Papierkinder - Julia Kröhn - E-Book
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Papierkinder E-Book

Julia Kröhn

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Beschreibung

Als die Zeit der Kinder kam ... Ein mitreißender Roman mit aktueller Brisanz, den man nie mehr vergisst.

Berlin 1874: Im Armenhaus von Steglitz retten zwei Mädchen einen vernachlässigten Säugling vor dem Hungertod. Obwohl sie in einer harten, mitleidslosen Welt aufwachsen, eint sie die feste Überzeugung, dass jedes Kind wertvoll ist. Es ist der Beginn einer tiefen Freundschaft – und zugleich einer Bewegung, die unermüdlich Verständnis und Liebe, Respekt und Schutz für Kinder einfordert. Mutige, tatkräftige Frauen schließen sich ihr an. Und sie alle sind erst am Ziel, als 1924 in der Schweiz ein ganz besonderes Papier unterzeichnet wird: die erste Kinderrechtserklärung.

Der Sozialistin Emma Döltz, der Montessori-Lehrerin Clara Grunwald und der Wohltäterin Eglantyne Jebb ist es zu verdanken, dass 1924 die »Genfer Erklärung« verabschiedet wurde – die Grundlage für die UN-Kinderrechtskonvention von 1989.

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Seitenzahl: 721

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Buch

1874: Emma und Mathilde sind noch Kinder, als sie im Armenhaus von Berlin Steglitz eine Freundschaft fürs Leben schließen. Obwohl ihr Alltag von harter Arbeit geprägt ist, bewahren sich die beiden Mädchen ihren Traum von einer besseren Welt: Während Mathilde auf Rettung durch ihre große Liebe hofft, engagiert sich Emma früh politisch gegen Ungerechtigkeit. Ihr Kampf wird ein zutiefst persönlicher, als nicht nur Mathilde, auch deren Kinder in Not geraten. Fortan stellt sie ihr Leben in den Dienst der verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft.

Und so wird Emma eine jener drei willensstarken Frauen, die gegen Kinderarbeit vorgehen, die ersten Montessori-Kinderhäuser Deutschlands gründen und das Gesetz reformieren – und dadurch der historischen Kinderrechtsbewegung ihren Weg bereiten.

Die historischen Kinderrechtlerinnen Emma Döltz, Clara Grunwald und Eglantyne Jebb haben unseren Kindern ihre Rechte geschenkt – dieser Roman verwebt ihr Wirken mit einer dramatischen Familiengeschichte.

Autorin

Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern auch die Beschäftigung mit Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – teils unter Pseudonym – bereits zahlreiche Romane, die sich weltweit über eine Million Mal verkauft haben. Ihr größter Erfolg hierzulande war »Das Modehaus«, ein Top-20-SPIEGEL-Bestseller; zuletzt widmete sich Julia Kröhn ihrem Herzensthema: den Büchern. In ihrer Dilogie »Die Buchhändlerinnen von Frankfurt« erzählt sie die Geschichte einer Verlagsbuchhandlung aus der Perspektive zweier Schwestern, von der Nachkriegszeit bis zur Studentenrevolte. In ihrem neuen Roman »Papierkinder« errichtet sie den historischen Kinderrechtlerinnen Emma Döltz, Clara Grunwald und Eglantyne Jebb ein fiktionales Denkmal in Form eines mitreißenden Romans.

Weitere Informationen unter: www.juliakroehn.at

Von Julia Kröhn bei Blanvalet bereits erschienen:

Das Modehaus

Riviera – Der Traum vom Meer

Riviera – Der Weg in die Freiheit

Die Alster-Schule – Zeit des Wandels

Die Alster-Schule – Jahre des Widerstands

Die Gedanken sind frei. Eine unerhörte Liebe

Die Welt gehört uns. Eine unmögliche Freiheit

Julia Kröhn

Papier

kinder

Roman

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2023 by Julia Kröhn

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

© 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Tony Henshaw / Alamy Stock Foto

BL · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30389-1V002

www.blanvalet.de

»Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.«

Albert Einstein

Vor hundert Jahren erreichte die Kinderrechtsbewegung, die sich seit dem 19. Jahrhundert für den Schutz, die liebevolle Behandlung und die Bildungschancen aller Kinder einsetzte, einen wichtigen Meilenstein: 1924 wurden mit der »Genfer Erklärung« zum ersten Mal universelle Kinderrechte verkündet.

In diesem Roman würdige ich drei Frauen, die zu Vorkämpferinnen für diese Erklärung wurden. Doch gewidmet ist er allen, die sich bis heute für Kinderrechte starkmachen.

Herbst 2023

»Wir wollen einen Geburtstag feiern«, verkündete Nina und versuchte so enthusiastisch wie möglich zu klingen. »Und deswegen planen wir eine große Party.«

Normalerweise gelang es ihr gut, die Kinder und Jugendlichen mitzureißen. Seit einem halben Jahr arbeitete sie neben ihrem Lehramtsstudium ehrenamtlich im Internationalen Jugendzentrum Arche, wo jeden Nachmittag Kids aus Berlin-Neukölln zusammenkamen, um hier ihre Freizeit zu verbringen. Zuständig war sie vor allem fürs Sportprogramm, zu dem Yoga und Kickboxen ebenso gehörten wie Tischtennis. Aber sie widmete den Kreativraum auch schon mal zu einer Siebdruck-Werkstatt um, wo T-Shirts, Hoodies und Turnbeutel farbenfrohe Muster erhielten.

Wozu sie heute die Kids anspornen wollte, war allerdings ein anderes Kaliber, und als sie in die Runde blickte, spürte sie nur wenig Begeisterung. Wie dumm von ihr aber auch, sie ausgerechnet dann in den Sitzkreis im Besprechungsraum gebeten zu haben, als sie alle gerade schwer beschäftigt gewesen waren.

Seit Tagen arbeiteten die Jugendlichen an einem Film in bester Quentin-Tarantino-Tradition. Erst gestern war ein Blutbad gedreht worden, doch zu Ninas Erleichterung hatten die Kids das improvisierte Set mit Leintüchern ausgelegt, ehe es zum massenhaften Einsatz von Ketchup gekommen war.

»Müssen wir unbedingt jetzt darüber reden?«, murrte Jason prompt. Früher hatte er die Kamera vorzugsweise auf seine Gang gerichtet, wenn die mal wieder einen Spätkauf beklaute, und hinterher die Kurzvideos ins Netz gestellt. Nina hatte ihn mittlerweile davon überzeugen können, seine Ambitionen auf noch kreativere – und legalere – Movies zu richten.

»Wer hat denn überhaupt Geburtstag?«, fragte Elif. Als selbst ernannte Maskenbildnerin arbeitete sie derzeit an dem Monster, das am Ende den kompletten Cast des Films töten würde.

»Hab keinen Bock, die Partyplanerin zu machen«, warf Laura ein, die so gut wie nie auf irgendetwas Bock hatte, allerdings vor einigen Wochen ihre schauspielerischen Fähigkeiten entdeckt hatte und seitdem im Tarantino-Me-too als Leiche glänzte. »Und wann soll die Party überhaupt steigen?«

»Erst nächstes Jahr«, sagte Nina, um nachdrücklich hinzuzufügen: »Aber Anne meinte, wir sollten frühzeitig Ideen sammeln.«

Anne war eine der festangestellten Sozialpädagoginnen, die erst gestern mit ihrem Anliegen an Nina herangetreten war.

»Ich habe mir das nicht ausgedacht«, hatte sie erklärt. »Aber der Trägerverein wünscht sich unbedingt ein großes Event. Und mit so einem Jubiläum kriegen wir jede Menge Aufmerksamkeit von der Presse.«

»Aber warum soll ausgerechnet ich dafür verantwortlich sein?«

Anne hatte vielsagend die rechte Braue hochgezogen. »Und das fragst du noch?«

Nun, Gründe, die sie für diese Aufgabe prädestinierten, gab es tatsächlich – das außergewöhnliche Talent, ein Jubiläum als Geburtstag zu verkaufen, gehörte offenbar aber nicht dazu.

»Der wievielte Geburtstag ist es überhaupt?«, wollte Jason wissen.

»Der hundertste Geburtstag«, erklärte Nina, »also ein recht außergewöhnlicher. Deswegen müssen wir ihn auch von langer Hand vorbereiten.«

»Aber es kommt keine Buttercreme in die Geburtstagstorte, die hasse ich«, warf Laura ein und zog wie so oft missmutig die Schultern hoch.

»Auf einen Kuchen passen niemals hundert Kerzen«, meinte Jason.

»Und überhaupt«, sekundierte Laura, »ein Hundertjähriger ist doch zu schwach, um die auszupusten.«

»Wir feiern ja nicht den hundertsten Geburtstag eines Menschen«, sagte Nina schnell.

»Von wem denn dann?«, wollte Elif wissen. So sensationslüstern wie sie klang, erhoffte sie sich mindestens einen Zombie als Geburtstagskind – den sie höchstpersönlich schminken könnte.

Nina zögerte. »Dass ihr heute alle hier seid, einen Raum habt, wo ihr euch wohlfühlen, spielen, reden, euch austoben könnt, ist leider keine Selbstverständlichkeit. Früher hatten Kinder so was nicht, aber vor hundert Jahren hat sich vieles für sie geändert und …«

Himmel, sie sollte die Kinder begeistern, nicht irgendwelche Reden vor Funktionären halten, die auf das Phrasen-Pingpong geeicht waren!

»Hat etwa das Jugendzentrum Geburtstag?«, fragte Laura finster, und es klang, als wäre es eine persönliche Beleidigung.

»Das gibt es erst seit fünfzehn Jahren. Aber die Voraussetzung, dass so eine Einrichtung überhaupt gegründet wurde, dass sich der Fokus auf Kinder und Jugendliche, ihre Bedürfnisse, Nöte gerichtet hat, dass …«

Wieder brach sie ab. Wenn sie sich beim Yoga und Kickboxen so anstellen würde, hätte sie am Ende eine gebrochene Nase und würde statt dem »herabschauenden Hund« bestenfalls ein »geknicktes Mäuschen« zustande bringen.

»Interessiert mich alles nicht«, kam es prompt von Jason, und ehe sie etwas einwenden konnte, sprang er auf und stürmte aus dem Raum, um wieder hinter der Kamera Platz zu nehmen. Ein Teil der Filmcrew folgte. Dass Laura als eine der wenigen sitzen blieb, lag wohl nur daran, dass sie bei ihrem letzten Einsatz als Leiche zu lange auf dem kalten Boden hatte liegen müssen.

Immerhin kam Wiktorija, die noch zu klein war, um beim Filmdreh mehr als eine Kabelträgerin zu sein, Nina zur Hilfe. »Könnte es bei dieser Geburtstagsparty vielleicht eine Hüpfburg geben?« Allein dass sich das siebenjährige Mädchen überhaupt einmischte, war ein Sieg.

Als Wiktorija vor einem Jahr mit ihrer Familie aus der Ukraine geflohen und in der Arche mit Lernmaterialien und Spielsachen versorgt worden war, hatte sie so gut wie nie gesprochen, obwohl sie recht schnell Deutsch lernte. Doch dann hatte sie den kleinen Garten des Jugendzentrums für sich entdeckt. Die pinkfarbenen Clematis und die Ranunkelsträucher hatten sie nicht interessiert, jedoch die vielen Nacktschnecken. Sie hatte ein eigenes Salatbeet für sie angelegt, damit sie sich nach Herzenslust vollfressen konnten, und jeder einen Namen gegeben. Und mit den Schneckennamen waren immer mehr Worte aus ihrem Mund gekommen.

»Und ein Stand mit gebrannten Mandeln wäre auch gut«, fügte sie hinzu. »Und Zuckerwatte. Und Kinderpunsch. Und …«

»Ich dachte eher, jeder schreibt eine kleine Geschichte«, fiel Nina ihr ins Wort. »Die kommen dann in einen Sammelband, den wir …«

»Ach nee!«, rief Laura.

»Ihr könnt natürlich auch etwas zeichnen«, sagte Nina schnell.

Zumindest Wiktorija und Elif nickten begeistert.

»Geht filmen auch?«, fragte Erkan, der sich ebenfalls als Filmemacher betrachtete, aber von Jason noch kleingehalten wurde.

»Eine hervorragende Idee!«, rief Nina begeistert.

Laura sank immer tiefer in sich zusammen. »Ich habe immer noch nicht kapiert, was genau wir feiern.«

»Es geht um das hundertjährige Jubiläum der Erklärung der …«

Nina brach ab, weil ihr keine Formulierung einfiel, die nicht komplett abstrakt klang.

So ein Mist! Warum hatte sie nicht gleich Farbe bekannt, sondern Nebelkerzen geworfen? Als brauchte das Thema Seifenblasen, Glitzer und bunte Luftballons, um in den Augen der Kinder zu bestehen!

Sie beschloss, ihre Taktik zu ändern, kramte in ihrer Tasche und beförderte heraus, was sie heute Morgen eingesteckt hatte. Normalerweise trug sie es nicht bei sich. Auch zu Hause bewahrte sie es nicht dort auf, wo man ein so kostbares Familienerbstück vermutete – in einem Bilderrahmen an der Wand oder in der Dokumentenmappe. Nein, es klemmte sonst zwischen zwei Büchern im Regal, noch nicht einmal alten, prächtigen Lexika mit roten Ledereinbänden, sondern zwei Biografien. Aber sie fand, dass es dort perfekt hinpasste, dieses Blatt Papier … nein, eigentlich das Stück Plastik. In dieses war das Papier eingeschweißt worden, um zu verhindern, dass es noch stärker zerknitterte, an den Rändern tiefer einriss, weitere Flecken abbekam. Über die Jahre war die Schrift immer mehr verblasst. Aber sie konnte jedes Wort auswendig.

»Was’n das für ein Wisch?«, fragte Erkan.

»Den habe ich von meiner Mutter«, murmelte Nina gepresst. Immer wenn sie dieses Stück Papier betrachtete, wurde ihr die Kehle eng. »Und die hat ihn wiederum von ihrer Mutter bekommen. Er wurde sozusagen von den Frauen meiner Familie weitergereicht. Ganz am Anfang stand meine Urgroßtante. Sie war eine von ihnen … von jenen Frauen, die …«

Laura schien gar nicht richtig zugehört zu haben. »Soll das ein Gedicht sein?«, fiel sie ihr unwirsch ins Wort.

»Oder ein Lied?«, fragte Wiktorija und klang etwas begeisterter.

»Ich singe ganz sicher nicht!«, rief Erkan empört.

»Keine Angst«, beschwichtige Nina. »Ihr müsst weder ein Gedicht auswendig lernen noch ein Lied singen. Ich will euch erklären, was es mit diesem Blatt Papier auf sich hat, warum wir quasi seinen Geburtstag feiern. Wobei ich es eigentlich nicht erklären möchte, eher … eine Geschichte erzählen.«

»Oh Gott«, stöhnte Laura.

»Wie Hänsel und Gretel?«, fragte Wiktorija.

»Hm«, machte Nina, »Kinder kommen in dieser Geschichte schon vor, auch recht arme und leidgeprüfte. Aber keine Hexe.«

»Und Elfen?«

»Ich fürchte, auch nicht.«

»Ein sprechender Schneemann?«

»Leider nein.«

»Und gibt es ein Happy End?«, rief Erkan und schmatzte laut mit den Lippen, um einen Kuss anzudeuten.

»Das schon. Aber nicht sofort … es ist eine ziemlich lange Geschichte.«

»Die man wahrscheinlich nur mit viel Popcorn übersteht«, warf Laura mürrisch ein.

Nina dachte, dass es gar keine so schlechte Idee sei, sich zu stärken. Allerdings legte Anne sehr viel Wert auf gesunde Snacks. In der kleinen Kaffeeküche des Jugendzentrums fand man bestenfalls Reiswaffeln und Grünkohlchips vor.

»Wir können es uns in der Polsterecke gemütlich machen«, schlug sie vor. Die war genau betrachtet nicht nur eine Ecke, sondern ein Kuschelzimmer mit unzähligen Kissen, die bei einem Häkel- und Designprojekt entstanden waren.

Die meisten erhoben sich bereitwillig, andere erst, nachdem Nina ihnen aufmunternd zunickte. Laura blieb auf ihrem Stuhl lungern.

»Kommst du auch?«, fragte Nina.

Mit dem Kinn deutete das Mädchen auf das eingeschweißte Blatt Papier. »Kann ich nicht die Kurzfassung kriegen?«

»Das wäre ein wenig schade. Die Frauen, um die es geht, haben sich vor über hundert Jahren auf recht unterschiedliche Weise für Kinder starkgemacht.«

Sie dachte schon, Laura würde hocken bleiben, aber zu ihrer Überraschung erhob sie sich nun doch. »Also kommen in der Geschichte zwar keine Hexen, Elfen und sprechende Schneemänner vor, aber gute Feen.«

Nina musste lächeln. »Ja«, sagte sie, ehe sie zur Polsterecke gingen, »ja, so kann man das sagen.«

1. Teil

Die Dichterin

1874 – 1905

Ich hab euch was zu sagen,

Ihr lieben Kinderlein.

An schönen Sommertagen,

da woll’n wir lustig sein.

EMMADÖLTZ

1.

Bis zu ihrem achten Lebensjahr rätselte Mathilde, wie viel Kinder kosteten.

Für ein Dutzend Hemden, die ihre Mutter nähte, bekam sie sechzig Pfennig. Wenn sie weiß waren, gab’s dreißig Pfennig extra. Sie war sich nicht sicher, ob Säuglinge billiger als Hemden waren oder teurer.

»Wie kommst du bloß auf die Idee, dass man für Kinder etwas bezahlen muss?«, fragte Emma.

Emma war etwa in Mathildes Alter. Ihre Haare waren glatter als ihre und von einem dunkleren Ton – nicht wie Stroh, eher wie Asche –, und sie lebte mit ihrer Familie erst seit ein paar Wochen im Steglitzer Armenhaus. Mathilde hatte durch den Türspalt beobachtet, wie sie im Zimmer nebenan eingezogen waren. Auch in diesem löste sich die Tapete von den feuchten Wänden und waren die Holzbalken an der Decke wurmstichig, und mit jedem Möbelstück, das Emma und ihre Mutter herbeigeschafft hatten, wirkte der Raum kleiner. Der Vater konnte nicht helfen, er spuckte Blut. Von Emmas kleinen Geschwistern nahm Mathilde nicht viel mehr wahr, als dass sie kaum laufen konnten und ständig quengelten. Von ihnen hielt sie sich lieber fern, aber Emmas Anblick zog sie magisch an. Mathilde hatte noch nie ein Mädchen gesehen, das so aufgeweckt und neugierig wirkte. Und das ständig Fragen stellte. An diesem ersten Tag nur ihrer Mutter, aber im Lauf der nächsten Wochen wandte sie sich immer öfter an Mathilde.

Warum es im Armenhaus jeden Mittwoch Buttermilchsuppe mit Buchweizenklößen gab und jeden Freitag gestoßene Kartoffeln mit einem Stück Speck. Und warum der Speck auf den Tellern der Kinder gerade mal die Größe von Streichhölzern hatte.

Mathilde kapierte nicht, warum sie so viel redete, sogar beim Essen. Man schaufelte doch so schnell wie möglich alles in sich hinein, den Kopf tief über den Teller gebeugt, um nicht zu riskieren, dass jemand anderer einem etwas klaute. Erst gestern hatte Mathilde ihren Löffel tief in Emmas Schüssel getaucht, während diese laut darüber nachgedacht hatte, warum im Milchreis keine Rosinen schwammen.

Emma hatte eher erstaunt als erbost gewirkt. »Warum stiehlst du mir das Essen?«

»Dumme Frage. Weil mir vor Hunger der Magen knurrt.«

Heute war es ausnahmsweise Mathilde, die etwas wissen wollte. Sie standen gerade im Gang des Armenhauses, als das Greinen eines Säuglings erklang.

»Wie viel dieser wohl gekostet hat?«, sinnierte Mathilde.

»Kinder kosten doch nichts«, meinte Emma.

»Aber ja doch!«, rief Mathilde. »Wer da greint, ist das Kindlein der blassen Hanne. Im Keller wohnt sie, und vor ein paar Monaten war die Hebamme da. Sie ist mit einer großen schwarzen Tasche gekommen und hat das Kleine dagelassen. Die Hebamme hat ein mürrisches Gesicht gezogen, als sie wieder ging. Wahrscheinlich hatte die blasse Hanne nicht genug Geld und musste das Baby auf Stottern kaufen.«

»Babys kommen nicht aus schwarzen Taschen, sondern aus dem Bauch der Mütter.«

Was war denn das für eine Geschichte!

»Unsinn!«, rief Mathilde empört.

»Keineswegs! Als ich einmal einen Apfelkern verschluckt habe, hat Mutter gesagt, dass in meinem Bauch ein Apfelbaum wachsen würde. Bei Kindern ist es genauso.«

»Unsinn!«, rief Mathilde wieder. »Ich habe schon so viele Apfelkerne verschluckt, und noch nie ist ein Baum gewachsen.«

Dem konnte Emma nicht widersprechen, dennoch sagte sie energisch: »Hebammen kriegen für jede Geburt den gleichen Lohn, für Armengeburten zahlt die Gemeinde. Je länger eine dauert, desto weniger bringt es ihnen ein. Deswegen war sie so mürrisch.«

»Manchen Frauen wird das Kind nicht von der Hebamme gebracht«, entgegnete Mathilde trotzig. »Sie fahren in die Stadt, und wenn sie wiederkommen, haben sie eins dabei.« Sie vermutete, dass die Frauen eines der riesigen Kaufhäuser besuchten, die es in Berlin neuerdings gab und wo jede Abteilung für Luxuswaren gerüchteweise so groß wie das Armenhaus war.

»Diese Frauen bringen ihr Kind in der Charité zur Welt«, erklärte Emma. »Arme Frauen müssen nichts dafür bezahlen – sie müssen nur erlauben, dass junge Studenten ihnen bei der Geburt zusehen. Und die dürfen sie auch überall anfassen.«

Das wurde ja immer absonderlicher! Das Erstaunen schnürte Mathilde die Kehle zu.

»Manchmal ist im Krankenhaus kein Platz mehr für die Frauen da«, fuhr Emma altklug fort. »Dann kriegen sie ihre Kinder im Freien. Vor der Charité wachsen viele Bäume, und unter jedem Bau wurde schon mindestens ein Kind geboren.«

Ob es wohl Apfelbäume waren?

Mathilde wollte nicht fragen, sie wollte überhaupt kein Wort mehr mit diesem Mädchen wechseln, das so komisch war. Einfach davongehen konnte sie allerdings auch nicht, nicht jetzt, da das Greinen des Kindleins lauter wurde. Verzweifelter.

»Hab vorhin gesehen, wie die blasse Hanne weggegangen ist«, murmelte sie.

»Und das Kind hat sie einfach zurückgelassen?«, rief Emma entsetzt.

Mathilde zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich kommt sie bald wieder.«

»Ein so kleines Kind darf man nicht allein lassen. Das ist gefährlich, sie ersticken schnell.«

Es klang nicht so, als würde das Kleine ersticken, das Greinen klang zunehmend anklagend. Am liebsten hätte sich Mathilde die Ohren zugehalten, aber sie wollte vor Emma nicht als feige dastehen. Als diese die schiefe Treppe nach unten stieg, folgte Mathilde ihr. Die Holzstufen waren klebrig und ausgetreten, von den Wänden bröckelte der Kalk, ein Geruch nach Schimmel und Unrat hing in der Luft. Im Keller angelangt, mussten sich die Mädchen an der schmierigen Wand entlangtasten, bis sie die Tür fanden und sie aufstießen. Der üble Geruch wurde für Mathilde unerträglich, und das anschwellende Greinen machte es nicht besser.

Nicht, dass Mathilde den Säugling sofort sah. Die Kammer war gerade mal breit genug für eine Matratze, doch auf dieser lag nur ein Haufen alter Kleidung. Es gab keinen Schrank, keinen Tisch, lediglich eine Petroleumlampe, die auf dem Boden stand und neben der ein Päckchen Streichhölzer lag. Nachdem Emma sie entzündet hatte, entdeckte Mathilde einen Korb, der am einzigen Haken an der Wand hing. Er hatte einen Deckel, den sie nicht zu öffnen wagte, Emma schon. Mathilde hielt unvermittelt den Atem an, selbst Emma wurde etwas blasser. Das Würmchen im Korb war vollends nackt, nur eine Windel war um seinen Leib geschlungen worden, jedoch bis zu den Schultern hochgerutscht. Der Körper war knöchrig und von einer klebrigen Masse bedeckt. Und mittlerweile war das Kindlein so erschöpft, dass es kaum mehr greinen konnte.

»Der arme Kleine!«, sagte Emma, und schon hatte sie die Hand unter den Kopf geschoben, um den winzigen Knaben zu stützen, und hob ihn vorsichtig heraus. Sie legte ihn auf die Matratze und zog ihm die schmutzige Windel ab, was nicht sofort gelang, weil sie festzukleben schien. »So wie er glüht, muss er Fieber haben.«

Mathilde wusste, was man tat, wenn Säuglinge schrien – man steckte ihnen ein Stückchen Leinen in den Mund, das man vorher in Mohnsaft getaucht hatte. Aber sie wusste nicht, was gegen Fieber half.

»Meine Mutter hätte eine Idee, was zu tun ist«, rief Emma. »Aber sie ist gerade Ware ausliefern.«

Mathildes Mutter war da, aber sie wusste, dass diese nichts so nervös machte wie plärrende Kinder. Sie bezweifelte, dass sie bereit war zu helfen.

»Am besten, wir holen einen Arzt«, schlug Emma vor. »Mein Vater wird immer mal wieder von einem Doktor Wegener untersucht, dem Armenarzt.«

»Aber der kommt doch nur einmal im Monat nach Steglitz, sonst ordiniert er in Berlin.«

»In Steglitz selbst muss es doch auch einen Arzt geben.«

In Steglitz wahrscheinlich schon, aber das Armenhaus befand sich nicht mitten im Dorf, sondern an dessen Rand. Auf der einen Seite grenzte es an einen Friedhof, und neben diesem befand sich seit einem Jahr ein Schießstand des Steglitzer Schützenvereins. Die Toten, so hieß es, störe das Schießen nicht, die Armen hatte es nicht zu stören. Hilfe war von dort jedenfalls nicht zu erwarten.

»Wir müssen einen Arzt holen!«, rief Emma wieder.

Mathilde fühlte sich immer hilfloser.

Hinter dem Schießstand schlossen sich Felder an, wo ihre Mutter und sie im Herbst Ähren klaubten. Wenn sie vier Stunden auf den Knien rutschten, ließ sich vom abgeernteten Feld gerade mal so viel Getreide einlesen, dass man damit eine Kaffeemühle füllen konnte.

»Es gibt hier keinen Arzt«, murmelte Mathilde.

Nun war es Emma, die verzagt mit den Schultern zuckte. Dennoch begnügte sie sich nicht länger, das Kind zu streicheln. Sie erhob sich, riss ein Stück von ihrem Unterrock ab, nicht ganz so dreckig wie der Berg alter Kleidung auf der Matratze. Behutsam rieb sie den Säugling ab, und bald kam unter der klebrigen Masse etwas rosige Haut zum Vorschein.

»Wasser«, sagte Emma, »wir brauchen Wasser.«

Wasser holte man aus dem Brunnen im Hof gleich neben der alten Waschhütte, wo sie alle drei Monate ihre Bettlaken wuschen. Mathilde eilte dorthin, und vor Aufregung verschüttete sie auf dem Rückweg die Hälfte.

Als sie in die Kammer kam, hatte sich Emma bereits mit dem in ihren Unterrock eingewickelten Säugling auf den Weg in die Küche gemacht – oder vielmehr die Vorratskammer dahinter. »Er braucht etwas zu trinken.«

Wie stellte sie sich das bloß vor! »Du kannst doch keine Milch stehlen!«, rief Mathilde entsetzt. »Wer stiehlt, fliegt aus dem Armenhaus.«

»Es ist ja kein Stehlen, wenn man einen Säugling rettet.«

»Wie willst du denn einem Säugling Milch einträufeln?«

»Meine jüngste Schwester trinkt aus der Flasche, weil meine Mutter sie nicht stillen kann«, erklärte Emma.

Der Sauger auf der Flasche, die Emma wenig später beschaffte, war eine alte Ziegenzitze. Man hatte sie einem toten Tier abgeschnitten und sie trocknen lassen wie eine Blume zwischen Buchseiten. Mathilde hätte sich eine Ziegenzitze rosig vorgestellt, diese war grau. »Sie hat schon zu schimmeln begonnen«, sagte Emma, »aber man kann sie noch benutzen.«

Das Loch, das sich darin befand, war so klein, dass Bröckelchen wohl stecken bleiben würden, aber anders als sonst war die Milch heute ausnahmsweise nicht sauer, und das war fast ein so großes Wunder wie die Tatsache, dass Emma beim Stehlen nicht erwischt worden war.

Mathilde beobachtete aufmerksam, wie Emma dem Kindlein die Flasche gab. Ganz behutsam presste sie die Zitze gegen den Mund und erhöhte den Druck ganz langsam. Es dauerte eine Weile, bis sich der Mund öffnete und danach schnappte. Vielleicht schnappte der Kleine auch nur nach Luft, bald spuckte er von der Milch ein fadendünnes Rinnsal aus, das über das Kinn lief und im Stoff versickerte. Dennoch trank er weiter, und es ertönte ein Schmatzen, das sich anhörte, als kitzelte man seine Seele. Aus den Händen wurden Fäustchen, die sich ebenso sachte röteten wie das Gesicht.

»Na los!«, verlangte Emma später. »Gib mir auch ein Stück von deinem Unterrock.«

Mathilde war noch ganz verzaubert von diesem Schmatzen. Sie konnte gar nicht anders, als mit gleicher Selbstverständlichkeit auf einen Teil ihres Unterrocks zu verzichten wie Emma auf ihren. Gemeinsam tauchten sie den Stoff ins Wasser und rieben den kleinen Leib sorgfältig ab. Danach war er immer noch etwas wund, aber von der klebrigen Masse befreit.

Das Baby greinte nicht mehr, erschöpft schlief es in Emmas Armen ein, gab keinen Ton mehr von sich, atmete nur regelmäßig.

Als die blasse Hanne ins Armenhaus zurückkehrte, standen die Mädchen mit dem Kleinen immer noch im Gang. Emma hielt ihn liebevoll, nahezu ehrfürchtig. Auch Mathilde war hingerissen von dem Anblick, aus dem ein solcher Frieden sprach, und streichelte behutsam über sein Haar, das nicht mehr klebte, sondern getrocknet war und sich zu rotblonden Löckchen kringelte.

Erst als sie Hanne sah, löste sie die Hand von dem zarten Wesen. »Was hast du nur getan?«, rief sie ihr entgegen. »Du darfst dein Kind doch nicht so lange allein lassen.«

Kurz stand Hannes Mund weit offen, dann löste sich ein rauer Laut aus ihrer Kehle, Tränen schossen aus ihren Augen. Sie hatte die Hände erst hilflos erhoben, ließ sie nun sinken, als wäre sie eine Marionette, deren Schnüre gekappt wurden. Die restlichen Glieder hatte sie noch unter Kontrolle, doch die Bewegungen waren nicht geschmeidig, sie wankte.

Du lieber Himmel!

Mathilde zögerte nicht, auf die blasse Hanne zuzustürzen, deren Leib zu stützen und ihn an sich zu ziehen. So schmächtig ihre Glieder waren, sie spürte ihre weichen, runden Brüste.

»Nicht weinen, nicht weinen«, versuchte sie Hanne zu trösten. »Dem Kleinen geht es doch wieder gut, es lebt.«

»Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich kann’s ja nicht mit zur Arbeit nehmen.«

Ratlos starrte Mathilde sie an, auch Emma wusste nichts zu sagen. Es war just in diesem Moment, da Frau Lehmann, Emmas Mutter, vom Ausliefern zurückkam. Sie trug ebenfalls ein Kind auf dem Arm, nicht viel größer, aber gesünder. Offenbar hatte sie die letzten Worte von Hanne gehört.

»Warum musst du überhaupt zur Arbeit? Hier im Armenhaus gibt’s nicht viel, aber zum Überleben reicht’s.«

»Mir aber reicht das Überleben nicht«, rief Hanne kläglich. »Wenn mein Söhnchen eine gute Zukunft haben soll, genug zu essen, schöne Kleidung, eine Schule, muss ich viel mehr Geld verdienen.«

Hanne wankte so stark, dass Mathilde sie kaum noch stützen konnte. Auch Frau Lehmann wirkte nun etwas hilflos. »Ein paar Näharbeiten zu erledigen würde fürs Erste doch auch genügen. Dafür musst du das Haus nicht verlassen und kannst trotzdem etwas für dein Kind zusammensparen.«

Hanne schluchzte auf. »Ja, wenn’s nur eines wäre! Es kommen aber immer welche dazu, man kann’s nicht verhindern. Mehr Geld als mit dem Nähen verdient man, wenn man die Beine breit macht. Ich habe gleich nach der Geburt wieder damit anfangen müssen, ich habe ja sonst nichts gelernt und …«

Ihre Stimme wurde immer leiser, trotzdem drückte Frau Lehmann ihr die Hand auf den Mund, damit gar nichts mehr zu hören war. Emma war deutlich anzusehen, dass sich eine Frage in ihr regte. Mathilde dagegen hatte schon jetzt mehr erfahren, als sie je hatte wissen wollen. Wegschauen konnte sie trotzdem nicht, als die blasse Hanne plötzlich an ihrem Kittel zerrte. Schon schob sie ihn hoch, präsentierte ihren nackten Bauch, der gemessen am Gesicht noch weißer war, mit Adern überzogen, als kröchen darunter Würmer. Dick war er auch. Viel zu dick für eine Frau mit so dürren Armen. Mathilde ahnte, dass so ein dicker Bauch nicht von zu üppigen Mahlzeiten kam, zumal die hier nie aufgetischt wurden.

»Gebt mir … gebt mir mein Kind zurück«, forderte Hanne, nachdem sie den Kittel wieder über den Bauch gezogen hatte.

Obwohl in ihrem Blick so viel Sehnsucht stand, zögerte Emma. Erst als ihre Mutter resigniert seufzte und ihr zunickte, übergab sie Hanne den Kleinen. Immerhin war deren Griff erstaunlich fest. Auch wankte sie nicht mehr, und in ihrem eckigen Gesicht leuchtete etwas auf.

»Danke, dass ihr ihn versorgt habt«, murmelte sie.

»Wenn du wieder … fortmusst, lässt du ihn nicht allein im Keller, sondern bringst ihn zu mir«, sagte Emmas Mutter ziemlich barsch. »Und wenn du frische Milch und Windeln brauchst, dann streite dich mit dem Armenvorsteher, bis er dir beides gibt, und lass dich nicht von ihm verscheuchen.«

Hanne nickte flüchtig, aber drehte sich nicht mehr um, ehe sie die Kellerstiege nach unten nahm.

Während sie ihr nachblickte, begriff Mathilde, dass Emma recht hatte. Kinder wurden nicht in schwarzen Taschen gebracht oder in Kaufhäusern gekauft, sie kamen tatsächlich aus dem Bauch der Mütter.

Die Erkenntnis ließ sie den Rest des Tages verstummen. Erst als sie später im Speisesaal saßen und Kaffee in der Farbe jener Regenpfützen tranken, wie sie häufig auf dem Feldweg Richtung Tempelhof standen, fand sie ihre Stimme wieder. Emma saß neben ihr. Obwohl sie den Kleinen nicht mehr hielt, roch sie nach ihm – ein wenig salzig nach Schweiß, ein wenig säuerlich nach ausgespuckter Milch, und hinzu kam eine süße Note, der köstlichste Geruch, den es gab.

»Du hattest recht«, murmelte Mathilde, »Kinder kosten nichts. Ich fürchte, für viele Menschen haben sie überhaupt keinen Wert. Sonst würde man ihre Mütter nicht so darben lassen.«

»Dann müssen wir den Müttern eben helfen«, sagte Emma energisch. »Die Kinder haben den Wert, den man ihnen gibt.«

Mathilde hatte vor Emma nach einem Stück Brot gegriffen und beschmierte es messerdünn mit Schmalz. Doch sie konnte es nicht zum Mund führen, um es möglichst schnell herunterzuwürgen. Emma aß ihr eigenes Brot ganz langsam auf, und als sie sah, dass Mathilde ihres immer noch nicht anrührte, nahm sie es und führte es an ihren Mund. Sobald die harte Rinde ihre Lippen berührte, öffnete Mathilde sie unwillkürlich. Sie biss ab, kaute, schluckte.

»Warum tust du das?«

»Wir armen Mädchen müssen doch zusammenhalten. Ich will nun regelmäßig auf Hannes Kindlein achtgeben. Und ich will deine Freundin sein.«

Mathilde hatte das Schmalzbrot noch nicht aufgegessen, als sie erkannte, dass auch Freundinnen nichts kosteten und trotzdem einen unermesslichen Wert hatten.

2.

Was für ein schlimmes Kind sie sei, bekam Emma oft zu hören. Vorlaut sei sie, anmaßend und frech.

Dabei stellte sie doch nur Fragen.

So wollte sie eines Tages von der Mutter wissen, warum die Filzpantoffeln derart wenig Geld einbrachten. Fünfundvierzig Pfennig bekam man für das Dutzend, zumindest, wenn sie für Kinder gedacht waren, Damenpantoffeln brachten etwas mehr ein. Emma und ihre Geschwister mussten helfen, sie herzustellen, indem sie die Pantoffeln umstülpten, was nur gelang, wenn man die harte Kante der Filzsohle gegen die Brust drückte. Emma hatte dort häufig blaue Flecken – und das für diesen kargen Lohn?

Johanna Lehmann hatte eigentlich eine melodische Stimme und sang ununterbrochen – wenn sie Wäsche wusch, wenn sie die vielen Kinder, die sie hatte, wickelte, wenn sie den lungenkranken Mann, der sich die Lebenskraft aus dem Leib hustete, fütterte. Jetzt verstummte sie und sah Emma stirnrunzelnd an.

»Es ist nun mal bloß Frauenarbeit.«

»Und warum bringt die weniger ein als Männerarbeit?«

»Davon verstehst du nichts.«

»Ich will es aber verstehen.«

»Jetzt stör mich doch nicht!«

Ihre Mutter sang wieder, Emma schwieg – wenn auch nur kurz. Als sie sich von ihr Zwirn ausleihen musste, stellte sie die gleiche Frage Mathildes Mutter.

Helene Berkewitz sang niemals, aber fuhr ihr nicht gleich über den Mund.

»Frauen wie ich sind fürs Elend geboren. Das Armenhaus, musst du wissen, ist wie die Stadt Rom. Alle Wege führen für unsereins dorthin – aber kaum einer hinaus.«

Es klang so resigniert, als wäre Armut eine schwere Krankheit, an der unweigerlich starb, wer das Pech hatte, sich anzustecken. Doch Emma wollte das nicht einfach hinnehmen.

»Sie arbeiten doch den ganzen Tag. Wie kann es sein, dass es nicht für mehr als das Armenhaus reicht?«

»Na, warum wohl?«, gab Helene Berkewitz zurück, nicht länger nur resigniert, sondern auch verdrossen.

Emma zuckte mit den Schultern. Als ihr Vater noch nicht erkrankt war, hatte er – wie viele seiner Handwerkskollegen – zwar hart schuften müssen, aber genug für ihr Auskommen verdient. Leicht war es nicht immer gewesen, aber gerecht.

»Es ist nun mal nur Frauenarbeit«, sagte Mathildes Mutter, und wieder klang es, als spräche sie von einem ehernen Gesetz.

»Aber warum wehren Sie sich denn nicht dagegen? Warum fordern Sie nicht mehr?«

»Als ob die Knospe eines Blümchens aufginge, nur weil es das will! Nein, es muss am richtigen Ort wachsen und ordentlich gewässert werden. Aus einem Samen, der auf Staub fällt, wird nichts, da kann man kämpfen, so viel man will.« Sie beugte sich etwas vor, und obwohl Emma von Mathilde wusste, wie gefährlich das war, weil Helene so nervös war und darum gerne an eigenen wie fremden Haaren riss, rückte sie noch näher an ihr Gesicht heran. »Schon meine Mutter ist am Staub zugrunde gegangen. Hat in der Fabrik Leinen angefertigt. Begann mit noch nicht mal zwanzig zu hecheln, mit noch nicht mal fünfundzwanzig stetig zu husten, und mit nicht mal fünfunddreißig ist sie an Lungenentzündung verreckt.« Sie machte eine kurze Pause, ihr Atem klang nun ebenfalls röchelnd. »Hab ihr das erbrochene Blut vom Gesicht gewaschen, grau und runzelig. Hab ihr ein Leinenkleid angezogen, weiß und glatt. Weil sie Lilien so mochte.«

Emma dachte kurz nach. »Dann hat sie also doch einen Sinn für schöne Blumen gehabt. Hat sich die Sehnsucht danach nicht austreiben lassen. Staub hin oder her.«

Das Röcheln verstummte, Helene entfuhr ein rauer Schrei, der ebenso viel Ohnmacht verriet wie Verzweiflung. Sie streckte die Hände aus, um Emma einen Stoß auf die Brust zu versetzen, wahrscheinlich, damit es ihr dort mehr wehtat als Mathildes Mutter in der eigenen.

»Halt den Mund, freche Göre!«, rief sie und verjagte sie.

In der Kommunal-Armenschule lief es nicht viel anders, obwohl Emma den Lehrer eigentlich ganz harmlose Sachen fragte.

Schon am ersten Schultag hatte der verkündet, dass ihm egal sei, ob dumme Mädchen schreiben und rechnen könnten, Hauptsache, seine Schülerinnen säßen still, mit den Händen auf dem Schoß.

Mathilde, die mit Emma die Schule besuchte, bemühte sich, nicht anzuecken. Emma hingegen hatte zwar kein Problem mit den Händen, aber mit der Zunge: Die wollte einfach nicht stillstehen. »Warum nennt man das Gebiet, das Steglitz umgibt, Rauhe Berge?«, fragte sie eines Tages.

»Warum denn nicht?«, gab der Lehrer zurück.

»Es sind keine Berge, nur Hügel, und es ist unsinnig, sie rau zu nennen, wenn es doch keine glatten Hügel gibt.«

Der Lehrer wusste keine Erklärung dafür. Er wusste aber, dass er nur stumme Kinder mochte, und ließ das Lineal auf Emmas Händen tanzen. Jeder einzelne Hieb fühlte sich an, als würde gleich ihre Haut reißen. Und der grässliche Schmerz tobte nicht nur in den Händen, auch in der Brust, weil ihr die Strafe so ungerecht erschien. Aber sollte er bloß nicht denken, er würde sie damit kleinkriegen! Nun bezwang sie doch ihre Zunge, aber nur, damit kein Klagelaut über ihre Lippen kam.

»Ach je«, seufzte ihre Mutter mitleidig, als sie die roten Striemen sah. »Besser, du gibst im Unterricht künftig Ruhe.«

Sie rieb Emma die Hände mit gleicher Salbe ein, wie sie der alte Jochen verwendete. Er lebte seit Ewigkeiten im Armenhaus, hatte kaum noch Zähne und nur noch einen Arm. Als Emma ihm die Salbe für den Stump zurückgab, fragte sie ihn, wie er seinen rechten Arm verloren hatte.

»Bin in der Fabrik in eine Maschine geraten. Die hatte keine Schutzvorrichtung.«

»Warum?«

»Warum ich so dumm war?«

»Warum sie keine Schutzvorrichtung hatte.«

»Weil die Arme von Arbeitern weniger zählen als ein Stück Holz.«

»Aber was wären die Fabrikbesitzer ohne sie? Sie sind doch notwendig, um an den Maschinen etwas herzustellen!«

»Schon, schon. Aber solange es genug Arbeiter gibt, schert sich ein Fabrikbesitzer um den Einzelnen nicht mehr als um den Pflasterstein unter seinen Fußsohlen.«

»Das ist unmenschlich!«

Sein Gesicht verzerrte sich, als plagten ihn wieder mal Schmerzen im Arm. Oder in der Seele. Er wollte nun auch, dass sie das Maul hielt – erzwang es aber nicht mit rüden Worten. Stattdessen gab er ihr ein Stück Kandiszucker, weil sie ihm manchmal aufhalf, wenn er über seine eigenen Beine stolperte.

»Du bist zu vorlaut, Mädchen«, sagte er.

Nicht vorlaut, nur neugierig, dachte Emma. Was war daran verkehrt, Fragen zu stellen?

Darauf bekam sie erst recht keine Antwort.

Mit der Zeit wurde sie es leid, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort bekam. Die anderen dachten wohl, sie hätte sich dem Lauf der Welt gefügt, und schalten sie kaum noch als frech und schlimm. Aber Emma blieb wach, aufmerksam, wissbegierig – und sie hörte nicht auf, sich insgeheim über Ungerechtigkeiten zu ärgern.

Eines Tages – vor Kurzem war sie neun Jahre alt geworden – hatte sie etwas vor, das auch in ihren Augen nicht einfach nur verkehrt, sondern verboten war. Und obwohl sie eigentlich vor nichts und niemand Angst hatte – als sie in jenem Gang im Erdgeschoss des Armenhauses stand, wo sie damals Hannes Kindlein greinen gehört hatten, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Eine sengende Hitze drang vom glühenden Gesicht bis in die Fingerspitzen und ließ sie befürchten, auf allem, was sie anfasste, Brandflecken zu hinterlassen. Nein, nein, das war natürlich Unsinn, wenn sie klug vorging, würden keine Spuren zurückbleiben. Trotzdem zögerte sie. Und wenn sie Mathilde einweihte, damit diese Wache stand? Sie machten fast alles gemeinsam. Sie sammelten Reisig im nahen Grunewald und auch Beeren. Sie aßen sie, wenn sie rot waren, und manchmal sogar, wenn sie noch grünen, harten Kernen glichen. Sie schnitzten Angelruten aus Ästen der Fichten, die hier zahlreich wuchsen, um in einem Bächlein Fische zu fangen – was nie gelang, weil Mathilde im kalten Bachbett keinen festen Tritt fand, fast immer ausrutschte und in den Bach fiel. Emma half ihr dann heraus, hängte ihr die eigene Schürze um die Schultern und teilte mit ihr ein Stück Kandiszucker vom einarmigen Jochen. Abwechselnd lutschten sie daran, bis es von der Größe einer Hummel zur Größe einer Ameise schmolz und schließlich ganz verschwand.

Aber jetzt ging es nicht um ein Geschenk, jetzt ging es um einen … Diebstahl.

Emma atmete tief durch, konnte damit zwar nicht den dröhnenden Herzschlag beschwichtigen, aber immerhin das Zittern der Hände. Dann drückte sie die Klinke nieder und stand in jenem Raum, wo der Vorsteher des Armenhauses ein Buch führte, in dem er das Elend in Zahlen übersetzte und diese akkurat in dünne Zeilen presste.

Emma interessierte sich nicht für das Elend und nicht für die Zahlen, jedoch für das Papier: linierte Bögen, größer als jedes Schulheft, glatter und heller als die Wachstafel, auf der sie in der Schule das Alphabet übten, weil der Lehrer keine Schulhefte an die Mädchen verschwenden wollte. Nicht nur Papier war hier in Fülle vorhanden, auch Bleistifte. Einen von ihnen steckte Emma schnell zwischen Kleid und Schürzenband; wo sie dagegen den Bogen Papier verstecken sollte, wusste sie nicht. Schließlich faltete sie ihn mehrfach zusammen, sodass kaum etwas aus ihrer Hand hervorragte. Schade, dass es nun nicht mehr glatt war, aber Hauptsache, es war unbeschrieben.

Sie ließ einen letzten prüfenden Blick kreisen, wollte sich wieder unbemerkt aus dem Raum stehlen und …

»Himmel, was machst du denn da?«

Das Herz schien in den Bauch zu rutschen, die Knie fühlten sich plötzlich weich wie Brotteig an, sodass Emma sich schwer an den Tisch lehnte.

»Und was hast du da in der Hand?«

Die zweite Frage stellte Mathilde deutlich vorwurfsvoller – und lauter. Rasch packte Emma die Freundin an der Hand, zog sie hinaus auf den Gang und dort Richtung Keller, wo niemand mehr wohnte, seit Hanne in der Gosse gelandet war und ihr Kindchen im Waisenhaus.

»Was wolltest du bloß beim Vorsteher?«

Emma war eine schlechte Lügnerin – ihr »Nichts, nichts« geriet gepresst. Sie war eine noch schlechtere Kämpferin, denn als Mathilde entschlossen ihre Hand packte und sie zwang, sie zu öffnen, leistete sie kaum Gegenwehr. In Mathildes Augen war sie wohl erst recht eine schlechte Diebin, denn der Anblick des Papiers enttäuschte sie zutiefst. Wahrscheinlich hatte sie sich ein Stück Kandiszucker erhofft.

»Was zum Teufel …«

Emma sank auf die oberste Kellerstufe, zog nun auch den Bleistift hervor, und während Mathilde vor Verblüffung keine Worte fand, schrieb sie blitzschnell viele von ihnen auf.

Gemessen an der winzigen Schrift des Vorstehers, war Emmas Schrift groß und ungestüm. Die Buchstaben, die sie auf das Blatt geschrieben hatte, wollten nicht auf den Zeilen bleiben, schienen sich mal zu ducken, mal wilde Sprünge zu vollführen.

Mathilde ließ sich neben sie nieder. »Was schreibst du denn da?«

Anders als Emma konnte sie noch nicht lesen. In der Schule war sie immer still, damit ihre Hände keinem Lineal begegneten.

»Nun glaubt mir, ihr lieben Kinderlein,

Trotz Sturm und Regen der Frühling zieht ein.

Hört nur, wie der Wind an den Scheiben pocht,

der singt uns gar fröhliche Weise:

Prinzessin Frühling ist aufgewacht

und rüstet zur großen Reise«, las Emma vor.

Mathilde runzelte die Stirne. »Was … was soll denn das sein?«

»Na, ein Frühlingsgedicht. Hab’s mir selber ausgedacht. Stellt man Fragen, steht man dumm da, wenn man keine Antwort kriegt. Aber dichten kann man ganz allein.«

Mathilde starrte sie verständnislos an. Emma dagegen war so glücklich, endlich ihr Geheimnis zu teilen.

»Weißt du, Gedichte zu schreiben, ist so, als wollte man Wörtern das Tanzen beibringen!«, rief sie begeistert.

»Wörter können nicht tanzen«, sagte Mathilde gedehnt.

»Und ob! Und fliegen können sie auch. Wenn meine Mutter singt, dann schweben die Strophen unter der Decke.«

»Das ist doch lächerlich!«, zischte Mathilde. Sie schien beweisen zu wollen, dass ihre Worte zwar nicht tanzen und fliegen, jedoch zum Messer mit einer scharfen Klinge werden konnten.

Kurz war Emma verletzt, aber so wie sie vorhin die Angst bezwungen hatte, wurde sie auch dieses Gefühls Herr. Ihr Traum war nichts, was sich in kleine Würfel hacken ließ. Hart wie Kandis war er, den man nicht halbieren, sondern nur langsam lutschen konnte, bis alles von Süße erfüllt war.

»Was … was wünscht du dir denn vom Leben?«

Mathilde leckte mit der Zungenspitze über ihre Lippen. »Na, ein großes Stück Sonntagsbraten. Außen kross und innen so weich, dass er auf der Zunge zergeht.«

Sie bekamen so gut wie nie Fleisch, und wenn, dann nur zähes.

»Ich meine nicht am nächsten Sonntag, sondern … in der fernen Zukunft.«

Die Runzeln auf Mathildes Stirn wurden tiefer. Die Zukunft erschien ihr wohl als ein dicht beschriebenes Blatt, das niemandem nützte, der nicht lesen konnte. Aber dann erklärte sie entschlossen: »Ich will nicht ewig im Armenhaus leben. Und deswegen brauche ich einen Mann. Natürlich keinen, wie mein Vater es war.«

»Wer war denn dein Vater?«

Mathilde hatte noch nie von ihm gesprochen, tat es auch jetzt erst nach langem Zögern.

Stockend erzählte sie eine traurige Geschichte. Und eine ungerechte.

Mit jedem weiteren Satz wurde Emma fassungsloser. Wie war es möglich, dass der Besitzer eines Herrenhauses, wo unter Kristalllüstern und inmitten von Seidentapeten und Samtvorhängen Rosen in kostbaren Vasen dufteten, ein Dienstmädchen erst becircte, dann mit Gewalt nahm, schließlich aus dem feinen Haus jagte – mit einem Kind im Leib, aber ohne Arbeitsbuch? Wie war es möglich, dass der Polizist, bei dem sie Hilfe suchte, sie verspottete und dann ebenfalls verjagte?

Beides fragte sie laut, aber Mathilde machte eine beschwichtigende Geste. »Darum geht’s doch jetzt nicht. Es geht darum, dass ich mir einen guten Mann wünsche.«

»Mein Vater ist ein guter Mann«, murmelte Emma nachdenklich. Bevor Karl Friedrich Lehmann angefangen hatte, Blut zu husten, war er Schuhmacher gewesen, hatte mit ihnen in einer ansehnlichen Wohnung am Stralauer Platz gewohnt und war immer fleißig gewesen. Aber der Fleiß gehörte zu den ersten Dingen, die eine Krankheit wie die Tuberkulose einem raubte, die Freude und die Würde und die Kraft kamen bald dazu. »Krank ist er auch«, fügte Emma bitter hinzu.

»Dann will ich eben einen guten und gesunden Mann.«

»Gut und gesund sind wir doch selber. Dafür brauchen wir keinen Mann. Ich möchte keine Ehefrau, sondern eine Dichterin sein.«

»Wie willst du denn Dichterin werden? Du bist ein Mädchen, und du bist arm.«

»Na und?«, gab Emma schulterzuckend zurück. »Wörter sind nicht wie Geld, das nur die Reichen besitzen.«

»Aber wer soll deine Gedichte denn lesen wollen?«

Mathilde lachte auf, und als Emmas Blick auf das zerknitterte Papier fiel, fragte sie sich plötzlich, ob Gedichte, die niemand lesen wollte, vielleicht dasselbe wie Fragen waren, die keiner beantwortete. Ein bitterer Geschmack stieg ihr in den Mund, als hätte sie etwas Verbranntes gegessen, und Tränen traten in ihre Augen. Sie hatte sie nie geweint, wenn man ihr vorhielt, sie wäre frech, vorlaut und ungehorsam. Aber das, was Mathilde ihr sagte, war womöglich schlimmer – dass sie eine Träumerin sei.

Sie versuchte, die Tränen zu schlucken, aber es klappte nicht. Kurz machte es den Anschein, Mathilde wolle die harschen Worte zurücknehmen und tröstend den Arm um sie legen, stattdessen sprang sie unvermittelt auf. Das Bild vor Emma war so verschwommen, dass sie nicht sah, wie Mathilde wenig später zurückkehrte. Aber sie hörte es an ihren Schritten, spürte es, weil die Freundin sie anstupste. Und noch deutlicher als ihre Hände spürte sie das, was diese hielten. Einen weiteren Bogen Papier, ebenfalls geklaut, unbeschrieben – und nicht zigfach zusammengefaltet.

Der Tränenstrom riss ab.

»Aber … aber …«

»Denkst du etwa, ich traue mich nicht?«, fragte Mathilde mit schelmischem Lächeln.

»Aber … aber …«, nun endlich konnte sie mehr Worte machen. »Glaubst du also doch, dass ich Dichterin werden kann?«

»Nein. Aber solange du’s glaubst, helfe ich dir.«

Jetzt endlich nahm Emma das Papier in die Hand, jetzt endlich umklammerte sie wieder den Bleistift. Noch hatte sie kein weiteres Gedicht im Kopf, sie musste sich erst eines ausdenken, aber vorerst wollte sie diesen Moment genießen. Er fühlte sich an, als hätten sie wieder ein Stück Kandiszucker geteilt, nur, dass es diesmal nicht winzig war, ein so großer Brocken vielmehr, dass man den Mund kaum schließen konnte.

• • •

Mathilde schwitzte unter ihrer Last. Sie war zwar inzwischen schon zwölf, aber dürr und nicht sehr groß und schien unter der schwarzen Lieferdecke zu verschwinden.

Die Hemden, Schürzen und Kleider, die die Mutter genäht hatte, waren darin eingeschlagen, damit sie sauber zu den Konfektionshäusern gelangten.

Auch Emma war an diesem Tag zum ersten Mal von der Mutter beauftragt worden, die Ware an ihrer statt auszuliefern – neben Filzpantoffeln mehrere Unterhosen und Schlafröcke. Ihre Last war kaum leichter, auch sie schwitzte, aber sie schnaufte nicht, sondern lächelte.

»Ist es nicht aufregend, endlich mal aus Steglitz herauszukommen?«

Mathilde zuckte mit den Schultern. Sie wusste zwar längst, dass Steglitz der Vorort einer weit größeren Stadt – Berlin – war. Aber die erschien ihr bedrohlich wie ein weites dunkles Meer, mit Häuserzeilen statt Wellen, in dem gnadenlos unterging, wer nicht schwimmen konnte, sprich: fluchen, sich vorbeidrängen, die Ellbogen ausfahren und rennen.

»Wenn wir wenigstens in eines der reichen Viertel kämen«, sagte Mathilde seufzend. »Auf einer der prächtigen Alleen entlangspazieren könnten, auf die die Schatten von Linden fallen.«

»Die Wahrheit ist nun mal, dass Berlin vor allem ein Labyrinth aus Gossen ist.«

Mathilde wollte das nicht hören, sinnierte stattdessen sehnsuchtsvoll: »Mal wie ein Unternehmer oder Bankier ein feines Restaurant oder Caféhaus zu besuchen …«

»Oft sind das gierige Spekulanten, die all die Geschundenen, Kranken, Ausgebeuteten auf dem Gewissen haben.«

»… oder mal eine Parade von Soldaten in glänzenden Uniformen bestaunen.«

»Wenn man bloß ebenso viele Heere hätte, um gegen die Armut zu kämpfen als ständig nur für den Ruhm des Deutschen Reichs.«

Mathilde warf ihr einen genervten Blick zu. Dass die Freundin auch immer auf so was herumreiten musste! Sie brauchte ganz sicher nicht daran erinnert zu werden, dass es in dieser Metropole keinen Glanz ohne Schatten gab und sie nicht zu den Flanierenden, Schlendernden, Plaudernden, Strotzenden, sondern den Humpelnden, Gebeugten, Ächzenden, Hetzenden gehörte. Gerade darum wollte sie den Weg in die Stadt hinein ja so schnell wie möglich hinter sich bringen – nur hörte Emma nicht auf zu trödeln, weil sie ständig etwas Neues entdeckte, das sie betrachten, ergründen, bestaunen wollte. Irgendwann blieb sie gar auf einer der zahlreichen Brücken stehen, die über die Spree und ihre vielen Arme führte, um sich die Schwäne anzusehen.

»Wie schön das weiße Gefieder ist!«, rief sie.

»Nun lass uns weitergehen«, drängte Mathilde.

Emma rührte sich nicht, bis Mathilde die Geduld verlor, die Lieferdecke etwas fester umfasste und so schneller weiterlaufen konnte. Befriedigt hörte sie alsbald Schritte auf dem Straßenpflaster, die ihr folgten, doch als sie herumfuhr, sah sie nicht etwa Emma atemlos zu sich aufschließen, sondern einen Jungen. Sein kantiges Gesicht wurde von wehendem Haar umrahmt, noch schwärzer als die Lieferdecke, die Haut war fast so weiß wie die der Schwäne, jedoch auf den Wangen rot gefleckt.

Er schien geradewegs in sie hineinzulaufen, doch während schon ein empörtes He! über ihre Lippen drängte, schlug er rechtzeitig einen Haken. Dann hielt er an, sein Blick schweifte über sie und blieb an der schwarzen Decke hängen.

»Kannst du mir helfen? Die Blauen verfolgen mich.«

Verständnislos starrte sie ihn an. Doch Emma, die endlich nachgekommen war, nickte wissend.

»Polizisten?«, fragte sie eher aufgeregt als verängstigt.

Dass diese blaue Uniformen trugen, war Mathilde bis jetzt entgangen. Was sie ganz deutlich sah, war, dass der Junge etwas an sich presste.

Er ist ein kleiner Dieb, schoss es ihr durch den Kopf.

Als er allerdings die letzte Distanz überwand, ihr sein Atem warm ins Gesicht wehte, während die Augen von jenem Graublau waren wie der Himmel an sehr kalten Tagen, ging ihr auf, dass er vielleicht ein Dieb, ganz gewiss aber nicht klein war. Er überragte sie um einen Kopf, und sein Haar kitzelte ihre Schläfen, als er sich etwas vorbeugte.

»Versteckst du’s für mich?«, fragte er.

Wie enttäuschend! Der Junge hielt nicht etwa eine saftige Birne, die er vom Marktstand erbeutet hatte, oder eine knusprige Lammkeule, wie sie manch Metzger grillte, sondern ein … Büchlein.

Mathilde konnte den Titel nicht erfassen, doch Emma fragte: »Du hast Das Kapital von Karl Marx gestohlen?«

»Doch nicht gestohlen!«

»Warum fliehst du dann vor den Blauen?«

»Nun, weil es verboten ist, Das Kapital zu lesen.«

Stirnrunzelnd starrte Mathilde ihn an. Dass ein Buch zu klauen eine Untat war, musste ihr niemand erklären, aber warum sollte es verboten sein, eins zu lesen? Nun, im Grunde ging sie das nichts an. Aber Emma konnte ihre Neugierde natürlich mal wieder nicht in Zaum halten.

»Warum das denn?«, wollte sie wissen.

»Weißt du etwa nicht, was es mit diesem Buch auf sich hat?« Der Junge lachte, als hätte sie gerade eingestanden, die Farbe des Himmels nicht zu kennen, doch der gehässige Laut schien an Emma abzuperlen. Wortlos nahm sie ihm das Buch aus der Hand und begann darin zu blättern, und dass sie das so selbstverständlich tat, nicht im Mindesten so, als könnte man sich daran verbrennen, bewog den Jungen, anerkennend mit der Zunge zu schnalzen.

»Vorhin waren die Blauen bei uns in der Wohnung!«, berichtete er aufgeregt. »Sie haben den Kammkasten durchsucht, den Wichskasten, sogar die Puppenstube meiner Schwester. Aber ich habe das Buch rechtzeitig an mich gebracht.«

Emma schien wenig beeindruckt. »Und du hast es gelesen?«, fragte sie, ohne den Blick von den Seiten zu lösen. »Und auch darüber nachgedacht, warum hier zwischen Tausch- und Gebrauchswert von Waren unterschieden wird, zwischen konkreter und abstrakter Arbeitskraft? Ein überaus interessanter Gedanke, wie mir scheint. Was fällt dir denn dazu ein?«

So stolz geschwellt seine Brust auch war, ließ er den Kopf prompt etwas sinken. »Wir haben es doch erst seit ein paar Tagen, und es zu lesen dauert mindestens ein Jahr. Oder zwei.«

Nun schnalzte auch Emma mit der Zunge, aber bei ihr wirkte es so gar nicht anerkennend.

Himmel! Dafür, dass er verfolgt wurde, gab sich der Junge sehr gelassen! Und dafür, dass er eigentlich Mathilde um Hilfe gebeten hatte, blieb sein Blick etwas zu lange an Emmas Gesicht hängen!

Mathilde wusste nicht, was sie ritt. »Da! Die Blauen!«, rief sie, obwohl nichts weiter als die Schwäne auf dem Fluss zu erblicken waren und Fuhrwerke und Lastkarren auf der Straße. Und während die beiden herumfuhren, riss sie das Buch aus Emmas Hand, versteckte es unter der schwarzen Lieferdecke und rannte los. Erstaunlicherweise schien ihre Last eher kleiner als größer zu werden, und auch die Lieferdecke fühlte sich kurz leicht wie nie an.

Emma machte keine Anstalten, ihr nachzuhasten, der Junge hingegen schloss zu ihr auf.

»Wohin wollen wir das Buch denn bringen?«, fragte sie ihn.

»Zurück in unsere Wohnung. Die ist ja schon durchsucht worden.«

Ihr gefiel, wie durchtrieben er war. Auch dass er, obwohl er alsbald herausgefunden haben musste, dass keine Blauen aufgetaucht waren, weiterhin mit ihr Schritt hielt, sie sogar überholte. Sie spürte zwar langsam doch wieder die Last, aber es blieb ein Spaß, mit ihm zu rennen.

»Warum ist das Buch denn nun verboten?«, fragte sie atemlos.

Der Blick, den er über die Schulter warf, war spöttisch.

»Wer ist mächtiger als der Kaiser?«

»Der Zar?«

»Unsinn. Das ist Gleiche. Am mächtigsten ist der, der den Kaiser vom Thron stürzt. Mein Vater kann das.«

Die Prahlerei war so offensichtlich, dass Mathilde schallend lachte. »Dafür braucht man Waffen, keine Bücher.«

»Aber Bücher sind doch Waffen – die tödlichsten, die es gibt.«

Wieder sprang ein prickelndes Lachen über ihre Lippen.

»Du glaubst mir nicht?«, blaffte er sie nunmehr zornig an. »Wie haben Bebel und Liebknecht es denn erreicht, dass die Löhne der Arbeiterschaft gestiegen sind und die Arbeitszeit gesunken ist?«

Sie wollte nicht zugeben, dass ihr diese beiden Namen nichts sagten. Eigentlich interessierten die Namen sie auch nicht – zumindest nicht so sehr wie seiner.

»Wie heißt du denn?«

»Oscar.«

Sie formte die Silben lautlos. Es war ein Name, den man nicht nuscheln konnte, der einen vielmehr zwang, den Mund weit zu öffnen. Ihren dagegen – Mathilde – konnte man notfalls zwischen den Zähnen hervorpressen. Dass er nicht danach fragte, bremste ihre Schritte mehr als die zunehmende Atemlosigkeit. Doch als sie fast stehen blieb, traf sie plötzlich eine Stimme.

»Hab ich euch, ihr Lausekinder.«

Ihr Herz schien zu verrutschen. Von Emma war weit und breit nichts zu sehen. Aber als wär’s eine Strafe für ihre Lüge, setzte ihnen nicht etwa ein Polizist nach, sondern stand wie aus dem Nichts vor ihnen. Und was er drohend erhob, war nicht bloß eine Faust, es war ein Säbel.

Ein Schrei entfuhr ihr, während Oscar stumm blieb. Zumindest in jenem kurzen Augenblick, da er sich nicht etwa schützend vor sie stellte, sondern sich hinter ihren Rücken duckte. Dann rief er: »Sie hat’s, nicht ich!« Und stürzte aufs Neue los.

Der Polizist starrte erst ihm nach, dann Mathilde an, schien unschlüssig, wer der wahre Übeltäter war. Jetzt wurde ihr die schwarze Lieferdecke doch sehr schwer, als wäre das Buch ein Ziegelstein. Oder vielleicht nicht das Buch, sondern die Enttäuschung, weil Oscar sie so schmählich im Stich ließ.

Die Enttäuschung wandelte sich rasch in Wut, und die Wut gab ihr die Kraft, wieder loszurennen – nicht, um dem Säbel zu entgehen oder das Buch zu retten, sondern um Oscar einzuholen und ihm dieses gegen den Kopf zu schmettern. Mit jedem Schritt stellte sie sich das deutlicher vor, mit jedem Schritt hängte sie den Polizisten weiter ab. Die Luft wurde zwar knapper, nicht aber das Feuer, das in ihr aufloderte. Selbst der eisige Schreck, als sie plötzlich eine Hand packte, konnte ihm nichts anhaben. Die Hand zog sie in den Innenhof einer mehrstöckigen Mietskaserne, deren Hauswände so schmierig wie der Boden waren.

An den Haaren, die sie diesmal am Nacken kitzelten, erkannte sie, dass es Oscar war.

»Du Schuft!«, wollte sie schreien, brachte aber keinen Ton hervor, weil sich die Hand nun auf ihren Mund legte. Und anstatt das Buch hervorzuziehen und es auf seinen Schädel zu schleudern, ließ sie es samt Lieferdecke fallen. Ungeduldig begann sie an seiner Hand zu zerren. Doch bis sie ihre Lippen befreit hatte, ging ihr auf, dass es gar nicht so unangenehm war, seine schwieligen Finger auf diesen zu spüren. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals so berührt worden war. Sie genoss es, wenn Emma sie mal umarmte oder ihr tröstlich über die Schultern strich. Aber das hier war etwas anderes. Verstörender. Zugleich elektrisierender. Fast war sie enttäuscht, dass er ihren Mund bereitwillig freigab, und ob des kalten Schweißes, der sie bedeckte, fühlte sie sich plötzlich kalt und klamm. Doch das wurde von diesem halb schmerzhaften, halb köstlichen Grummeln im Magen wettgemacht, als sie herumfuhr, das Blitzen in seinen Augen sah, dieses spitzbübische Lächeln.

Jetzt rief sie doch noch: »Du Schuft!« Aber es klang nicht wütend, es klang zärtlich. Und weil ihr das ebenso peinlich war wie die Tatsache, dass ihr plötzlich die Knie bebten, fügte sie rasch hinzu: »Der Polizist hätte mich mit dem Säbel erstechen können.«

»Der, den die Blauen tragen, ist nicht scharf geschliffen.«

»Es hätte genügt, mir einen Hieb auf den Kopf zu versetzen.«

Er hob die Hand, strich über ihr Haar. »Da ist aber gar keine Wunde.«

Als er die Hand wegzog, brannte ihr Kopf. Doch, dachte sie, doch.

Sein Lächeln schwand kurz, um danach umso kesser zu werden, ein wenig so, als wären seine Lippen eine wendige Schlange, die man unmöglich erwischen konnte.

»Es hat doch Spaß gemacht, oder?«

»Spaß?«, entfuhr es ihr, und auch der Sinn dieses Wortes schlängelte sich blitzschnell an ihrem Verstand vorbei.

Aber sie musste den Sinn nicht erfassen, es genügte, dass sie ihn fühlte – auch jenes Brennen, wo er sie berührt hatte, jene Hitze, die in alle Glieder stieg, jenes Flattern, für das Magen und Brust zu klein schien. Anstatt ihn zu beschimpfen, hörte sie sich lachen.

Er stimmte eine Weile ein, dann wurden seine Lippen wieder schmal. Wortlos nahm er das Buch entgegen, wortlos trat er Richtung Treppe.

Sie brachte den Mund nicht weit genug auf, um seinen Namen zu rufen. Doch als er herumfuhr, verspätet fragte, wie sie heiße, und sie »Mathilde« sagte, reichte es ja zu nuscheln.

Eine Frage nuschelte sie auch noch: »Was ist dein Vater nun, dass er so mächtig ist, den Kaiser zu stürzen?«

»Na, was wohl? Ein Sozialist!«

Eben noch hatte sie sich vor allem mutig gefühlt, jetzt kam sie sich wieder dumm vor.

»Weißt du denn nicht, was vor drei Jahren geschah? Dass sich damals die Sozialisten zur Sozialistischen Arbeiterpartei vereinigt haben?«, fragte er.

Sie hatte keine Ahnung. »Natürlich weiß ich es!«, rief sie mit dem Brustton der Überzeugung.

Er schlenderte zurück zu ihr.

»Du lügst, ohne rot zu werden, das ist gut.«

Er erreichte sie, hob die Hand, strich eine Locke aus ihrer Stirn. Anders als vorher berührten seine Fingerkuppen nicht ihre Haut, sie fühlte trotzdem, wie ihr neue Hitze ins Gesicht stieg.

»Warum ist das gut?«, fragte sie.

»Weil du mir morgen helfen kannst, heimlich Flugblätter zu verteilen.«

Sie ahnte, dass das noch gefährlicher war, als verbotene Bücher zu verstecken, und das Kribbeln im Bauch wurde unangenehm.

»Oder traust du dich nicht?«

»Natürlich traue ich mich!«

Er gab den Anschein, noch eine Locke zurückstreichen zu wollen, verzichtete am Ende aber darauf und schenkte ihr nur mehr ein letztes Lächeln.

Obwohl sie keine Ahnung hatte, was genau die Sozialisten taten und was sie wollten, traute sie ihnen plötzlich zu, dass sie tatsächlich die Macht hatten, den Kaiser zu stürzen. Dieses Lächeln hatte ja auch die Macht, die Zukunft, die Emma oft beschwor, die aber so träge und schwer und grau auf Mathildes Leben gehockt hatte, aufzuscheuchen.

Die Zukunft lief den restlichen Tag und die ganze Nacht und den ganzen Vormittag, der folgte, wie ein laut gackerndes Huhn im Kreis, das nicht weiß, wohin sein Weg führt, jedoch langsam ahnt, dass seine Flügel vielleicht zum Fliegen da sind.

Zu Mittag aber verkroch sich die Zukunft wieder in einen finsteren, engen Verschlag. Als sie dann nämlich die Mietskaserne erreichte, erfuhr sie, dass Oscar nicht mehr hier lebte. Seine ganze Familie war am Morgen überstürzt aufgebrochen. Es war der Oktober 1878, das Parlament war zum Schluss gekommen, dass die Bestrebungen der Sozialdemokratie gemeingefährlich waren, sämtliche Versammlungen und Veröffentlichungen waren fortan verboten, und alle aufrechten Sozialisten flohen entweder freiwillig oder wurden aus der Stadt gejagt.

Zwölf Jahre lang war das Sozialistengesetz gültig. Zwölf Jahre lang sah Mathilde Oscar nicht wieder.

3.

Der graue Steinboden war nicht nur mit Staub und Metallsplittern bedeckt. Unter der Frau, die hinter der schmalen Stahlfedermaschine stand, hatte sich eine Pfütze Blut gebildet. Mit jedem Tropfen, der über ihre weißen Schenkel perlte, wurde sie größer. Obwohl der Frau kein Schmerzenslaut über die Lippen trat, verkrampfte sie sich immer wieder, und dass sie immens blass, fast gelblich wirkte, lag nicht nur am fahlen Schein der Glühbirnen, die von der Decke baumelten.

Emma verließ den Platz hinter ihrer Maschine, mit der ebenfalls feine Löcher in den Stahl gestanzt wurden, und stürzte auf sie zu. »Um Himmels willen, hast du dich verletzt?«

Die Frau blickte an sich herab und schien verspätet zu merken, dass die Binden zwischen ihren Beinen durchtränkt waren und kein Blut mehr aufsaugen konnten. Sie grinste schwach.

»Ach was, ich hab bloß ein Kind geboren.«

»Wann?«

»Na, vor drei Tagen.«

»Und warum schuftest du dann schon wieder hier in der Fabrik? Musst du dich nicht ausruhen?«

Der Blick der Frau schweifte abschätzend über Emma. »Wie alt bist du?«

»Bald achtzehn.«

»Und du hast immer noch nicht kapiert, dass es keinen interessiert, ob und wie Arbeiterinnen ihre Bälger werfen?« Aus dem Grinsen wurde ein spöttisches Lachen, aus diesem ein Stöhnen. Sie schien noch um eine Nuance blasser zu werden, während Emma rot angelaufen war.