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Das Modehaus - Wie alles begann
Frankfurt im Revolutionsjahr 1848: Das Kleid, das die Tochter der ehrwürdigen Frankfurter Bürgerfamilie Lohmann zur Hochzeit tragen soll, ist ein Skandal. Es ist nämlich weiß, und zwar ausschließlich weiß, und mit solch einem Gewand schritten bislang, wenn überhaupt, ausschließlich Königinnen zum Altar. Ein noch größerer Skandal ist allerdings, dass Henriette, die als „Nähmamsell“ für die Lohmanns arbeitet und das Kleid angefertigt hat, verbotenerweise hineinschlüpft, will sie doch unbedingt wissen, wie sie darin aussieht. Und bevor sie es wieder ablegen kann, liegt der blutüberströmte Revolutionär Jan Hinrichs in der Küche ihrer Arbeitgeber, der sich vor Barrikadenkämpfen dorthin hat retten können, und die Ereignisse überschlagen sich …
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Seitenzahl: 182
Inhalt
Frankfurt im Revolutionsjahr 1848: Das Kleid, das die Tochter der ehrwürdigen Frankfurter Bürgerfamilie Lohmann zur Hochzeit tragen soll, ist ein Skandal. Es ist nämlich weiß, und zwar ausschließlich weiß, und mit solch einem Gewand schritten bislang, wenn überhaupt, ausschließlich Königinnen zum Altar.
Ein noch größerer Skandal ist allerdings, dass Henriette, die als »Nähmamsell« für die Lohmanns arbeitet und das Kleid angefertigt hat, verbotenerweise hineinschlüpft, will sie doch unbedingt wissen, wie sie darin aussieht. Und bevor sie es wieder ablegen kann, liegt der blutüberströmte Revolutionär Jan Hinrichs in der Küche ihrer Arbeitgeber, der sich vor Barrikadenkämpfen dorthin hat retten können, und die Ereignisse überschlagen sich …
Autorin
Die große Leidenschaft von Julia Kröhn ist nicht nur das Erzählen von Geschichten, sondern die Beschäftigung mit der Geschichte: Die studierte Historikerin veröffentlichte – zum Teil auch unter Pseudonym – bislang über dreißig größtenteils historische Romane. Mit »Das Modehaus« wagt sie den Sprung vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert – und hat dabei einen Heimvorteil: Seit 2001 lebt die gebürtige Österreicherin in Frankfurt am Main, dem Schauplatz des Romans.
Weitere Informationen unter: http://juliakroehn.at/
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Julia Kröhn
DAS MODEHAUS
Vorgeschichte
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Copyright © 2019 by Julia Kröhn
© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und Richard Jenkins Photography
KW · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN978-3-641-23768-4 V002www.blanvalet.de
Frankfurt, September 1848
Am Tag, an dem sich das Leben meiner Mutter grundlegend veränderte, trug sie ein Hochzeitskleid.
Das mag nicht weiter erstaunen: Die Eheschließung gilt nebst der Mutterschaft schließlich als größter Einschnitt im Leben einer Frau. Manche Leute sagen sogar, dass die Frau, das schwache Efeu, sich nun endlich an den Stamm einer Eiche schmiegen dürfe. Wer immer sich das ausgedacht hat, hatte nicht viel Ahnung von Efeu, und wahrscheinlich auch nicht sonderlich viel von Frauen. Ich zum Beispiel war nie anschmiegsam, sanft und selbstverleugnend. Aber darum geht es jetzt nicht, es geht um das Hochzeitskleid, das meine Mutter an besagtem Tag trug – und das, obwohl es gar nicht mal ihr eigenes war und nicht sie demnächst darin heiraten sollte, sondern Fräulein Charlotte, die älteste Tochter der ehrwürdigen Frankfurter Familie Lohmann. Zuvor waren allerdings noch Änderungen notwendig geworden, denn Charlotte liebte es zu naschen – vorzugsweise Apfelweinkuchen und Frankfurter Bethmännchen – und hatte um die Taille etwas zugelegt. Sie war natürlich der Meinung, nicht sie habe zu viel gegessen, sondern meiner Mutter, die das Kleid geschneidert hatte, sei beim Maßnehmen ein Irrtum unterlaufen. So oder so musste meine Mutter auf Knien vor dem Kleid herumrutschen. An ihrem Gürtel hingen wie immer Nadelbüchse, Fingerhüte und Scheren aus Silber, mit denen sie jetzt etwas Stoff herausließ. Diese Gelegenheit nutzten die Frauen des Haushalts – die Köchinnen ebenso wie Charlottes Kammerjungfer, die Dienstmädchen und sogar die Wasch- und Plättfrauen, die kaum je die Kellerräume verließen – , um sich das Kleid anzusehen.
Stetig anschwellendes Geschnatter erfüllte den Raum, das Frau Lohmann gewiss unterbunden hätte, hätte sie sich nicht wegen ihrer Rückenschmerzen ins Schlafzimmer zurückgezogen und sich dort mit warmer Asche und ebenso warmen Kirschkernen ihr Leiden behandeln lassen.
»Wie kann man nur in so einem Kleid heiraten?«
»Was hast du denn? Königin Victoria trug vor ein paar Jahren ein ganz ähnliches Kleid, als sie Prinz Albert heiratete.«
»Was einer Königin steht, steht noch lange keinem Fräulein.«
»Ein König des Geldes ist ihr Vater aber auch.«
»Stinkt Geld nicht deutlich mehr als eine Krone?«
Henriette – dies war der Name meiner Mutter – blickte auf. »Das Kleid stinkt ganz sicher nicht, es dufte nach Waldmeister und Lavendel.« Erst heute Morgen hatte sie es mit einer Pulvermischung aus beidem zum Schutz gegen die Motten eingestäubt.
Das Geschnatter verebbte, als das Hausmädchen Pauline laut in die Hände klatschte. »Hört auf zu schwatzen, erst recht von Königen! Erschallt seit letztem März nicht just in unserer Stadt der immer lautere Ruf, dass alle Menschen gleich sind?«
Die Köchin teilte ihre Meinung. Sie fand zwar ganz und gar nicht, dass alle Menschen gleich waren, – sie war ohne Zweifel von höherem Rang als ein Waschweib – , doch sie hatte genug von der Tuschelei, dem Kichern, dem sich-gegenseitig-Anstupsen und auf-das-Brautkleid-Lugen. Sie befahl den Frauen, wieder an die Arbeit zu gehen, und kurz darauf widmete sich jede wieder ihren Pflichten: Die eine wusch die feine Bügelwäsche, die andere bereitete Nierenfett zu und wieder eine andere reinigte rostige Töpfe.
Pauline tat, als teile sie den allgemeinen Eifer und fuhr mit einem Staubwedel über den Kirschbaumschrank. Doch kaum war sie mit Henriette allein, hielt sie inne, betrachtete das Kleid erneut, und neigte den Kopf.
»Man kann nicht leugnen, dass es … ungewöhnlich ist.«
Henriette nickte, sie wusste genau, was Pauline meinte.
Dass Fräulein Charlotte zur Hochzeit ein neues Kleid tragen würde und nicht etwa das Brautkleid ihrer Mutter, war nicht weiter ungewöhnlich, sondern bei reichen Familien mittlerweile üblich. Ebenso die federleichten Stoffe wie Musselin, Organdy und Tüll oder die bauschigen Keulenärmel und die weichen Volants am weit geschnittenen Rock. Auch die Tatsache, dass dafür nicht etwa fünf oder sieben, sondern ganze neun Meter Stoff verwendet worden waren, wäre allein noch nicht erwähnenswert gewesen. Erst recht nicht die breit angesetzten Schultern oder der Rock, der die Knöchel nicht bedeckte. All das entsprach dem Zeitgeist.
Nein, das Ungewöhnliche war die Farbe des Kleides. Bäuerinnen trugen gerne einen weißen Schleier zu einem schwarzen Kleid. Reiche Bürgertöchter weißen Spitzenbesatz auf gelb-violett changierender Seide. Dieses Kleid jedoch war ausschließlich weiß. Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt Papier oder wie die Pfingstrosen, die vor dem Haus wuchsen, auch wenn sie in diesem Jahr schon lange verblüht waren.
»Fräulein Charlotte meinte, das Weiß stünde für Ehrbarkeit und Zartheit«, murmelte Henriette.
»Zartheit ist nicht unbedingt das Erste, was mir zu Fräulein Charlotte einfällt«, spottete Pauline.
»Du bist gemein. Weiß steht außerdem noch für Vornehmheit, jungfräuliche Reinheit und …«
»Und für den Zucker, den sie so gerne isst.«
Henriette tat, als hätte sie den süffisanten Unterton in Paulines Stimme überhört. »Wahrscheinlich wird sie sich Zuckerwasser ins Haar träufeln, um es in kleine Locken zu legen. Und darüber wird sie einen Schleier und einen Kranz aus Orangenblüten und Myrten tragen.«
»Was hervorragend zum Kleid passen wird, nicht zu ihrem Gesicht. Das ist nicht weiß, das hat den Ton einer Gelbwurst.«
»Du bist gemein«, wiederholte Henriette tadelnd, doch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie war oft entsetzt, was sich Pauline so alles herausnahm, aber mindestens genauso oft heimlich amüsiert.
Unlängst hatte sie sogar von den Speisen genascht, die für die Herrschaften angerichtet worden waren und die der neue Aufzug von der Küche ins Esszimmer hatte bringen sollen. Irgendwo auf dem Weg war er steckengeblieben, weswegen sich Pauline tief in den Schacht hatte beugen und Henriette sie an den Beinen hatte festhalten müssen, um das Tablett wieder nach oben zu befördern. Pauline hatte die Gelegenheit genutzt, um ihren Finger erst in den Hammelbraten mit Gurke zu stecken, dann in den Mandelauflauf mit Vanillepudding.
»Das kannst du doch nicht machen!«, hatte Henriette gerufen, während sich Pauline genüsslich den Finger ableckte.
»Wieso nicht? Schmeckt vorzüglich. Besser als unsere Kartoffeln und die Hafergrütze, für die man uns bestimmt noch zwei Silbergroschen vom Lohn abzieht.«
»Aber jetzt hat der Pudding ein Loch!«
»Besser ein Loch im Pudding als ein Loch im Magen.«
Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Pauline im Anschluss doch tatsächlich vorgeschlagen, es mit Gelbwurst zu stopfen. Schließlich würde die nicht nur dem Teint von Fräulein Charlotte gleichen, sondern auch der Farbe des Vanillepuddings. Am Ende hatten sie Himbeersoße darüber gegossen.
»Und überhaupt: Wieso bin ich bitteschön gemein?«, fragte Pauline eben. »Schließlich habe ich nicht gesagt, dass Fräulein Charlottes Oberkörper weniger wie ein Lilienstängel aussieht, wie es das Ideal wäre, sondern eher wie eine Eiche.«
»Nun, jetzt hast du es gesagt.«
»Im Grunde ist das ja auch gar keine Beleidigung. Ich finde es deutlich besser, wenn die Frau die Eiche ist, nicht der Mann.«
Auch Pauline war der Vergleich mit Eiche und Efeu nicht fremd – meiner Mutter ebenso wenig.
»Willst du damit sagen, ihr künftiger Mann ist die Efeuranke?«, fragte sie.
»Unsinn, der ist ein Hanfstängel.«
Henriette musste lachten, während Pauline plötzlich wieder ernst wurde. »Jemandem wie dir, der so feine Züge und Hände hat und viel zu blass ist, weil du ständig arbeitest, würde dieses Kleid auf jeden Fall hervorragend stehen.«
Allein der Gedanke fühlte sich verboten an.
»So ein Kleid könnte ich mir doch nie leisten!«, rief Henriette.
»Aber wie wär’s, wenn du es trotzdem mal anziehst – zum Beispiel jetzt?«
Das war ohne Zweifel eine verrückte Idee. Und meine Mutter war nicht verrückt. Und doch zögerte sie so lange, dass Pauline hinzufügen konnte: »Das hast du dir verdient. Du arbeitest so hart – und sollte das alles nicht längst eine Nähmaschine für dich tun?«
»Was für ein Unsinn!«, rief Henriette. »Keine Schneiderin, die etwas auf sich hält, würde ihre Arbeit einer dieser monströsen Maschinen überlassen. Die bringen auch nicht mehr Stiche in der Minute zustande als ich – dreißig um genau zu sein.«
»Aber dass du das Kleid mal anprobieren könntest, ist kein Unsinn.«
»Natürlich ist es das.« Henriette runzelte die Stirn. »Ich bin nur eine Nähmamsell, eine wie ich wird niemals in Weiß heiraten.«
»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass du darin heiraten sollst, es genügt, wenn du dich erst mal vor den Spiegel stellst. Außerdem ist es gar nicht so abwegig, dass Weiß irgendwann die Farbe aller Bräute wird.« Henriette wollte ihr ins Wort fallen, doch Pauline stemmte die Hände in die Hüfte und fuhr entschlossen fort: »Vor kurzem hieß es noch, eine Bürgerliche wie Fräulein Charlotte könnte nie in einem Kleid wie Königin Victoria heiraten. Und erst recht hat niemand gedacht, dass es einmal einen parlamentarischen deutschen Nationalstaat geben würde, der – erfüllt von demokratischem Geist und gestützt auf freiheitliche Einrichtungen – die Aufhebung der Zensur durchsetzen würde sowie öffentliche Schwurgerichte, allgemeines Wahlrecht und die Freiheit des Glaubens, der Wissenschaft und der Rede.«
Henriette hob abwehrend die Hand. Es war nicht das erste Mal, dass Pauline eine ihrer langen verwirrenden Reden hielt, für die man ebenso viel Konzentration aufbringen musste, wie für einen Faden, der durch ein Nadelöhr sollte. Letzteres ließ sich immer bewerkstelligen – für Paulines Ausführungen hatte sie hingegen selten Zeit.
»Ich höre auf, dich zu belehren – sofern du in dieses Kleid schlüpfst.«
Pauline war nicht in der Position, Forderungen zu stellen, das war ihr selbst klar. Und Henriette war nicht in der Position, einem solchen Ultimatum Folge zu leisten. Aber da war noch etwas anderes als die Gewissheit, dass sie im Hause Lohmann bis jetzt gut damit gefahren war, ihre Pflichten zu erledigen und brav auf dem Fußboden herumzurutschen, um Säume abzustecken. Da war der Wunsch, das Kleid in seiner ganzen Pracht zu sehen, sich zu vergewissern, dass ihr Entwurf perfekt war und sie bei der Umsetzung alles richtiggemacht hatte.
»Also gut«, murmelte sie und tat so, als würde sie widerwillig nachgeben, obwohl in Wahrheit Aufregung in ihrer Brust zu lodern begann. Ihre Hände zitterten so stark, dass Pauline ihr helfen musste, in das Kleid zu schlüpfen, und es dauerte eine Weile, bis alle Knöpfe geschlossen und alle Schnüre gebunden waren.
»Und jetzt schau dich im Spiegel an.«
Henriette war nicht sicher, was ihr größere Angst machte: Dass ihr das Kleid nicht gut stehen würde, was bewies, dass ihr Entwurf nichts taugte. Oder dass es ihr hervorragend passte und sie fortan mit dem Hader leben musste, niemals in einem solchen Kleid zu heiraten.
»Was gäbe ich darum, wenn mich mein Schatz in diesem Kleid sehen könnte!«, seufzte sie, noch bevor sie den Blick hob.
»Jetzt schau dich doch erst mal an und dann …«
Pauline brach abrupt ab, als ein schriller Schrei durchs Haus hallte. Henriette zuckte zusammen, dachte kurz, Frau Lohmann hätte sich vom Krankenlager erhoben und sie mit ihrem Hochzeitskleid ertappt. Aber der Schrei kam nicht aus dem Ankleideraum, er kam von unten, wo sich die Wirtschaftsgebäude befanden, darunter auch die Küche.
Ihre Hände zitterten noch heftiger, am liebsten wäre sie sofort aus dem Kleid geschlüpft. Pauline fand als erste die Fassung wieder und zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich eine Maus.«
»Die so laut geschrien hat?«
»Nein, die unsere Köchin auf einen Schemel getrieben hat.«
Henriette schüttelte den Kopf. Die Köchin würde sich nie zu einer so unnützen Handlung hinreißen lassen, schon gar nicht von einer Maus.
»Hör zu, ich ziehe jetzt das Kleid wieder aus und …«
Diesmal war es Henriette, die ihren Satz nicht zu Ende brachte. Erneut ertönte ein Schrei, und jetzt stieß ihn ganz sicher nicht die Köchin, sondern eine der Abwäscherinnen aus. Und ebenso eindeutig war die Panik, das Entsetzen, das eine Maus allein niemals hätte verursachen können. Pauline stürmte nach unten, und weil Henriette unmöglich alle Knöpfe selbst öffnen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Rock zu raffen und Pauline über den geheimen Dienstbotengang nachzulaufen.
Kurz darauf vernahmen sie einen dritten Aufschrei. »Ein Revolutionär! Er muss ein Revolutionär sein!«
Bevor Pauline in die Küche stürmen konnte, hielt Henriette sie auf und deutete auf ihr Kleid. Gedankenverloren reichte Pauline ihr die eigene weiße Schürze. Nicht, dass sie ausreichen würde, um das Hochzeitskleid zu bedecken, aber immerhin würde es damit nicht gar so leicht schmutzig werden.
Als die beiden die Küche betraten, war der Blick der Abwäscherin starr auf einen Fremden gerichtet, der in der angrenzenden Speisekammer am Boden lag. Henriette hatte keine Ahnung, woran man erkannte, dass jemand Revolutionär war. Was der Mann allerdings ganz sicher war, war schwer verletzt. Er krümmte sich inmitten von Steintöpfen, Fässern und Kästen unter Backobst, das nebst Büscheln von Majoran auf Schnüren getrocknet wurde. Den durchdringenden Geruch, der Henriette in die Nase stieg, würde sie wohl auf ewig mit der Blutlache verbinden, die sich unter dem Mann ausbreitete. Sie war nicht sicher, woher das Blut kam, nur, dass es unaufhörlich aus ihm herausrann. Er hatte nicht einfach nur eine Faust abbekommen, sondern mindestens einen Säbel, wenn nicht gar die Kugel einer Pistole. Henriette schlug sich unwillkürlich die Hand vor den Mund, während Pauline sich an die Abwäscherin wandte: »Hol die Wärterin!«
Damit war die Haushälterin gemeint. Offenbar wurden viele Frauen ihres Standes mit diesem wenig schmeichelhaften Titel bedacht – die der Familie Lohmann jedenfalls verdiente ihn. Sie trug ihren schweren Schlüsselbund stolz wie einen Säbel am Gürtel, und wer sie mit strenger Miene über der vierteljährlichen Hausrechnung sitzen sah, wollte mit keiner krummen Zahl tauschen. Pauline klagte oft, dass kein noch so versteckter Winkel im Haus ihrem prüfenden Blick entging und nicht einmal das kleinste Staubkorn vor ihr Ruhe hatte.
Henriette wunderte sich, warum Pauline ausgerechnet nach der Wärterin schickte. Dann aber dämmerte ihr, dass es ihr eigentlich darum gegangen war, die Abwäscherin loszuwerden, die tatsächlich aus dem Raum eilte.
Pauline beugte sich über den Mann und schien festzustellen, dass er noch atmete. »Komm, wir müssen ihn von hier fortschaffen.«
»Aber die Wärterin …«
»… wird ihn sofort der Polizei ausliefern. Nun mach schon! Ich nehme ihn an den Schultern, du an den Beinen.«
»Wir können doch nicht …«
»Himmel, du bekommst wirklich gar nichts mit von der Welt! Während du an deinem Brautkleid genäht hast, hat eine große Volksversammlung stattgefunden. Ich hatte gehofft, sie würde unsere Sache weiterbringen, aber scheinbar ist es zum Aufruhr gekommen. Nun hilf mir schon …«
Henriette löste sich aus der Starre. Vorsichtig umfasste sie die Beine des Mannes und hob sie an. Zum ersten Mal blickte sie ihm ins Gesicht. Er war noch jung. Und gutaussehend mit diesem weichen Haar und den feinen Zügen.
»Wohin?«, fragte sie.
Pauline gab keine Antwort, vielleicht, weil sie es selbst nicht genau wusste, vielleicht, weil es schon anstrengend genug war, den Verletzten ins Freie zu schleppen. Neben den verblühten Rosenstöcken im Vorgarten, legten sie ihn schließlich ab. »Gib mir ein Stück Stoff!«, befahl sie.
Henriette sah sich verzweifelt um. Das einzige Stück Stoff, das sie Pauline geben konnte, war die weiße Schürze. Es fiel ihr schwer, sie abzulegen, war das Brautkleid doch nun nicht länger geschützt, aber sie tat es dennoch, und Pauline drückte sie auf die Wunde.
Henriette hockte sich neben sie und strich unwillkürlich über das Gesicht des Ohnmächtigen. Es war von Schweiß bedeckt und von dunkelblonden Haaren eingerahmt. Sein Schnurrbart war sorgsam gestutzt, die Hände nicht schwielig, sondern fein und glatt. War er wirklich ein Revolutionär?
Nun, sie hatte nicht viel Ahnung von Revolutionären, aber sie ahnte plötzlich, dass dieser Mann ein freundlicher war, der es nicht verdiente, blutend neben verblühten Rosenstöcken zu liegen. Als er die Augen aufschlug, hatte sie endgültig Gewissheit. Er war kein Feind. Sein Blick war von einem durchdringenden Blau.
»Was … was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Pauline.
Der Mann gab nur ein Ächzen von sich, dann wurden Wörter draus: »Die Paulskirche … besetzt … zwei Abgeordnete ermordet … Aufruhr … Sturm gegen das Parlament … Kriegsgesetz verkündet … Verhaftungen … preußische Regierung …«
Henriette konnte nichts mit der wirren Rede anfangen, Pauline schon. »Oh, ich habe es befürchtet, dass die reaktionären Kräfte im Parlament die Oberhand gewinnen! Heute Morgen gab es schon Gerüchte, von Mainz seien Bataillone zugezogen worden, um den aufrechten, freien Bürgern ein für alle Mal die Fackel der Freiheit zu entreißen! Welche Niedertracht!«
Henriette war sicher, dass Herr Lohmann die Ereignisse mit anderen Worten schildern würde. Bei ihm wäre wahrscheinlich von einem rasenden Pöbelhaufen die Rede, von Bürgerkrieg und Anarchie, und dass die Staatsgewalt mit allen Mitteln durchgreifen müsse. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, um darüber zu diskutieren.
»Was sollen wir tun?«
»Er kann nicht hierbleiben«, sagte Pauline, »man würde ihn finden.«
»Aber wohin …«
»Naja, in der Dachkammer, wo ich wohne, kann ich ihn nicht verstecken. Aber du hast doch ein eigenes Zimmer bei Witwe Wilhelmina.«
Henriette stöhnte. »Ich kann ihn doch nicht …«
»Die Treppe hochtragen? Oh, das schaffen wir schon.«
Die Treppe war Henriettes geringstes Problem. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie nichts mit einem Revolutionär zu schaffen hatte. Aber sie hatte zu lange in seine Augen gestarrt, zu lange über sein Haar gestreichelt, zu viel von seinem Blut gesehen, um ihn einfach so sich selbst zu überlassen.
Und so hob sie ihn wieder an den Füßen hoch und Pauline an den Schultern, und sie schleppten ihn die Straße hinauf. Stille umgab sie. Falls tatsächlich irgendwo ein Straßenkampf tobte, Barrikaden errichtet und gestürmt wurden, Bewaffnete Häuser besetzten und wieder flüchteten, war hier nichts davon zu merken. Das Haus der Lohmanns lag außerhalb der Stadt, am Ende der Habsburger Allee, die die Stadtgrenze bildete. Ein Stück dahinter – in der Nähe der Bornheimer Heide – stand das Fachwerkhaus, in dem Henriette bei Witwe Wilhelmina zur Untermiete wohnte. Die Witwe hielt sich den ganzen Tag ihren Stickrahmen vors Gesicht und behauptete, dass sie sonst ihre Stiche nicht mehr sehen könne. In Wahrheit schlief sie meist dahinter. Henriette hoffte, dies möge auch heute wieder der Fall sein. Tatsächlich ließ sich ein Schnarchen vernehmen, als sie wenig später das Haus betraten. Was leider auch zu hören war, war das Ächzen des Mannes – schon als sie ihn zu zweit die Treppe hinauf zerrten und erst recht, als sie ihn auf das schmale Bett wuchteten. Seine Augen waren wieder geschlossen, kalter Schweiß perlte von seiner Stirn.
Pauline strich seine schlichte schwarze Jacke zur Seite, um die Wunde freizulegen. »Sieh doch nur.«
Unter der Jacke trug er eine Schärpe in den Farben schwarz-rot-gold. »Ich wusste gleich, er ist einer von den Guten.«
Henriette war nicht sicher, wo genau die Grenze zwischen den Guten und den Bösen verlief, sie wusste nur, dass Menschen, die diese Farbe trugen, eine Republik aller Deutschen forderten. Darüber, ob eine solche wiederum gut oder schlecht war, hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Vor nicht allzu langer Zeit war es jedenfalls noch streng verboten gewesen, diese Farben zu tragen. Erst im März des Jahres war das Gesetz zurückgenommen und die Kombination schwarz-rot-gold sogar zu den offiziellen Bundesfarben ernannt worden. Doch Henriette ahnte, dass die reaktionären Kräfte, von denen Pauline vorhin gesprochen hatte, nicht viel davon hielten.
Pauline zog die Schärpe und das Hemd, das der Mann darunter trug, weg, und legte eine klaffende Wunde frei. Es war immerhin kein Pistolenschuss, allerdings eine tiefe Schnittverletzung.
»Worauf wartest du?«, rief Henriette.
Die Schürze war bereits blutdurchtränkt, weswegen Pauline die Schärpe entzweiriss und den schwarzen und den goldenen Streifen auf die Wunde presste.
»Soll ich … soll ich einen Arzt holen?«, fragte Henriette.
»Der würde ihn womöglich sofort verraten. Nein, du musst die Wunde nähen.«
»Ich nähe Kleider, keine Wunden!«
»Jedenfalls kannst du mit Nadel und Faden umgehen. Mach schon. Ich werde hinterher Branntwein beschaffen, um die Wunde zu reinigen.«
Henriette war überzeugt, dass man das besser vorher machte, aber sie hatte nun mal gerade keinen Branntwein zur Hand, und in einem hatte Pauline recht: Die Wunde musste sofort genäht werden. Obwohl sie all ihre Konzentration aufbot, schaffte sie das Einfädeln kaum. Und als es endlich gelang, schaffte sie es wiederum kaum, mit der Nadel in die Haut des Mannes zu stechen. Gottlob bäumte sich der Unglückliche nicht auf. Seine Ohnmacht war tief. Als ihre Hände nicht mehr zitterten, machte sie sieben perfekte Stiche in Kreuzform, wie sie die Witwe Wilhelmina längst nicht mehr zustande brachte.
»Ich glaube, die Wunde hat aufgehört zu bluten«, murmelte sie.
»Gut gemacht«, sagte Pauline. »Ich wusste, dass du es schaffst.«
Sie wollte ihr anerkennend auf die Schulter klopfen, allerdings mit schmutzigen Händen, vor denen Henriette instinktiv zurückwich. Himmel, das Kleid! Sie trug es ja immer noch! Pauline durfte es nicht schmutzig machen! Wobei es, wie sie nun feststellte, ohnehin schon den einen oder anderen Blutfleck abbekommen hatte, der Saum schmutzig geworden war.
»Oh mein Gott!«, stieß sie aus.