Papa im Schuhkarton - Klaus Jost - E-Book

Papa im Schuhkarton E-Book

Klaus Jost

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Beschreibung

Erinnerungen drängen auf Bilanz, manche auf Verarbeitung. Der Erzähler schildert einen prägenden Teil seiner Lebensgeschichte. Sie beginnt mit seiner Geburt unter den Verheerungen und dem Chaos des Krieges, dem die schwangere Mutter zu entfliehen sucht. Er macht sich auf zu den Orten widersprüchlicher Erfahrungen, des Abenteuers im zerbombten und besetzten Frankfurt, des Erlebens von Gewalt im Erholungsheim und im kirchlichen Internat. Die frühe Kindheit ist bestimmt von der Beziehungssuche, dem Warten auf den unbekannten Vater, der erst spät aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt. Der Krieg und seine Folgen haben alles verändert. Das Familienleben ist schwierig. Der ältere Bruder scheitert. Klaus, der den verschollenen Vater zunächst nur phantasiert hat, erlebt ihn real lange als fremd. Es existiert dauerhaft große Distanz zwischen beiden, bis eine tödliche Erkrankung eine Wende bringt. Eine biografische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, erzählt von einem Psychologen.

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Klaus Jost

Papa im Schuhkarton

Aufwachsen zwischen Krieg und Frieden

Biografische Erzählung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2020 Helmholtzstr. 2-9 10587 Berlin Umschlag: Bernhard Bönisch Satz & Layout: LATEX Volker Thurner, Berlin

1  Vor meiner Zeit

Meine Großmütter Friederike und Katharina erzählten oft, wie sehr ich mich als Vierjähriger unter nachdrücklichem Hinweis auf die Verhältnisse in anderen Familien darüber beklagte, noch nicht einmal einen Opa zu haben, wo doch andere Kinder sogar mit zwei Opas aufwarten könnten.

Beide Großväter haben zwar den verheerenden ersten Weltkrieg überlebt, kommen aber krank in ihre Heimatstadt Frankfurt (Main) zurück. Opa Peter (von Beruf Prokurist einer Bootsbaufirma) stirbt 1927 mit 49 Jahren, wie es heißt, an einer „Geschwulst zwischen Herz und Lunge“. Opa Wilhelm (von Beruf Buchbinder) stirbt 1933 mit 51 Jahren an einer nicht behandelbaren, chronischen Lebererkrankung – im Zustand einer anhaltenden Gelbsucht.

Meine Mutter Elly ist zum Zeitpunkt des Todes ihres Vaters Peter 17 Jahre, ihre Schwester Magda 11, die beiden Brüder Hans und Karl 14 bzw. 20 Jahre alt. Fritz, der Zwillingsbruder von Magda, war noch während des Krieges 1918 im Alter von 3 Jahren an Unterernährung und infolge anhaltender epileptischer Anfälle in einem status epilepticus gestorben. Wie nicht wenige frühe Witwen der damaligen Zeit meistert Oma Katharina – mit Unterstützung einer Haushaltshilfe und Tochter Elly – den Alltag mit ihren vier Kindern in bewundernswerter Weise. Sie erbaut sogar 1936 ein vierstöckiges Wohnhaus in der Neuhaußstraße, im heutigen Frankfurter Stadtteil Nordend-Ost, gemäß ihren eigenen Vorstellungen. Sie lebt darin wohl die ihr gegebenen „Architektengene“ aus. Ein Vorfahr von ihr war, so wird überliefert, an der Erstellung des Heusenstammer Schlosses beteiligt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Katharina nicht selbst den Fortgang der Bauarbeiten an ihrem entstehenden Haus kontrollierend in Augenschein nimmt. Verwundert reiben sich Handwerker die Augen, wenn sie das Gerüst besteigt und sich auf diesem recht sicher fortbewegt – trotz ihrer Leibesfülle, die sie aufzuweisen hatte. Finanzieren kann sie den Neubau letztlich durch den Verkauf eines älteren, selbst genutzten Mietshauses in Frankfurt-Sachsenhausen. Dessen Erwerb war seinerzeit durch ihren Erbanteil an einer in Erbach im Taunus gelegenen Holz verarbeitenden Schneidmühle meiner Urgroßeltern möglich geworden. In dieses Mietshaus in der Schwanthalerstraße ziehen 1928 auch meine Großeltern väterlicherseits ein mit den Söhnen Erwin und dem 18-jährigen Willy, meinem späteren Vater.

Elly und Willy, beide gleich alt, treffen sich mitunter im Hausflur, wenn es darum geht, Kohlen aus den Kellerräumen zu holen, mit denen im  Winter die Öfen in den Wohnungen gefüllt werden mussten, um die nötige Wärme zu entwickeln. Anfangs begegnen sie sich höflich-distanziert, wie sich dies damals gehörte. Nach Abschluss der Lehre als Modistin und Hutmacherin unterstützt Elly ihre Mutter in der Haushaltsführung und in der Sorge um die jüngeren Geschwister. Nicht zuletzt aufgrund ihrer streng katholischen Erziehung fühlt sie sich angehalten, sich ein zu frühes Interesse am anderen Geschlecht zu versagen. Hinzu kommt, dass sie sich mit Gedanken trägt, zu gegebener Zeit vielleicht in ein Kloster der Benediktinerinnen einzutreten und als Nonne zu leben. Ich bin dankbar, dass sie von dieser Vorstellung schließlich abgerückt ist. Mein Vater Willy trug sicher seinen Teil dazu bei.

Haus in der Schwanthalerstraße, in dem die Familien meiner Eltern seit den 1920er Jahren wohnten; Elly und Willy lernen sich dort kennen.

Es bleibt denn auch nicht bei den distanzierten Begegnungen. Die Treffen von Elly und Willy im Kellergeschoss geschehen zunehmend weniger zufällig, sind aber zeitlich sehr limitiert, um keinen wie auch immer gearteten Verdacht aufkommen zu lassen. Willy ist es wohl, der seinem Interesse an Elly Ausdruck verleiht. Sie sorgen schließlich beide dafür, sich näher kennenzulernen, sie sprechen über Themen zu Berufstätigkeit, Freizeitinteressen und religiösem Leben in der katholischen Kirche. Besuche meines Vaters in der Wohnung von  Ellys Familie dürfen jedoch nur stattfinden, wenn entsprechend den Vorstellungen von Katharina eine „Aufsicht“ vorhanden ist. Ein Alleinsein der beiden hätte Großmutters äußerste Missbilligung erfahren. Voreheliche Beziehungen waren undenkbar. Man hatte nach den Geboten der katholischen Kirche „rein in die Ehe zu gehen“. Welche Zeiten! Sie liegen noch gar nicht so lange zurück.

Ein in Braunau (Oberösterreich) geborener, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammender und in der Ausbildung zum Kunstmaler gescheiterter Mann namens Adolf Hitler wird im Juli 1921 Vorsitzender der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Nach einem missglückten Putschversuch 1923 und einer vorübergehenden Inhaftierung strebt Hitler schließlich nicht mehr durch Revolution, vielmehr auf legalem Weg zu politischer Macht. Die Unzufriedenheit über die Versailler Verträge, die Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929, verbunden mit einer hohen  Zahl von Arbeitslosen, spielen ihm in die Hände. Die NSDAP wird schließlich stärkste Partei und Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Hitler ist am Ziel. Die Partei mit ihren Untergliederungen versucht, Andersdenkende mundtot zu machen. Sogenannte Säuberungsaktionen betreffen auch Kunst und Kultur, deren Werke als „zersetzend“ diffamiert werden.

September 1933. Elly und Willy allein auf einer ihrer geliebten Fahrradtouren im Taunus.

Am 10. Mai 1933 werden Erich Kästner und andere auf dem Berliner Opernplatz Zeugen des Spektakels, wie die Nazis Bücher und Schriften bekannter Autoren ins Feuer werfen und öffentlich verbrennen. Goebbels nennt die Namen vieler Schriftsteller, Heinrich und Thomas Mann, Franz Werfel, Bert Brecht, Stefan Zweig, Franz Kafka, Heinrich Heine, Erich Kästner, Sigmund Freud u. a. Etwa zeitgleich werfen deutsche Studenten in allen Universitätsstädten (u. a. in München, Dresden, Breslau und Frankfurt am Main) tonnenweise Bücher „wider den undeutschen Geist“ ins Feuer. Betroffen sind hunderte Autoren. Der in Szene gesetzte Vernichtungsablauf findet unter teils großen Begeisterungsrufen der zuschauenden Menschenmenge statt, die das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch ….“), die offizielle Hymne der NSDAP, singt. Mit dem Ermächtigungsgesetz, mit dem sich der Reichstag selbst matt setzt, kann Hitler alle Gegner und Oppositionelle ausschalten. Nach Hindenburgs Tod 1934 vereint Hitler als Reichskanzler und Führer schließlich alle Macht auf seine Person.

2  Es kommt vieles anders

In der Familie meiner Mutter Elly herrscht ein reges Kommen und Gehen. Man hat ein offenes Haus. Ihr geliebter Bruder Karl schließt sein Studium der Philosophie und Pädagogik an den Universitäten München, Frankfurt am Main, Paris und Bonn im Jahr 1929 mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Studienfreunde sind oft zu Besuch. So auch der junge, 26-jährige Leo, der Volkswirtschaft studiert und mit seiner Dissertation befasst ist. Leo interessiert sich für Elly und bringt dies auch zum Ausdruck. So kommt es, dass sich beide öfter zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, am liebsten an den Flussufern des Mains. Besonders reizvoll ist für sie das Laufen am Wasser im Licht der langsam untergehenden Abendsonne. Als eines Tages Leo die Initiative ergreift und die Sprache auf eine mögliche gemeinsame Zukunft bringt, erklärt Elly, nicht heiraten zu wollen. Sie befasse sich noch immer mit dem Gedanken, vielleicht in ein Kloster einzutreten. Aber da gibt es ja auch noch Willy!

Einige Monate später: Auf einer Zugreise mit ihrem älteren Bruder zum französischen Wallfahrtsort Lourdes erklärt Karl seiner Schwester kurz vor der Ankunft in Paris, er habe ihr von Leo Grüße auszurichten. Leo habe sich inzwischen für eine andere Frau entschieden. Er sei sogar bereits verlobt. Elly ist gekränkt, dies nicht von Leo selbst erfahren zu haben, muss sich aber – in Tränen aufgelöst – eingestehen, ihm ja keinerlei Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gemacht zu haben. Die Sehenswürdigkeiten und die Atmosphäre von Paris sowie die eindrucksvollen Erlebnisse am Wallfahrtsort Lourdes lenken von der Kränkung ab.

Zurück in Deutschland, bahnt sich 1935 ein ereignisreiches Jahr an. Das Abklingen der Weltwirtschaftskrise und der Rückgang der Arbeitslosigkeit wird vom nationalsozialistischen Regime als dessen Erfolg verkauft. Hitler bekommt Zulauf, auch von früheren politischen Gegnern. Die Gleichschaltung funktioniert, die politische Opposition hat keine Stimme mehr. Der Rassenwahn findet nicht nur im Boykott jüdischer Geschäfte, sondern auch in den Nürnberger Gesetzen von 1935 seinen Niederschlag, u. a. im Verbot von Eheschließungen zwischen Juden und Ariern.

Privat hat sich Elly von der empfundenen Zurückweisung durch Leo erholt. Treffen und gemeinsame Unternehmungen mit Willy tragen dazu bei. Sie vertiefen zugleich auch die Gefühle der beiden zueinander. Die Vorstellung von einem klösterlichen Leben ist für Elly jetzt kein Thema mehr. Beide sprechen schließlich von Heirat. Im Februar 1935 verloben sie sich. Sechs Monate später heiraten sie standesamtlich, tags darauf findet die kirchliche Trauung im Rahmen eines Brautamtes in der Frankfurter Bonifatiuskirche statt. Ordnung muss sein! Gleich zu Beginn der Messe, an der die Verwandten, aber auch eine beachtliche Zahl von Bekannten der beiden Familien teilnehmen, erschrecken nicht wenige Kirchenbesucher durch ein plötzliches lautes Aufschreien der erschütterten und weinenden Schwiegermutter Friederike. Mutter erzählt später, dass sie sich in diesem Moment ausgesprochen „schlecht“ vorgekommen sei, „wie eine Diebin“, die der Mutter ihren Sohn weggenommen habe. Offenbar ist auch der Pfarrer, der zuvor in der Kirche ein Requiem abgehalten hatte, durch den weinenden Aufschrei von Großmutter Friederike beeindruckt. In seiner Begrüßung der versammelten Gemeinde formuliert er denn auch: „Liebes Brautpaar, liebe Trauergemeinde!“ Nicht zuletzt durch die erstarrten Gesichter des Brautpaares und die anschwellende Unruhe in Reihen murmelnder Kirchenbesucher bemerkt er sogleich den lapsus linguae, entschuldigt sich mit hochrotem Kopf und erklärt kurz, wie ihm dieser Versprecher unterlaufen konnte. Die nun aufkommenden erheiterten Reaktionen erlauben auch dem Brautpaar, jetzt wieder relativ entspannt zu sein. Der Hochzeitstag findet in einer ausgelassenen Feier mit der Verwandtschaft, vielen Freunden und Bekannten einen guten Abschluss. Eine Hochzeitsreise des Paares ist für einen späteren Zeitpunkt geplant.

Elly und Willy beziehen im September 1935 ihre erste gemeinsame Wohnung in der Bülowstraße, im Gutleutviertel von Frankfurt, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Auch Großmutter Friederike vollzieht nach dem Auszug beider Söhne nun einen Wohnungswechsel von der Schwanthalerstraße in den Grethenweg, bleibt damit aber in ihrem geliebten Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Mein Vater arbeitet als gelernter Kaufmann bei Felina, einer Textilfirma zur Unterwäscheherstellung, die Mutter als Modistin. Sie entwirft elegante Damenhüte und fertigt sie auch den speziellen Wünschen der Kunden entsprechend an, überwiegend in Handarbeit. Mit „Kraft durch Freude (KdF)“, einer seit 1933 bestehenden, nationalsozialistischen Organisation, die der deutschen Bevölkerung Freizeit- und Reiseangebote macht, unternehmen Elly und Willy im Urlaub Fahrten innerhalb Deutschlands, vorwiegend nach Bayern, zu den verschiedenen Seen und Gebirgsorten. Sie treffen bei diesen Fahrten auf Leute, die sie offensichtlich politisch indoktrinieren wollen, lernen aber auch neue Freunde kennen, mit denen sie dauerhaft im Kontakt bleiben. An Wochenenden sind sie regelmäßig mit ihren Rädern auf Tour, im Taunus, Spessart oder Odenwald. Hierbei kann Willy auch seinem Hobby des Fotografierens mit seiner Agfa Billy nachgehen. Es ist eine Kamera aus den 1930er Jahren, deren Objektivstandarte in der Art einer Ziehharmonika aus dem Gehäuse herausgeklappt wird. Mit einem Rollfilm bestückt, werden nach der Entwicklung in einem Labor Schwarzweißbilder, meist im Format 6 x 9 cm gefertigt. Willy fotografiert die Orte und deren Sehenswürdigkeiten, an denen sie sich aufhalten. Sein Lieblingsmotiv ist Elly, die bei vielen Bildgestaltungen dann auch den „Vordergrund“ darstellt – die eigentliche Sehenswürdigkeit. Im Gegensatz zum heutigen inflationären Fotografieren erfolgte dies früher besonders, um ganz bestimmte Gegebenheiten und Lebenssituationen im Bild festzuhalten und so das Gedächtnis daran zu unterstützen, sodass das spätere Erinnern leichter fiel und mit Hilfe der Bilder Schilderungen anschaulicher wurden. Fotos waren ein Indiz für die Erinnerungswürdigkeit dessen, was in ihnen festgehalten wurde.

Elly und Willy haben Pläne für die Zukunft. Sie richten sich in ihrer Dreizimmerwohnung zeitgemäß ein, auch mit einzelnen alten Möbelstücken aus den Herkunftsfamilien in einem wunderschön glänzenden Kirschholzrot. Die Zimmeraufteilung folgt einem frühen gemeinsamen Kinderwunsch. Elly durchlebt denn auch ab Herbst 1936 eine weitgehend komplikationsfreie Schwangerschaft. Das Paar ist voller Erwartung auf die bevorstehende Geburt. Unwissend im Hinblick auf das Geschlecht – Ultraschalluntersuchungen gibt es ja nicht – freuen sich beide, bald eine Tochter oder einen Sohn in den Armen halten zu können. Ohne es auszusprechen, wünscht sich Vater eher eine Tochter.

1937 ist es so weit, mein Bruder Helmut ist der Erstgeborene. Er ist ein Kind mit Engelsgesicht, das bald eine zunehmend vollere, hellblonde Lockenpracht entwickelt, sodass Bekannte und Passanten auf der Straße die Mutter ansprechen und auch den Jungen durchaus noch längere Zeit für ein Mädchen halten. Äußerungen wie „Du bist aber ein hübsches Mädchen!“ quittiert der kleine Helmut stets mit einer Entgleisung seiner ansonsten durchaus Freundlichkeit ausdrückenden Gesichtszüge und einem Einsatz von Weinen, das in Schreien übergeht. Mutter ist deshalb bemüht, derartige irrige Fremdeinschätzungen sogleich zu korrigieren, den Jungen zu beruhigen und so auch sein durchdringendes Schreien, das die Aufmerksamkeit anderer auf sie lenkt, zu beenden. Helmuts frühe Entwicklung offenbart ein lebhaftes Temperament. Die ersten Lauf- und Sprechversuche bereiten den Eltern große Freude und lösen in seiner Umgebung auch Heiterkeit aus. Vater Willy verbringt so viel Zeit wie irgend möglich im Spiel mit seinem Sohn. Zu den Wochenenden werden Verabredungen mit befreundeten Familien und deren Kindern getroffen, um Ausflüge in den Taunus oder Spessart zu unternehmen. Doch in der vermeintlich heilen Familienwelt sollte bald vieles anders werden.

1940. Tage vor dem Marschbefehl nach Frankreich Anfertigung einiger Bilder der jungen Familie beim Fotografen. Die Eltern mit Helmut, dem Erstgeborenen (3 Jahre).

Den persönlichen Vorstellungen und Träumen von Elly und Willy stehen zunehmend Alarmzeichen in Politik und Gesellschaft entgegen. Schutzstaffel (SS) und Geheime Staatspolizei (Gestapo) verüben – meist noch verdeckt – Gewalttaten. Nachts kommt es zur Zerschlagung von Schaufenstern jüdischer Geschäfte. Die Polizei schützt die abkommandierten Täter. Verkauft wird die Aktion als spontaner Aufstand der deutschen Bevölkerung gegenüber jüdischen Händlern. Sichtbar wird der Terror in der „Kristallnacht“ vom 9. zum 10. November 1938 durch die Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen. Tage danach erfährt Elly, dass ihre beiden jüdischen Chefs der Firma, in der sie bis 1936 arbeitete, verhaftet worden sind. Es wird ihnen eine „unredliche Firmenführung“ vorgeworfen.

Schon bald lässt die Expansionspolitik Hitlers frühere Befürchtungen eines möglichen Krieges zu einer unheilvollen Ahnung werden, die schließlich Wirklichkeit wird. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Das unvorbereitete Polen gibt sich nach 18 Tagen geschlagen. Willy – gerade 29 Jahre alt – erreicht Mitte 1939 die Einberufung zum Kommiss, zur deutschen Wehrmacht. Er durchläuft in Frankfurt-Bonames eine Kurzausbildung zum Soldaten. Was ihn erwarten sollte, darauf ist er – wie auch alle anderen Kameraden – nicht wirklich vorbereitet. Eine Einstellung auf das Grauen ist ohnehin nicht leistbar. Am frühen Morgen des 10. Mai 1940 beginnt der Frankreichfeldzug, deutsche Panzer rollen auf Paris zu. Der Kampf ist nach wenigen Wochen entschieden. Juni 1940 endet der Westfeldzug der Deutschen mit der französischen Kapitulation und der teilweisen Kollaboration. Erst 1944 soll schließlich der Resistance unter Charles de Gaulle mit Unterstützung durch die alliierten Truppen die Rückeroberung des Landes gelingen. Im August desselben Jahres kann Paris seine Befreiung feiern.

Vater wird im September 1940 als Infanterist ins besetzte Frankreich abkommandiert. Tage vor dem Marschbefehl sucht er mit Frau und Sohn Helmut einen Fotografen auf und lässt Bilder von der jungen Familie anfertigen, von denen er zwei an sich nimmt. Es kommt der Tag des Abtransportes. Mutter begleitet Willy zum Frankfurter Hauptbahnhof, wo er auf seine Truppe trifft. Paare liegen sich zum Abschied in den Armen. Soldaten rufen weinenden Frauen mit gespielter Ausgelassenheit zu: „Vor Weihnachten ist der Krieg zu Ende, Weihnachten sind wir alle wieder zu Hause!“

Vaters Einheit ist im Osten Frankreichs, in der kleinen Ortschaft Aisey-sur-Seine, südlich von Chatillon-sur-Seine (im Departement Cote d’Or) stationiert. Er ist einer Abteilung zugeordnet, die für die Versorgung und Verpflegung der deutschen Truppe zuständig ist. Mutter erhält häufig Nachricht von ihm, auch aus Paris, das er gemeinsam mit anderen Soldaten der Truppe für mehrere Tage besuchen kann. Sie sind im Hotel untergebracht. Nicht wenige amüsieren sich in der „Stadt der Liebe“, Bordellbesuche werden durch Vorgesetzte organisiert. Vater zieht es vor, mit einigen Kameraden Paris anzusehen und geht – begleitet von seiner Agfa Billy – seinem Hobby nach. Mutter schreibt er oft, wie sehr er sie vermisst. Er macht sich Sorgen und fragt, wie es um sie steht, wie sie zurechtkommt und wie sich sein dreijähriger Sohn Helmut entwickelt. Mutters Antwortbriefe sind in der Absicht geschrieben, Willys Sorgen zu zerstreuen und ihre eigenen Zukunftsängste nicht erkennbar werden zu lassen.

Sein erster Heimaturlaub ist Ende April 1941. Einige Tage kann Willy zu Hause bei seiner Familie in Frankfurt verbringen. Er besucht mit Elly und dem jetzt fast vierjährigen Helmut Oma Friederike und Katharina sowie andere weibliche Verwandte und Bekannte. Die Männer befinden sich fast ausnahmslos in Wehrmachtseinsätzen. Willy ahnt, dass er als Soldat bald nach Russland ziehen muss. Entsprechende Gerüchte machen in der Truppe die Runde. Die Tage zu Hause vergehen viel zu rasch. Wieder heißt es, Abschied zu nehmen.

Am 1. Mai ist Willy zunächst wieder Soldat in Frankreich. Juni 1941 ist Aufbruch. Es sind die letzten Tage der Truppe in Aisey-sur-Seine. Abmarsch zum Bahnhof, Gepäck und Ausrüstung werden verladen. Die Zugfahrt geht Richtung Osten. Trotz eines seit August 1939 bestehenden Nichtangriffspaktes mit Russland beginnt Hitler in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion den Ostfeldzug und setzt damit seinen seit längerem gehegten Plan eines Präventivkrieges gegen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in die Tat um. Das deutsche Ostheer tritt auf der ganzen Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zum Angriff an. Stalin lässt den „Großen Vaterländischen Krieg“ ausrufen. Vaters Truppe gelangt nach Weißrussland, in die Nähe von Minsk. Sie rückt weiter nach Osten vor. Im Zuge der Eroberung der Stadt Magiljow im Juli 1941 durch die deutsche Wehrmacht ist Vater seit Beginn des Krieges erstmals in Kampfhandlungen eingebunden. Viele Soldaten fallen. Die Verluste an Menschenleben auf deutscher wie russischer Seite sind enorm. Überlebende russische Soldaten geraten in deutsche Gefangenschaft. Auch verüben die SS-Truppen Himmlers in Magiljow und Umgebung Gräueltaten an vielen Juden. Sie werden hierin von ukrainischen Hilfspolizisten unterstützt, die ein Ghetto einrichten, in dem Juden zwangsweise leben müssen, um sie später vor der Stadt zusammenzutreiben und zu exekutieren.

1941. Vater in den letzten Tagen seines Einsatzes in Frankreich.Beim Fotografen lässt er von sich Bilder anfertigen, die er seiner Frau nach Hause schickt.

An verschiedenen Frontabschnitten kommt es immer wieder zu Kampfhandlungen. Die Erfahrungen in Weißrussland machen Vater krank. Er wird ins Lazarett verbracht. Ärzte diagnostizieren eine Leberentzündung mit beginnender Gelbsucht sowie den Verdacht eines Magendurchbruchs. Mehrere Magengeschwüre werden festgestellt und konservativ behandelt. Eine Operation mit Teilentfernung des Magens soll vermieden werden. Viel zu früh diensttauglich eingeschätzt, kommt es zu Krankheitsrezidiven und zu immer neuen Lazarettaufenthalten. Schließlich wird Vater im Juni 1942 ein mehrtägiger Sonderurlaub zur Erholung in der Heimat gewährt.

Von Erholung kann indes keine Rede sein. Seit März 1942 finden zunehmend Großangriffe der westlichen Alliierten auf Industrie- und Verkehrsanlagen sowie auf Wohnviertel deutscher Großstädte statt mit dem Ziel, die deutsche Produktion zu lähmen und die Zivilbevölkerung zu zermürben. Nahende Bomber hören sich wie ein fernes Grollen eines heraufziehenden Gewitters an, während der Sirenenalarm den Luftangriff oft zu spät ankündigt. Die Eltern versuchen sich ihre Belastungen und Ängste nicht anmerken zu lassen und mit ihrem bald fünfjährigen Sohn Helmut in den wenigen gemeinsamen Tagen einen möglichst normalen Alltag zu leben.

Vater wird erneut an die Ostfront beordert. Mit den Truppenverlegungen kommt er jetzt zum Einsatz in die Nähe von Stalingrad (Wolgograd). Dort findet eine der grausamsten Schlachten des zweiten Weltkrieges statt. September 1942 erobert die Wehrmacht ca. 90 Prozent Stalingrads. Bereits Ende November jedoch wendet sich das Blatt. Die deutschen Verbände werden von der Roten Armee eingekesselt. Februar 1943 kapitulieren die deutschen Truppen. Stalingrad ist nahezu komplett zerstört. Nach Angaben von Historikern sollen bis Anfang 1943 ca. eine halbe Million russischer Soldaten und eine unbekannte Zahl von Zivilisten in der Schlacht um Stalingrad ums Leben gekommen sein. Auf deutscher Seite werden zwischen 150 000 und 250 000 Opfer angegeben. Viele Soldaten starben an Hunger, Grippe, Durchfallerkrankungen oder waren bei eisiger Kälte erfroren.

Es sind Berichte über die Hölle von Stalingrad, die in München die studierenden Geschwister Hans und Sophie Scholl veranlassen, die Aktivitäten in der von ihnen gegründeten Widerstandsgruppe Weiße Rose zu verstärken. Sie versuchen u. a. mit Flugblattaktionen einen breiten deutschen Widerstand gegen den Krieg und den nationalsozialistischen Terror zu mobilisieren und die Bevölkerung zur Rückeroberung ihrer Freiheit zu gewinnen. Sophie und Hans Scholl werden nach dem Abwurf von Flugblättern auf dem Gelände der Münchner Universität am 18. Februar 1943 verhaftet. Vier Tage später werden sie in einem Schauprozess, dessen verordneter Ausgang längst feststand, vom Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Die Vollstreckung erfolgt am gleichen Tag. Auch ihre Mitstreiter werden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Morden durch die Justiz ist staatlich legitimiert.

Im Russlandfeldzug beginnen jetzt auf breiter Front die Rückzüge der überlebenden deutschen Soldaten Richtung Westen. Vater erkrankt erneut. Eine mit Fieberschüben einhergehende Furunkulose droht sich auf verschiedene Körperbereiche auszubreiten. Seine Vorgesetzten schicken ihn zur Behandlung in die Heimat. Im Juni 1943 kommt er nach Frankfurt und wird in der Städtischen Klinik ambulant ärztlich versorgt. Vaters Aufenthalt in der Familie dauert zehn Tage. Es sind Tage des Schweigens über die erlebten Schrecknisse, aber auch des unverdienten Glücks, das in den Begegnungen mit der Familie und Verwandten empfunden wird, weil man noch am Leben ist.

Die Abreise naht. Vater hat seinen geliebten Fotoapparat, die Agfa Billy, mit nach Hause gebracht und bittet nun Mutter, ihn gut aufzubewahren. Der traurige Abschied mit unterdrückten Tränen geschieht im Bewusstsein, dass es ein Abschied für immer sein könnte. Zugleich konzentrieren sich die gegenseitigen Wünsche auf ein Hoffen auf Wiedersehen, dem im Ausdruck insofern Sicherheit verliehen wird, weil alle auf Gott vertrauen wollen.

Vater wird jetzt erneut an der verbliebenen Ostfront eingesetzt. Dort beginnt im Juli 1943 eine letzte große Offensive der Wehrmacht, die bald eingestellt werden muss. Bei immer wieder stattfindenden Kämpfen mit der Roten Armee werden die Truppen versprengt. Vater verliert mit anderen Soldaten den Anschluss und gelangt mit einer anderen Einheit auf dem weiteren Rückzug in den Kaukasus, in die Nähe der Stadt Tiflis, wo er in russische Gefangenschaft gerät. Er hat Glück, dass er nicht – wie viele andere Soldaten – sofort erschossen wird. Für ihn beginnt jetzt eine schreckliche Reise durch verschiedene russische Gefangenenlager, die auf langen Fußmärschen und durch Transporte in offenen Eisenbahnwaggons erreicht werden. Viele überleben die Strapazen nicht. Endstation ist ein Kriegsgefangenenlager in Sibirien, in das Vater mit anderen deutschen Soldaten gebracht wird.

3  Der „Totale Krieg“

Menschen fliehen oder sterben, ich werde geboren

1943 verkündet der Propagandaminister Joseph Goebbels den „Totalen Krieg“ und viele Deutsche, die seine Rede im Berliner Sportpalast hören, jubeln ihm zu. Die Kriegsproduktion der deutschen Industrie erreicht jetzt einen Höhepunkt. Zeitgleich nehmen die Luftangriffe der Westalliierten auf deutsche Großstädte, vor allem auch auf Arbeiterstädte des Ruhrgebiets zu. Es herrscht eine kombinierte Offensive gegen Deutschland: Die Briten bombardieren nachts, die Amerikaner tagsüber. Der Krieg bezieht längst die Zivilbevölkerung mit ein, die vor den Luftangriffen in erstellte Bunker, andere Luftschutzräume, vorwiegend aber in eigene Keller flieht. Infolge der Zerstörungskraft alliierter Bombenabwürfe ist bereits ein erheblicher Teil des Wohnraums im Deutschen Reich vernichtet. Im Juli sollen allein auf Hamburg 9000 Tonnen Bomben niedergegangen und 35 000 Zivilisten getötet worden sein. Stadtbewohner fliehen zu Bekannten oder Verwandten aufs Land oder sie hausen in Ruinen und erhaltenen Kellern. Ende 1943 haben über 700 000 Einwohner  die Reichshauptstadt Berlin verlassen. Eltern werden jetzt wiederholt aufgefordert, in luftkriegsgefährdeten Gebieten die Kinderlandverschickung in Anspruch zu nehmen. Die Evakuierung von Kindern wird massiv verstärkt. Sie werden auf dem Land in  Lagern untergebracht und leiden sehr unter Heimweh.

Mutter befindet sich im fünften Monat ihrer Schwangerschaft. Verwandte, vor allem Großmutter Katharina, bedrängen sie, Frankfurt zu verlassen, was sie mit Rücksicht auf ihre Freundin Hedwig und deren acht Monate alten Sohn Ernst zunächst ablehnt. Die gegenseitige soziale Unterstützung bedeutet beiden viel. Bei einem Fliegerangriff, vor dem Mutter und Helmut im Keller Schutz suchen, wird ihr Wohnhaus in der Bülowstraße von einer Brandbombe getroffen. Es wird teilbeschädigt und ist nach der Beurteilung des Bauzustandes durch Feuerwehr und Hauseigentümer nur noch in den unteren Stockwerken bewohnbar. Mutter zählt nun zu den Ausgebombten. Sie ist voller Angst und entschließt sich jetzt, der Einladung von Verwandten in Camberg (Taunus) zu folgen und Frankfurt zu verlassen, nachdem ihr auch der Pfarrer ihrer katholischen Gemeinde dringend dazu rät. Auf dem Land sei man in dieser schweren Zeit sicherer und Gott werde ihre Freundin Hedwig sowie den kleinen Ernst behüten. Darauf könne sie vertrauen. Mutter und Oma Katharina veranlassen die Räumung der Wohnung in der Bülowstraße. Möbel, Einrichtung und auch Kleidungsstücke, die bei dem Löschwassereinsatz der Feuerwehr nicht schwer beschädigt wurden, sollen in ein zentrales Lager transportiert werden, in dem sie auf unbestimmte Zeit verbleiben können. Den Erfolg der Aktion warten Elly und Katharina nicht mehr ab. Der Hausbesitzer will sich darum kümmern. Sie packen eilig einige Habseligkeiten, auch Vaters Fotoapparat, in zwei Koffer und einige Taschen, insbesondere warme Winterkleidung. Es ist bereits November und vor allem nachts bitter kalt. Mutter, Großmutter und mein sechsjähriger Bruder Helmut bereiten sich vor, mit Bus und Eisenbahn nach Camberg zu fahren – eine Reise, die in den Tagen des Krieges geradezu abenteuerlich ist, weil man nicht weiß, wann und ob man wirklich ankommt. Es sind viele Menschen auf der Flucht aus den Großstädten.

Mutter hat Mühe, die Wohnung zu verlassen. Viele gute Erinnerungen an das Leben der jungen Familie sind damit verknüpft. Hatte sie stets gehofft, dass Willy bald hierher zurückkommen wird, ist sie stattdessen nun Monate ohne irgendeine Nachricht über seinen Verbleib. Ihre Gemütsverfassung ist seit Wochen schwankend zwischen Traurigkeit und Wiedersehensgewissheit. Sie hört immer wieder davon, dass Männer im Kampfeinsatz gefallen sind. Daran will sie gar nicht denken. Die Vorstellung, dass Willy – wie viele deutsche Soldaten im Russlandkrieg – womöglich in Gefangenschaft geraten ist, hat demgegenüber sogar eher etwas Tröstliches, weil er dann noch lebt!

Der seinerzeit noch recht kleine Ort Camberg im Taunus (heute: Bad Camberg) ist von Frankfurt 52 Bahnkilometer entfernt. Elly, Helmut und Katharina brechen auf. Sie kommen auf Umwegen, nach wiederholtem Umsteigen und langen Bahnhofsaufenthalten infolge Zugausfällen schließlich in Camberg an. Nach fast 9 Stunden sind sie völlig erschöpft. Wie zuvor mit der Verwandtschaft verabredet, kann Großmutter Katharina ein kleines Zimmer mit Kochgelegenheit in einem Gasthaus bewohnen, das sonst für das Hauspersonal bestimmt ist. Elly und Sohn Helmut finden bei ihrer Cousine Kätha und deren siebenjähriger Tochter Anna eine Bleibe. Sie können eines von drei Zimmern beziehen, Küche und sanitäre Einrichtung mitbenutzen. Mit der Enge müssen sie sich begnügen. Es soll ja nur für kurze Zeit sein. Alle hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist – eine trügerische Hoffnung!

Der gelebte Alltag mit den Verwandten ist zunehmend schwierig. Das Wenige, was zum Lebensunterhalt und Essen bleibt, soll gerecht verteilt werden, wobei die besonderen Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen sind. Mutters Cousine Kätha ist jedoch auf ihren Vorteil bedacht. Sie übernimmt die Küche und bestimmt die Verarbeitung der zugeteilten Lebensmittel. Mutter lässt sie gewähren und wird ausgenutzt. Sie ist ungeachtet ihrer Schwangerschaft für belastende Aufgaben zuständig, indem sie für alle wäscht und die Wohnung rein hält. Der Ärger darüber wird nicht ausgedrückt. Was bleibt, sind Spannungen. Das Angebot einer kleinen, bescheidenen Zweizimmerwohnung am Ort, die Großmutter Katharina eines Tages ausfindig machen kann, schlägt Mutter dennoch aus, weil ihre Cousine sie mit den Worten „…was werden die Leute sagen, wenn du ausziehst!“ unter Druck setzt.

Weihnachten 1943 und den anschließenden Jahreswechsel verbringen Mutter und Helmut zusammen mit Großmutter in deren kleiner Behausung. Sie wollen unter sich sein. Die tröstenden Worte des Pfarrers in den besuchten Gottesdiensten können die traurige Stimmung nicht vertreiben. Mutters weitere Bemühungen, etwas über den Aufenthalt von Vater zu erfahren, bleiben erfolglos.

Der von den Nationalsozialisten losgetretene Weltkrieg dauert jetzt schon über vier Jahre an. Viele Staaten sind beteiligt. Die Wirkung der ständigen Luftangriffe ist für die deutsche Bevölkerung verheerend. Nicht nur die Innenstädte von Augsburg und Frankfurt am Main werden zerstört. Sämtliche historischen Gebäude des Zentrums von Frankfurt, darunter die Paulskirche und Goethes Geburtshaus, der Römer und die Altstadt mit ihren Fachwerkbauten, die zu den größten mittelalterlichen Komplexen in Deutschland gehörten, fallen in zwei Angriffswellen am 18. und 22. März 1944 dem Bombardement der Alliierten zum Opfer. Der Luftkrieg schließt längst Kleinstädte und auch ländliche Gebiete mit ein. Vielen tausenden Menschen bringt er den Tod. Überlebende in den Großstädten versuchen sich in Untergeschossen und Kellern zerstörter Häuser einzurichten.  

Anfang März nähert sich Mutters Schwangerschaft dem Ende. Während der Verrichtung von Hausarbeiten setzen wiederholt Wehen ein. Katharina drängt ihre Tochter, keine Zeit mehr zu verlieren und zur Entbindung das Krankenhaus aufzusuchen. Sie begleitet Elly. Im Krankenhaus angekommen, ist es höchste Zeit, es werden umgehend alle Vorbereitungen zur Entbindung getroffen.

Es ist Montagnachmittag, der 6. März 1944. Als zweiter Sohn meiner Eltern komme ich im Hospital zu Camberg zur Welt. Mein Bruder Helmut ist fast sieben Jahre alt. Ich bin jetzt das Kind des letzten Heimaturlaubs meines Vaters bei seiner kleinen Familie, bevor er im Juli 1943 wieder an die Ostfront abkommandiert wurde. Wunschkind oder nicht Wunschkind – das war seinerzeit für Familien keine Frage. Obwohl meine 34-jährige Mutter körperlich sehr geschwächt ist, verläuft meine Geburt ohne Komplikationen. Für Mutter war mein Heranwachsen in der Schwangerschaft allerdings sehr kräftezehrend, sie wiegt jetzt nur noch 47 kg. Als der die Geburt begleitende Arzt meinen Kopfhaarflaum wahrnimmt, ruft er mit einem vergleichenden Blick auf Mutters dunkelblondes Haar: „Was ein goldiger Bub!“ und fragt sie mit Hinweis auf meine rot-blonden Härchen: „Wer ist denn in der Familie so goldig?“ Leicht verlegen und etwas grübelnd fällt Mutter schließlich ein, dass zwei Cousinen meines Vaters diese Haarfarbe haben. Sie fühlt sich entlastet, begreift sie doch die Frage des Arztes auch als ein leichtes Misstrauen im Hinblick auf die Vaterschaft.

Ich werde in eine Welt geboren, in der das nationalsozialistische Regime das Sterben verklärt und Menschen gewillt sind, „für Führer, Volk und Vaterland“ in den Tod zu gehen. Andere sind entschlossen, Land zu zerstören, Menschen auszulöschen und Hitlers Befehl entsprechend „verbrannte Erde“ zu hinterlassen. In dieser Situation der völlig ungewissen nahen Zukunft drängt es die besorgte Mutter und Großmutter, mich eilends katholisch taufen zu lassen. Eine sogenannte Nottaufe, die auch kirchliche Laien vornehmen dürfen, hatten sie bereits vollzogen. Nur so meinen sie, die Sicherheit zu haben, dass ich im Falle des Todes nicht an einen „neutralen Ort“ gelange, sondern durch den mit der Taufe verbundenen „Erlass der Erbsünde“ in den Himmel kommen kann. Sie haben es offenbar sehr gut mit mir gemeint. Der Himmel sollte mir gewiss sein. Der im kirchlichen Dienst stehende Ortspfarrer tauft mich wenige Tage nach der Geburt im Hospital. Ich erhalte die Namen Klaus und Johannes, letzteren von Mutters Bruder Hans, der Pate ist, aber aufgrund der Kriegsereignisse nicht nach Camberg kommen kann.

Unterdessen betreut Großmutter meinen Bruder Helmut. Er will plötzlich sein Bett nicht mehr verlassen und jammert über Schmerzen im Kopf. 39 Grad Fieber stellen sich ein. Er hat auch Schmerzen beim Schlucken. Katharina ahnt nichts Gutes und geht mit ihm sofort ins Hospital, in dem sich auch Elly und Klaus befinden. Er wird umgehend stationär aufgenommen. Es stellt sich schnell heraus, dass er an Diphtherie (Rachen-Diphtherie) erkrankt ist. Wegen der Ansteckungsgefahr und zur allgemeinen Prophylaxe wird Helmut auf der Krankenstation isoliert. Was ihm gar nicht gefällt: Er darf jetzt keinerlei Kontakt mit Mutter haben, insbesondere zum Schutz des Säuglings Klaus. Als sich im Gasthaus, in dem Katharina wohnt, herumspricht, dass ihr Enkel Helmut an Diphtherie erkrankt ist, wird Großmutter auf Anweisung des Hausherrn isoliert und darf ihr Zimmer nur noch zum Toilettengang verlassen. Sie wird von außen versorgt. Das Essen wird ihr jeweils durch einen Türspalt ins Zimmer hereingereicht. Erst als Helmut und Klaus aus dem Hospital entlassen werden, ist auch ihre Isolation aufgehoben. Katharina hat später immer wieder einmal darüber geschimpft, wie man sie so behandeln und einsperren konnte!  

April 1944. Mein Pate Onkel Hans, der aufgrund der Kriegsereignisse nicht zu meiner Taufe kommen kann.

Großmutter nimmt uns zu sich und versorgt uns Kinder in der Wohnung von Kätha. Mutter muss weitere Wochen im Hospital bleiben und wird auf eine Chirurgische Station verlegt. Sie hatte sich während der Schwangerschaft eine voranschreitende und behandlungsresistente Infektion im Bereich des Mittelfingers der rechten Hand zugezogen. Ihr geschwächtes Immunsystem führte dazu, dass die Infektion nicht abklang, sich vielmehr ausbreitete. Sie wird jetzt an der rechten Hand operiert. Folge ist eine Versteifung des Mittelfingers, aber die Infektion ist gestoppt und die in Erwägung gezogene Amputation des Fingers oder gar der Hand vermieden worden. Mutter erzählte später bisweilen, dass die Schwangerschaft zu ihrer Infektionserkrankung und deren Verlauf beigetragen habe, was dann mitunter merkwürdige Gefühle von „Schuld“ bei mir aufkommen ließ.

Juli 1944 werden im fernen Moskau nach einem Befehl des sowjetischen Staats- und Parteichefs Stalin 58 000 deutsche Kriegsgefangene in einer langen Kolonne durch die Straßen geführt, bevor sie in Gefangenenlager überstellt werden. Zeitgleich erfährt die Welt von der Judenvernichtung. Sowjetische Truppen befreien das Massenvernichtungslager Majdanek (Lublin) in Polen. In Deutschland bieten jetzt auch ländliche Gebiete keinen Schutz mehr vor dem andauernden Krieg und den häufigen Angriffen aus der Luft. Bahnhöfe sind ein bevorzugtes Ziel. Unsere Behausung in Camberg liegt in Bahnhofsnähe. Sturzkampf- und Jagdbomber fliegen über Dörfer und Felder und machen die Fortbewegung auf Landstraßen oder mit dem Zug zu einem gefährlichen Unternehmen. Tiefflieger tauchen wie aus dem Nichts auf, mitunter auch unter heulenden Sirenenlauten. Bei Fliegeralarm in Camberg fliehen nicht wenige Erwachsene mit ihren Kindern in vorbereitete, tief gegrabene Erdlöcher. Helmut weiß, für sich entsprechend Schutz zu suchen. Nur Katharina, die mich versorgt, vermag aufgrund ihrer Körperfülle nicht in ein solches Erdloch hinabzusteigen. Trotz der Vorwürfe von Kätha und anderen harrt sie bei Angriffen in klaustrophobischer Passivität mit dem sechs Wochen alten Klaus im Arm, fortwährend Bittgebete murmelnd, in der Wohnung aus. Im Nachhinein holt sie sich gleichsam die „Absolution“ für ihr Verhalten vom Ortspfarrer, dem sie die prekäre Situation schildert und der sie in ihrem Gottvertrauen bestärkt.

Mutter wird aus dem Krankenhaus entlassen. Helmut wird nach Ostern 1944 in Camberg eingeschult. Die Camberger Bevölkerung nahm die Mütter mit ihren Kindern, die seit Ende 1943 aus verschiedenen Gegenden Deutschlands aufs Land flüchteten, in ihrer Gemeinde nicht gerade freundlich auf. Dem Elternbeispiel folgend, brachten auch deren Kinder ihre Ablehnung entsprechend zum Ausdruck. Ein 8-jähriger Junge aus Köln wurde nach Unterrichtsschluss von Schülern auf dem Nachhauseweg derart geschlagen und misshandelt, dass er – auf einem Acker zusammengebrochen – in bewusstlosem Zustand im Krankenhaus notversorgt werden musste. Es wurde kolportiert, der Junge sei gestorben. Auch Helmut wird von seinen Mitschülern als Fremdling ausgegrenzt. Sie hänseln ihn als „Frankforder Schlippche“. Immer wieder wird er nach Schulschluss auf dem Nachhauseweg von Klassenkameraden und auch älteren Schülern mit Schlägen und Tritten traktiert, sodass er heulend und mit entsprechenden Blessuren heimkehrt. Mutters Beschwerde beim Rektor bleibt erfolglos. Helmut entwickelt Verhaltensauffälligkeiten. Er zieht sich nicht mehr selbständig an und reißt sich zwanghaft Kopfhaare oder Wimpern aus. Es ist jedoch nicht allein die Belastung im Umfeld der Schule, vielmehr sind es bewusste Kriegserlebnisse, die den Siebenjährigen heillos überfordern. Er hält sich nicht gerne über längere Zeit in der Enge der Wohnung auf, vielmehr ist er am liebsten im Freien unterwegs, auf der Suche nach Kontakt zu anderen Kindern.

Ende 1944 nehmen Fliegerangriffe auch auf Camberg zu. Hierbei wird Helmut einmal auf einem Feldweg vom drohenden Brummen zweier Tiefflieger überrascht. Wie ein Bauer, der das Geschehen beobachtet, später schildert, rennt der Junge ohne Deckung im offenen Gelände, springt dann Haken schlagend zur Seite in einen Acker und wirft sich flach auf den Boden. Maschinengewehrgeschosse schlagen in seiner unmittelbaren Nähe ein. Helmut stellt sich tot, er bleibt körperlich unverletzt. Die Tiefflieger drehen ab. Völlig verstört, kommt er abgehetzt, keuchend und weinend in unser Notquartier. Es dauert lange, ihn zu beruhigen. Er erzählt, er habe das Gesicht eines der beiden Piloten gesehen. Mutter spricht zu ihm von seinem Schutzengel, der ihn begleitet und auf ihn aufpasst. Einerseits gefällt ihm diese Vorstellung, andererseits drückt er Zweifel aus, da er nach wie vor Attacken seiner Mitschüler erfährt, ohne dass dies sein Schutzengel unterbindet.