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Das Ruhrgebiet in der Zukunft. Der Kemnader Stausee ist nur noch ein Tümpel, das Land ist ausgedörrt, eine tropische Vegetation macht sich breit. Obdachlose Plünderer leben in den zerstörten Städten, die von einem ominösen Heimatschutz in Schach gehalten werden. Ein Warlord, mit dem Regierungssitz in Düsseldorf, beherrscht die Region. Eine Söldnertruppe garantieren, dass das schwarze Gold aus unendlichen Tiefen gefördert wird, denn das Ruhrgebiet ist von jeglicher anderer Energieversorgung abgeschnitten. Harry Marchewsky, Boss eines Drogenrings, hat die notwendigen Kontakte, um für den dringend benötigten Nachschub an Opium zu sorgen, der die Bergarbeiter bei Laune hält. Der Chef des Heimatschutzes hat große Pläne. Raffgier treibt Kaltenbrunner an, und Harry Marchwesky ist ihm ein Dorn im Auge. Marlene und Leo, der schwarze Panther und die Ökoaktivistin, die als Selbstversorgerin versteckt in einem Bunker lebt, geraten zwischen die Fronten des Krieges, der um den Besitz der Drogen entbrennt.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Jost Baum
Palmen an der Ruhr
Ein apokalyptischer Science - Fiction - Thriller aus dem Ruhrgebiet
Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr
Druck: BoD, Norderstedt
ISBN 978-3-947848-41-6
1. Auflage 2021 (SE)
Coverbild: Jaana Redflower
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich.
Disclaimer:
Dieses ist ein fiktives Werk. Handlungen und Personen sind komplett frei erfunden. Jegliche etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen oder mit tatsächlichen Begebenheiten wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
www.ruhrkrimi.de
Autor
Foto: Jörg Wiegels
Jost Baum studierte an der Bergischen Universität in Wuppertal Sozialwissenschaft und Technik sowie an der Université de St. Etienne Soziologie. Er war Lektor in einem Schulbuchverlag und arbeitet als Lehrer in der Erwachsenenbildung in Wuppertal.
Sein erster Krimi war »Computer weinen nicht«, später folgte eine Reihe mit dem Bochumer Lokalreporter »Eddie Jablonski« als Hauptfigur.
Sonstige Veröffentlichungen:
Kriminalromane zu gesellschaftlich relevanten Themen (Oktober Verlag, KBV, VDP).
Sachbücher (z.B. zu Themen wie Datenschutz und die Rolle neuer Technologien in der Gesellschaft (Verlag an der Ruhr).
Publikationen zu naturwissenschaftlichen und technischen Fragestellungen (Westermann, Raabe Verlag, Eduversum Verlag, Kohl Verlag etc.).
Hörfunkbeiträge für den WDR und andere Sender.
Der Kinderkrimi »Die Feriendetektive« wurde ins Chinesische und Kroatische übersetzt. Die Übersetzung ins Bosnische wird z.Zt. vorbereitet.
Dieser apokalyptische Science-Fiction-Thriller ist sein erster Roman im Ruhrkrimi-Verlag.
Das Ruhrgebiet in der Zukunft: Der Kemnader Stausee ist nur noch ein Tümpel, das Land ist ausgedörrt, eine tropische Vegetation macht sich breit. Obdachlose Plünderer leben in den zerstörten Städten, die von einem ominösen Heimatschutz in Schach gehalten werden. Ein Warlord, mit dem Regierungssitz in Düsseldorf, beherrscht die Region. Söldnertruppen garantieren, dass das schwarze Gold aus unendlichen Tiefen gefördert wird, denn das Ruhrgebiet ist von jeglicher anderer Energieversorgung abgeschnitten.
Harry Marchewsky, Boss eines Drogenrings, hat die notwendigen Kontakte, um für den dringend benötigten Nachschub an Opium zu sorgen, der die Bergarbeiter bei Laune hält.
Der Chef des Heimatschutzes hat große Pläne. Raffgier treibt Kaltenbrunner an, und Harry Marchewsky ist ihm ein Dorn im Auge. Marlene und Leo, der schwarze Panther und die Ökoaktivistin, die als Selbstversorgerin versteckt in einem Bunker lebt, geraten zwischen die Fronten des Krieges, der um den Besitz der Drogen entbrennt.
Gimme Shelter
Lyrics Übersetzung/Rolling Stones/ erschienen auf Let it Bleed/1969Yeah, ein Sturm bedroht mein Leben heute:
Und wenn ich keinen Schutz bekomme Herr (Gott), werde ich verblassen Krieg, Kinder, Yeah Er (Krieg) ist nur einen Schuss entfernt, er ist nur einen Schuss entfernt (x2)Yeah, und nun fegt das Feuer unsere Straßen Es sieht aus wie eine brennende Marionette Wütender Stier hat seinen Weg verloren Und Krieg, Kinder Er ist nur einen Schuss entfernt, er ist nur einen Schuss entfernt
(x2) Vergewaltigung, Mord Sie/Er ist nur einen Schuss entfernt
(x3) Yeah, ein Sturm bedroht mein Leben heute Gib mir, gib mir Schutz Herr, sonst verblasse ich Krieg, Kinder Er ist nur einen Schuss entfernt, er ist nur einen Schuss entfernt
(x2) Er ist nur einen Schuss entfernt, er ist nur einen Schuss entfernt Er ist nur einen Schuss entfernt, Schuss entfernt, Schuss entfernt
(x2)Oh, yeah yeah Gib mir Schutz, yeah Gib mir Schutz, yeah Oh yeah, oh yeah, oh yeah
Ich sag dir Liebe, Schwester Sie (Liebe) ist nur einen Kuss entfernt, es ist nur ein Kuss Ich sag dir Liebe, Schwester Sie ist nur einen Kuss entfernt, sie ist nur einen Kuss entfernt Sie ist nur einen Kuss entfernt, sie ist nur einen Kuss entfernt Sie ist nur einen Kuss entfernt, Kuss entfernt, Kuss entfernt Sie ist nur einen Kuss entfernt, sie ist nur einen Kuss entfernt Sie ist nur einen Kuss entfernt, Kuss entfernt, Kuss entfernt, Kuss entfernt, Kuss entferntOh yeah Gib mir Schutz Gib mir Schutz, yeah Oh yeah, oh yeah
Marlene blickte in den großen Spiegel, der an der Wand in ihrem Kinderzimmer lehnte, und flocht bunte Perlen in ihre widerspenstigen Rastalocken. Was würde Piet Tomcyk besser gefallen? Das lange wallende Batikkleid und die Riemchensandalen? Eine Kombination, die ihre schlanke Figur mit den knabenhaften Brüsten verbarg, oder eher die sportliche Variante, mit der Jeans, die ihre langen Beine zur Geltung brachte, einer weißen Bluse und den sündhaft teuren neuen Sneakers, die ihre Eltern ihr zur bestandenen Abiturprüfung geschenkt hatten?
Es klopfte an ihre Tür. »Mach hinne! Und zieh dir was Vernünftiges an, es könnte stürmisch werden«, hörte sie die Stimme ihres Vaters, der versprochen hatte, sie mit seinem Auto zum Kemnader Stausee zu bringen, an dem an diesem Abend die lang ersehnte Abitur-Abschlussparty stattfinden sollte. Rasch entschied sie sich für das Batikkleid, legte noch ein wenig Lidschatten auf, überprüfte, ob ihre meergrünen Augen damit richtig zur Geltung kamen und rannte die Treppe hinunter, nachdem sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
In diesem Sommer war der Pegel des Stausees so tief gefallen wie nie zuvor. Ein Algenteppich bedeckte die Oberfläche in Ufernähe rund um den Landungssteg, der meterhoch aus dem rissigen getrockneten Schlamm ragte. Ein Ruderboot, das einem Angler gehörte, der sich seit Jahren nicht mehr blicken ließ, war bis zur Hälfte im Schlick versunken. Ein langes Seil verband den Bugspriet mit dem Steg, an dem getrocknete Algen wie die Tentakeln eines Tintenfisches in der Abendsonne glänzten. Seit April hatte es keinen Tropfen mehr geregnet, die Pflanzen auf den umliegenden Weizen- und Rapsfeldern waren fast verdorrt und die Bauern der Region fürchteten, wie so häufig in den letzten Jahren, um ihre Ernte. Die Bezirksregierung des Warlords hatte versprochen, Überbrückungshilfen an diejenigen Unternehmen zu zahlen, die von der Dürreperiode betroffen waren, aber bis jetzt war kein Geld auf ihre Konten überwiesen worden.
Vielleicht lag es daran, dass der Warlord damit beschäftigt war, das Militär zu mobilisieren, das seit Monaten mit dem Säbel rasselte. Der Pesthauch des Krieges lag in der Luft. Texaco, Shell und Exxon hatten die Lieferung von Benzin und Diesel eingestellt. Russland hatte damit gedroht, die Gaslieferungen auszusetzen. Die Nachbarländer, die einst zur ›Europäischen Union‹ gehörten, hatten damit begonnen, ihre Grenzen zu schließen und ihre Notfallreserven an Treibstoff aufzustocken.
Direkt nachdem die Noten der schriftlichen Abiturprüfungen verkündet worden waren, hatten die wehrpflichtigen jungen Männer der Oberstufe ihren Einberufungsbescheid erhalten. Bis auf Dieter Marchewsky kehrten alle Mitschüler seines Jahrgangs begeistert von der Musterung zurück, zeigten stolz den Strichcode vor, der ihnen auf den Unterarm tätowiert worden war, und schwärmten von den phantastischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Waffengattungen zu denen sie einberufen würden, sobald sie das Zeugnis in den Händen hielten.
Das ›Alte Zollhaus‹ stand nur wenige Meter von der Uferböschung entfernt, und in Zeiten, an denen die Ruhr genug Wasser führte, schwappten die Wellen des Sees bis dicht an die Bruchsteinmauer, die das Ufer von dem Gelände trennte, auf dem nun eine Bühne aufgebaut war. Die Abiturienten hatten Holztische mit Konfetti und Girlanden dekoriert, über die sich eine lange Reihe von bunten Lampions spannten.
»Kommst du zurecht?«, rief Dieter Marchewsky seinem älteren Bruder Harry zu, der auf der obersten Sprosse einer wackligen Leiter stand und sich damit abmühte, ein Banner mit der Losung des Abiturjahrgangs aufzuhängen. ›We are the Champions, that is why we don´t rest in peace‹ stand da in roten Lettern auf schwarzem Tuch, das schlaff an der Leine über dem Eingang der Gaststätte hing. Er hatte das Seil an einen Mauerhaken geknotet, der von der letzten Renovierung, die aber auch schon etliche Jahre zurücklag, übrig geblieben war.
»Kannze mir schonmal ein Bier holen?«, antwortete Harry, der besorgt in den Himmel blickte, der sich innerhalb weniger Minuten durch tiefschwarze Gewitterwolken verdunkelt hatte, die wie ein drohendes Gebirge über dem See aufragten. In der Ferne zuckten Blitze über das Firmament, dann war ein leises Donnergrollen zu hören. Harry starrte auf die dichten, sintflutartigen Regenschleier, die wenige Kilometer entfernt über das Land wehten und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
Ein weißer SUV, mit ordentlich PS unter der Haube und bullerndem Motor, schwenkte mit einem rasanten Schlenker auf die Schotterfläche zu, die als Parkplatz vor dem Gasthaus diente. Das Auto stoppte und wirbelte eine Staubfahne auf. Die Tür öffnete sich und Rainer Günther stieg aus. Klein, dick und kugelrund mit rosa Pausbacken, auf denen sich ein leichter rötlicher Flaum eines beginnenden Bartwuchses zeigte. Er blickte sich um, als erwartete er Applaus für seine Punktlandung. Ein blonder Teenager mit einem zu kurzen Rock und turmhohen Highheels kam auf ihn zugerannt, umarmte ihn stürmisch und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
»Da bist du ja endlich, mein Süßer«, flüsterte sie und knabberte an seiner Unterlippe. Marlene hatte Piet Tomcyk entdeckt und ihn angelächelt, als er von seinem Fahrrad stieg, das er an die Wand unter dem rotschwarzen Banner lehnte. Dieter hatte die beiden beobachtet und spürte, wie die Eifersucht in ihm brodelte. Er wandte sich ab, suchte nach einer Kippe in der Tasche seines Jeanshemdes und versuchte, tief durchzuatmen.
Während das Barometer fiel, trudelten immer neue Gäste ein, lachten, begrüßten sich, köpften ein Bier, oder tanzten zur Musik von ›Look back‹, der Oberstufen-Band, die damit begonnen hatte, Coverversionen aus den Charts zu spielen, immer wieder unterbrochen vom Rauschen und Knacken aus den Lautsprechern, da es ihnen nicht gelungen war, die Musikanlage richtig einzustellen.
Tomcyk war es egal, ob er mit Marlene tanzte, oder sie nur eng umschlungen beieinanderstanden und sich küssten. Er spürte, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb, um das Zusammensein mit Marlene zu genießen, denn kurz bevor er zur Party aufbrach, hatte er einen Briefumschlag auf dem Küchentisch gefunden, den seine Mutter dahin gelegt haben musste. Er hörte ein Schluchzen aus dem Schlafzimmer, in das sie sich eingeschlossen hatte. Als er den Umschlag aufriss, fiel ihm ein Schreiben entgegen, auf dem das Logo des Warlords prangte. Ein gelbes gleichseitiges Dreieck, das von einem gleichfarbigen Ring umschlossen war.
Schlagartig, wie in einem Theater, kurz bevor sich der Vorhang hebt, war der Himmel nachtschwarz. Die Musik brach ab, es war totenstill. Eine Windböe fuhr durch die Partygäste, wirbelte Rocksäume hoch, warf Gläser um, schüttelte die bunten Lampions, ließ die weißen Decken auf den Tischen flattern und die Partygäste frösteln. Ein Blitz erhellte für Nanosekunden die rußschwarzen Wolken, gefolgt von einem fernen Donner. Dann öffneten sich die Schleusentore und der Regen setzte ein.
»Alle ma herhören, wir haben getz nur ein paar Minuten, bis uns die Flut erreicht, schnappt euch eure Klamotten und seht zu, dass ihr Land gewinnt!!«, rief Harry, der auf die Bühne gesprungen war und sich ein Mikrofon gegriffen hatte. Er sollte sich irren. Seine Worte gingen in dem Tosen und Brüllen der Wassermassen unter, die durch das ausgetrocknete Flussbett der Ruhr schossen, Autos, entwurzelte Bäume, Tierleichen vor sich her schoben und genau in dem Moment das ›Alte Zollhaus‹ erreichten, als Harry von der Bühne sprang. Der wurmstichige alte Kahn, der an dem Steg vertäut war, wurde wie von einer unsichtbaren Hand angehoben, ächzte, stöhnte und tänzelte auf der schlammigen Brühe, die das ›Alte Zollhaus‹ und das Festgelände überspülte.
»Her zu mir!«, brüllte Harry, der auf den Steg geklettert war, sich das Seil gegriffen hatte, mit der einen Hand an dem Ruderboot zerrte und mit der anderen Dieter zuwinkte.
Rainer Günther hatte den Teenager umarmt und versuchte, ihr unter den kurzen Rock zu fassen, als die Musik in dem Tosen unterging und die Flutwelle, wie eine Urgewalt über sie hereinbrach. Er stieß das Mädchen von sich, das mit einem entsetzten Aufschrei im Wasser landete, von einem Wirbel erfasst wurde und unterging. Günther watete, ohne sich umzublicken, durch die stinkende Kloake in Richtung des Stegs, auf dem Harry mit einem letzten verzweifelten Ruck den Kahn zu sich heranzog.
Dieter kämpfte sich durch die Wassermassen auf die Bruchsteinmauer zu, auf deren oberen Rand sich dutzende Partygäste geflüchtet hatten. Marlene und Piet klammerten sich aneinander und starrten entsetzt auf die braunen Fluten, die sich bis auf wenige Zentimeter unter ihren Füßen staute. »Springt«, brüllte Dieter und breitete die Arme aus. »Wir müssen zum Steg!«, rief er noch, bevor ihn die nächste Welle erfasste.
Harry Marchewsky saß in einem verrosteten Campingstuhl und hatte die Schlangenlederstiefel auf die Reling der Seemöwe gestemmt. In der einen Hand balancierte er eine Flasche Wodka, aus der er sich von Zeit zu Zeit einen Schluck genehmigte, mit der anderen hielt er den Pistolengriff einer Kalaschnikow umklammert. Ein Tümpel von der Größe zweier Fußballfelder war alles, was vom Kemnader Stausee übrig geblieben war. In der Mitte des fauligen Brackwassers dümpelte die Seemöwe, ein verrosteter Kahn, der einst als Ausflugsdampfer über das Wasser schipperte.
Jetzt diente er als Festung für Harry Marchewsky, Boss einer Bande hartgesottener Drogenhändler, die das Gebiet auf beiden Seiten des Flusses als ihr ureigenes Territorium betrachtete, indem sie schalten und walten konnte, wie sie es für richtig hielt. Es war brütend heiß, Tsetsefliegen schwirrten über das schlammige Wasser und hielten nach Opfern ausschau. Als sich eines der Biester auf den nackten linken Arm von Richie niederließ, schnellte seine verkrüppelte rechte Hand wie ein Torpedo herunter und zerquetschte die Fliege, ehe sie ihren Rüssel ausfahren, ihn stechen und für die Übertragung von Trypanosomen sorgen konnte; Krankheitserreger, die für den Tod von tausenden Menschen verantwortlich waren, die nach einem der schmerzhaften Stiche der Fliege starben.
Richie blickte in den Himmel, an dem eine bleierne Sonne unerbittlich ihre giftigen Strahlen herunterschickte, die dafür sorgten, dass sich kein Lüftchen regte und die Quecksilbersäule des Thermometers regelmäßig die fünfzig Grad Marke knackte. Eine dunkle Brille schützte seine Augen vor dem gleißenden Licht, sodass er die Drohne, die mit einer Kamera ausgestattet war, beobachten konnte, während er sie mit einer Fernbedienung steuerte. Das Kamerabild erschien auf einem Monitor, der vor ihm auf dem glühend heißen Deck der verrosteten Ausflugsfähre stand und den Richie aus den Augenwinkeln sehen konnte. Die Kamera zeigte verdorrte Fichten, Douglasien, Buchen und andere Baumarten, die der Borkenkäfer vernichtet hatte, weil die Bäume den Krabbelviechern in den heißen Sommern und den milden Wintern nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Stattdessen entwickelten sich im Laufe der Jahre an einigen Stellen der Uferböschung Palmen, die in dem Wüstenklima prächtig gediehen.
»Noch keiner da«, nuschelte Richie durch seine Hasenscharte, die sein lederfarbenes Gesicht entstellte.
»Sollte aber«, entgegnete Harry und überprüfte mit einem schnellen Griff, ob das halbmondförmige Magazin sicher eingerastet war. Richie kicherte. Er war an allem interessiert, das sich irgendwie bewegte. Auch wenn es der gewaltige Alligator war, der träge unter einem überhängenden Baumstamm am gegenüberliegenden Rand des Tümpels auf Beute wartete.
»Ich denke, wir sollten mal wieder das Personal austauschen«, grinste Harry und blickte Richie dabei herausfordernd an. Der Zweimeter-Mann, dessen verblichenes T-Shirt, auf dem das Logo einer Heavy Metal Band prangte, über seinen Bauchnabel hochgerutscht war, kicherte erneut.
»Wie du meinst Harry, soll ich dat übernehmen?«
»Warum nich? Wenn et dir Spaß macht?«, erwiderte Harry, grinste verschmitzt und nahm erneut einen Schluck aus der Wodkaflasche.
Die ›Oberste Heeresleitung‹ der Heeresgruppe West hatte ihr Hauptquartier unter der ehemaligen Staatskanzlei der Landeshauptstadt aufgeschlagen. Direkt neben dem Rhein, der zu einem schmalen Rinnsal geworden war, das nur anschwoll, wenn die monsunartigen Regenfälle die Wasserläufe kurzzeitig überschwemmten. Der Zugang zu dem Bunker erfolgte über ein stillgelegtes Parkhaus, in dem sich die Ratten ›Gute Nacht‹ sagten. Menschliche Wracks, in Lumpen gehüllt, hatten dort eine Bleibe gefunden, die sich jede Nacht um den kühlsten Platz an der tiefsten Stelle des Betonbaus prügelten. Die Schaufenster der prächtigen Warenhäuser, die dicht an dicht an der Kö standen, waren eingeschlagen. Plündernde marodierende Banden hatten die Regale leer gefegt. Die Eingänge zu den nahe gelegenen Banken und Nobelhotels waren mit schweren Metallgittern gesichert. Die Wände, der ausgestorbenen Straßenzüge, waren mit Graffiti besprüht. ›Gebt uns Wasser, oder wir killen euch alle‹, ›Krieg den Palästen, Friede den Hütten‹, ›Fuck the government‹, waren einige der Sprüche, auf die sich die Militärregierung noch einen Reim machen konnte. Der Rest war unlesbares Geschmiere, das Drogensüchtige auf die Mauern gesprüht hatten.
Major Günther, klein, behände und rund wie ein Weinfass, der in seiner Paradeuniform wie aus dem Ei gepellt und munter wie ein Fisch im kristallklaren Wasser wirkte, warf einen gierigen Blick auf das Gold, die Juwelen, Diamanten, die teuren Uhren und einen Dolch, der über und über mit Brillanten besetzt war. Günther nahm zwei Hände voll des Geschmeides, stopfte es in seine Uniformtaschen, schloss den Deckel und kettete den Griff des Koffers an sein Handgelenk. Er verschwendete keinen müden Gedanken an diejenigen, denen das Militär erst den Schmuck, dann alle anderen Besitztümer abgepresst hatte, mit dem uneinlösbaren Versprechen, sie mit Wasser und Nahrungsmitteln zu versorgen.
Major Günther hatte eine beispiellose Karriere vom einfachen Soldaten zum Oberbefehlshaber einer brutalen Söldnertruppe während des Krieges um den letzten Tropfen Öl hingelegt, den Amerika mit einem nie dagewesenen Blutzoll für sich entscheiden konnte, und in dessen Folge Deutschland sowie die umliegenden europäischen Staaten, auf alle Lieferverträge verzichten mussten, die jemals mit den Erdöl exportierenden Ländern abgeschlossen worden waren. Jetzt hatte man die Kohlegruben im Ruhrgebiet reaktiviert und war in Abraumtiefen vorgestoßen, die bis dato kein Wissenschaftler für möglich gehalten hatte. Major Günther war mit seinen schwer bewaffneten Söldnern der Garant dafür, dass das schwarze Gold an die Erdoberfläche gefördert wurde. Niemand, vor allen Dingen nicht die Grubenarbeiter, sollten auf die Idee kommen, die unabdingbare Notwendigkeit der Kohleförderung für die Erhaltung des fragilen Systems, von dem die diversen Warlords und ihre Anhänger profitierten, in Frage zu stellen und dagegen zu rebellieren.
Alle anderen Energieträger waren ausgefallen. Kernkraftwerke waren nur noch radioaktiv verstrahlte Ruinen, denn die Kühlung durch die Flüsse war nicht mehr gewährleistet, Windräder nutzlos, da sich kein Lüftchen regte und die Stauseen, die bis vor wenigen Jahren noch Energie über Wasserkraft geliefert hatten, waren ausgetrocknet. Photovoltaikanlagen wurden in Gold aufgewogen und waren nur der Elite der wechselnden Machthaber zugänglich. Forschern der Ruhr-Universität in Bochum war es gelungen, aus Bakterien, Wasserstoff und dem reichlich in der Luft vorhandenen Kohlendioxid, mithilfe des Stroms, der in den reaktivierten Kohlekraftwerken gewonnen wurde, ein Gebräu zu mixen, das in Formen gegossen und eingedampft, als Nahrungsmittel für die schuftende Masse der Bevölkerung diente, die keinen Zugang zu frischem Wasser, tierischem Protein oder anderen Köstlichkeiten hatte. Das dafür notwendige Wasser kam aus unterirdischen Brunnen, deren Schächte immer tiefer gebohrt werden mussten, da der Grundwasserspiegel ständig absackte.
Die nussbraunen Nahrungsriegel hatten den Geruch, die Farbe und Konsistenz von Hundefutter. Ein Fraß, den man vor dem ›Großen Krieg‹ in jedem Supermarkt kaufen konnte, um ihn den Haustieren zu verabreichen. Trotzdem, ein begehrtes Produkt, mit denen der Warlord, die Teile der Bevölkerung, die seinem Willen gehorchten, am Leben erhielt. Die eigene Produktion von Nahrungsmitteln war strengstens untersagt. Abgesehen davon, dass der Kohlestrom nur denjenigen zur Verfügung stand, die dem Warlord gewogen waren, mussten diejenigen, die dabei erwischt wurden, um ihr Leben fürchten. Major Günther war sich seiner Macht bewusst, aber er ahnte auch, dass die Militärregierung, die sich Deutschland, wie afghanische Warlords, unter sich aufteilte, ihn fallen lassen würde, wenn er nicht mehr dafür garantieren konnte, dass die Kohle zur Verfeuerung bereit stand. Er nahm den Koffer, schritt durch die klimatisierten Marmor-Hallen seiner unterirdischen Residenz, durch die ein munteres Bächlein floss, in dem selten gewordene Fische schwammen und an dessen Ufern Wellnessoasen ihren illustren Gästen, hohen Würdenträger, Kohlebaronen und anderen mächtigen Industriebosse, exquisite Genüsse anboten. Ein Aufzug aus Kristallglas, der durch zwei stumme Scharfschützen bewacht war, brachte ihn geräuschlos in das Erdgeschoss des Parkhauses. Dort wartete eine schwarze, klimatisierte Nobelkarosse auf ihn, dessen blubbernder Zwölfzylinder auf hundert Kilometer Benzin im Gegenwert von einigen Unzen Platin verbrannte. Benzin, das durch ein aufwändiges Verfahren, das die ›I.G.Farben‹ vor mehr als 120 Jahren erfunden hatte, aus Kohle gewonnen wurde. Kohle, ohne die der Warlord machtlos war, und die deshalb unter allen Umständen gefördert werden musste.
Auf der Motorhaube des Zwölfzylinders prangte das Zeichen des Warlords, ein gelbes, gleichseitiges Dreieck, umrandet von einem gleichfarbigen Kreis. Die Wagentür öffnete sich wie von Geisterhand und schloss sich hinter ihm mit einem leisen Zischen, nachdem Major Günther im Fond des Wagens Platz genommen hatte. Das Ambiente glich dem eines englischen Pubs. Poliertes Messing zierte lackiertes Wurzelholz, in dem sich das matte Licht der Innenbeleuchtung spiegelte. Durch die verdunkelten Scheiben aus Panzerglas starrte Major Günther auf die gespenstisch leere Autobahn. Der Wagen, gesteuert von einem Autopiloten, glitt geräuschlos wie ein Ufo durch die ausgedörrte Landschaft, während er an einem Guinness nippte, das er sich an der Theke gezapft hatte.
Richie hatte das Ruderboot zu einer seichten Stelle des Ufers gesteuert. Immer im gebührenden Abstand zu dem Alligator, der das Manöver aus seinen großen gelben Echsenaugen beobachtete, die nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragten. Die Nobelkarosse hielt mit einem sanften Ruck an der Uferböschung, die Tür öffnete sich automatisch und entließ einen kleinen dicken Mann, der eine reich geschmückte Schirmmütze samt einer Uniform mit goldenen Epauletten trug. An seinem rechten Handgelenk baumelte ein Koffer, der im Takt seiner ungelenken Schritte gegen seinen Oberschenkel trommelte, als er sich schwitzend und fluchend auf den Weg zu dem Ruderboot machte, aus dem ihm ein Hüne mit seiner Pranke zuwinkte, bei dem der Mittelfinger fehlte.
»Was soll das?«, schimpfte Major Günther mit puterrotem Kopf und deutete missbilligend auf den wurmstichigen Holzkahn. »Schnauze, du Heiopei«, grunzte Richie, »sei froh, dat du nich schwimmen muss«, fügte er an, bevor er zu den Rudern griff, und das Boot mit wenigen starken Schlägen an die Bordwand der Seemöwe bugsierte. Richie hielt den Kahn ruhig, bis Major Günther prustend und schnaubend an Bord geklettert war. Dann befestigte er das Boot mit einem Tau an der Reling und stieg selber aus.
»Na, alter Freund, alles dabei, wat dat alte Pusherherz höher schlagen lässt?«, begrüßte ihn Harry, und winkte ihm mit der Wodkaflasche zu. »Au 'nen Schluck, zur Feier des Tages?«, grinste er und deutete mit einem Kopfnicken auf die Schnapsflasche.
»Besser nicht, nein Danke, es ist zu heiß. Lassen wir uns das Geschäft hinter uns bringen«, erwiderte Major Günther und fuhr sich mit der freien Hand, in der er ein Taschentuch hielt, über die schweißnasse Stirn.