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"So einfach konnte ein Problem nicht zu lösen, eine Diktatur nicht zu beseitigen sein. Trotzdem hatte mich diese Stimmung gepackt, auch weil die Leute an ihre Kraft glaubten." – Mit diesen Sätzen beschreibt der in Bitterfeld aufgewachsene Plakatkünstler Professor Klaus Staeck das Spannungsfeld des 17. Junis. Arbeiteraufstand, Volksbegehren, Revolte oder Putsch waren Begriffe, unter denen man zu erfassen suchte, was an jenem Mittwoch im Juni 1953 in der DDR geschah. Das Freiheitsstreben unzähliger Menschen wurde mit der brutaler Gewalt beantwortet: sowjetische Panzer und niederknüppelnde Polizei gegen das eigene Volk. – So verschieden die Zeitzeugen sind, die zu Wort kommen, so differenziert und facettenreich ist auch die Darstellung der Ereignisse. Sowohl Schauspieler und Künstler als auch Wissenschaftler, Theologen, Arbeiter und Angestellte berichten in Interviews über ihre Beobachtungen, ihre Haltungen, ihre Konflikte und Irrtümer. Entstanden ist eine spannende Mischung aus Subjektivität und Zeitgeschichte, die fünfzig Jahre nach dem 17. Juni 1953 die Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen lässt.
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Seitenzahl: 196
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Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
Der Sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Regine Möbius
Panzer gegen die Freiheit
Zeitzeugen des 17. Juni 1953 berichten
Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Informationen Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar
© 2003 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtgestaltung: behnelux gestaltung, Halle
Umschlagbild: Sowjetische Panzer auf dem Leipziger Markt,
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig/Harald Müller
ISBN 978-3-374-05580-7
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Impressum
Michael Beleites: Vorwort
Regine Möbius: Einführung
»Und dann kamen die Sieger.«
Horst Drescher
»Das war psychische Folter.«
Horst Mende
Der Stein des Anstoßes
Fred Delmare
»Dialektischer Materialismus und liberale Willensbildung«
Lothar Scheithauer
Volkspolizei in einem Trojanischen Pferd
Werner Panzer
Leben in Gemeinde
Dietrich Mendt
»Die Kette der Erpressungsmöglichkeiten erschien uns endlos.«
Werner Herbig
»Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg.«
Manfred Schmidt
Stalinistische Gebärden
Heinz Klunker
»Es hat sich alles erledigt.«
Werner Heiduczek
»Auch Revolutionäre müssen zu Abend essen.«
Manfred Romboy
»Der Faden der Geduld«
Elke Erb
»Es hat mich einfach gezogen.«
Claus-E. Bärsch
»Über die Kunst wollte man etwas loswerden.«
Sighard Gille
Selbstrettung oder früher Widerstand?
Klaus Staeck
Auflösung der Länder, Kollektivierung der Bauern, Bekämpfung der Kirchen, Verschärfung des Strafrechts, Justizterror und Militarisierung – das waren die Dinge, die auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 in die Wege geleitet wurden, als man den »Aufbau des Sozialismus in der DDR« beschloss. Auch nach Stalins Tod im März 1953 nahm der Druck auf die Bevölkerung nicht ab – und ebenso wenig die Fluchtwelle in Richtung Westen. Die kommunistische Überformung der Gesellschaft gipfelte in der Umbenennung von Chemnitz in »Karl-Marx-Stadt« im Mai 1953. Erst auf Druck aus Moskau hin verkündete die SED-Führung am 9. Juni 1953 einen »Neuen Kurs«: Den Bauern, Handwerkern und Privatunternehmen machte man Zugeständnisse, die Strafurteile sollten überprüft und politische Gefangene freigelassen werden, die systematische Verfolgung der evangelischen »Jungen Gemeinden« stellte man ein. Nur die Normerhöhungen für die Arbeiter blieben bestehen. Streiks ab dem 11. Juni waren die Folge.
Dank der über das westliche Radio verbreiteten Informationen über die Erhebung der Ostberliner Bauarbeiter am 16. Juni, kam es am Folgetag in der ganzen DDR zu Streiks und gewaltigen Demonstrationen. Aus der Wut der Industriearbeiter erwuchs ein Arbeiteraufstand, und dieser entwickelte sich am 17. Juni zu einem landesweiten Volksaufstand. Zentrale Ziele der Aufständischen waren die Herstellung demokratischer Verhältnisse und die Einheit Deutschlands. In einigen Städten, wie z.B. in Görlitz, waren bereits die gesamte Funktionärsschicht abgesetzt, ein neues Stadtkomitee gebildet und alle politischen Gefangenen befreit. Erst durch den Einsatz sowjetischer Panzer ist der Aufstand niedergeschlagen worden.
Doch auch die West-Alliierten wollten damals am geopolitischen status quo nicht rütteln lassen. Der Aufruf zum Generalstreik durfte über den RIAS nicht bekannt gemacht werden. Es gehört zu den paradoxen Ergebnissen des 17. Juni, dass wohl gerade wegen des Aufstands das Ulbricht-Regime aus Moskau weiter gestützt wurde.
Auch wenn der Sturz des Politbüros letztlich scheiterte, es bleibt das Verdienst der Aufständischen von 1953, dass die SED-Diktatur auf Dauer delegitimiert wurde. Der 17. Juni blieb das Symbol dafür, dass das SED-Regime seine Herrschaft allein den Panzern der Roten Armee verdankte. Allein das Wissen um die Tatsache, dass sich 1953 ein machtvoller Aufstand gegen das Regime spontan und in kürzester Zeit seinen Weg durch das ganze Land gebahnt hatte, hat den nachfolgenden Generationen eine Perspektive verliehen, die über den zeitlichen Horizont der DDR hinausreichte.
Wir wissen heute, dass über eine Million Menschen an dem Aufstand beteiligt waren, dass dreizehn Volkspolizei- und Stasi-Dienststellen erstürmt und zwölf Gefängnisse befreit wurden. Wir wissen, dass sechzig bis achtzig Menschen durch Kugeln auf den Straßen ums Leben kamen und achtzehn standrechtlich erschossen wurden; und wir wissen, dass 13.000 – 15.000 Akteure verhaftet und ca. 1.800 von DDR-Gerichten verurteilt worden sind. Wovon wir aber viel zu wenig wissen, das ist die emotionale Seite das Geschehens: Wie hat die SED-Politik der frühen DDR auf die Menschen gewirkt? Wie haben die Ereignisse des 17. Juni auf diejenigen gewirkt, die unmittelbar dabei waren? Und welche Spuren haben die Repressionen, insbesondere die Jahre im Zuchthaus, bei den Betroffenen hinterlassen?
Die Leipziger Schriftstellerin Regine Möbius hat sich auf den Weg gemacht, um genau diesen Fragen nachzugehen. Sie hat Menschen aufgesucht, die den Volksaufstand in Sachsen und benachbarten Städten miterlebt haben, und hat deren Berichte aufgeschrieben. Es ist Regine Möbius in hervorragender Weise gelungen, die authentische Perspektive der Beteiligten sichtbar zu machen. In besonderer Weise ist auch Frau Dr. Heidi Roth, Herrn Dr. Hans-Christian Herrmann und Herrn Stefan Gööck zu danken, die die Arbeit am Buch aktiv begleitet haben. Ebenso muss der Fotografin Gaby Waldeck gedankt werden, die die Autorin bei den meisten Interviews begleitete und dabei die Mehrzahl der Portraitaufnahmen anfertigte. Für die Überlassung der zahlreichen Ereignisfotos vom 17. Juni 1953 aus Leipzig, Halle, Görlitz, Bitterfeld, Leuna und Dresden sei den jeweiligen Fotografen sowie dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig, der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, der Justizvollzugsanstalt Waldheim, dem Kulturamt der Stadt Görlitz, der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, dem Militärhistorischen Museum Dresden, dem Stadtarchiv Leuna, dem Zeitgeschichte(n) e.V. in Halle und der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt herzlich gedankt.
Mit den hier veröffentlichten Zeitzeugenberichten erfahren wir aus erster Hand, wie Menschen vor fünfzig Jahren jene Ereignisse erlebt und empfunden haben, die heute als »historisch« bezeichnet werden. Wir erfahren nicht nur, wie unterschiedlich das Erleben der Geschehnisse schon damals war, sondern wir bekommen auch eine Vorstellung davon, wie verschieden die biographischen Wege waren, die zum 17. Juni hinführten – und wie vielschichtig die Entwicklungslinien sind, die von diesem Datum weiterführten. Geschichtszahlen und Ereignisbeschreibungen werden farbig und plastisch durch die individuelle Erzählung der Zeitzeugen.
Michael Beleites
Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen
Die Kindheit meiner Generation war von den Nachwirkungen des Krieges geprägt. Von Not, von Knappheit in allen Dingen, von im Krieg gebliebenen Familienvätern. Wir, die Deutschen, standen vor dem Nichts. In den frühen Jahren nach dem Krieg – in denen es nichts als Trümmer, zerstörte Städte, entwurzelte und hungernde Menschen gab – bot die Geschichte zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze des deutschen Neuanfangs: In der eben gegründeten Bundesrepublik wurde der Wiederaufbau durch den Marshallplan forciert, in der DDR ließen Reparationszahlungen an die verbündete sowjetische Besatzungsmacht das neue Staatsgebilde fast ausbluten. Die Menschen, die nicht im Krieg geblieben waren, versuchten ihre Existenz zu sichern, und mussten sich gleichzeitig eingestehen, ihr Leben, ihre Gesundheit und häufig auch ihre besten Jahre einer Lüge unerhörten Ausmaßes geopfert zu haben. Im Zuge des westlichen Wirtschaftswunders wurden Freiheit, Chancengleichheit und Pluralismus als neue Errungenschaften postuliert. Aber die tiefsitzende Angst vor dem Kommunismus hat die politische Szene in der Bundesrepublik geprägt.
Auf der anderen Seite stand in der DDR das Motto »Auferstanden aus Ruinen«, ein Slogan, der gleichzeitig Titel der östlichen Nationalhymne war. In der DDR wollte man die Macht in die Hände der Arbeiter und Bauern legen – demokratisch und antifaschistisch selbstverständlich – und vereinte KPD und SPD mit dem auf das Parteiabzeichen gebannten Händedruck zur SED. Die SED definierte sich als die Trägerin der revolutionären, fortschrittlichen Traditionen in Deutschland und sah sich deshalb legitimiert, politisch und ideologisch all jene zu bekämpfen und zu eliminieren, die ihr im Wege standen. Sie wurden als Feinde und als Agenten des Imperialismus stigmatisiert. Die Partei glaubte, über eine ideologisch unterfütterte Erziehung, die im Kindergarten begann, in der Schule fortgeführt wurde und an den Universitäten, in den Betrieben und selbst in den Ferienheimen eine spezielle Ausformung hatte, einen sozialistischen Menschen heranziehen zu können. Der Erste Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war Vorbild und Ideal. Unser »Generalissimus«, unser »Väterchen Stalin« wurde er genannt. Stalin war am 5. März 1953 gestorben.
Die sowjetische Führung hatte danach über einige Fehler des »großen Stalin« Rauchzeichen aufsteigen lassen und verordnete der SED den »Neuen Kurs«. In den ersten Juni-Tagen wurden Ulbricht und Grotewohl darüber unterrichtet. Notgedrungen erließ der Ministerrat Verordnungen, die die schlimmsten Unterdrückungsmechanismen abmildern sollten: Rückkehrende West-Flüchtlinge sollten unbehelligt bleiben können und ihr Eigentum zurückbekommen, Selbstständige sollten wieder mit Lebensmittelkarten versorgt werden.
Die Hetzkampagnen gegen die Junge Gemeinde machten vorübergehend einer stillen Duldung Platz. Noch im April 1953 hatte man in einer Extraausgabe der Zeitung »Junge Welt« lesen können: » ›Junge Gemeinde‹ – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag …«. Politbüromitglieder kritisierten Walter Ulbrichts Führungsstil und forderten eine Verbesserung der Leitungsarbeit. Aber der angekündigte »Neue Kurs« öffnete Juni 1953 ein Ventil, das schon lange unter Überdruck gestanden hatte.
Dieser Tag, der 17. Juni 1953, war das erste politische Ereignis, das ich bewusst erlebt habe. Ich war zehn Jahre alt und habe davon so viel verstanden, wie ein Kind eben versteht. An meine Gefühlslage, eine Mischung aus Furcht und Neugier, erinnere ich mich noch deutlich. Mein Vater, der Maschinenbau-Ingenieur war und in einem Leipziger Stahlbaubetrieb arbeitete, erzählte an jenem Nachmittag, als er nach Hause kam, von den Demonstrationen, und dass er den dumpfen Ton heran-rollender Panzer gehört habe. Die Not des Krieges noch deutlich im Gedächtnis, schickte mich meine Mutter sofort zum Bäcker, um nochmals Brot zu kaufen. Beschwichtigend versuchte mein Vater, ihre Aufregung zu mildern und meinte: »Auf dem Markt in der Innenstadt brennt der Pavillon der Nationalen Front; ich wette, jetzt wird sich bald alles für uns ändern.«
Der brennende Pavillon, das Symbol des Angriffs auf die aufgezwungene SED-Agitation, spielt in sehr vielen Berichten von Zeitzeugen des 17. Juni 1953 eine zentrale Rolle. Verstanden die einen die Plünderung des Pavillons als Provokation von Randalierern, war das für andere die erste Abrechnung mit den SED-Funktionären. So erlebte jeder seinen ureigenen 17. Juni, seine persönliche Auseinandersetzung mit der Republik, seine Abrechnung mit sich selbst und dem, was er sich erhofft hatte. Für ein paar Tage verschwanden die meisten Parteiabzeichen von den Revers. Mancher hatte erwogen, sein Parteibuch hinzuwerfen, aber nach der ersten großen Verhaftungswelle und den Gerüchten von standrechtlichen Erschießungen legte sich lähmende Stille über den Staat DDR.
In dieser Geschichte lebten wir, sie hatte Wirkung auf unser Leben. Günter Grass erinnerte in seinem Erzählband »Mein Jahrhundert« der distanzierten, vielleicht auch hilflosen Haltung im westlichen Deutschland gegenüber dem 17. Juni und spricht von »einem verregneten Arbeiteraufstand, der, kaum war er niedergeschlagen (…) zum Feiertag verklärt wurde, wobei es im Westen bei jeder Abfeier mehr und mehr Verkehrstote gab. Die Toten im Osten jedoch waren erschossen, gelyncht, hingerichtet worden.«
Inzwischen hat ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte mit wechselnden Betrachtungen die Konturen dieses Tages verwischt. Gab es bis zur friedlichen Revolution 1989 eine bundesdeutsche und eine DDR-Variante des 17. Juni, war danach die Zeit gekommen, sich der Realität neu zu stellen, die Dabeigewesenen neu zu befragen.
Indem Geschichte, das Betrachten von Geschichte, immer auch Veränderungen unterliegt, sind jetzt, fünfzig Jahre danach, die Auskünfte von Zeitzeugen, von Arbeitern, Angestellten, Künstlern, Theologen und Wissenschaftlern wichtig. Nach langen, oft sehr berührenden Gesprächen habe ich dann beim Schreiben ausgewählt, gekürzt, zusammengefasst und komponierend den Text ergänzt bzw. erweitert. Dabei habe ich allerdings in keiner Weise die Grundaussagen verfälscht. Alle Texte wurden in der bearbeiteten Fassung von den Zeitzeugen autorisiert. Die vorliegende literarische Darstellung sind die paraphrasierten Gespräche, die in persönlicher und subjektiver Form die Irrtümer, Beobachtungen, Konflikte und Haltungen zur Sprache bringt.
Der brennende Propaganda-Pavillon der „Nationalen Front“ am Leipziger Markt.
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig/Harald Müller
Aus der spannenden Mischung von Privat- und Zeitgeschichte entstanden Mosaiksteine eines vielschichtigen Bildes. Aus der Perspektive von Zeitzeugen treten die Nachkriegsjahre und der 17. Juni 1953 erneut in die Debatte.
Regine Möbius
Horst Drescher, Schriftsteller, Jahrgang 1929, war 1953 Student in Leipzig.
Gaby Waldeck
Horst Drescher
Ja die Panzer, die sowjetischen Panzer, die Russenpanzer, von einer Stunde zur anderen waren wir wieder im Kriegszustand, verdeckte, verdrängte Verhältnisse traten offen auf; dabei fiel die Rote Armee ja nicht vom Himmel, sie lebten in den Kasernen, hinter ihren endlosen grünblauen hohen Bretterwänden. Und ganze Armeen in den Wäldern, den Sperrgebieten, seit Jahren ein halbverdrängtes Nichtgeheimnis. In den Straßen sahen wir nur die Offiziersgattinnen in Pelzmänteln und Pelzkappen, Magazin Univermag, Grimmaische Straße.
Das Jahr 1945 hatte ich intensiv erlebt, ein Sechzehnjähriger erlebt intensiv, vor allem, wenn er in Uniform steckt und die Front wochenlang dröhnen hört. Acht Jahre waren vergangen seit jener Zeit, die Angst, die Ängste, die Seele erinnerte sich. Die T34 oder was immer es gewesen waren, sie hatten alle strategischen Punkte der Stadt besetzt. An den Mauern klebten über Nacht kleine Plakate. Befehl Nr. 1, deutsch und russisch. Nächtliche Ausgangssperre und wie eben ab sofort der Stadtkommandant die Befehlsgewalt hat über die Stadt samt den entsprechenden Warnungen betreffs Erschossenwerden bei Zuwiderhandlungen; na, im Museum für Zeitgeschichte wird sich so ein Plakat finden.
Wenn diese schwarzgrünen Kriegskolosse durch die Straßen donnern, so mit fünfzig Stundenkilometern, so drohend rasselnd, da muss nicht geschossen werden, da sind die Machtverhältnisse geklärt. Widerstand sinnlos, zwecklos. Natürlich werden von ganz Mutigen Steine geworfen, aber das erzählt es ja nur. Wenn die Panzer herummanövrierten auf dem Bahnhofsvorplatz in den folgenden Tagen und dabei mit ihren Ketten die graniten Bordsteinbegrenzungsplatten herausrissen und unvermeidlich herumschleuderten, da wussten die Passanten, was von Stund an zu gewärtigen war. Ausnahmezustand.
Aber das alles ist hundertmal erzählt worden in den letzten fünfzig Jahren und von kompetenteren »Zeitzeugen«. Ich bin zwar gelernter Werkzeugmacher, habe aber diesen Arbeiteraufstand nicht in der Zittauer Maschinenfabrik erlebt, sondern als Student, wir waren nervlich verschlissen von wochenlangen Abiturprüfungen, die letzten, die Sportprüfungen, waren am Vormittag jenes 17. Juni. Anschließend wurden wir in die brodelnde Stadt geschickt, um mit den Aufständischen über die Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung zu diskutieren. Wie geschockt die Leitung der Fakultät war, das war der erste Schock, so eifrig-freundlich und still hatte ich diese Parteileitung noch niemals erlebt, den Genossen wurde empfohlen, die Parteiabzeichen abzumachen, ernster konnte also die Lage nicht werden.
Durch die menschenerfüllte Stadt fuhren die Straßenbahnen mit den wildesten staatsfeindlichen Losungen; ich dachte, ich bin in einem Film. Über der Innenstadt lag der schwarze Rauch des brennenden »Pavillon der Nationalen Front«, das war ein beachtliches Gebäude, wer weiß, wie es zu dem heiteren Namen gekommen war, die Bibliothek brannte wohl so intensiv. Als wir uns unter die Menschenmenge am Markt mischten, da bahnte sich mit Sirenengeheul ein Löschfahrzeug der Feuerwehr seinen Weg; das Sirenengeheul der Rettungswagen lag den ganzen Tag über der Stadt. Die Feuerwehrmänner kamen aber gar nicht zum Schläucheausrollen; sie wurden mit Pflastersteinen empfangen, es wurde lebensgefährlich, der blanke Hass in den Gesichtern, Rowdyvolk, aber auch viele Studentengesichter, junge Männer um die Zwanzig; man konnte ahnen, nicht zum Studium zugelassen, der Vater abgeholt und in einem Lager »verstorben«, Enteignungen. Gesichter sind immer Summen in solcher Situation. Das Pflichtgefühl der Feuerwehrmänner war erstaunlich, sie mussten fliehen, wagten dann aber eine zweite Anfahrt, es kam nicht einmal mehr zum Halt des Fahrzeugs im Steinhagel. Flucht war ihre einzige Rettungsmöglichkeit.
Die Stimmung samt Umschlag der Stimmung wie fokussiert in einer Szene Ritterstraße-Querstraße, dort war das Gebäude der FDJ-Bezirksleitung gestürmt worden. Auf der Straße ein brennender Scheiterhaufen herausgestürzter Büromöbel, auch wurden unter Gejohle Fahnen abgefackelt. Aus den Fenstern flogen noch Karteikästen, auch ein Telefon. Diese Szene ist oftmals geschildert worden, die Fakultäten hatten ihre Studenten dorthin geschickt, um einzugreifen, keiner griff ein, dort waren Menschenmengen! Da bog aus der Goethestraße in flotter Fahrt ein Jeep ein, zwei Offiziere der Roten Armee sprangen mit gezogener Pistole aus diesem Kübelwagen und rein ins Haus! Stille auf der Straße. Und nach einer Minute kam nichts mehr aus dem Fenster geflogen; es wurde gar nicht geschossen im Hause, es war nicht nötig. Auch zwei junge Offiziere waren die Besatzungsmacht. Und wie schnell diese Straßenecke menschenleer war. Nur der Aufstandsplünderscheiterhaufen brannte ab. Übrigens im Souterrain des Nebenhauses, einer Halbruine, da machten zwei Frauen die Gardinen ab und verstauten sie in Wäschekörben, aber wie flink! Schnell, schnell, ehe die Revolution vorbei ist!
Kleine Episoden, die eine jede ihren Teil vom Ganzen erzählen. Auf dem Karl-Marx-Platz an der großen Universitätsruine hielt ein Planenlastwagen, ihm entstiegen umständlich Volkspolizisten, ihnen wurden von Männern die Karabiner weggenommen, sie schlugen die Kolben gegen Trümmerquader, zwei Hiebe und die Waffe ist unbrauchbar, das Holz platzt ab. Diese Arbeiter waren auch Profis, Krieg und Gefangenschaft, es fiel kein Wort, keine körperliche Gewalt, eine merkwürdige Entwaffnung. Die da geschickt worden waren, Ordnung zu schaffen, es waren ganz junge Kerle, die Angst stand ihnen im Gesicht. Aber der Tag war noch nicht zu Ende.
Bertolt Brecht, einer vom »Emigranten-Adel«, so lautete unter uns die respektvoll-ironische Bezeichnung für jene heimgekehrten Vertriebenen, Namhafte oder Namhaftgemachte, an denen wir jungen Ratlosen uns orientierten, Brecht hatte es aphoristisch auf den Punkt gebracht. Dieser Aufstand war ihm die herbe Kontaktnahme der Arbeitermacht mit den Arbeitern. Eine Ernüchterung, und hart und sorgfältig vergessen in den folgenden 36 Jahren. Sein Kommentar zu Ausführungen des Dichters Kuba, wie tief enttäuscht die Regierung von ihren Arbeitern sei, und dass die lange und hart werden arbeiten müssen, um diese Scharte auszuwetzen, Brechts Gegenvorschlag war, die Obrigkeit löst das Problem an der Wurzel und wählt sich ein neues Volk bei der nächsten Volkswahl! Solche bittere Ironie erzählt von der entstandenen Lage, auch von Brechts Lage und der aller in eine Deutsche Demokratische Republik heimgekehrten Emigranten. Kaum gutsituiert, etabliert und hofiert, und wie war es ihnen denn ergangen in dieser Emigration, elend! Und nun gleich dieses gesellschaftliche Erdbeben auf einer eventuell ebenfalls nach oben offenen Skala. Eine für uns Jüngere schwer vorstellbare neue existentielle Verunsicherung; oftmals die letzte, drei Jahre später ist Brecht gestorben.
Noch eine Szene sei erinnert. An der Goethestraße, gegenüber der Oper war ein Kaffeehaus gehobener Klasse, später wurde da ein Gebäude modernen Stils errichtet, wie oft haben die Kulissen sich verschoben und haben gewechselt seit dem Kriege, der Name ist mir nicht mehr erinnerlich dieses doch recht eleganten Kaffeehauses. Dort waren die Tische voll besetzt, und die befrackten Kellner eilten bedienend, als die unübersehbaren Fabrikarbeiter-Kolonnen vom Bahnhof her in diese Straße einbogen, Zwölferreihen oder Sechzehnerreihen, man denke an den Herbst ’89, es waren die Belegschaften großer Betriebe, wohl aus dem Norden Leipzigs, Bleichert hieß so ein volkseigener Betrieb und hatte bis vor kurzem noch der Sowjetunion gehört. Die Menschenmassen kamen marschiert wie eine Flut, alle in ihren Schlosseranzügen, wie sie die Streiknachricht erreicht hatte bei der Arbeit, in den ersten Reihen die Kräftigsten, die waren zu einigem entschlossen!
Ich lief mit Passanten zwischen den offenen Fenstern des Kaffeehauses und den Streik-Kolonnen, da waren etwa drei Meter oder dreieinhalb Meter Abstand zwischen den beiden Welten. Die einen waren entschlossen, diesen Staat zu verändern, notfalls mit Gewalt, die anderen aßen ihr Stück Torte oder löffelten einen Eisbecher zum Kaffee, die Kellner bedienten, komplimentierten, kassierten, verbeugten sich vor Trinkgeldern: Kaffeehaus. Sie blickten schon auch manchmal hinaus in den Lärm, die breiten Fenster standen offen, ein schöner Sommertag! – Eine Szene, die sich Nachgeborene kaum auszudenken vermöchten, da alles Erinnerte einer Dramaturgie unterliegt, aber das Leben hat keine Dramaturgie, es ist das Leben.
»Solidarität mit Berlin«: Demonstrationszug vorm Leipziger Hauptbahnhof
Stadtgeschichtliches Museum Leipzig/Helga Müller
Ja, was war es denn nun gewesen, jedenfalls eine herbe Zäsur in der DDR-Geschichte vor 50 Jahren, folgenreich und letztlich bis heute wirkend; jene 1990 evaluierten Professoren und Direktoren waren die Abiturienten vom Sommer 1953! Und der darüber so mutig und souverän geschrieben hat und so meisterhaft, Uwe Johnson, er ist lange tot, daran gestorben letzten Endes. Sein Roman wurde im Osten nicht gedruckt, zu wenig DDR-Gesinnung, und er wurde im Westen nicht gedruckt, zu viel DDR-Gesinnung. Eine verpasste Gelegenheit, die Ereignisse und ihr Umfeld kenntnisreich und gerecht kennenzulernen. Die 1989 aufgedeckte Stasi-Welt, Stasiunterwelt, sie hatte ihre Wurzeln im Sommer 1953; es waren so schwarze Tage für die Macht, da erwuchs der Entschluss: Das passiert uns nicht ein zweites Mal. Jetzt wollen wir wissen und von jedem, was er sagt in den Versammlungen und was er denkt außerhalb der Versammlungen. Der Beginn von Schicksalen, hunderttausend Schicksalen.
Zwei Historikerforschungs-Ergebnisse liegen ja vor: Es war ein konterrevolutionärer Putsch imperialistischer Agenten, schnell und hart zu vergessen. Es war ein Volksaufstand, der zum »Tag der deutschen Einheit« wurde. Er wurde es, aber es hat gedauert, sogar Initiatoren hatten es inzwischen vergessen.
Auch ich habe mir meine Gedanken gemacht in den Jahrzehnten. Man hatte sich wohl einiges an Einsichten verbaut, indem man es auf ein Datum genagelt hat, also letztlich ein Tag. Nach einem halben Jahrhundert vermag man wohl zu sehen, was für eine umfassende Revolte es gewesen sein mag in einem elenden, zerbombten und von sechs Jahren Krieg ruinierten Nachkriegsdeutschland. Ich habe einiges mitgemacht, im Winter 1945 auf ’46 und im Frühjahr habe ich Webereien mit ausgeräumt, die Maschinen in Kisten eingeschalt für Reparationen, eine schlimme und zudem völlig sinnlose Zerstörungsarbeit im gekommenen Frieden.
Lange Vorgeschichte und lange Nachgeschichte. Dem Staatsvolk wurde ein großer Sprung zugemutet, und der misslang. Wer an die Macht kommt, der hat große Pläne, und kommt jemand von ganz unten, der hat ganz große Pläne. Dem Staatsvolk fällt dabei der leichtere Part zu, es muss sie nur ausführen, die Entbehrungen auf sich nehmen. Also zunächst sind einmal die Trümmer von den vorigen großen Plänen wegzuräumen. Aber die Arbeitenden liefen den Planenden davon. Ein hungerndes Volk lässt sich nochmals viel gefallen, aber eben nicht alles. Unsere Volksmärchen sind konzentrierte Volkserfahrungen, in den »Bremer Stadtmusikanten« sagen sich die schikanierten Tiere eines Tages: Genug, etwas Besseres als das findest du überall! Und die blieben, die revoltierten. Heute weiß man, dass Moskau der DDR-Führung einen »neuen Kurs« verordnet hatte, einen milderen. In Moskau hatte man Erfahrungen im Regieren fremder Völker, wie Aufstände niedergeschlagen werden, wie Aufstände verhindert werden. Für uns war es ein gefühltes Chaos, für sie war es eine wohldosierte Aktion.
Ehrend gedacht sei der naiv-mutigen Streikführer, Arbeiter, die sich von Arbeitskollegen überreden ließen, voranzugehen; schließlich musste ja einer die jahrelange lähmende Angst überwinden. Vorm Standgericht erfuhr er dann, dass er einen 3. Weltkrieg ausgelöst hätte, bewusst oder unbewusst, wie die so folgenreiche furchtbare Phrase damals lautete. Und wie mutiges und selbstloses Verhalten honoriert wird von den Vorsichtigeren, also Klügeren, das muss ja nicht immer wieder erzählt werden.
Mit größter Hochachtung sollte auch jener jungen Männer in der Uniform der Besatzungsmacht gedacht werden, die sich, in einen Aufruhr verwickelt, geweigert haben, auf Demonstranten zu schießen, ob in Prag oder Ostberlin oder Budapest. Womöglich hatte eine Mutter sie zu so einem Anstand erzogen, zu solchem Respekt vor dem Menschenleben, und die Soldaten sahen doch, dass sie auf Ihresgleichen schossen. Welche Naivität, denn gegen das Eingezogenwerden zum Militär konnten sie sich nicht wehren, und auf Befehlsverweigerung steht die Todesstrafe, die unehrenhafte Todesstrafe. Das abschreckende Beispiel. Wer weiß, wo und wie man sie verscharrt hat. Haben sie ein Denkmal? Welche Ehrentafel nennt ihre Namen? Sie hatten den Mut, nicht auf uns zu schießen und haben es mit ihrem Leben bezahlt.
Ja, was für eine Revolte damals, die Revolte eines unerhört und unsäglich geschundenen Volkes, Teilvolkes, aber dann kamen die Sieger. Und das Große Schweigen über alles Geschehene. Und wir dachten mit den Jahren, diese Siegersicht auf die Dinge währt ewig. Nichts währt ewig.
Horst Mende, Wirtschaftsjournalist, Jahrgang 1919, war 1953 als politischer Häftling im Leipziger Gefängnis in der Alfred-Kästner-Straße.
Gaby Waldeck
Horst Mende
Langsam normalisierte sich nach dem Krieg das Leben wieder. In unserer kleinen Wohnung im vierten Stock haben wir auf dem Balkon drei Hühner und Kaninchen gehalten. Und in den Parkanlagen waren alle Grünflächen zu Beeten umfunktioniert, auf denen die Mieter der umliegenden Häuser Tomaten, Möhren und andere Gemüse anbauten. Da musste nachts immer einer Wache halten.