er sichtbar geworden ist. Wiederum ist Isaak (denn man kann es auch anders auffassen) ein Vorbild des Herrn, ein Knabe wie der Sohn (denn er war Sohn Abrahams wie Christus Gottes) und ein Opfer wie der Herr. Aber er ist nicht wirklich geopfert worden wie der Herr, sondern trug nur das Holz für die Opferhandlung, 101 wie der Herr das Kreuz. 102

2. Er lachte aber in geheimnisvoller Weise, womit er weissagte, daß der Herr uns, die wir durch das Blut des Herrn vom Verderben erlöst sind, 103 mit Freude erfüllen werde. Isaak litt aber nicht, indem er nicht nur, wie leicht verständlich, den Vorrang des Leidens dem Logos einräumte, sondern auch dadurch, daß er nicht getötet wurde, auf die Göttlichkeit des Herrn hinwies; denn Jesus erstand nach dem Begräbnis, als hätte er nicht gelitten (oder: ohne die Verwesung erlitten zu haben),104 ebenso wie Isaak vom Opfertod verschont blieb.

  

24.

1. Ich will aber noch einen besonders wichtigen Punkt zur Verteidigung der von mir aufgestellten Behauptung beibringen. Den Herrn selbst nennt der Geist ein Kind, wenn er durch Jesaias folgende Weissagung gibt: „Siehe, ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns gegeben, auf dessen Schultern die Macht ist und dessen Name Engel des großen Rats genannt wurde.“ 105

2. Was ist nun das unmündige Kind, nach dessen Bild wir Unmündigen (geschaffen) sind? Durch den nämlichen Propheten erzählt der Geist dir seine Größe: „Wunderbarer Ratgeber, herrschender Gott, ewiger Vater, Führer zum Frieden dadurch, daß er die Einsicht  mehrt; und seines Friedens ist kein Ende.“ 106

3. O wie groß ist Gott! O wie vollkommen das Kind! Der Sohn im Vater und der Vater im Sohn. 107 Und wie sollte die Unterweisung jenes Kindes nicht vollkommen sein, die sich auf uns Kinder alle erstreckt, da sie seine Unmündigen erzieht? Er streckte gegen uns seine Hände aus, 108 die unser offenbares Vertrauen gefunden haben.

4. Für dieses Kind gibt auch Johannes, „der größte Prophet unter den von Weibern Geborenen“, 109 Zeugnis: „Siehe, das Lamm Gottes!“ 110 Denn da die Schrift die unmündigen Kinder Lämmer nennt, 111 hat sie den göttlichen Logos, der um unsertwillen Mensch wurde, „der in jeder Hinsicht uns gleichen will,“ 112 Lamm Gottes genannt, ihn, den Sohn Gottes, den Unmündigen des Vaters.

 

 

 

 

VI. Kapitel. Gegen die Annahme, daß die Bezeichnung Kinder und Unmündige sich auf den Unterricht in den ersten Wissensgegenständen beziehe.

 

25.

1. Es ist aber noch obendrein möglich, uns gegen die Tadelsüchtigen zum Kampfe zu rüsten. Wir werden nämlich Kinder und Unmündige nicht mit Rücksicht auf den kindischen und verächtlichen Inhalt der Lehre genannt, wie die verleumderisch sagen, die sich zu (der Einbildung von dem Besitz) der Erkenntnis aufgeblasen 113 haben. Jedenfalls haben wir nach unserer Wiedergeburt sofort das Vollkommene erhalten, das wir erstrebten. Denn wir wurden erleuchtet; das bedeutet aber Gott erkennen. Also ist der nicht unvollkommen, der das  Vollkommene erkannt hat. Und greift mich nicht an, weil ich behaupte, Gott erkannt zu haben! Denn so zu sagen gefiel dem Logos; der aber ist frei.

2. So tönte z. B. dem Herrn, als er getauft wurde, eine Stimme vom Himmel als Zeugnis für den Geliebten entgegen: „Du bist mein geliebter Sohn; ich habe dich heute gezeugt.“ 114 Laßt uns nun die weisen Leute fragen: Ist Christus, wenn er heute wiedergeboren wurde, bereits vollkommen oder, was eine ganz unstatthafte Annahme ist, unvollkommen? Wenn aber das letztere, so muß er noch etwas dazulernen. Es ist aber selbstverständlich, daß er auch nicht das Geringste dazulernen muß, da er ja Gott ist. Denn es gibt wohl keinen Logos, 115 der größer als der Logos wäre; und ebensowenig gibt es einen Lehrer dessen, der allein Lehrer ist.

3. Müssen sie also nicht auch gegen ihren Willen zugeben, daß der Logos, der vollkommen aus dem vollkommenen Vater hervorging, gemäß der vorhergehenden, durch den Heilsplan bedingten Bildung in vollkommener Weise wiedergeboren wurde? Und wenn er vollkommen war, warum wurde der Vollkommene getauft? Er mußte, sagt man, die übernommene menschliche Aufgabe erfüllen. Ganz richtig; das ist auch meine Meinung. Wird er also gleichzeitig damit, daß er von Johannes getauft wird, vollkommen? Offenbar. Lernte er also von ihm nichts dazu? Gewiß nicht. Und wird er durch das Bad allein vollkommen gemacht und durch das Herabkommen des Geistes geheiligt? So verhält es sich.

  

26.

1. Dies nämliche geschieht aber auch bei uns, deren Vorbild der Herr geworden ist: durch die Taufe werden wir erleuchtet, durch die Erleuchtung werden wir an Kindes Statt angenommen, durch die Annahme an Kindes Statt werden wir vollendet, durch die Vollendung  werden wir unsterblich gemacht. 116 „Ich habe gesagt“, so steht geschrieben, „Götter seid ihr und Söhne des Höchsten allesamt.“ 117

2. Dieser Vorgang wird aber auf vielerlei Weise benannt: Gnadengabe 118 und Erleuchtung 119 und Vollkommenheit 120 und Bad; 121 Bad, insofern dadurch unsere Sünden abgewaschen werden; Gnadengabe, insofern dadurch die Strafen für die Verfehlungen erlassen werden; Erleuchtung, insofern dadurch jenes heilige Licht der Erlösung geschaut wird, das heißt, insofern wir dadurch die Gottheit klar sehen; Vollkommenheit aber nennen wir das, dem nichts mangelt.

3. Denn was mangelt dem noch, der Gott erkannt hat? Es wäre ja wahrlich auch undenkbar, daß etwas Unvollkommenes Gottes Gnadengabe hieße; da er vollkommen ist, schenkt er doch wohl nur vollkommene Gaben; 122 und wie gleichzeitig mit seinem Befehlen alles geschieht, 123 so folgt seinem bloßen Wollen, eine Gabe zu schenken, sofort, daß die Gabe vollkommen ist. Denn das, was der Zeit nach erst später kommen sollte, wird durch die Macht seines Willens vorausgenommen. Ferner ist auch die Befreiung von Übeln der Anfang des Heils. 124

  

27.

1. Sobald wir also die Grenzen des Lebens auch nur berührt haben, sind wir bereits vollkommen; und wir leben bereits, sobald wir dem Tod entronnen sind. Es ist demnach Rettung, Christus zu folgen. „Denn was in ihm geworden ist, das ist Leben.“ 125 „Wahrlich, wahrlich ich sage euch“, so steht geschrieben, „wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich sandte, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tode in das Leben übergegangen.“ 126

2. So ist bloßes  Glauben und Wiedergeborenwerden Vollendung im Leben; denn Gott mangelt es nie an Kraft. Denn wie sein Wille Tat ist und wie diese Welt heißt, so ist auch sein Wunsch das Heil der Menschen, und dieses heißt Kirche, Er kennt die, welche er berufen hat; welche er aber berufen hat, die hat er gerettet; gleichzeitig hat er berufen und gerettet. „Denn ihr selbst“, sagt der Apostel, „seid von Gott unterwiesen.“ 127

3. Es ist uns also nicht erlaubt, das von ihm Gelehrte für unvollkommen zu halten; seine Lehre aber ist ewiges Heil eines ewigen Heilands, dem der Dank sei in Ewigkeit, Amen. Und sobald nur jemand wiedergeboren ist, ist er, als erleuchtet, wie dies ja auch das Wort besagt, sofort von der Finsternis befreit und hat vom gleichen Augenblick an das Licht empfangen.

  

28.

1. Wie nun die, welche den Schlaf von sich abgeschüttelt haben, sogleich im Innern wach sind; oder richtiger, wie die, welche sich bemühen, von ihren Augen zu entfernen, was diese verdunkelt, sich nicht das Licht, das sie nicht haben, von außen verschaffen, sondern nur das wegnehmen, was ihren Augen im Wege steht, und so ihre Pupille frei machen, 128 so wischen auch wir, die Getauften, die dem göttlichen Geiste verdunkelnd im Wege stehenden Sünden wie einen Nebel von uns weg und haben dann das Auge des Geistes frei und durch nichts gehindert und hellglänzend, mit dem allein wir die Gottheit schauen, wenn vom Himmel her noch der Heilige Geist in uns einströmt.

2. Dadurch entsteht eine Mischung ewigen Glanzes, der das ewige Licht zu schauen vermag; denn gleich und gleich ist miteinander befreundet; 129 und befreundet ist das Heilige mit dem, aus dem das Heilige stammt; und das ist das, was im eigentlichen Sinn Licht heißt. „Denn ihr wart einst  Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn.“ 130 Deshalb, glaube ich, wurde der Mensch von den Alten φώς genannt 131

3. Aber, sagt man, er hat noch nicht die vollkommene Gabe empfangen. Das gebe auch ich zu; jedoch ist er im Licht, und die Finsternis hält ihn nicht mehr fest; 132 und zwischen Licht und Finsternis gibt es nichts in der Mitte. Die Vollendung aber liegt in der Auferstehung der Gläubigen; sie besteht aber nicht darin, daß man an irgend etwas anderem Anteil bekommt, sondern darin, daß man die schon vorher zugesicherte Verheißung empfängt.

4. Denn wir behaupten doch nicht, daß zur nämlichen Zeit beides zugleich stattfinden könne, sowohl die Ankunft am Ziel als die (geistige) Vorausnahme der Ankunft. 133 Denn nicht dasselbe ist Ewigkeit und Zeit und ebensowenig Anfang und Ende; ganz gewiß nicht. Aber beide beziehen sich auf ein Gebiet, und ein und derselbe hat es mit beiden zu tun.

5. Es ist also sozusagen Anfang der in der Zeit geborene Glaube; Ende dagegen ist das für die Ewigkeit verbürgte Erlangen der Verheißung. Der Herr offenbarte aber selbst ganz deutlich die Gleichheit des Heils mit den Worten: „Denn dies ist der Wille meines Vaters, daß jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben habe, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auf erwecken.“ 134

  

29.

1. Unser Glaube ist nun, daß wir vollkommen wurden, soweit es in dieser Welt möglich ist, auf die er mit dem Ausdruck „Jüngster Tag“ hinwies, da sie bis zu dem Tage erhalten bleibt 135 an dem sie aufhören wird. Denn Glaube ist Vollendung der Lehre; deshalb sagt er: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben.“ 136

2. Wenn daher wir, die wir zum Glauben gekommen sind, das  Leben haben, was bleibt über den Besitz des ewigen Lebens hinaus noch übrig? Nichts ermangelt dem Glauben, der aus sich selbst vollkommen und vollendet ist. Wenn ihm aber etwas fehlt, so ist er nicht vollständig und ist überhaupt kein Glaube, wenn er irgendwie hinkt. Und nach dem Abscheiden aus dieser Welt erwartet die Gläubigen nichts anderes, da sie hier unterschiedslos das Unterpfand 137 erhalten haben.

3. Nachdem wir aber jenes durch den Glauben als etwas Zukünftiges bereits im voraus erhalten haben, empfangen wir es nach der Auferstehung in Wirklichkeit, damit jenes Wort erfüllt werde: „Es geschehe nach deinem Glauben!“ 138 Wo aber der Glaube, da ist die Verheißung; Vollendung aber der Verheißung ist die Ruhe (in Gott). Demnach ist die Erkenntnis in der Erleuchtung; das Ende der Erkenntnis aber ist die Ruhe, die als das letzte Ziel erkannt wird.

4. Wie nun durch Erfahrung die Unerfahrenheit beseitigt wird und durch die Hilfe die Not, so muß notwendigerweise durch die Erleuchtung die Finsternis zum Verschwinden gebracht werden; die Finsternis besteht aber in der Unwissenheit, infolge deren wir in Sünden verfallen, weil wir blind für die Wahrheit sind. Die Erkenntnis ist also Erleuchtung, die die Unwissenheit beseitigt und die Sehfähigkeit verleiht.

5. Aber schon die Verwerfung des Schlechteren ist eine Enthüllung des Besseren. Denn was die Unwissenheit zum Unglück gebunden hat, das wird durch die Erkenntnis glücklich gelöst. Solche Bande werden aber gar schnell durch menschlichen Glauben und göttliche Gnade gelöst, wenn die Verfehlungen durch ein einziges wirksames Heilmittel, durch die Taufe des Logos, vergeben sind.

  

30.

1. Von allen Sünden werden wir gereinigt, und sogleich sind wir nicht mehr böse. Das ist eine einzige Gnadengabe der Erleuchtung (der Taufe), daß unser Wesen nicht mehr das nämliche ist wie vor der Taufe.  Weil aber die Erkenntnis gleichzeitig mit der Erleuchtung aufgeht und den Geist umstrahlt, so werden wir Unwissenden sogleich Jünger genannt, indem die Unterweisung uns zu irgendeinem früheren Zeitpunkt zuteil wurde; denn du kannst die Zeit nicht angeben.

2. Denn der Unterricht führt zum Glauben; der Glaube aber wird gleich bei der Taufe durch den Heiligen Geist bewirkt. Denn daß der Glaube das einzige allgemeine Heil der Menschen und daß die Unparteilichkeit und die Gemeinschaft des gerechten und liebevollen Gottes gegenüber allen Menschen die gleiche ist, das legte der Apostel aufs deutlichste mit etwa folgenden Worten dar:

3. „Bevor der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz im Gewahrsam gehalten, eingeschlossen auf den Glauben hin, der offenbart werden sollte. Deshalb ist das Gesetz unser Erzieher auf Christus geworden, damit wir aus dem Glauben gerechtfertigt würden; nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Erzieher.“ 139

  

31.

1. Hört ihr nicht, daß wir nicht mehr unter jenem Gesetz sind, das mit Furcht verbunden war, sondern unter dem Logos, dem Erzieher zur freien Wahl? Dann fügte er jedoch den Satz hinzu, der jede Bevorzugung irgendeines einzelnen ausschließt: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus; denn ihr alle, die ihr in Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Es gibt keinen Juden oder Griechen, es gibt keinen Sklaven oder Freien, es gibt nicht Mann oder Weib; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ 140

2. So sind also nicht die einen Gnostiker, die andern Psychiker 141 in dem Logos selbst, sondern alle, die die  fleischlichen Begierden von sich abgelegt haben 142, sind gleich und Pneumatiker (geistlich) bei dem Herrn. Und anderswo schreibt er wieder: „Denn wir alle sind auch durch einen Geist zu einem Leib getauft, seien wir Juden oder Griechen, seien wir Sklaven oder Freie; und wir alle haben ein und denselben Trank zu trinken bekommen.“143

  

32.

1. Es ist aber nicht unstatthaft, auch die Ausdrücke eben jener Leute zu verwenden, daß die Erinnerung an das Bessere ein Durchseihen 144 des Geistes sei. Unter Durchseihen verstehen sie aber das Ausscheiden des Schlechteren infolge der Erinnerung an das Bessere. Notwendigerweise folgt darauf, daß man sich an das Bessere erinnert hat, die Reue über das Schlechtere; der Geist selbst also, sagen sie, ändere seine Gesinnung und bessere sich. In der gleichen Weise bereuen auch wir unsere Fehltritte, entsagen den mit ihnen verbundenen Schäden, lassen uns bei der Taufe durchseihen und eilen hinauf zu dem ewigen Licht, als die Kinder zu dem Vater.

2. „Frohlockend im Geiste sagt Jesus: Ich preise dich, Vater, Gott des Himmels und der Erde, daß du dies vor den Weisen und Verständigen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast,“ 145 wobei der Erzieher und Lehrer als Unmündige uns bezeichnete, die wir zum Heile geeigneter sind als die in der Welt Weisen, die, obwohl sie sich für weise halten, töricht sind. 146

3. Und indem er gleichsam mit den  Unmündigen stammelt, ruft er mit Frohlocken und großer Freude aus: „Ja, Vater, denn so ist es vor dir wohlgefällig gewesen.“ Deshalb wurde das vor „den Weisen und Verständigen“ der jetzigen Weltzeit Verborgene „den Unmündigen“ geoffenbart. 147

4. Unmündig sind demnach begreiflicherweise die Kinder Gottes, die den alten Menschen von sich abgelegt und das Gewand der Bosheit ausgezogen, dagegen die Unvergänglichkeit Christi angelegt haben, damit wir, neu geworden, ein heiliges Volk, wiedergeboren den Menschen unbefleckt bewahren und unmündig seien wie ein neugeborenes, von Hurerei und Bosheit gereinigtes Kind Gottes. 148

  

33.

1.149 Aufs klarste hat uns der selige Paulus einer Behandlung dieser Frage überhoben, wenn er im ersten Brief an die Korinthier ungefähr so schreibt: „Brüder, werdet nicht Kinder dem Verstande nach, sondern in der Bosheit seid Kinder, dem Verstande nach aber seid erwachsen!“150

2. Das Wort aber „als ich Kind war, dachte ich wie ein Kind und redete wie ein Kind“ 151 weist auf sein Leben unter dem Gesetz hin, währenddessen er nicht bereits einfältig, sondern noch unverständig war und deshalb Kindisches denkend die (christliche) Lehre verfolgte und Kindisches redend sie schmähte; denn zweierlei bedeutet das Wort νήπιος.

3. „Nachdem ich aber“, so heißt es, „ein Mann geworden war“, sagt wieder Paulus, „habe ich das kindische Wesen abgelegt.“ 152 Der Apostel meint nicht eine noch nicht erwachsene Stufe des Lebensalters und überhaupt nicht ein bestimmtes Zeitmaß; aber er deutet auch nicht auf andere Geheimlehren männlicher und erwachsenerer Unterrichtsgegenstände hin, wenn er sagt, daß er das kindische Wesen ablege und es damit über die Grenze schickt; vielmehr nennt er Kinder die unter dem Gesetze, die durch die Furcht,  wie die Kinder durch die Gespenster, 153 erschreckt werden; Männer aber hat er die der Leitung des Logos Folgenden und sich nach freier Wahl Entscheidenden genannt, uns, die wir zum Glauben gekommen sind, indem wir uns nach unserem freiwilligen Entschluß retten und uns durch die Furcht in verständiger, nicht in unverständiger Weise schrecken lassen.

4. Davon wird der Apostel selbst Zeugnis geben, wenn er die Juden Erben nach dem Alten Bund, uns aber Erben nach der Verheißung nennt. „Ich sage aber“, so heißt es, „in der Zeit, so lang der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich gar nicht von einem Knecht, obwohl er der Herr von allem ist, sondern ist unter Vormündern und Hausverwaltern bis zu dem von dem Vater bestimmten Zeitpunkt. So waren auch wir, solange wir unmündig waren, unter die Elementargeister geknechtet; als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe, unterstellt dem Gesetz, damit er die unter dem Gesetze loskaufe, damit wir die Sohnschaft durch ihn empfingen.“ 154

  

34.

1. Sieh, wie er erklärte, daß Kinder die unter der Furcht und unter den Sünden seien, dagegen die unter dem Glauben Söhne nannte und zu Männern machte zum Unterschied von den Kindern unter dem Gesetze! „Du bist kein Knecht mehr“, so sagt er, „sondern ein Sohn; wenn aber ein Sohn, so auch Erbe durch Gott.“ 155 Was fehlt nun dem Sohn, nachdem er die Erbschaft empfangen hat?

2. Es läßt sich demnach das Wort „als ich Kind war“ sinnig so erklären: das bedeutet: als ich ein Jude war (denn er war von Haus aus ein Hebräer), „dachte ich wie ein Kind“, da ich dem Gesetze folgte; „nachdem ich aber ein Mann geworden bin“, denke ich nicht mehr an die Sachen des Kindes, 156 das heißt die des Gesetzes, sondern an die des Mannes, das heißt an die Christi, den allein, wie wir früher sagten, die Schrift  einen Mann nennt; 157 „da habe ich das kindische Wesen abgelegt“. 158 Das Kindsein in Christus ist aber Vollendung im Vergleich zum Gesetz.

3. Da wir an diesen Punkt gekommen sind, müssen wir unser Kindsein verteidigen Wir müssen auch noch das Wort des Apostels erklären: „Milch gab ich euch zu trinken, als Kindern in Christus, nicht feste Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht; aber ihr vermöget es auch jetzt noch nicht.“159 Ich glaube nämlich nicht, daß man das Wort in jüdischem Sinn auffassen darf. Ich werde ihm auch jenes Schriftwort gegenüberstellen: „Ich werde euch in das gute Land hineinführen, das von Milch und Honig überfließt.“ 160

  

35.

1. Beim Vergleich dieser beiden Schriftstellen taucht eine sehr große Schwierigkeit auf, was sie wohl meinen. Wenn nämlich der Anfang des Glaubens an Christus das durch die Milch gekennzeichnete Kindesalter ist und dies als kindisch und unvollkommen gering geachtet wird, wie ist es möglich, daß die Ruhe des Vollendeten und des Gnostikers nach dem Empfang der festen Speise wieder mit der kindlichen Milch ausgezeichnet ist?

2. Vielleicht bedeutet das Wörtchen ὡς (wie), das auf einen Vergleich hinweist, etwas Derartiges; und wir müssen dann den Satz etwa so lesen: „Milch gab ich euch zu trinken in Christus,“161 und nach einer kurzen Unterbrechung wollen wir hinzufügen: „wie Kindern“, 162 damit wir entsprechend diesem Einschnitt beim Lesen einen derartigen Sinn erhalten:

3. Ich habe euch in Christus mit einfacher und wahrer und natürlicher Speise, der geistlichen, 163 unterrichtet; denn dies ist das Wesen der lebenspendenden Milch, die aus zärtlich liebenden Brüsten quillt. Somit wäre das Ganze so aufzufassen: Wie die Ammen mit der Milch die neugeborenen Kinder ernähren, so auch ich, indem ich euch  mit dem Wort, der Milch Christi, geistliche Speise einflöße.

  

36.

1. In diesem Sinn ist die vollkommene Milch eine vollkommene Speise und führt zu einer unaufhörlichen Vollendung. Deswegen ist in der Ruhe dies nämliche, „Milch und Honig“, 164 verheißen. Begreiflicherweise verspricht der Herr den Gerechten wieder Milch, damit so deutlich der Logos als beides erwiesen werde, „als A und O, als Anfang und Ende“, 165 der Logos, der sinnbildlich als Milch bezeichnet wird. Etwas Ähnliches weissagt, ohne sich dessen bewußt zu sein, auch Homeros, wenn er die gerechten Menschen „Milchesser“ nennt. 166

2. Man kann aber das Schriftwort „und auch ich, meine Brüder, konnte zu euch nicht wie zu Geistlichen sprechen, sondern wie zu Fleischlichen, wie zu Kindern in Christus“167 auch so auffassen, daß man unter den Fleischlichen die verstehen kann, die erst seit kurzem unterrichtet werden und noch Kinder in Christus sind.

3. Denn geistlich nannte er die, die bereits zum Glauben an den Heiligen Geist gekommen sind, fleischlich aber die erst seit kurzem Unterrichteten und noch nicht Gereinigten, die er begreiflicherweise „noch fleischlich“ 168 nennt, da sie in gleicher Weise wie die Heiden noch an die Dinge des Fleisches denken. 169

4. „Denn da unter euch Eifersucht und Hader ist, wie solltet ihr da nicht fleischlich sein und euren Lebenswandel nach Menschenweise führen?“ 170 Deshalb sagt er auch: „Milch habe ich euch zu trinken gegeben“,171 womit er meint: ich habe euch die Erkenntnis eingeflößt, die infolge des Unterrichts zum ewigen Leben ernährt. Aber auch das Wort „ich habe euch zu trinken gegeben“ 172 ist ein Kennzeichen  vollkommener Aufnahme; denn trinken sagt man von den Erwachsenen, saugen aber von den kleinen Kindern.

5. „Denn mein Blut“, sagt der Herr, „ist der wahre Trank.“ 173 Hat er nun nicht vielleicht mit dem Wort „Milch habe ich zu trinken gegeben“174 auf die vollkommene Freude in dem mit der Milch gemeinten Logos, auf die Erkenntnis der Wahrheit, hingewiesen? Das unmittelbar folgende Wort „nicht feste Speise, denn ihr vermochtet es noch nicht“175 kann aber auf die mit fester Speise zu vergleichende leibhaftige Offenbarung „von Angesicht zu Angesicht“ in dem zukünftigen Weltalter hinweisen.

6. „Denn wir sehen jetzt wie in einem Spiegel“, sagt der nämliche Apostel, „dann aber von Angesicht zu Angesicht.“176 Darum fügte er auch jenes Wort hinzu: „Aber auch jetzt vermöget ihr es noch nicht; denn ihr seid noch fleischlich“, 177 fleischlich gesinnt, 178 erfüllt von Begierden, Liebesleidenschaft, Eifersucht, Zorn, Neid; 179 denn er meint damit nicht, daß wir noch im Fleische sind, 180 wie einige angenommen haben; denn noch im Fleische mit einem Angesicht gleich dem eines Engels 181 werden wir die Verheißung „von Angesicht zu Angesicht“182 schauen.

  

37.