Parallelwelt - Tine Wittler - E-Book
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Parallelwelt E-Book

Tine Wittler

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Beschreibung

„Ihr Personalausweis läuft in fünf Monaten ab“, sagte die Frau. – „Wie schön“, denke ich, „dann habe ich ja noch fünf Monate Zeit, um auszuwandern und mir irgendwo anders ein neues Leben zu suchen.“ Was passiert, wenn aus der Überholspur unerwartet eine Tempo-30-Zone wird? Marnie ist es gewohnt, ordentlich Gas zu geben. Doch dann wird die Karrierefrau gefeuert und landet in einer seltsamen Parallelwelt, in der statt dem Power-Business-Lunch ein Besuch beim Arbeitsamt und der „Arbeitslos für Anfänger“-Kurs im Terminkalender steht. Diese unerwartete Begegnung mit der grauen Realität könnte manchen in die Knie zwingen. Aber nicht Marnie – denn die ist nicht bereit, sich das Steuer aus der Hand nehmen zu lassen! Ein Roman darüber, was alles passieren kann, wenn scheinbar nichts mehr geht – und ein vergnügtes Mutmachbuch für alle Regentage des Lebens: „Sympathisch, unaufgeregt und unterhaltsam!" Brigitte Jetzt als eBook: „Parallelwelt“ von Tine Wittler. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 417

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Über dieses Buch:

Was passiert, wenn aus der Überholspur unerwartet eine Tempo-30-Zone wird? Marnie ist es gewohnt, ordentlich Gas zu geben. Doch dann wird die Karrierefrau gefeuert und landet in einer seltsamen Parallelwelt, in der statt dem Power-Business-Lunch ein Besuch beim Arbeitsamt und der »Arbeitslos für Anfänger«-Kurs im Terminkalender steht. Diese unerwartete Begegnung mit der grauen Realität könnte manchen in die Knie zwingen. Aber nicht Marnie – denn die ist nicht bereit, sich das Steuer aus der Hand nehmen zu lassen!

Ein Roman darüber, was alles passieren kann, wenn scheinbar nichts mehr geht – und ein vergnügtes Mutmachbuch für alle Regentage des Lebens: »Sympathisch, unaufgeregt und unterhaltsam!« Brigitte

Über die Autorin:

Tine Wittler, geboren 1973, studierte Kultur- und Kommunikationswissenschaften, bevor sie als Redakteurin und TV-Moderatorin arbeitete; ihre Erfolgssendung Einsatz in vier Wänden wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Sie ist auch als Roman- und Sachbuchautorin, Wirtin, Modemacherin und Filmproduzentin erfolgreich. Wer schön sein will, muss reisen, der erste Dokumentarfilm ihrer Filmproduktion prallefilm, schaffte es auf Anhieb in die Kinos. Mit ihrer Bewegung ReBelles setzt sie sich außerdem für vermehrte Körperakzeptanz und -vielfalt ein. Tine Wittler lebt in Hamburg.

Bei dotbooks veröffentlichte Tine Wittler ihre Romane Parallelwelt, Irgendwas is immer und Wir wär’n dann so weit. Mehr Informationen über Tine Wittlers Aktivitäten finden Sie am Ende dieses eBooks im Kapitel Surftipps: Was diese Frau so alles treibt.

***

eBook-Ausgabe September 2013

Copyright © der Originalausgabe © 2003 Argon Verlag GmbH, Berlin

Copyright © der eBook-Ausgabe dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildes von Aliona Manakova/istock/thinkstock

ISBN 978-3-95520-377-7

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Tine Wittler

Parallelwelt

Roman

dotbooks.

»Life should be stereo – each day«

Robbie Williams, Something Beautiful

Für meine Eltern

1. Kapitel

»Jetzt freuen!«Glamour

Der Vorstandsvorsitzende steht und spricht, ein Mikrophon hat man ihm nicht gegeben, warum auch, wir sind ja schon jetzt nur noch sehr wenige.

Er trägt einen Anzug, als Einziger von allen, wie jeden Tag. Wir anderen tragen keine Anzüge und auch keine zweiteiligen Businesskostüme, denn wir sind die Kreativen in diesem Laden. Frei- und Querdenker. Jung, elastisch, trendy. Obwohl wir nichts darauf geben. Wir geben lieber vor, dass wir einfach so sind, wie wir sind, und wenn andere das trendy finden, dann ist das nicht unser Problem.

Ich, Marnie Hilchenbach, dreißig Jahre alt, nehme mich da nicht aus. Ich und die anderen kommen in den gleichen Klamotten in die Firma, in denen wir nach Feierabend clubben gehen oder vielmehr loungen, denn clubben ist ja auch nicht mehr das, was es mal war. Markenterror wie in jeder x-beliebigen Grundschule gibt es bei uns nicht, aus diesem Alter sind wir raus. Wir kaufen am liebsten in Secondhandshops und auf Flohmärkten, und was die Markennamen betrifft, halten wir uns höchstens noch an Allibert bei Badezimmerschränken oder an Schulte-Ufer bei Kochtöpfen.

Unsere Schreibtische sind immer zugemüllt, wir horten auf ihnen Szenemagazine und Musik-CDs und manchmal auch eine Zahnbürste, denn es kommt vor, dass wir in unserem Büro wohnen müssen. Das haben wir uns so ausgesucht, denn der Spaß an der Arbeit ist uns wichtiger als eine 38-Stunden-Woche. Und als immens viel Kohle sowieso, auch wenn wir uns natürlich darüber freuen, dass wir mit der Zeit immer anständiger verdienen. Aber wir haben ja einiges dafür getan, und wir tun es noch, wenn wir uns im Büro am laufenden Band die Nächte um die Ohren schlagen.

Im Gegensatz zu unseren Eltern oder vielleicht sogar zu älteren Geschwistern haben wir mit der Lehre in unserem Heimatort oft gar nicht erst angefangen, sondern sind gleich in die Stadt gezogen, um unser Glück zu suchen und zu studieren. Samt Auslandsaufenthalten vorher, hinterher oder mittendrin vielleicht, auf jeden Fall aber samt einer Menge Praktika, die uns den Weg in unser Berufsleben ebnen sollten. Das taten sie wirklich, denn viele von uns blieben daraufhin irgendwo hängen, wenn nicht sogar genau hier. Mit einem Mal waren wir Online- oder Print- oder Fernsehredakteure oder Graphikdesigner oder Fotografen oder Produktmanager oder Werber oder in PR und Marketing.

So wie ich. Ich bin Onlineredakteurin. Manche sagen auch »Content Manager« dazu.

Andere machten gleich mit ein paar Freunden ihr eigenes Start-up auf. In den Räumen derjenigen von ihnen, die noch nicht pleite sind, sieht es ähnlich aus wie bei uns. Unsere Büros sind meistens zugequalmt, an den Wänden hängen Konzertposter und Filmplakate, unser Macintosh ächzt unter den vielen Gigabytes amüsanter Attachments, die wir uns gegenseitig zuschicken oder mit Medienmenschen in anderen Agenturen und Redaktionen tauschen, und die vielen Muster und Geschenke von Plattenfirmen, Computerspieleherstellern und Filmverleihen machen aus unserem Arbeitsplatz ein Multimediaparadies. Wer ein Nickerchen braucht, legt sich aufs Sofa, und im Fernseher läuft MTV 2 Pop, weil es Viva Zwei nicht mehr gibt. Der Rest der Welt bleibt draußen, und nur, wenn etwas Großes passiert, schalten wir um auf den Nachrichtenkanal. Für uns ist das normal.

Weiter oben im Gebäude, wo sich die Geschäftsleitung befindet, ist das nicht mehr normal. Wir nennen ihren zweiten Stock die »Flanelletage«, weil wir das Gefühl haben, dass die dort – wie in Watte gepackt – so gar nichts davon mitbekommen, was bei uns unten passiert. Dort wird zwar vielleicht das Handelsblatt gelesen, aber die Flure und Büros sind leer, und je höher die Position ist, die einer innehat, desto weniger lässt sein Raum erahnen, was er darin eigentlich bearbeitet.

Auf dem Schreibtisch unseres Vorstandsvorsitzenden steht ein PC, und es liegt noch nicht einmal ein Notizbuch daneben. Nur manchmal, wenn man genau hinsieht, blitzt ein Textmarker neben der vermutlich überflüssigen Schreibunterlage hervor.

Aber eigentlich sieht niemand von uns genauer hin, denn die Arbeit des Vorstandsvorsitzenden interessiert uns nicht, weil wir uns nicht vorstellen können, dass er überhaupt irgendetwas tut. Das ist nicht verwunderlich, denn er berichtet uns davon nur sehr selten. Und wenn, dann ist es uns meistens lieber, er hätte es gelassen.

So wie heute.

Wir ahnen schlechte Nachrichten, also sehen wir uns betreten an und zucken mit den Schultern. Wir sitzen wie festgezurrt auf den kunterbunten Designerstühlen der kunterbunten Kantine und warten auf die Nachricht, dass es jetzt auch uns getroffen hat. Manche grinsen schief, aber niemand macht mehr Witze übers Putzengehen oder Schlangestehen auf dem Arbeitsamt wie in den Wochen zuvor.

Ich habe Herzklopfen. Wie alle anderen habe ich wahrscheinlich Angst, aber ich weiß es nicht genau. Tausend Mal habe ich mir genau diese Situation in den letzten Monaten vorzustellen versucht, bei jeder neuen Hiobsbotschaft von Insolvenzen und Stellenkürzungen.

Als Viva siebzig entlassen hat. Als AOL die erste große Kündigungswelle bekannt gab. Als Premiere mehrere hundert auf die Straße setzte. Als der Verlag Milchstraße sich von Dutzenden trennte. Als bei Edel auf den Umzug in das schicke neue Firmengebäude als Nächstes Entlassungen folgten. Als Kirch endgültig pleite war. Aber nicht ein einziges Mal habe ich sie mir zu Ende vorgestellt, diese Situation, denn ich war ja nicht betroffen.

Der Vorstandsvorsitzende steht und spricht laut von der undankbaren Aufgabe, die er zu erfüllen habe. Sein Anzug passt nicht hierher. Irgendwie passt der ganze Typ nicht hierher. Er passt nicht in diesen Raum, der wie der vorgelagerte Empfangsbereich auf hip getrimmt ist mit seinem spitzen Glasdach, den klitzekleinen Bodenfliesen in Bonbonfarben und den kurvenreichen Lampen. Wechselnde Tagesgerichte unter wechselnden Ausstellungen, jeder soll auf Anhieb sehen, dass wir keine Versicherung sind und keine Behörde und auch kein gediegenes alteingesessenes Hamburger Medienhaus.

Medien ja, Hamburg ja, aber wir sind eine Spur greller, eine Spur jünger, eine Spur innovativer, flexibler und kreativer.

Und trotzdem gibt es auch hier freitags Pommes mit Currywurst, und alle freuen sich drauf.

Der Vorstandsvorsitzende räuspert sich, er heischt um Verständnis, sein Blick buhlt um Erwidertwerden, aber wir tun ihm den Gefallen nicht. Von wegen undankbare Aufgabe. Wer das meiste Geld verdient, der sollte eigentlich den ganzen Tag nichts anderes tun als undankbare Aufgaben erledigen. So sehe ich das und die anderen auch.

Wir sitzen unbewegt da, niemand will es ihm leichter machen. Wir wollen ihn sich winden sehen, denn wir können uns daran erinnern, dass es uns ohne ihn besser gegangen ist. Das kommt davon, wenn man fett aufgeplustert in AG macht, nur weil alle es tun, denke ich böse. Wenigstens wird der Neue Markt bald abgeschafft.

Dann lässt der Vorstandsvorsitzende die Katze aus dem Sack. Er macht Nägel mit Köpfen, schenkt uns reinen Wein ein, öffnet uns die Augen, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Seine Platituden sind albern, aber die Zahl, die er nennt, ist nicht mehr lustig. Vierzig Angeschmierte sollt ihr sein. Angeschmiert statt angestellt. Auch nicht schlecht. Vierzig gleich, na, so was, welch hübsche runde Zahl. Mit so vielen hat niemand gerechnet. Das ist mehr als die Hälfte von uns. Weit mehr.

Wir, aus jener Redaktion, die komplett eingestampft wird, sitzen an einem Tisch, wie um zu demonstrieren, dass es nur uns alle gibt oder keinen. Die Einigkeit hat fast etwas Beängstigendes. Sie ist ungewohnt. Vielleicht haben wir es geahnt und uns deshalb aneinander gedrängt wie eine Kuhherde, die sich vor Wind und Kälte schützen will. In deren Fall haben die, die außen stehen, die Arschkarte gezogen, aber in unserem Fall haben wir eigentlich alle die Arschkarte gezogen.

Jetzt, wo es so gut wie vorbei ist, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, ganz dazuzugehören. Fast fühlt es sich an, als kämpften wir gemeinsam für eine gute Sache, als richtiges Team voller Idealismus und Engagement und Einsatz und Feuer, und als wäre der da vorn unser Feind, den wir anzugehen hätten. Ich weiß, dass das nicht stimmt, denn wir kämpfen für nichts Gutes, und unsere Feinde sind höchstens mickrige Page Impressions oder miese Quoten oder geringe Auflagen oder schlechte Umfragen oder zu wenig VÖs.

Trotzdem. In diesem Moment gehören wir zusammen, und es ist tröstend zu wissen, dass es uns bald allen schlechter gehen wird. Ich denke darüber nach, wer von uns wohl als Erster einen neuen Job findet. Ich hoffe, dass ich es bin. Und dann schäme ich mich und schiebe den Gedanken weg, weil ich lieber noch das Gefühl genießen will, Teil dieses angeschmierten Ganzen zu sein.

So ist es also, wenn man selber dabei ist. Wenn man »vier Komma fünf Millionen« hört und denkt, na, ohne mich wären es immerhin nur noch 4.499.999, das ist doch was.

Unser Volontär, der mir im Büro gegenüber sitzt und den ich sehr mag, weint fast. Er hat sich an meinem Arm festgekrallt und ist leichenblass. Er ist der Einzige von uns, der bleiben wird. Weil er in der Ausbildung ist. Irgendwo werden sie ihn schon unterbringen. Vielleicht in der Flanelletage als Kaffeekocher.

Der Vorstandsvorsitzende redet sich um Kopf und Kragen. Die Chefs werden bleiben, allesamt, obwohl sie dann niemanden mehr haben, über den sie Chef sein können. Aber das scheint egal.

»Nur noch Häuptlinge, aber keine Indianer«, schimpft Reto, der Betriebsratsvorsitzende, mit Ende dreißig einer der Ältesten und mit Abstand einer der Vernünftigsten. Er sieht schlecht aus, stoppelig und blass und ein wenig verbittert; wahrscheinlich liegt er schon seit Tagen mit dem Vorstand im Clinch. Diverse Kündigungen lägen schon zur Anhörung vor, erklärt Reto und wirkt dabei ehrlich bekümmert. Aber es sei ja Politik in diesem Hause, fügt er biestig hinzu, alle Informationen immer bis zur letzten Minute zurückzuhalten, um keine Fragen beantworten zu müssen. Die Kündigungen seien allerdings sozialplanpflichtig, das sei das einzig Positive an ihrer hohen Anzahl, ergänzt er dann; die Verhandlungen seien fortgeschritten, man werde bis morgen früh das Beste für uns rausholen, und wenn er sich dafür persönlich die Nacht um die Ohren schlage.

Bingo.

Wie die letzten fünf, füge ich in Gedanken hinzu, denn genau so sieht Reto aus: so, als würde er seit fünf Nächten auf den Vorstandsvorsitzenden einreden und doch immer nur arrogantes Kopfschütteln ernten.

Ein Gesundschrumpfen sei das, sagt der Vorstandsvorsitzende und bläst sich auf dabei, bis er Wind in den Backen hat.

»Unser alter Spirit ist weg«, jammert eine Kollegin aus einer anderen Redaktion. »Früher waren alle stolz, hier zu arbeiten. Und jetzt zählen gute Ideen nichts mehr! Es geht nur noch um Zahlen, Zahlen, Zahlen.«

»Tja«, sagt der Vorstandsvorsitzende, »es sind eben schwierige Zeiten. Ihr wisst ja, es geht niemandem gut. Wir werden uns bemühen, alles so schnell wie möglich abzuwickeln.«

Ein paar lachen kurz hämisch auf, andere schütteln enttäuscht die Köpfe.

Ich gehöre zu den Kopfschüttlern. Es ist nicht schön zu wissen, dass man so schnell wie möglich abgewickelt wird.

Als ich am Abend nach Hause fahre, brauche ich die Rekordzeit von einer Stunde und zwanzig Minuten. Bald ist Weihnachten und die Stadt total verstopft. Sonst komme ich mit weniger als einer Stunde aus für den Weg, aber seltsamerweise macht es mir nichts aus, heute länger unterwegs zu sein.

Ich denke nach. Das kann ich gut beim Autofahren, auch wenn die anderen Verkehrsteilnehmer das anders sehen und mich anhupen. Ich hupe zurück, damit sie sich fragen, ob sie nicht vielleicht den Fehler gemacht haben.

Obwohl alles durcheinander ist in meinem Kopf, versuche ich, geordnet zu denken. Eins nach dem anderen. Jetzt mal ganz langsam.

Ich erinnere mich an all die Filme und Bücher, in denen Leute depressiv werden oder Amok laufen oder anfangen zu saufen, weil sie ihren Job verlieren. Ich überlege, ob mir das auch passieren wird, und beschließe, dass ich dazu zu vernünftig bin und zu diszipliniert. Weil ich mir schon lange bewusst bin, dass die Arbeit nicht alles ist im Leben.

Natürlich nicht.

Sehr gut.

Schon im nächsten Moment beschleicht mich allerdings der Gedanke, dass sie das vielleicht doch ist. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, aber das gelingt mir nicht, denn ich weiß, in Wirklichkeit bestimmt die Arbeit mein Leben durchdringend. Sie bestimmt, wann ich aufstehe und wann ich ins Bett gehe. Sie entscheidet, wann ich einkaufen gehe und wann ich Zeit für was auch immer habe und mich überhaupt mit etwas anderem beschäftigen kann als mit ihr. Sie diktiert mir, wann ich mich mit Leuten beschäftigen kann, die nichts mit ihr zu tun haben. Und selbst wenn ich mich mit Leuten beschäftige, die nichts mit ihr zu tun haben, dann verbringe ich viel Zeit damit, diesen Leuten von ihr zu erzählen. Sie legt fest, wann ich mich gehen lassen kann und wann ich mich zusammenreißen muss. Manchmal ist sie verantwortlich dafür, ob andere mich interessant finden oder nicht, und sie ist auch verantwortlich dafür, was ich mir leisten kann oder eben nicht.

Sie schreibt mir vor, mit wem ich Tag für Tag mehr Zeit verbringe als mit meiner großen Liebe oder meinen Eltern oder meiner besten Freundin. Ihretwegen findet der Stadtteil, in dem ich wohne, für mich um diese Jahreszeit nur im Dunkeln statt, und ihretwegen muss ich alle paar Wochen zum Postamt hetzen, um Päckchen oder Einschreiben einzusammeln, weil ich nie zu Hause bin, wenn der Paketbote kommt. Sie ist schuld daran, dass ich, wenn ich mitten in der Woche freihabe und an diesem Tag verzweifelt versuche, alles nachzuholen, staunend durch die Straßen laufe und wie vor den Kopf geschlagen bin darüber, wie viele Menschen an so einem normalen Tag draußen sind und nicht auf der Arbeit.

Einfach so.

Sie macht, dass ich sie an manchen Tagen durchziehe, obwohl es mir schlecht geht, nur weil ich Angst habe, dass andere denken könnten, ich würde mich vor ihr drücken. Sie bestimmt, dass ich Arzttermine und Behördenbesuche aller Art monatelang vor mir herschiebe, weil im Büro so viel zu tun ist, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich diese Gänge ganz unbescholten während der Arbeitszeit erledigen dürfte. Überhaupt bestimmt sie, dass ich mich immer dann nicht gut fühle, wenn ich das Gefühl habe, ich wäre jetzt besser bei ihr, auch wenn ich gerade ganz woanders bin. Es gibt in unserer Firma kein Zeitkonto und keine Plastikkarte, die Kommen und Gehen registriert; wahrscheinlich interessiert es niemanden wirklich, wann ich anfange und wann ich Feierabend mache, aber ich habe ein Gewissen und eine Aufgabe, die nie wirklich zu Ende ist, und das ist viel schlimmer.

Nicht nur deshalb bestimmt die Arbeit also auch, wann es mir gut geht und wann schlecht.

Wie es mir ohne sie gehen wird, weiß ich noch nicht. Ich bezweifle allerdings, dass es mir ohne sie besser geht, denn wenn das der Fall wäre, dann wären alle arbeitenden Menschen dumm.

Zu Hause mache ich alle kleinen Lampen an, die ich finden kann. Große besitze ich kaum, und die wenigen, die ich besitze, benutze ich nicht, Licht um diese Tageszeit schadet nur.

Ich mag meine Wohnung. Hier kann ich tun und lassen, was ich will. Meistens lasse ich, aber an diesem Abend verfalle ich irgendwann in hektische Betriebsamkeit und fange an, Sachen zu sortieren. In meiner Schreibtischschublade stapeln sich Kontoauszüge, Versicherungsunterlagen, Briefe und Prospekte. Während ich sie sorgfältig unterteile in einen Abheft- und einen Wegwerfstapel, beginne ich mich zu ärgern, weil der Wegwerfstapel so viel größer ist und weil es schließlich immer schwieriger wird, zwischen Wegwerfen und Abheften zu unterscheiden.

Da ist viel, was ich eigentlich nicht brauche, aber vielleicht eines Tages brauchen könnte. Ich stelle fest, dass ich ein Konto habe, mit dem ich Hotels billiger buchen kann und das ein Ausflugs- und Unterhaltungsprogramm für mich bereithält. Es versichert außerdem mein Handy gegen Diebstahl und schickt mir meine Schlüssel zurück, falls ich sie verliere und vorher mit diesem speziellen Anhänger versehen habe. Mein Handyanbieter wiederum bietet mir eine Auslandskrankenversicherung sowie eine vergünstigte Kreditkarte. Die Vielfliegerprogramme diverser Fluggesellschaften schicken mir Listen von Prämien, die ich mit meinen Meilen bisher in Anspruch nehmen könnte, und meine Bahncard hat laut Bahncardkontoauszug schon dreihundertzwanzig Punkte gesammelt,, wobei ich keine Ahnung habe, wofür die gut sind. Nachweishefte für Zahnarztbesuche finde ich drei, Bonusformulare vom Pizzaservice fünf. Die Kinokarten von letzter Woche sind gleichzeitig Gutscheine für Milchkaffee zum halben Preis im Restaurant nebenan.

Der zweite Teil von »Herr der Ringe« bricht sämtliche Besucherrekorde. Warum nur wollen sich alle Leute plötzlich am liebsten in einer Welt aufhalten, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt?

Ich bewahre die Gutscheine für den Milchkaffee auf; wenn ich erst arbeitslos bin, muss ich schließlich jeden Cent zweimal umdrehen. Alles andere werfe ich weg, weil es mich nur durcheinander bringt.

Dann habe ich die Nase voll vom Sortieren, also gehe ich in die Kneipe und arbeite dort an einer anderen Art der Vollbeschäftigung.

Lüttje, sie heißt so, weil sie sehr klein ist, versteht meinen Kummer. Sie war Marketingleiterin bei einem großen Tabakkonzern und hat ihren Job schon vor einigen Wochen verloren. Ihre Abteilung gibt es jetzt nicht mehr, aber die Abfindung war anständig, deshalb kann Lüttje dem Arbeitsamt erst mal den Stinkefinger zeigen und bald zu einer langen Reise nach Südamerika aufbrechen.

»Das wollte ich schon immer«, sagt sie inbrünstig. »Ich bin überzeugt, dass die derzeitige Entwicklung etwas Gutes hat. Für uns alle.«

Ich wiederum bin in erster Linie überzeugt davon, dass sich so etwas mit einer anständigen Abfindung sehr viel leichter sagen lässt.

Ich erhalte meine Kündigung schon am nächsten Tag. Fristgerecht, betriebsbedingt. »Persönlich/vertraulich« steht auf dem weißen Umschlag, ein kleiner Scherz der Flanelletage. Der einunddreißigste Dezember ist Stichtag, das ist in etwas mehr als vier Wochen; das Datum ist in der Kündigung fett gedruckt und hat eine ganze Zeile für sich, damit ich es nicht übersehe, wie aufmerksam. Ulla, die Juniorpersonalreferentin, überbringt das Schreiben persönlich. Dazu lächelt sie mich entschuldigend an, und ich lächele ebenso zurück, denn es ist kein Geheimnis mehr, dass Ulla sich demnächst selbst wird abwickeln müssen.

»Was ist mit Freistellung?«, frage ich sie, und Ulla lächelt noch einmal entschuldigend und sagt, »na ja, die Seite läuft ja bis zum Ende des Jahres noch weiter, aber da werden wir sicherlich was regeln können. In ein paar Tagen wissen wir mehr.«

Die Stimmung in der Redaktion ist gespielt übermütig. Alle krakeelen quer durch den Raum und sind aufgedreht, bis auf den Volontär, der uns mit eingezogenen Schultern nur deshalb zuhört, weil er nirgendwo anders hingehen kann.

Gegen vier hat bis auf ihn jeder seinen Umschlag erhalten.

Lautstark unterhalten wir uns über das Arbeitsamt, unsere Ansprüche und darüber, ob es unsere Firma in einem halben Jahr wohl noch geben wird, wenn wir nur noch dreißig sind und niemand mehr da ist, der die eigentliche Arbeit macht.

»Unsere Firma.«

»Wir.«

Das sagen wir tatsächlich, obwohl es längst glatt gelogen ist. Wir können nicht anders, wir sind es so gewohnt.

Manchmal lasse ich meinen Blick vom Schreibtisch aus durch den Raum schweifen, beobachte die anderen und überlege, wohin es sie wohl verschlagen wird. Aber schon im nächsten Moment ist mir klar, dass ich das wahrscheinlich nie erfahren werde. Genauso wenig wie die anderen erfahren werden, wohin es mich verschlägt, außer vielleicht durch puren Zufall. Natürlich werden wir unsere privaten Mailadressen austauschen und uns auf der Abschiedsfeier gegenseitig in den Armen liegen und sentimental werden und uns versprechen, in Kontakt zu bleiben. Vielleicht werden ein paar von uns sich auch tatsächlich darum bemühen und von Zeit zu Zeit eine Rundmail schreiben oder sich sogar untereinander verabreden und treffen. Aber aller Voraussicht nach wird es auch in diesem Fall nicht anders laufen als beim Abiturjahrgang oder den Kommilitonen oder den Kollegen aus dem anderen Job:

Irgendwann vergisst man sich, denn man hat ja seine eigenen Freunde.

Obwohl. Manchmal bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich sie wirklich als Freunde bezeichnen kann, denn sie nehmen in meinem Leben oft über Monate nicht mehr Platz ein als eine Mailadresse in meinem Verteiler, und dann schreibe ich Entschuldigungsmails an sie, weil das vor zwei Monaten festgelegte Treffen doch wieder nicht klappt. Zu viel zu tun, hier ist die Hölle los, es tut mir leid, wir verschieben es auf ein andermal, ich meid mich wieder, ja?

Und das stimmt entweder, oder es stimmt auch nicht, weil ich einfach denke, Scheiße, ich will einen Abend nur im Bett liegen und sonst nichts, weil ich so groggy bin, und dann muss eben die Verabredung dran glauben, weil die Arbeit schließlich vorgeht. Was diese ganzen Mailadressen vielleicht noch am ehesten zu Freunden macht, ist die Tatsache, dass sie mir nicht böse sind, wenn das passiert, weil sie selbst sich nur zu gut an das letzte Treffen erinnern, das damals sie abgesagt haben mit genau der gleichen Begründung.

Für einen Augenblick verspüre ich so etwas wie Vorfreude, weil ich denke, dass das demnächst alles anders werden könnte, und in diesem Moment würde ich am liebsten jetzt schon gehen. Natürlich nicht, ohne vorher in der Flanelletage noch mal ordentlich auf den Putz zu hauen, haha.

Aber dann macht jemand einen blöden Witz über den sozialen Abstieg, der uns allen bevorsteht, und ich lasse mich doch wieder anstecken und habe nichts als Angst.

Wovor genau ich Angst habe, weiß ich noch immer nicht. Vielleicht ist es nur die Angst davor, dass alles anders wird. Anders anders, meine ich, denn bisher habe ich mich immer gefreut, wenn in meinem Leben etwas anders wurde, weil Veränderung Fortschritt bedeutete. Na ja. Bis auf die Trennungen von meinen Exfreunden vielleicht, aber meistens ist darauf dann ein neuer Freund gekommen, beziehungsweise im Idealfall war der neue schon da, bevor überhaupt die Trennung vom alten kam.

In der derzeitigen Angelegenheit sind die Aussichten schlechter, und das Schlimme ist, ich weiß es schon.

Warum habe ich eigentlich ausgerechnet jetzt keinen Freund? Dann könnte ich wenigstens Kinder kriegen.

Über neue Jobs sprechen wir kaum, weil wir längst wissen, dass es derzeit keine gibt. Trotzdem surfen wir fast ununterbrochen im Internet und versuchen, freie Stellen zu finden. Als die Redaktionsassistentin endlich eine entdeckt hat, schickt sie sie per Mail durchs ganze Büro, »auf nach berlin, viel glück!«, steht in der Betreffzeile. Ich lösche sie gleich weg, samt Anhang, denn ich will nicht nach Berlin. Ich will in Hamburg bleiben, weil ich mich dort wohl fühle, und mein Viertel gefällt mir. Ich bin eine von vielen meiner Art, die dort leben, aber ich habe nichts dagegen. Im Gegenteil. Es hat seine guten Seiten, denn mittlerweile ist der Stadtteil wie zugeschnitten auf Leute wie mich. Die Mieten sind gestiegen in den letzten Jahren, im Zuge dessen ist der Altersdurchschnitt gesunken. Oder andersrum, völlig egal. Was hier tagsüber passiert, ist mir fremd und interessiert mich auch nicht sonderlich, weil ich ja nicht da bin, aber sobald ich abends zurückkehre, fühle ich mich heimisch und willkommen.

Besonders im Dunklen. Ich weiß, wo ich abends hingehen und mit wem ich dort anstoßen kann; ich habe meinen Supermarkt, in dem man mich auch um kurz vor acht noch einlässt; hier und da werde ich gegrüßt; und ansonsten lässt man mich in Ruhe.

Jedenfalls möchte ich nicht von hier Weggehen für einen Job, der sowieso schon so sehr über mich bestimmt. Dann will ich wenigstens bestimmen, wo er über mich bestimmt.

Die Hartz-Kommission sieht das anders, erfahre ich am Abend in der Tagesschau, also sollen Leute wie ich schon bald für einen Job die Stadt wechseln müssen.

Ich hole meine Kündigung aus der Tasche und lege sie demonstrativ auf den großen Tisch im Wohnzimmer. Morgen gehe ich zum Arbeitsamt.

2. Kapitel

»SCHOCK! 4,6 Millionen ohne Job«Bild

Das Arbeitsamt Hamburg-Altona liegt fast versteckt; beim ersten Versuch radele ich daran vorbei und muss umkehren.

Ich habe kurz daran gedacht, mit dem Auto zu fahren, weil ich hinterher wieder in die Redaktion muss, aber irgendwie ist mir unwohl dabei gewesen. Also bin ich lieber mit dem Fahrrad gekommen und sehe jetzt, dass es einen ganzen Haufen freier Parkplätze gibt. Wahrscheinlich denken alle, es wäre dekadent, mit dem Auto zum Arbeitsamt zu kommen, und fahren deshalb Fahrrad oder Bus oder gehen zu Fuß.

Ich bin noch nie auf einem Arbeitsamt gewesen und weiß nicht, was mich erwartet. Viel ist es nicht, das Gebäude ist unscheinbar und schlicht, und die weitläufigen Flure sind kahl bis auf ein paar Anschläge an den grau gestrichenen Wänden. Sie verkünden Handy- und Rauchverbote und die Richtung für die Buchstaben E bis J.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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