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Das Gemälde wird einen Skandal auslösen. Das ist die letzte Nachricht des Restaurators Tano Faresi an die junge Kunsthistorikerin Ricarda. Bevor sie mehr darüber erfahren kann, ist er tot. Steht sein Tod mit dem Gemälde in Verbindung? Und handelt es sich wirklich um Caravaggios Santa Maria Maddalena? Ricarda begibt sich zusammen mit dem Benediktiner Elias und dem Fotografen Maurizio auf Spurensuche in Rom. Hinweise liefern ihr dabei alte Schriften mit Erinnerungen einer römischen Kurtisane, die Faresi Ricarda kurz vor seinem Tod anvertraut hat. Ihnen wird bald klar, dass Faresi mit seiner Vermutung recht gehabt hat ...
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Seitenzahl: 587
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Über dieses Buch
Titel
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EPILOG
ZEITTAFEL
HISTORISCHE ANMERKUNG
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Das Gemälde wird einen Skandal auslösen. Das ist die letzte Nachricht des Restaurators Tano Faresi an die junge Kunsthistorikerin Ricarda. Bevor sie mehr darüber erfahren kann, ist er tot. Steht sein Tod mit dem Gemälde in Verbindung? Und handelt es sich wirklich um Caravaggios Santa Maria Maddalena? Ricarda begibt sich zusammen mit dem Benediktiner Elias und dem Fotografen Maurizio auf Spurensuche in Rom. Hinweise liefern ihr dabei alte Schriften mit Erinnerungen einer römischen Kurtisane, die Faresi Ricarda kurz vor seinem Tod anvertraut hat. Ihnen wird bald klar, dass Faresi mit seiner Vermutung recht gehabt hat ...
Julia Kröhn
Sünde – Der Fluch der Maria Magdalena
Historischer Thriller
Campanien, 1618
Isotta vertraute das lang gehütete Geheimnis ihrer Tochter an.
Wenige Tage vor deren Hochzeit rief sie Lilia zu sich in ihr kleines Gemach. Es lag direkt unter dem Dach und stand bis auf Stuhl und Tisch leer. Kostbarer als jeder Hausrat war der Blick auf das Meer – ein schmaler, glänzender Halsreif, der sich um den Horizont schmiegte. Sein Rauschen glich zwar nur einem ersterbenden Gemurmel, und sein salziger Geruch verlor sich in Campaniens harzigen Wäldern. Doch das ferne Gleißen genügte Isotta, um Erinnerungen an die Kinder- und Jugendzeit zu beschwören, da es ähnlich dunstig-blau durch die Giebelfenster der heimatlichen Burg geschimmert hatte.
Von dieser Kindheit begann Isotta zu sprechen – desgleichen von der Zeit, die auf die unbeschwerten Tage gefolgt war. Lilias Neugierde, erweckt von der ungewohnten Einladung in den stillen Raum, erstarb ob der Erzählung der Mutter – in ihren Augen eine nichtige, weil längst verjährte Mär.
»Es gibt unten viel zu tun«, drängte sie. »Randvoll wird nächste Woche das Haus mit Gästen sein.«
»Und deswegen steht dir der Sinn nach anderem, als bei deiner Mutter zu hocken«, meinte Isotta mit nachsichtigem Lächeln. »Trotzdem wirst du mir zuhören. Ich habe dir ein Geschenk zu machen, das kostbarer ist als alles, was dein Vater und ich dir als Mitgift überreichen werden.«
Bei den letzten Worten hatte sich Isotta abgewendet. So bestimmt wie sie sprach, streckte sie die Hände nach der zugesagten Gabe aus. Es war trockenes Pergament, beschrieben mit der dünnen spitzen Schrift, die Lilia von den Geschäftsbüchern kannte, in denen die Mutter Einnahmen und Ausgaben des väterlichen Stoffhandels festhielt.
Ehe Lilia etwas fragen konnte, sprach die Mutter fort.
»Dies sind meine Erinnerungen«, sagte sie. »Die Erinnerungen an mein Leben, ehe ich es mit deinem Vater teilte. Auch die Erinnerungen an ein großes Geheimnis, das ich keiner Menschenseele jemals anvertraut habe. Du sollst die Erste sein, die davon erfährt.«
Isottas Stimme glich nun dem Raunen einer Greisin. Sie passte nicht zu ihr, denn wiewohl ihre Jugend verblüht war, hatte das graue Alter noch keine Wurzeln in der aufrechten, zähen Gestalt geschlagen.
»Was vermag ich von deinem Leben an Neuem zu erfahren, was du nicht längst schon berichtet hast?«, trotzte Lilia und wollte nicht nach den Schriften greifen. »Wir wissen alle – meine Brüder so gut wie ich –, dass du in Rom als Kurtisane lebtest, ehe du in die Ehe gingst.«
Lilia sprach das ungewohnte Wort mit Vorsicht aus. Die einstigen Sünden der Mutter ängstigten sie in gleicher Weise, wie sie sie bannten.
»Damit weißt du vieles, aber nicht genug von mir«, murmelte Isotta, drückte Lilia die Schriften in die Hand und griff mit der gleichen Entschlossenheit wie vorhin zu ihrem zweiten Geschenk für die Tochter. Es war eine Hülle mit funkelnden Steinen, in der ein kleiner Dolch steckte mit einem rostigen Griff und einer Klinge, die zwar nur matt glänzte, aber scharf zu sein schien.
»Gütiger Himmel, Mutter!«, stieß Lilia entsetzt aus, als Isotta den Dolch aus der Scheide zog. »Du wirst dich verletzen!«
»Keineswegs werde ich das«, entgegnete Isotta kühl. »Ich weiß damit umzugehen, besser, als dir lieb sein mag. Dieser Dolch hat mir einst die Freiheit geschenkt.«
»Gütiger Himmel!«, wiederholte Lilia. »Du wirst doch niemanden damit gemordet haben?«
Isotta antwortete nicht darauf.
»Lies es in den Schriften, die ich dir überreicht habe. Einstweilen sei gesagt, dass dieser Dolch Caravaggio gehörte. Er ist in meinem Besitz seit jener Stunde, da wir uns das letzte Mal sahen. Und falls du mit seinem Namen nichts anzufangen weißt, so kann ich nur versichern, dass er einst in Rom ein großer Maler war und der größte hätte werden können, hätte er es nur vermocht, seinen Jähzorn und seinen Hochmut zu beherrschen. Nie gelang es ihm. Er war bösartig, launenhaft und brutal. Und doch habe ich ihn begehrt.«
Isottas Züge wurden weich und jung. Gebannt starrte Lilia auf die veränderte Mutter.
»Begehrt?«, fragte sie unbehaglich. »Hast du ihn auch geliebt?«
»Gott bewahre!«, rief Isotta aus, steckte den Dolch in die Scheide und drückte ihn wie zuvor ihre Lebenserinnerungen in Lilias Hand. »In meinen Schriften wirst du lesen, dass er mich gemalt hat. Dieses Gemälde war nicht nur sündig wie kein zweites aus seiner Hand, sondern auch so gefährlich, dass ich den Dolch vonnöten hatte, um mein Leben zu schützen. Denn es gab jemanden, der mit aller Gewalt die wahre Bedeutung des Bildes zu vertuschen suchte.«
Rom, Gegenwart
Das Gemälde zeigte eine Frau mit dunkelblondem Haar, das seidig über die schmalen Schultern fiel. Ihr Blick wirkte entrückt, wie von einem unsichtbaren Ziel gefesselt, und ihre feingliedrigen Hände ruhten ineinander verschränkt auf ihrem Schoß. Das Gesicht der Frau – voller Hingabe und zugleich entspannt – leuchtete hell auf dem fein nuancierten Dunkel, in dem der Raum, in dem sie saß, versank. Friede breitete sich in ihrem Antlitz aus, Geborgenheit und Versöhnung. Und zugleich verriet die Zielgerichtetheit des Schauens eine Art von Erregung, eine nicht übermäßige und doch den ganzen Leib in Anspruch nehmende Anspannung. Was diese bedingte, ließ sich nicht erkennen, denn der Teil des Gemäldes, auf dem sich befunden hatte, worauf die Augen der Frau so sehnsüchtig gerichtet waren, war unkenntlich, weil völlig zerstört.
Tano Faresi, der Restaurator des Bildes, hatte dieses Loch mit einem Gewebepflaster aus Gaze geschlossen – ein nicht unriskantes Vorgehen, das bei einem spannungsreichen Klebstoff zur Verformung führen konnte. Abgesehen von dieser größten Schadstelle, wies das Gemälde mehrere Druckbeulen auf, Runzeln bei jenen Schichten, wo viele Farben übereinanderlagen, und schließlich ein Craquelé – ein Netz aus feinen Rissen. Bei erster Betrachtung ließ sich nicht feststellen, ob dieses sich nur durch den Firnis verästelte, den abschließenden Belag aus gelösten Harzen, oder ob es die darunterliegende Malschicht zerfurchte. An manchen Stellen war das Gemälde stark vergilbt, an anderen hatten sich einzelne Pigmentkörnchen gelöst.
Ricarda erkannte die unaufdringliche Schönheit des Gemäldes und seine altersbedingten Schäden mit einem kurzen Blick, doch sie konnte sich nicht lang darauf konzentrieren. Neben dem Bild kauerte der Restaurator Tano Faresi, in sich zusammengesunken wie die dargestellte Frau – aber nicht in sich ruhend, sondern tot.
Als Ricarda das Bild fand, lag ein ereignisloser Tag hinter ihr. Vormittags hatte sie sich an den üblichen Ablauf gehalten, den sie sich für ihre Zeit als Forschungsstipendiatin in Rom vorgenommen und bisher ausnahmslos eingehalten hatte: Der Wecker läutete um 6.30 Uhr. Ab 8.00 Uhr war sie entweder in der Bibliothek oder im Archiv, um für ihre Dissertation zu recherchieren und Daten zusammenzutragen. Danach folgte ein kurzes Mittagessen, meist im Stehen – heute war es eine trockene Pizza con patate gewesen, gleich in der Nähe des Pantheons. Auf den Espresso hatte sie verzichtet; sie hatte sich am Morgen in ihrem billigen Pensionszimmer zwei Tassen Löskaffee angerührt – dank dem segensreichen Wasserkocher, den sie aus Österreich mitgenommen hatte.
Nach dem Mittagessen war der strikte Terminplan durcheinandergeraten. Anstatt vor ihrem Laptop zu sitzen, um dort die Forschungsergebnisse zusammenzutragen und weiter an ihrer Arbeit über das Weltbild des Barockmalers Caravaggio zu schreiben, war sie zu dem Antiquitätenladen der Familie Faresi in der Via Coronari aufgebrochen. Es war eine der exquisitesten Straßen Roms, in deren vielfältigen Galerien jeder Sammler auf seine Kosten kam, galt seine Vorliebe nun Murano-Glas, Gemälden alter Meister, Druckgrafiken oder ausgefallenen Lampen.
Sie kannte Tano Faresi von einem Gastsemester, das er als Student der Kunstgeschichte in Salzburg verbracht hatte, ein versponnener Kerl, der wenig sprach, mit Theorie nichts anfangen konnte, aber Kunst liebte. Das zumindest behauptete er. Ricarda nannte diese Liebe eine sklavische Hörigkeit. Die Beschäftigung mit den Alten Meistern – die Moderne war ihnen beiden stets fremd geblieben – sah sie als Herausforderung für den Intellekt, nicht als hingebungsvolle Unterwerfung, wie Tano sie betrieb. Meist konnte sie es nicht nachvollziehen, wenn er mit glänzenden Augen von diversen Restaurationstechniken erzählte, mit denen man diesen epochemachenden Künstlern zu neuem Glanz verhelfen könne.
»Es ist eben so, dass ich ein Handwerker bin – und du eine Wissenschaftlerin.«
In seinem akzentreichen Deutsch hatte er das während einem der wenigen längeren Gespräche, die sie geführt hatten, festgestellt. Ihr Kontakt war eigentlich auf kurze Nachbesprechungen von Vorlesungen auf dem Flur der Fakultät beschränkt gewesen, und später, nachdem Tano wieder zurück nach Italien gegangen war, auf gelegentliche E-Mails. Auch nachdem Ricarda das Forschungsstipendium in Rom erhalten hatte, hatten sie ihre Kommunikation vor allem per Internet fortgesetzt.
Sie waren eben beide keine Plauderer, auch keine Freunde, sondern quasi Kollegen, die sich von sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aus mit der gleichen Materie beschäftigen.
Tanos letzte E-Mail hatte jedoch nicht wie üblich seitenlange Arbeitsberichte beinhaltet, in denen er detailgenau seine Methoden der Gemälderestauration beschrieb – wenn sie ihm antwortete, ging sie nie darauf ein, sondern hielt ihre neuesten Erkenntnisse, die sie für ihre Dissertation gewonnen hatte, dagegen. Ebenso wenig hatte er von der üblichen Frustration geschrieben, die er erlebte, wenn er für den Antiquitätenhandel seiner Großmutter vor allem alte Möbel restaurieren musste und seiner Leidenschaft für Malerei nicht frönen durfte – auf solche E-Mails antwortete Ricarda gar nicht erst, weil sie ihr zu persönlich vorkamen.
Stattdessen hatte er sich auf drei Zeilen beschränkt:
Bitte komm so bald wie möglich zu mir, ich muss dir etwas zeigen. Habe ein Gemälde entdeckt, das ein echter Caravaggio sein könnte. Wenn ich recht habe, verbirgt sich hinter diesem holden Bild ein richtiger Skandal.
Als sie im Laden der Faresis eintraf, der sich wie viele in seiner Nachbarschaft trotz des prächtigen Inneren hinter einer billigen, verschmierten Glastür mit Plastikrahmen verbarg, traf Ricarda nicht auf Tano, sondern auf eine ältliche Signora, die die Kunden bediente – sichtlich missmutig, weil sich keine echten Antiquitätenliebhaber hierher verirrt hatten, sondern Touristen, die nur zum Gaffen kamen, nicht zum Kaufen.
Es waren zwei Engländer mit militärgrünen Rucksäcken. Einer presste seinen Rucksack gegen Ricardas Bauch, während er fasziniert eine kleine Franziskusstatue fotografierte.
Ricardas Gesicht versteinerte. Seit sie in Rom lebte, versuchte sie verbissen, sich von den Touristen abzugrenzen. Sie sprach zwar nicht sehr gut italienisch, aber sie versuchte standhaft den Eindruck zu vermeiden, irgendetwas mit den Drei-Tage-Eroberern der Ewigen Stadt gemein zu haben. Bis jetzt hatte sie sich von allen Sehenswürdigkeiten ferngehalten und sich entweder in den Bibliotheken, den Archiven oder in ihrem Pensionszimmer verkrochen. Heute hatte sie auf dem Weg zu Tano über die Ponte San Angelo und die Piazza San Salvatore die Engelsburg erstmals überhaupt wahrgenommen.
»How beautiful, isn’t it?«, kreischte der andere Engländer, und prompt landete auch dessen Rucksack in Ricardas Rippen. Eine Ansichtskarte vom Petersdom ragte daraus hervor.
»How much is it?«, fragte er, nachdem er eine Madonnenikone entdeckt hatte.
Die ältliche Signora, die über den Laden wachte – wahrscheinlich war das Signora Luisa, die Tano in einer E-Mail als Vertraute seiner Großmuter und bösartigen, aber sehr effizienten Drachen beschrieben hatte –, übersah Ricarda, die ihr Hilfe suchende Blicke zuwarf, und stürzte entrüstet auf den Engländer zu. Ihr Blick verhieß mehr als die Fülle an schnellen, italienischen Worten, die sie den Engländern entgegenbellte.
An Touristen verkaufen wir nichts, schien er zu sagen. Und obendrein kostet diese Ikone mehr als Ihr ganzer Urlaub.
Ricarda nutzte die Gelegenheit, um sich unauffällig an den Engländern vorbeizudrängen. Sie erspähte einen Gang, der zu einem kleinen Innenhof und von dort in einen weiteren Raum, wahrscheinlich das Atelier, führte. Anders als viele seiner Kollegen, die ihre Werkstätten auf offener Straße betrieben, schien Tano lieber zurückgezogen zu arbeiten.
Zögerlich betrat Ricarda den Innenhof, ihre Handtasche wie üblich fest an sich gerafft. Der Raum, der an den Innenhof grenzte, war niedrig und fensterlos. Die rötlich gefärbten Steinwände wirkten heimelig und zugleich bedrückend, das schummrige Licht war eine Mischung aus der lose baumelnden Glühbirne und dem Tageslicht, das durch die beschlagenen ovalen Fenster kroch. Ricarda drehte sich noch einmal um, aber Signora Luisa, die mittlerweile nicht mehr sprach, sondern keifte, schien sie nicht bemerkt zu haben.
Davon ermutigt trat sie in den Raum, der mit Kunst nichts zu tun zu haben schien, sondern einer Werkstatt glich. Es roch nach Bienenwachs, Acrylharzkleber und nach Coletta – einer Mischung aus Roggen- und Weizenmehl, Glutinleim, Wasser, Harzen und Leinsamen. Tano hatte ihr einmal erklärt, dass heutzutage kaum noch ein Restaurator mit diesem historischen Rezept arbeitete. Er hielt das für einen Fehler, denn warum, so seine Worte, sollte man nicht von den Erkenntnissen zehren, die Restauratoren über Jahrhunderte gesammelt hatten?
Tano war ein Nostalgiker, befand Ricarda, verliebt in alles, was historisch war. Er trug auch altmodische Kleidung, niemals Jeans. Eigentlich erstaunlich, dass er überhaupt das Internet benutzte.
Als sie an dem Vakuumtisch und dem Infrarotheizstab vorbeiging und im Augenwinkel das Sortiment an Lötnadeln und Heizspachteln wahrnahm, das an das Rüstzeug eines Chirurgen erinnerte, dachte sie erneut an seine seltsame E-Mail. Sie war seiner Bitte rasch gefolgt, aber dass sich ausgerechnet in dieser Werkstatt ein echter Caravaggio befinden sollte, hatte sie keinen Augenblick lang ernsthaft geglaubt. Auch als sie das Gemälde entdeckte, das Tano gemeint haben musste – das einzige, das sich in der Werkstatt befand –, betrachtete sie es nicht mit dem Sachverstand einer Caravaggio-Expertin, sondern mit dem gleichen flüchtigen Interesse wie draußen im Laden die Franziskusstatue oder die Madonnenikone. Die Stimme von Signora Luisa klang mittlerweile wie ein wütendes Bellen. Vielleicht hatte einer der Engländer mit seinem Rucksack etwas umgestoßen.
Der Lärm der Straße war nur gedämpft zu hören; von nebenan ertönte das nervtötende Geräusch eines Bohrers. Offenbar wurde in der benachbarten Werkstatt fleißig gearbeitet – ganz anders als hier.
»Tano?«, fragte Ricarda.
Er saß neben dem Gemälde, den Ellbogen auf ein Tischchen gestützt, auf dem eine leere Tasse stand, und den Oberkörper nach vorne gebeugt, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Tano!«, wiederholte Ricarda etwas lauter, als er nicht reagierte. Sie tastete sich mit der Hand an den jungen Mann heran, erreichte seine Schulter, spürte den rauen Stoff seines Hemdes und darunter die warme, schweißverklebte Haut. Sie stieß ihn sachte an und zog die Hand sogleich befangen zurück. Sein Kopf stürzte mit einer Wucht nach vorn, die den Oberkörper mit sich zog und ihn über den Knien baumeln ließ. Ricarda zuckte zusammen. Wie konnte er sich am helllichten Tag derart betrinken, dass er völlig das Bewusstsein verlor?
Panisch drehte sich Ricarda um. Vom Gang her hörte sie Schritte, aber statt der erwarteten Signora Luisa erblickte sie eine andere ältere Dame, viel eleganter gekleidet und mit freundlicherem Gesichtsausdruck.
»Buon giorno!«, rief die Dame herzlich aus und trat über die Schwelle der Werkstatt.
Ah, hier sei er, der gute Tano Faresi, sie habe einen Termin mit ihm, Signora di Campanella sei ihr Name. Sie musterte Ricarda abschätzend. Ob sie auch hier im Laden arbeite, sie habe sie hier noch nie gesehen? Oder habe Tano sie etwa auch hierherbestellt? Es gehe um das Gemälde, das ...
Die Fremde stand vor Ricarda und verstellte ihr den Weg zurück in den Laden. Ricarda brachte ohnehin keinen Schritt zustande. Sie starrte auf die Signora, lauschte gebannt dem Wortschwall, der nur schwer verständlich war. Ihre Hände waren schweißnass. Endlich ging ihr Blick von der plappernden Dame zurück auf den zusammengekrümmten, reglosen Tano. Seine Schultern hoben und senkten sich nicht. Der Atem war nicht zu hören. Zäher, gelblicher Speichel tropfte auf den rot gefliesten Boden.
Da erst begriff sie.
»Ich glaube, er ist tot«, hörte sie sich plötzlich stammeln.
Signora di Campanella schrie auf. Es war ein greller, hysterischer Schrei, der nicht enden wollte, und Ricarda fühlte in diesem Augenblick nicht Entsetzen, nicht Angst, sondern nur unglaublichen Ärger, dass sich die Dame so gehen ließ. Konnte sie sich nicht zusammenreißen? War die Sache nicht schlimm genug?
Vor ihnen saß ein Toter ... ein noch junger Mann ... den sie, Ricarda, gekannt hatte.
Signora Luisa verhielt sich um vieles gefasster. Als sie herbeigeeilt kam, sagte sie kein Wort, sondern wandte sich sofort ab, um Polizei und Krankenwagen zu rufen. Zwanzig Minuten später waren sie da. Signora di Campanella hatte mittlerweile immerhin zu schreien aufgehört. Stattdessen wimmerte sie jetzt. »Non è possibile! Non è possibile!«, stieß sie ein ums andere Mal aus.
Die drei Carabinieri betrachteten den Toten schlecht gelaunt und blieben tatenlos. Vielleicht hatten sie seinetwegen ihre Mittagspause verkürzen müssen und warteten nun auf deren offizielles Ende, ehe sie irgendetwas zu unternehmen gedachten. Während Ricarda sie beobachtete, bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit auf dem Arbeitstisch gesessen hatte und ihr eine Feile in den Hintern stach. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, sich gesetzt zu haben. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt – ein weicher, grauer Dunst, der alle Stimmen und Laute dämpfte. Erinnerungen begannen sich stattdessen darin abzuspulen.
Tano hat gerne cioccolata calda, heiße Schokolade, getrunken. Er hatte zwar die Angewohnheit der meisten Italiener geteilt, das Salzburger Wetter grundsätzlich als zu kalt und zu vernieselt zu empfinden, nicht aber deren Vorliebe für Cappuccino oder Espresso. Kaffee trinke er äußerst selten, hatte er von sich behauptet. Allerdings war ihm der Kakao, den Ricarda für ihn zubereitet hatte, anfangs auch nicht recht gewesen, weil zu dünnflüssig. Sie hatte ihn nur dann zufriedenstellen können, wenn sie einen Löffel Schokopudding in die Milch gerührt hatte, der dem Getränk die Konsistenz einer glutamathaltigen Chinasuppe verlieh. Wenn Tano dann anerkennend geschmatzt hatte, als würde er in ihrem öden, altmodisch eingerichteten Studentenzimmer den Inbegriff der Glückseligkeit finden, war sie stets überrascht gewesen, dass sie offenbar ein solches Ausmaß an Wärme und Gemütlichkeit bieten konnte.
Irgendwie hatte ich ihn richtig gern, dachte Ricarda plötzlich – das Eingeständnis einer Gefühlswallung, die sie zu seinen Lebzeiten – und vor allem außerhalb der cioccolata-calda-Stunden – als Sentimentalität zurückgewiesen hätte. Ja ... richtig gern. Er hat mich verstanden. Er hat sich nie darüber lustig gemacht, dass ich ganz in meiner Forschungsarbeit aufgehe ...
Später, sehr viel später – sie schien jedes Zeitgefühl verloren zu haben und konnte nicht sagen, wie lange es her war, dass sie den toten Tano gefunden hatte –, saß Ricarda auf einer Parkbank in der Villa Borghese, auf ihrem Schoß eine Packung mit Schokoladenkeksen, die sie gekauft hatte, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Erst jetzt bemerkte sie, dass es eine Familienpackung war. Nun saß sie mit einem Kilo Kekse da – jeder einzelne in dickes, wenig umweltfreundliches Plastik eingeschweißt.
Ihren Fingern fehlte die Kraft, das Plastik zu lösen. Apoplettico cerebrale.
Diese Diagnose hatte nicht der Arzt gestellt, sondern Carlo Forli. Carlo Forli war offenbar der Vorgesetzte der Carabinieri, den diese zu Hilfe geholt hatten. Nach ihrer langen Untätigkeit war das die erste vernünftige Handlung – und zugleich ihre letzte: Denn kaum war Carlo Forli da, überließen sie ihm das Feld und begnügten sich damit, aufgeregt zu gestikulieren, durcheinanderzurufen und Kaugummi zu kauen. Nach Carlo Forli kam schließlich der Dottore angehetzt. Letzterer hatte im Stau gesteckt. Als er den Laden betrat, hing Signora di Campanella an Carlo Forlis Arm, schluchzte zwar noch ein bisschen, aber schien den schlimmsten Schock überwunden zu haben. Die Carabinieri sprachen ein wenig leiser, seit Carlo Forli eine Diagnose gestellt hatte, die auf kein gewaltsames Verbrechen hinauslief. Ihre Worte kreisten nicht länger um den Toten, sondern um Alltagstratsch, während Signora Luisa – trotz ihrer Gefasstheit leichenblass – an der Tür zur Werkstatt stand und mit dem gleichen unbeteiligten Tonfall, mit dem sie die Polizei informiert hatte, erklärte, dass sie Tanos Großmutter Antonella Bescheid sagen musste.
Ob er sonst keine Verwandten habe, hörte Ricarda Carlo Forli gedämpft fragen.
Signora Luisa antwortete, dass er welche in Kalabrien habe. Aber er habe seit einigen Jahren bei Antonella gelebt. Ihr gehöre der Laden. Da ihre eigenen Kinder tot seien, habe sie Tano als Erben bestimmt. Sie habe seine Ausbildung finanziert. Er hätte ihr Nachfolger werden sollen ...
Ihre Stimme klang trocken und kalt, ein wenig so wie die von Ricarda, als sie die Fragen beantwortet hatte, die Carlo Forli ihr gestellt hatte. Er war Südtiroler und sprach Deutsch, was die Sache für Ricarda erleichterte. Er hatte nicht wissen wollen, warum sie hier war und woher sie Tano kannte, und darum hatte sie den Inhalt seiner E-Mail verschwiegen.
»Ja, ich habe ihn gefunden«, hatte sie angegeben. »Er war schon tot. Er saß ganz ruhig hier, und als ich ihn sachte angestoßen habe, ist er nach vorne gefallen.«
»Apoplettico cerebrale«, hatte Carlo Forli wiederholt, den es zu beglücken schien, dass der Arzt zu spät kam und er an seiner Stelle den Dottore mimen durfte. Vielleicht hatte er einmal zu oft »Emergency Room« gesehen.
»Was heißt das?«, hatte Ricarda verwirrt gefragt.
»Gehirnschlag.«
»Bei einem so jungen Mann? Das ist doch sehr ungewöhnlich!«
»Kann vorkommen. Ungesunde Lebensweise. Zu viel Stress ...«
Ricarda hatte nie den Eindruck gehabt, dass sich Tano gestresst fühlte. Er liebte seine Arbeit, er ging in ihr auf. Er war keiner, der frustriert von Geschäftstermin zu Geschäftstermin hetzte. Doch das hatte sie dem Beamten nicht gesagt.
Als der Dottore gekommen war, hatte Carlo Forli ihn mit amikalen Küssen auf die Wangen begrüßt. Offenbar waren sie hocherfreut, sich wieder einmal zu sehen – wenn auch neben Tanos Leiche, die unbeachtet auf dem Stuhl kauerte. Die beiden Männer schoben – ähnlich wie die Polizisten – ein kleines Schwätzchen ein, in dem es anfangs um das Wetter, später um Berlusconi ging. Erst nach zehn lähmenden Minuten bequemte sich der Dottore, der Form halber den Toten abzutasten.
Wieder hörte Ricarda Carlo Forli stolz, ja nahezu freudig erregt vom apoplettico cerebrale sprechen, und der Dottore erwies ihm anscheinend den Freundschaftsdienst, dieses pseudoärztliche Urteil unkommentiert zu lassen.
»Ach ja«, wandte sich Carlo Forli jetzt wieder an Ricarda. Er schien sie vergessen zu haben, während er mit seinem Freund parliert hatte. »Sie müssen nicht bleiben. Sie müssen nur Ihren Namen, die Adresse und eine Telefonnummer hinterlassen.«
Dann wandte er sich Signora di Campanella zu, die Carlo Forli mittlerweile wieder losgelassen und sich auf Signora Luisas Arm gestützt hatte. Ricarda hörte nicht mehr, was er zu ihr sagte.
Mit wackeligen Beinen verließ sie das Atelier. Und plötzlich fiel ihr ein, dass sie in dem ganzen Trubel nicht länger auf das Gemälde geachtet hatte ...
Am Abend saß sie im Speisesaal ihrer Pension und sah Maurizio zu, wie er Spaghetti pomodoro aß. Er wickelte sie nicht am Tellerrand auf die Gabel, sondern benutzte einen Suppenlöffel, um Spaghetti heuballengleich um die Zinken zu drapieren – die einzige deutsch-österreichische Unsitte, die sich Maurizio von Zeit zu Zeit gönnte, während er ansonsten seine Herkunft verschwieg. Lange bevor er nach Rom gekommen war, hatte er auf den Namen Moritz gehört.
Sein bartstoppeliges Kinn triefte vor Soße. Nur halbherzig presste er die Serviette, die er sich vor die Brust geheftet hatte, darauf.
Maurizio erzählte Ricarda oft, dass ihm die italienische Küche zum Halse raushing und dass er seinen Geschmacksnerven nie wieder ein banales Gericht wie Spaghetti pomodoro zumuten würde, wenn er einmal zu Geld gekommen wäre, zu richtig viel Kohle. Er hob dabei die Hand zum Schwur, zu verspielt und spöttisch, um selbst an das Versprechen zu glauben.
Maurizio würde nie zu viel Kohle kommen. Maurizio war in seinem Leben bereits Fernsehjournalist, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer gewesen. Geld hatte es ihm nicht eingebracht, keine Festanstellung und auch keine nennenswerten Preise. Er konnte sich keine ordentliche Wohnung leisten und hatte sich deswegen in einem Hinterzimmer der Pension Buzzo eingemietet. Als er herausgefunden hatte, dass auch Ricarda zu den Dauergästen gehörte, hatte er sich einmal zu ihr an den Tisch gesetzt und oberflächlichen Small Talk begonnen – und daraus war eine Gewohnheit geworden. Sie hatten nichts miteinander gemein, nur, dass sie sich – wenn sie es auch beide niemals zugegeben hätten – in Rom manchmal einsam fühlten.
Durch die Gaststube schlenderten zwei junge Französinnen, bauchfrei und mit türkisen Paillettentops. Eine Schülertruppe wohnte für eine Woche in Signora Buzzos billiger Pension, wurde tagsüber von einer Lehrerin an Ruinen vorbeigeschleift und lief später den pickeligen, gelverschmierten Marcellos oder Massimos oder Lucas nach, entweder kreischend oder gespielt unbeteiligt. In den Augenwinkeln der Schülerinnen klebten silbrige Sterne. Die Lippen waren tiefrot angemalt, und über dem Lidrand hatten sie millimeterdicke Kajalstreifen gezogen. Im Elektrolicht der Gaststube zeichnete sich der dunkle Ansatz unter den weißblond gefärbten Haaren ab.
»Französisch ist wenigstens eine erträgliche Sprache«, knurrte Maurizio, als sie zu tuscheln begannen. Er schob den Spaghettiteller zu Ricarda und bot ihr an, wie oft in den vergangenen Wochen, mitzuessen. Sie schob den Teller zurück. Ihr war übel.
»Eine erträgliche Sprache«, wiederholte er. »Kannst dir nicht vorstellen, was mir heute passiert ist. Chiara D’Auri, das berühmte Fotomodel, ist offenbar schwanger. Und weilt hier in Rom. Das musst du dir mal vorstellen: Chiara D’Auri! Der Tipp kam am Morgen von Giuseppe. Giuseppe riecht immer und überall die Lunte. Aber wo man Chiara D’Auri in Rom findet, das wusste nicht mal Giuseppe. Alter Penner.«
Er starrte Ricarda durchdringend an. Am Anfang, als er sie noch nicht so gut gekannt hatte, hatte er zuerst immer gefragt, wie ihr Tag verlaufen sei – bis sich herausgestellt hatte, dass es nicht viel zu erzählen gab.
Dr. Ricarda Weiss. Abgeschlossenes Studium und Promotion in Theologie, nun Arbeit an der zweiten Doktorarbeit in Kunstgeschichte, für ein halbes Jahr Forschungsstipendiatin in Rom. Schwach bei Kasse, im Privatleben tat sich nichts. Das war’s.
»Tut mir leid«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, »ich habe nichts zu bieten, was einen Paparazzo interessieren könnte.«
»Nenn mich nicht Paparazzo. Ich bin Fotograf. Und das auch nur, weil man damit mehr verdient als mit dem Schreiben«, hatte er damals geantwortet.
»Heute ist etwas Schlimmes passiert ...«, murmelte sie eben. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer die riesige Packung mit den Schokoladenkeksen in den Händen hielt. Unter dem Plastik hatte ihre Haut zu schwitzen begonnen.
»Chiara D’Auri ist ein Top-Model und hatte mal was mit Umberto Capa«, fuhr Maurizio fort, der an die Alleinunterhaltung zu sehr gewöhnt war, um den leisen Hilferuf zu vernehmen. »Umberto Capa, der Popstar, du weißt schon – weißt du das nicht? Auf welchem Planeten lebst du eigentlich, wenn du Umberto Capa nicht kennst? Chiara D’Auri ist also schwanger, allerdings von ihrem Ehemann, nicht von Umberto Capa. Was nichts zur Sache tut. Schwanger ist schließlich schwanger. Und Capa könnte man die Samenspende durchaus zutrauen. Der hat schon mal ein Model zur Mutter gemacht, die Zavattini. Cosima Zavattini – kennst du die etwa auch nicht? Super mager, aber pralle Plastiktitten!«
Er fragte beinahe schreiend und mit vollem Mund. Die beiden jugendlichen Französinnen hoben kurz den Kopf. Maurizio starrte Ricarda an, während sie sich einen Schokoladenkeks in den Mund steckte.
»Also, wo finde ich nun die D’Auri?«, dröhnte er in die schäbige, schwüle Gaststube. »In einem Kindermodengeschäft! Dolce & Gabbana hat neu eröffnet, Luxusware für die Kleinsten, ein Strampler ab fünfhundert Euro. Ich habe fast den ganzen Nachmittag dort zugebracht. Ohne dass die D’Auri auftauchte. Die Verkäuferin fragte mich, was ich wolle. Ich habe behauptet, dass meine Frau schwanger wäre. Als ich nichts gekauft habe, fragte sie mich, ob mir das Auto da draußen gehöre, es parke direkt vor dem Laden, unerlaubterweise. Sie wusste natürlich, dass das Auto nicht mir gehört, aber sie wollte mich loswerden. Jetzt kommt’s. Sie hat also gefragt, ob das Auto mir gehöre. Das heißt, sie hat gefragt, ob der Citroën mir gehöre. Das Auto vor dem Laden war nämlich ein Citroën. Aber sie sagte natürlich nicht Citroën. Kein Italiener kann Fremdsprachen. Ich verstehe nicht, warum sie keine Fremdsprachen in der Schule lernen. Sie sagte ... Zitrone!«
Maurizio tippte sich an die Stirn. »Zitrone!«, zischte er. »Ich hab die Italiener so satt. Machen um alles ein Riesengeschrei, aber können keine einzige Fremdsprache. Ich hau hier ab. Scheiß Rom. Scheiß Job. Scheiß Chiara D’Auri.«
Ricarda musterte ihn schweigend, während er die gemeinen Finten seines Paparazzolebens darlegte und dabei unfreiwillig komisch wirkte, wie so oft.
Sie lachte nicht. »Tano Faresi ist tot.«
Maurizio hörte den Satz nicht, schüttelte den Kopf, pathetisch jetzt. Leben ist Krieg – auch wenn er nicht mit dem Gewehr, sondern mit dem Fotoapparat auf die Feinde schoss, den V.I.P.s dieser Welt nachhastete und meistens an ihnen vorbeizielte.
»Zitrone!«, stieß er erneut hervor. »Was tue ich hier überhaupt? Immer nur nutzlos Zeit verplempern und kaum was dafür kriegen! Da hätte ich gleich beim Schreiben bleiben können. Weißt du eigentlich, wie lange ich schon in Rom lebe? Viel zu lange! Das ist ja nicht zum Aushalten hier! Schöne Stadt heißt’s immer! Aber in Wahrheit pumpt sie dich leer wie ein Riesenstaubsauger! Sonnig und warm – von wegen! Wer soll die vierzig Grad im Sommer nur ertragen?«
»Ich glaube, er ist nur wenige Minuten bevor ich kam gestorben«, fuhr Ricarda fort, während sie sich einen weiteren Schokoladenkeks in den Mund schob. Ihr wurde noch übler. »Er saß neben dem Gemälde. Er hat mir geschrieben, dass es ein echter Caravaggio sei. Ich verstehe überhaupt nicht, wie ein junger Mann so plötzlich sterben kann. Er ist doch in meinem Alter. Ich kenne ihn von einem Gastsemester in Salzburg ...«
»Wovon zum Teufel redest du?«, fragte Maurizio und trank hastig sein Glas mit billigem Rotwein leer. »Von Schokoladenkeksen wird man nicht satt, nur fett. Iss lieber was Anständiges.« Es klang ruppig, aber er beugte sich vor, um sie genau zu mustern.
»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Ricarda. »Tano ist tot ... ein ehemaliger Studienkollege ... Aber er hat mir doch diese E-Mail geschrieben. Ich sollte zu ihm kommen. Und daraufhin hab ich ihn gefunden. Er hat ausgesehen, als würde er schlafen.«
Noch während sie mit ihm sprach, hatte sie den Blick abgewendet, war langsam aufgestanden und hatte mechanisch den Stuhl nach hinten geschoben. Maurizio riss sich die Serviette aus dem Hemdkragen und folgte ihr hastig durch den Speisesaal. Die beiden Französinnen tuschelten weiter und begannen dann hysterisch zu lachen.
»Wer ist Tano?«, fragte er verständnislos.
»Er arbeitet im Antiquitätenladen seiner Großmutter, als Restaurator. Er hat behauptet, er sei auf einen echten Caravaggio gestoßen.«
»Und wer ist Caravaggio?«
»Caravaggio war einer der bedeutendsten Maler zwischen Renaissance und Barock!«, erklärte sie ungeduldig.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob sie ihm je ausführlich über ihr Forschungsvorhaben erzählt hatte. Caravaggios Malerei im Lichte des weltanschaulichen Umbruchs im 16. und 17. Jahrhundert.
»Und was ist denn nun mit diesem Tano passiert?«, fragte er.
Sein Interesse kam verspätet.
»Mir ist schlecht«, murmelte Ricarda und stürzte nach draußen.
An der Wand hinter der Rezeption hing ein kitschiges Jesusbild. Signora Buzzo, der die billige Pension gehörte und die immer zu einem chiacchierata, einem kleinen Schwätzchen, aufgelegt war, hatte einmal aufgebracht auf dieses Bild gedeutet. Herumtreiber hätten vor einigen Monaten die ganze Gaststube leer geräumt, dreckiges Gesindel, allesamt, geben Sie nur auf Ihre Handtasche acht, aber das Bild hätten sie hängen gelassen, das wagten sie nicht, sich am Herrgott zu vergreifen. Eine eigenartige Moral, alles zu klauen, nur keine Jesusbilder. Heute erinnerte Ricarda das Bild an die Madonnenikone im Antiquitätenladen der Faresis.
Maurizio war ihr gefolgt.
»Brauchst du was?«, rief er ehrlich besorgt. »Kann ich was für dich tun?«
Als sie die schiefe Treppe erreichten und nach oben stiegen, fühlte sie kalten Schweiß an ihren Schläfen kleben.
»Du hast ja keine Ahnung!«, murmelte sie erstickt. »Ein Freund von mir ist tot, und du plapperst von irgendwelchen Autos!«
Noch nie hatte sie ihn so scharf angefahren. Seine Bereitschaft, ihr beizustehen, erlahmte augenblicklich.
»So, so, ein Freund von dir ... Bislang habe ich nichts davon mitbekommen, dass du in Rom irgendwelche Freunde hast, mit denen du deine Freizeit verbringst.«
Sie hielt sich am Geländer fest.
»Kein Wunder, dass dir schlecht ist, wenn du nur Schokoladenkekse in dich hineinfrisst«, erklärte Maurizio kühl und ließ sie im Gang stehen.
Ricarda hastete zu ihrem Zimmer und sperrte die Tür auf. Wenige Augenblicke später beugte sie sich über das weiße Waschbecken, in dem kleine schwarze Flecken das Email durchlöcherten. Gelbliches Wasser ergoss sich in den silbernen Abfluss, als sie den Hahn aufdrehte, den Beckenrand umkrallte und die wenigen Bissen hinaufwürgte, die sie an diesem Tag zu sich genommen hatte. Es schmeckte säuerlich in ihrem Mund. Als sie nach dem Wasserhahn tastete, bemerkte sie die zwei frischen Handtücher auf ihrem Bett. Signora Buzzo hatte sie dorthin gelegt, ebenso wie das Päckchen gleich neben den Handtüchern.
Ohne sich den Mund abzuwischen, griff Ricarda rasch danach. Die Adresse auf dem Päckchen hatte unverkennbar Tano geschrieben, mit seiner spitzen, geschwungenen, altertümlichen Handschrift, die seine Vorliebe für alles Historische deutlich machte.
Mit zitternden Händen riss Ricarda das Päckchen auf. Ein kleiner Notizzettel mit weiteren Zeilen in dieser Handschrift flatterte ihr entgegen.
Wie angekündigt schicke ich dir die Lebenserinnerungen der Kurtisane Isis de Luna. Jetzt, da du das Geheimnis des Bildes kennst, verstehst du, warum ich sie nicht gemeinsam mit dem Gemälde aufbewahren will. Behalte du sie einstweilen.
Eine Weile saß sie ratlos auf ihrem Bett. Der Wasserhahn rann noch immer, obwohl das Erbrochene längst in den Abfluss gespült worden war.
Erst nach zwei, drei Minuten riss sie das Päckchen weiter auf, stieß auf lose zusammengehaltene Seiten, wieder mit einem handschriftlichen Text beschrieben, allerdings nicht mit Tanos vertrauten Buchstaben. Das Papier griff sich hart und dick an und wies einige Alterserscheinungen auf – gelbliche Fettspuren, getrocknete Wassertropfen und Tintenflecken. Es musste sich um die Abschrift einer historischen Quelle handeln, die selbst viele Jahrzehnte alt war, wahrscheinlich – so ihre erste grobe Schätzung – um 1900 entstanden. Die Schrift war kaum leserlich, das Italienisch altertümlich und nur schwer zu übersetzen.
Ricarda verzweifelte, als sie die Seiten zählte und auf mehr als einhundert kam. Sie brauchte lange, um nur den ersten Satz zu entziffern, abzuschreiben und ihn schließlich mühsam und unter Zuhilfenahme des Wörterbuchs zu übersetzen. Der Geruch des Todes ist süß, stand dort geschrieben, aber sein Anblick so schwarz wie die Pestbeulen, die das Antlitz meiner Schwester Graziosa verunstalteten.
Sie war so sehr darauf konzentriert, den Text zu übersetzen, dass sie zusammenzuckte, als es plötzlich an ihrer Zimmertür klopfte. Hektisch sprang sie auf, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Gedankenlos legte sie die alten Schriften auf ihren schmalen Schreibtisch, ging zur Tür und öffnete sie. Doch niemand stand davor, der Flur war leer.
Ricarda blieb im Türrahmen stehen, den Türgriff fest umklammert, drehte sich nach rechts und links. Vielleicht hatte Maurizio nach ihr sehen wollen. Oder vielleicht wollte Signora Buzzo fragen, ob sie neben den Handtüchern auch noch frische Bettwäsche brauchte.
Da sie niemanden erblickte, wollte Ricarda wieder zurücktreten, doch in diesem Augenblick nahm sie einen schwarzen Schatten wahr. Jemand hatte sich hinter der Türe versteckt. Sie fuhr herum, und noch ehe sie ein Gesicht erkennen konnte, sah sie einen großen, dunklen Gegenstand auf sich heruntersausen. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Kopf, dann versank alles um sie herum in Schwärze.
Aus den Lebenserinnerungen der Kurtisane Isis de Luna Emilia Romagna und Rom, 1595
Der Geruch des Todes ist süß, aber sein Anblick so schwarz wie die Pestbeulen, die das Antlitz meiner Schwester Graziosa entstellten. Sie war die Schönere von uns beiden, die Mutigere, die Lebendigere; sie hatte dichtes Haar, honigbraun und voll sonnigem Glanz – doch nun verfaulte sie, und Ratten nagten an ihren bläulichen Zehen. Ich jagte sie fort – entsetzt, dass sie sich an dem verderbenden Leib meiner Schwester vergingen, und erleichtert, dass noch etwas in diesem Raum lebte. Denn außer mir waren alle tot.
Ein fahrender Händler hatte die Pest mit ihren schwarzen Beulen, dem üblen Gestank, den vertrockneten Kehlen, den unmenschlichen Schreien gebracht. »Ihr hättet ihm niemals das Tor öffnen dürfen«, klagte Serafina, meine Amme, ehe sie sich niederlegte, um zu sterben.
»Wer hätte es ahnen können«, gab meine Mutter zurück, weinerlich und verzagt und dennoch selbst in der Todesstunde nicht bereit, von ihrem Recht zu lassen, das Leben bunter und fröhlicher zu färben, als mein Vater es ihr zugestand.
Der Händler hatte Stoffe verkauft – Atlas, Samt und Seide. Mit einem dieser edlen Tücher – von denen er behauptete, sie stammten aus dem fernen Morgenland, meine Amme Serafina aber wusste, dass sie gewiss nicht weit von hier in Umbrien gewebt worden waren – lag meine Mutter zugedeckt, als ich sie fand. Ihr Gesicht war nicht zerfressen wie das von Graziosa, sondern bleich und eingefallen wie geschmolzenes Wachs. Aber sie stank so süß, wie es alle meine Lieben getan hatten, die ich zu beklagen hatte.
Mein Hals war ausgedörrt vom Fieber. Tagelang hatte es mich in seinen roten Fängen gehalten, mir vorgegaukelt, die Welt um mich wäre ein verlockendes Paradies voll saftiger Früchte. Ich griff danach, sie zu ernten, zu kosten, zu trinken. Doch als ich ins Leere tastend die Augen aufschlug, gewahrte ich, dass in meinem Gemach nichts wuchs, was Leben versprach, und dass die Süße der Äpfel aus dem Traum nichts weiter war als der Geruch der Verwesung. Tagelang musste ich den Tod meiner Familie verschlafen haben – gebeugt von einer Krankheit, aber nicht von ihr bezwungen. Mein Fieber hatte nicht der Pest gehört und sich geschlagen gegeben, kaum dass mein junger Körper sich dagegen wehrte. Letzterer war rein geblieben von den schwarzen Beulen, die an den anderen als Erste zum klebrigen Leichnam zerronnen.
Ich übergab mich neben meiner toten Mutter. Es war nicht viel, da ich über Tage nichts gegessen hatte. Ich wagte nicht, sie zu berühren, sondern zog lediglich das edle Tuch über ihr Gesicht, hastete weiter – und stolperte schließlich weinend über den Leichnam meiner Amme Serafina. Sie hatte mich genährt und großgezogen und mir oftmals die Geschichte ihres Lebens erzählt, das nun nicht nur vergangen, sondern stinkend verrottet war.
Lange vor dieser Stunde, da ich es schmerzlich selbst erfahren musste, hatte sie bereits behauptet, der Tod sei süß. Vierzehnjährig war sie verheiratet worden, der Bräutigam zwölf und die Mitgift knapp bemessen. Sie war überzeugt davon, dass die Schwiegermutter sie würde vergiften wollen, kaum dass die Summe aufgebraucht wäre, und spuckte, wann immer es ans Essen ging, bittere Bissen aus. Sie war sich gewiss, dass Gift bitter schmecken müsse. Überhaupt aß sie nicht viel, sondern wurde mager und blieb es ihr Leben lang. Ein einziges Mal nur überkam sie beim Anblick von frischem Marzipan, das süß auf der Zunge zerging, echter Hunger. Sie konnte sich nicht erinnern, je freimütiger, gieriger und selbstverständlicher gegessen zu haben – beruhigt von der Gewissheit, dass Gift bitter sein müsse, dieser Speise aber nichts Bitteres anhaftete. Kaum hatte sie den letzten Bissen geschluckt, begannen die Krämpfe. Sie fühlte sie im Magen und über die Wirbelsäule hochsteigen, ihr den kalten Schweiß aus der Stirn pressen, den Gaumen durch Speichel und Sodbrennen verätzen. Sie dachte, dass sie sterben müsse, und zugleich, dass sie nicht allein den Weg in die dunkle Unterwelt antreten wolle. Sollte der Schwiegermutter der gemeine Mord gelingen, so wollte sie sich mit letzter Kraft dafür rächen.
Darum lächelte sie lieblich und ohne Anzeichen des Elends und reichte, mit letzter Kraft, dem kindlichen Gatten, der sie stets schweigend anglotzte, vom Marzipan. »Esst, mein Guter«, forderte sie ihn auf. »Esst!«
Sie überlebte, er nicht.
Als sie nach einwöchigem Kampf um Leben und Tod als Witwe erwachte, stellte sie sich ohnmächtig und schlafend und flüchtete später in der Nacht, indem sie aus dem Schlafgemach sprang. Das Hinken ob des darob verknacksten Knöchels blieb ihr wie die Magerkeit und der Ekel vor süßem Essen. Um sich das solcherart schwer erkämpfte Leben auch weiter zu sichern, gab sie ihre Ehre auf, wurde die Geliebte meines Vaters, als der noch nicht verheiratet war, und trug fortan mit gleicher Regelmäßigkeit seine Kinder aus, wie sie diese begrub. Keines der ersten fünf blieb länger als wenige Wochen am Leben. Als sie das sechste gebar, war sie nicht mehr seine Geliebte. Mein Vater hatte geheiratet, auf der Schwelle zu seinem Hochzeitsgemach entschieden, von nun an ein tugendhafter Christ zu sein, und von Serafina verlangt, dass sie es ihm gleichtäte – der Tatsache gewiss, dass dieses letzte ihrer Kinder so wenig überleben würde wie all die anderen und kein sichtbares Zeichen bliebe, das meine Mutter an das kränkende Verhältnis erinnern würde. Serafina rechnete ebenso damit. Umso erstaunter waren beide, dass ich zwei Monate vor meiner eigenen Geburt eine Schwester bekam, die lebte. Sie hieß Graziosa, sorgte dafür, dass Serafina genug Milch hatte, um auch mich zu nähren – und war nun tot, lag reglos da mit von der Pest zerfressenem Gesicht und süßlich riechend wie der Tod.
Ich floh die Kemenate der Frauen, betend, dass die schrecklichen Beulen nicht auch die Männer befallen hätten. Unmöglich! Sie waren doch stark – mein Vater und meine drei jüngeren Brüder!
Munter liefen die Ratten über die Gänge und scherten sich weder um mein Gekreische noch um meine Fußtritte. Sie rochen an meinen Zehen, aber bissen nicht daran. Mein Schweiß war zu salzig und meine Haut zu hart und hornig – gewiss gab es ein delikateres Mahl zu ernagen. Tränenblind stolperte ich ihnen nach, fand verdorbenes Wasser in einem Krug und schüttete es in mich hinein. Ich weiß nicht genau, ob es Wasser war. Vielleicht war es Pisse. Der Tod schien mit dünnen Fäden ein Netz um mich zu weben. Mich ängstigte die dunkle Spinne, die irgendwo darin hockte und mich verspeisen wollte. Zögernd nur öffnete ich die Türe zu meiner Brüder Kammer. Es war dunkel und still, und ihre Schatten regten sich so wenig wie die Leiber. Baldassare, der nach meinem Vater benannt worden war, war tot. Giovanni, der seinen Namen von dem großen Medici erhalten hatte, dem mein Vater lange Jahre gedient hatte, lag starr wie eine in Marmor gehauene Statue. Anselmo, der dritte schließlich, hockte zwar halb aufgerichtet, aber ebenso bar des erhofften Lebenszeichens. Ihm war vorherbestimmt gewesen, Priester zu werden, und wäre es nach meiner Mutter gegangen, dann gewiss auch Kardinal. Sie wollte hoch hinaus in allem. Dass sie mein Vater zur Gattin nahm, wiewohl er von Adel war, sie jedoch nicht, deuchte sie als großer Gewinn. Sie vergaß darob, dass das Leben an seiner Seite viel langweiliger war als das derbe bäuerliche, das sie von den Eltern kannte. Sie vergaß es bis auf die wenigen Stunden, wenn ein Tuchhändler kam und Stoffe brachte und von einer Welt kündete, die großartig und riesig und beängstigend und erstaunlich und wunderbar war – und die sie niemals sehen würde, weil mein Vater sie, kaum dass er ihr in den höheren Stand verholfen hatte, von all dem, was sie jemals fröhlich gestimmt hatte, weggesperrt hatte.
»Vater!«, gellte ich durch die leeren Gänge. »Vater!«
Mich hatte er nie weggesperrt vom Leben. Es war nicht vonnöten gewesen, denn ich hatte nie nach draußen gewollt wie meine Halbschwester Graziosa. Hungrig hatte sie stets auf das Burgtor gestiert und alle Geschichten gefressen, die man ihr von den großen Städten erzählt hatte – Florenz, Padua, Neapel. Vor allem aber Rom.
»Denk dir, Isotta«, hatte sie zu mir gesagt. »Einmal möchte ich dort sein.«
»Lieber Gott!«, hatte ich ängstlich ausgestoßen. »Ich hingegen nie und nimmer.«
Es genügte mir, das ferne Meer aus jener sicheren Welt zu erahnen, die uns der Vater gebaut hatte. Es genügte mir, an seiner Seite in die Kapelle zu treten und die Wandfresken zu bestaunen, welche zeigten, wie Christus, unser Herr, sich als Geringster seiner Brüder gab und den Jüngern die Füße wusch – in der Woche, ehe sein Leiden begann.
Mein Vater belog mich und schrieb die Fresken dem großen Giotto zu. »Er war der Größte seiner Zeit«, sagte er. »Ich habe Werke von ihm in Arezzo und Assisi gesehen.«
»Welch ein Unsinn!«, meinte die dürre, humpelnde Serafina später, als ich ihr davon berichtete. »Giotto ist seit Jahrhunderten tot. Diese Burg aber wurde erst errichtet, als dein Vater dem Kriege abschwor und sich vom erraubten Kampfgut einen Hort des Friedens schaffen wollte.«
»Wie kommt es, dass er lügt?«, fragte ich entsetzt. »Und wie kommt es, dass er seinem Heim das Antlitz längst vergangener Zeiten gegeben hat?«
»Ihm erscheint das Gestern größer als das Heute«, gab Serafina zur Antwort. »Vor allem aber weniger blutig.«
Ich ängstigte mich, sein Gemach zu betreten. Es war untersagt, ihn ungebeten zu besuchen, wenn er in den Schriften der großen lateinischen Dichter las. Ich war die Einzige, die er manchmal zu sich rief, um mir anfangs Vergil und Horaz zu übersetzen und mich schließlich selbst die fremde Sprache zu lehren. Doch diese Stunden waren sorgsam erwählte. Nie durfte ich ihn bedrängen, wenn er nicht von sich aus entschied, mir von seinem Wissen zu leihen. Nun klopfte, hämmerte ich an die verschlossene Türe, zuerst zaudernd, später verzweifelt.
Ich wusste, dass er tot war, noch ehe ich sein Schlafgemach betrat. Wäre er nur im Schlaf versunken gewesen, so hätte ihn mein Schreien erweckt. Er hörte alles. Jeder Laut ließ ihn aufschrecken. In den Zeiten des Krieges hatte er gelernt, dass keine nächtliche Stunde zu schwarz war, um nicht sogleich zum Schwert zu greifen und zu töten.
Mein Vater Baldassare di Mantaco war einstmals Condottiere gewesen, träumte wie viele seiner Zunft davon, dass große Dichter seine Taten besingen und er unsterblich werden würde wie die großen griechischen und römischen Helden. Auf dem Schlachtfeld war jedoch nur wenig Ruhm zu kosten gewesen. Die Halbinsel war zerrissen von den Kämpfen zwischen Franzosen und Spaniern, und er hatte sich mal diesen, mal jenen angeschlossen, oft mitten im Kampf nicht gewiss, auf welcher Seite er gerade stand. Manchmal hatte er Freunde töten müssen, mit denen er vor wenigen Monaten noch beim gemeinsamen Würfelspiel gesessen hatte, während seine Mitstreiter nicht einmal die gleiche Sprache wie er gesprochen hatten – denn es waren Söldner aus der Schweiz gewesen, aus Württemberg oder aus der Gascogne.
Zuletzt hatte er unter Giovanni de’ Medici gedient, welcher prahlte, dass er alle Fremden, die in Italien kämpften, verjagen wollte. Mein Vater Baldassare glaubte daran und fand sich selbst in der Gefolgschaft eines Mannes wieder, der am nächsten Tag schon aufkündigte, was er zuvor versprochen hatte, der Pläne hinausposaunte, um sie niemals zu verwirklichen. Anstatt an seiner Seite endlich Heldentaten zu vollbringen, wurde mein Vater ein elender Plünderer, der mit seinen Scharen Dorf um Dorf überfiel und beraubte – und zuletzt nie wieder Frieden fand vor den Schreien der geschändeten Frauen und der ermordeten Bauern, die unbegraben unter der heißen Sonne verwesten. Er wünschte taub zu werden und verkroch sich in ein Dörfchen, von dessen großer Vergangenheit nichts weiter mehr kündete als eine halb zerfallene Burg. Baldassare baute sie in altem Stil auf und entsagte der Gegenwart, indem er sich ganz so verhielt wie die Grafen jener Zeit, die Petrarca dunkel nannte. Inmitten der Einöde, umgeben von wenigen Bauern, der warmen tuscischen Luft und – in der Ferne – dem Ausblick auf das thyrenische Meer, schuf er sich eine Welt ohne Krieg und ohne Außen, die niemand von uns je verlassen durfte.
Ich trat zu seinem Bett.
»Vater«, murmelte ich.
Ich stieß ihn an, der er wie eine schläfrige Katze mit gebogenen Gliedern lag, und gewahrte, dass auf dieser Welt niemand bei mir geblieben war.
Ich war fünfzehn Jahre alt und hatte keinen einzigen Tag meines Lebens außerhalb der Burgmauern verbracht. Ich kannte den Wald nicht, durch den ich jetzt lief und dessen schwarze Äste wie Hände nach mir griffen. Sie drohten, aber hielten mich nicht fest. Sie trieben mich immer weiter, anstatt mir zu raten, in der heimatlichen Burg nach Spuren des Lebens zu suchen. Vielleicht hatten ein paar der Dienstboten und der Bauersleute überlebt, auf dass ein kundigerer Mensch mich umsichtig und behutsam der Welt zuführen und mir als einziger Erbin meines Vaters ein sicheres Leben auf der heimatlichen Burg sichern konnte. Würden freilich die einstmals Getreuen es tun? Würden sie einem schwachen Mädchen gestatten, die Stellung meines Vaters einzunehmen?
Ganz gleich, wie die Antwort darauf lauten mochte, dieser Einfall kam ohnehin zu spät, denn als mir aufging, dass ich nicht nur vor der schrecklichen Krankheit floh, sondern vor den Menschen, die meiner Familie stets gedient hatten, war noch größer als Beklemmung über mein gedankenloses Tun die Erleichterung: Es roch nach Moos, nach nassem Laub, nach rötlicher Erde. Aber nach Tod roch es nicht mehr.
Ich sank unter einem Baum nieder, ich fror. Nichts trug ich bei mir als das graue Gewand, mit welchem ich mich zur Nachtruhe kleidete. Es tropfte vom Schweiß des Fiebers, vom Schweiß des raschen Laufens und schließlich von der Feuchtigkeit, die vom Boden hochkroch. Ich aß Blätter und Beeren, übergab mich ein zweites Mal an diesem Tag und fragte mich, was Graziosa an meiner Stelle entschieden hätte. Sie, die, sobald sie alt genug war zu denken, die Burg hatte fliehen wollen, hatte mir das Außen in schönsten Farben gemalt, vor allem aber als Hort der vielen Möglichkeiten. Man könnte nach Norden, Süden, Osten oder Westen gehen, um dort sein Glück zu versuchen. Man könnte Stadt und Land erforschen und die Menschen, die dort lebten. Man könnte sich von den Höfen anziehen lassen und dort den großen Fürstinnen dienen. Man könnte einen reichen Kaufmann ehelichen oder einen Soldaten oder schließlich das Herz an einen Kirchenfürsten verlieren und dessen Kurtisane sein.
»Pfui, schäme dich!«, schimpfte Serafina, die ihre Mutter war und meine Amme und die nicht wieder gesündigt hatte, seitdem sie das letzte Mal bei meinem Vater gelegen hatte.
Graziosa schämte sich nicht.
»Ich hab gesehen, wie es Kater und Katze miteinander treiben«, erzählte sie mir, als sie zehn Jahre alt war und ich zwei Monate jünger. »Und auch habe ich den Knecht mit der Magd begafft. Sie stöhnen dabei, aber es scheint nicht wehzutun.«
Während sie dies sagte, lag sie auf ihrem Bett, den Bauch aufs Laken gepresst, denn auf dem Rücken konnte sie nicht liegen. Er schmerzte von den blutigen Striemen, die Serafina ihr mit der Reitpeitsche meines Vaters geschlagen hatte, nachdem Graziosa wieder einmal zu fliehen versucht hatte. Schmählich war sie gescheitert, noch ehe sie den Wald erreicht hatte, den ich eben durchschritt. Ihr Mut war davon nicht erloschen.
»Aber weißt du nicht«, erklärte ich mit Entsetzen, »dass Söldner und Räuberbanden durch den Wald ziehen? Mutter hat es mir erzählt. Und auch, dass sie mich ... dass sie mich ...«
»Dass sie dich schänden würden«, schloss Graziosa an meiner statt – und dann sprach sie es aus: dass es nicht wehtun würde und dass es doch einen gelungenen Tausch bedeutete: den Körper zu geben und die Freiheit zu gewinnen.
Graziosa war furchtlos gewesen. Die Erinnerung daran wärmte mich, schläferte mich ein und ließ mich vergessen, dass auf mich nicht die vielen Möglichkeiten warteten, die sie sich vor dem Pesttod stets ausgemalt hatte, sondern derer nur zwei: zu leben oder zu sterben.
Als ich vom traumlosen Dämmerschlaf erwachte, war ich mir gewiss, dass der Herr im Himmel Letzteres für mich beschieden hatte. Ich betete zu ihm, er möge es schnell geschehen lassen und mich mit den Meinen zusammenführen.
Im Schatten der Nacht war ich fast blind, aber ich roch zwischen den hölzernen Düften des Waldes verschwitztes Leder. Jener Geruch gehörte zu Stiefeln, und diese Stiefel zu Männern, die den Baum umstellten und mich schutzloses Mädchen begafften.
Sie öffneten grinsend die Münder – kaum einer hatte sich Zähne behalten in all den Jahren ihres rohen Lebens. Grobschlächtig waren die Gesichter, faustgroß die aufgedunsenen Nasen und kräftig ihre Hände, von denen ein Finger dicker sein musste als mein ganzer Arm. Zumindest erschien es mir so. Alles an ihnen war riesig. Vielleicht, dachte ich und flüchtete mich in den Wahn, dass sie mich vielleicht gar nicht sehen konnten, weil sie so groß, ich aber so klein wie ein Käfer war.
Dann hörte ich sie sprechen und verstand kein Wort davon. Zwar benutzten sie meine Sprache, aber meine Ohren stellten sich ihnen taub, auf dass ich nichts von ihnen erfahren musste. Gewiss waren sie eine schreckliche Räuberbande. Oder marodierende, gewalttätige Soldaten, die sich nun rühmten, mich entdeckt zu haben, sich an meiner hellen, feinen Haut erfreuten und an den dunklen Haaren – so viel dünner als die von Graziosa, aber lang und von der Feuchtigkeit gekräuselt.
Einer der Männer trat auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Ich schlug meinerseits die eigenen vors Gesicht. Die Wahl ist auf ihn gefallen, dachte ich. Er wird der Erste sein, der mich schänden darf – der Erste von so vielen! Es ist wahr, was man sich erzählt, in den Wäldern hausen Ungeheuer. Sie werden mir Leid zufügen, einer nach dem anderen, und hernach werden sie mich liegen lassen, blutend und zerstört und tot. Ich werde nicht in den Himmel kommen, und meine Liebsten werden dort vergebens auf mich warten, denn die Sünde der abscheulichen Unholde wird mich nach unten in die Hölle zerren. Ich dachte an die schrecklichen Strafen, die mich peinigen würden, an den Gestank nach Schwefel und an das ewige, grün spuckende Feuer.
Letzteres ängstigte mich jedoch nicht wie erwartet, sondern versprach jene Wärme, die aus all meinen Gliedern geflohen war.
Vorsichtig senkte ich die Hände von meinem Gesicht. Der Mann war wieder zurückgetreten, die anderen waren indessen nicht näher gekommen. Sie warteten wie ich. Die Pranken, die ich bereits auf mir gefühlt hatte, blieben gebändigt, solange nicht der Gewichtigste unter ihnen ein Machtwort spräche. Dieser saß auf einem Pferd und kam nun langsam zu dem Kreis geritten. Er trug einen edlen Pelz um seine Schultern, einen taubengrauen Umhang und auf dem Kopf eine runde schwarze Mütze. Das Gesicht darunter blickte nicht neugierig, sondern griesgrämig. Dass ich hier schutzlos lag und seine Männer um mich versammelt hielt, war für ihn offenbar eine lästige Störung. Krebsrot war seine Nase, seine Augen wässrig und farblos, die Stirn sehr spitz, sehr gefurcht und sein Mund bläulich verfärbt. Obgleich er wärmere Kleidung trug als ich, war uns das Frieren gemeinsam.
»Sie lag hier und hat geschlafen wie eine Tote«, sagte einer der Gefolgsleute. Es waren die ersten Worte, die in mein Bewusstsein drangen.
Die Zunge des Reiters schnalzte; an ihrer Spitze saß eine bläuliche Warze.
»Was tust du hier, Mädchen?«, fragte er unwirsch und ohne das Grinsen, das seinen Männern in die feisten Gesichter geschrieben stand.
Was würde Graziosa, meine mutige, lebenshungrige Schwester nun tun?, ging es mir durch den Kopf. Der Rückweg zur heimatlichen Burg war versperrt – nicht nur von den Unholden, die um mich standen und die wohl Übles mit mir im Sinn hatten, sondern von der Ahnung, dass die überlebende Dienerschaft zwischenzeitig gewiss vor der Pest geflohen war wie ich. Und gesetzt, es wären welche dort geblieben, wo sie ihre Heimat wussten: Wer von ihnen würde mir Schutz andienen oder gar Besitz zusprechen, wo ich doch ohne männlichen Vormund war?
Mühsam rappelte ich mich auf, da keiner mich hochzerrte. Stehend erschienen mir die Männer freilich nicht weniger bedrohlich, denn jeder einzelne von ihnen trug Waffen.
Was würde Graziosa nun tun?, beschwor ich eindringlich meine Gedanken und hoffte, ihr Mut und ihr Einfallsreichtum würden auf mich abfärben, wenn ich nur erst an sie dachte.
Da ich ihm keine Antwort gab, entschied sich der mürrische Reiter, sich seinerseits zu erklären.
»Ich heiße Hippolyte Botta«, hörte ich ihn sagen, und seine Stimme schälte sich heiser aus der Kehle. »Und ich reise als Kaufmann von Padua nach Rom.«
Jetzt erst gewahrte ich Schatten hinter ihm – weitere Männer, nur diese nicht mit Waffen beschwert, sondern mit mannshohen Truhen, die sie durch die Wälder schleppten. Ein langer Zug an wertvollen Handelsgütern war da an mir vorbeigekommen, beschützt von Waffenmännern, die der Kaufmann bezahlte, auf dass sie ihn sicher zum Ziel brachten. Jene Menschenschlange war nun um mich geringelt – und auch wenn ich nun ahnen konnte, dass mich keine Mordbande belauerte, die nur aufs Töten aus war, so blieb es dabei, dass ich die einzige Frau unter den vielen Männern war, schutzlos und allein und gewiss brauchbar zu ihrer aller Unterhaltung.
Sie werden mich umherreichen, dachte ich. Vom Höchsten angefangen bis zum Niedrigsten werden sie meinen Körper gebrauchen. Dies war mir Gewissheit. Die Drohung, in den unheimlichen, bösen Wäldern geschändet zu werden, begleitete mich, seit ich denken konnte.
Was würde Graziosa nun tun?, fragte ich mich zum dritten Mal, aber ich dachte nicht nur an meine Schwester, sondern auch an ihre Mutter Serafina, meine Amme – sittenstreng, wenn sie mit uns sprach, doch in ihrer Jugend war sie bereit gewesen, Entehrung zu wählen, um zu überleben.
Langsamen Schrittes ging ich auf den Kaufmann zu, der Hippolyte Botta hieß, und neigte mein Gesicht zu ihm hoch. Ich legte mein Heil in seine Hände und bot ihm als Belohnung das Einzige, was mir geblieben war.
»Achtlose Männer, die der Teufel holen soll, ließen mich an dieser Stelle zurück«, begann ich weinerlich und spielte wie Graziosa, die sich stets vor meinen Augen in angelernten, fremden Gesten geübt hatte. »Mein Begehr ist nichts weiter, als nach Rom zu kommen. Dies wurde mir versichert, und darum wurde ich betrogen. Gewiss seid Ihr bereit, jenen Dienst zu erfüllen, wenn ich Euch den gleichen Lohn biete, den ich ihnen gewährte.«
Die Dunkelheit senkte sich über das Gesicht des Kaufmanns. Sein Gesicht wurde so schwarz wie seine Mütze.
»Wer bist du?«, fragte er verwirrt.
»Eine Kurtisane«, sagte ich und sank kraftlos zu Boden.
Hippolyte Botta war ein weitgereister Mann.
Später hörte ich ihn oft von den Orten und Städten sprechen, die er gesehen und erkundet hatte, wohin er Güter gebracht und woher er andere geholt hatte. Er kannte überall auf der Welt Menschen und unterhielt mit ihnen Handelsbeziehungen – ganz gleich, ob sie seine Sprache sprachen und seine Hautfarbe hatten oder nicht. London und Lyon, Brügge und Montpellier, Alexandria schließlich und Konstantinopel – all das war ihm vertraute Welt.
Wiewohl er so viel Neues und gewiss auch Schönes in seinem Leben hatte erschauen dürfen, zeigte er sich dennoch stets griesgrämig, nörgelnd und unzufrieden. Es schien, als hätten ihn all seine Abenteuer nicht gelehrt, des Lebens Vielfalt zu bestaunen, sondern ihn mit Reizen derart überladen, dass er sich von ihnen beleidigt fühlte.
Als ich in sein Leben trat, befand er sich auf seiner letzten großen Reise. Der Handel mit den Gütern dieser Welt hatte ihn reich gemacht und zugleich darin bestärkt, dass es nun nichts Neuartiges mehr gäbe, was er jemals mit den Händen befühlen, mit der Nase riechen, mit den Lippen kosten konnte: ob Straußenfedern aus der großen Wüste, welche an Ägypten grenzt, Goldstaub aus der Mitte Afrikas, Opium, Seidenstoffe und Düfte aus dem Morgenland – er hatte die Gier der Wohlhabenden stets gesättigt und war dabei selbst vermögend geworden. Von nun an, so sein Trachten, wollte er die Halbinsel nicht mehr verlassen, sondern sich darauf beschränken, was die italienischen Städte zu bieten hatten – sei es Marmor aus Carrara oder Bronze aus Padua.
Zufrieden schien ihn dieser Entschluss nicht zu stimmen. Auf dem Weg nach Rom sah ich kein einziges Mal ein Lächeln um seinen Mund, der von den gleichen blauen Warzen übersät war, wie sie auch auf seiner Zungenspitze hockten. Vielleicht wusste er gar nicht von seiner Übellaunigkeit. Vielleicht hatte er sich dereinst zufällig dafür entschieden und war dabei geblieben, in der gleichen Weise, wie er gewohnt war, alle begonnenen Reisen zu Ende zu bringen – gleichgültig, welch hitziger Sandsturm ihn umwehen, welche frostige Sturmflut ihn nässen, welcher glitschige Morast ihn versinken lassen mochte. Hippolyte Botta war zielstrebig in dem, was er tat. Und was er tat, sollte immer sein, was sich gehörte.