Wer schön sein will, muss reisen - Tine Wittler - E-Book

Wer schön sein will, muss reisen E-Book

Tine Wittler

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Beschreibung

Auf der Suche nach einem anderen Schönheitsideal: Tine Wittler im Land der runden Frauen. »Wer schön sein will, muss reisen«, sagt sich Tine Wittler. Und fliegt nach Mauretanien, Afrika. In ein Land, in dem sie – anders als in Deutschland – dem Schönheitsideal entspricht: üppig und rund. Mehrere Wochen lang ist sie dort zum Thema »Schönheit« unterwegs: zu Fuß, im Jeep oder auf Kamelen. Sie sucht Frauen, die sich regelrecht mästen lassen und gefährliche Medikamente einnehmen, um für ihr Lebensglück an Gewicht zu gewinnen. Denn je schwerer, desto begehrenswerter sind sie. Aber sie trifft auch jene, die sich dieser Tradition entziehen – und gerade in weniger Gewicht ein Stück Freiheit und neue Unabhängigkeit finden. Ein Reisebericht, der tiefer geht und das eigene Selbst- und Gesellschaftsbild auf den Kopf stellt.

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Seitenzahl: 453

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Tine Wittler

Wer schön sein will, muss reisen

Ein Selbstversuch im Land der runden Frauen

Fischer e-books

Für alle Frauen, die keinem Schönheitsideal entsprechen – also für fast jede. Und für meine Freundin Wafa.

»Fatimas erotische Reize beruhen nur auf einer einzigen Eigenschaft: ihrer Körperfülle. (…) Ali kommt aus der Wüste heim, Blut und Sand in den Augenwinkeln, und taucht mitten hinein in die feuchte Fruchtbarkeit ihres Fleisches. Sie ist ein Brunnen, eine Quelle, eine Oase. Sie ist überfließende Milch, ein bewegliches Festmahl, eine saftiggrüne Weide, eine Rinderhälfte. Sie ist Gold. Sie ist Regen.«

 

Aus: T. C. Boyle, »Wassermusik«

Nørhede, Dänemark Mittwoch, 12. August 2009

Och nee, ne! Verdammte Axt. In was habe ich mich jetzt schon wieder reingeritten?!

Da sitze ich nun in meinem kleinen dänischen Ferienhaus; dem Ort, nach dem ich mich nahezu elf Monate im Jahr so sehr sehne, und plötzlich kommt mir ausgerechnet dieser Ort vor wie ein Gefängnis. In meinem Kopf tobt ein Sturm, und in meinen Ohren rauscht es. Wobei Letzteres vermutlich auf eine Ohrenentzündung zurückzuführen ist, die ich mir hier – Ohrenstöpsel hin oder her – jedes Jahr aufs Neue hole, weil ich zwei Stunden pro Tag durch das minikleine, stark gechlorte Schwimmbecken tobe, das dem Häuschen angegliedert ist. Aber egal. Weitaus mehr beschäftigt mich die Tatsache, dass sich hier plötzlich alles ganz anders entwickelt als geplant. Es sollte doch sein wie immer: Einmal im Jahr ziehe ich mich für vier, fünf Wochen hierher zurück, nach Jütland, in besagtes kleines Häuschen. Allein. Um zu schwimmen, Kraft für den Jahresendspurt zu tanken – und vor allem um zu schreiben.

Diesmal steht die Entwicklung von Roman Nummer sechs an. Oder vielmehr: Sie stand an. Denn jetzt sitze ich hier, völlig durcheinander, und die Hauptdarstellerin meines nächsten Romans ist schon tot, noch bevor ich sie überhaupt zum Leben erweckt habe. Sie sollte Kaja heißen und eine ganz normale Frau sein. Eine Frau allerdings, die ein Problem hat (ganz normal also, sag ich ja). Ein Problem, das für sie zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens wird: Kaja ist zu dick – und darauf schiebt sie alles, was in ihrem Leben schiefläuft. Allein dieser Umstand, so glaubt Kaja, macht sie klein, minderwertig und machtlos. Die ganze Welt scheint darauf herumzureiten. Und ihr Wunsch, endlich dem herrschenden Schönheitsideal (oder zumindest der akzeptierten Norm) zu entsprechen und somit vermutlich all ihre Probleme auf einen Schlag los zu sein, lässt sie einiges an Fehlern begehen.

Mit dieser Problematik kenne ich mich aus! Als eine der wenigen weiblichen deutschen Prominenten, die nicht die Kleider ihrer sechzehnjährigen Tochter tragen könnten, ist dieses Thema für mich allgegenwärtig. Gerade auf dem glatten Parkett von Fernsehpräsenz und Promipartys habe ich mich anfangs wie der berühmte Elefant im Porzellanladen gefühlt oder wie ein Nilpferd unter lauter Flamingos, und ich weiß durch viele, viele Gespräche, wie sehr dieses Thema auch die meisten anderen Frauen beschäftigt.

Dabei geht es längst nicht nur ums Gewicht: Ob fünf oder fünfzig Kilo zu viel; ob labbrige Oberarme oder schlaffe Schenkel; ob zu kleine Brüste oder eine zu große Nase; ob X- oder O-Beine; ob schlechte Zähne oder schlechte Haut; ob zu alt oder zu faltig – Schönheitsfehler ist Schönheitsfehler, basta, und das ist nun mal ganz und gar nicht gut. Und hinderlich. Und überhaupt. Es ist erschütternd, wie aufopferungsvoll Frauen sich tagein, tagaus mit Selbstzweifeln und Komplexen herumschlagen. Und wie sehr wir alle uns von Idealen und überhöhten Ansprüchen, von bewussten und unbewussten Boshaftigkeiten und von konstanter medialer Gehirnwäsche nur zu gern unter Druck setzen und verrückt machen lassen.

Die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Darstellung und Behandlung von Menschen, die nicht der erwarteten Norm entsprechen oder nicht als »schön« gelten, ist zu einem Teil meines Lebens geworden. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen habe ich dieses Thema quasi adoptiert, wenn auch anfangs widerwillig. Und deshalb gehört allen Menschen mit angeblichen Schönheitsfehlern meine ganze Empathie – Menschen wie meiner soeben gestorbenen Romanfigur Kaja eben.

Im Fortlauf ihrer Geschichte sollte Kaja erkennen, dass die Macht der Ideale vielleicht gar nicht so groß ist, wie sie glaubt. Dass diese Macht durchaus begrenzt sein kann – wenn man zum Beispiel einfach mal die Perspektive wechselt. Und deshalb sollte Kaja in »ihrem« Roman auf eine Reise gehen, in der ihr Verständnis von Schönheit, von Perfektion und Ideal, von Begehrenswertem und Verachtenswertem völlig auf den Kopf gestellt wird. Kaja sollte in ein Land reisen, in dem Frauen wie sie als besonders schön gelten – also Frauen, an denen nicht möglichst wenig, sondern möglichst viel dran ist.

Denn das soll es ja tatsächlich (noch?) geben: Länder, in denen jene Frauen als krank, arm, bemitleidenswert und unsexy gelten, die schlank sind. Schön, begehrenswert, reich, gesund und gesegnet sind dort hingegen jene Frauen, die es in Kajas Welt so schwer haben: je runder und je üppiger, desto besser, desto be- und geliebter, desto reicher an Liebe und Lebensqualität. Diese Vorstellung hat mich von Anfang an unglaublich fasziniert. Wie fühlt es sich wohl an, wenn man einem solchen Land einen Besuch abstattet – und das eigene Weltbild, alles, was man bisher erfahren und gelernt hat (und von dem man sich bislang nur zu gern hat stressen lassen), plötzlich nicht mehr gilt?

Trotz ihrer vermutet großen Bedeutung sollte Kajas Reise aber zunächst nur ein kleiner Teil ihrer Erlebnisse sein, aufgrund deren sie eine entspanntere Haltung zu sich selbst, ihrem Körper und ihrer Umwelt finden sollte. Und so habe ich diese Reise in meinem ersten, ein wenig ungeduldig verfassten Exposé eher am Rande erwähnt. Nicht einmal das Land, in das Kaja reisen würde, stand fest; dazu hatte ich noch zu wenig recherchiert. Klar war lediglich, dass es sich dabei um ein arabisches Land handeln würde. Denn dass dort, besonders im Norden und in der Mitte Afrikas, andere Maßstäbe gelten als hier bei uns, wusste selbst ich zu diesem Zeitpunkt schon. Aber welches Land würde sich besonders eignen, um Kaja dorthin zu schicken? Darum hatte ich mir noch kaum Gedanken gemacht.

Es kam, wie es mit dem hastig zusammengezimmerten ersten Exposé kommen musste: Es fiel durch – bei Susanne, meiner Lektorin, und bei Schorsch, meinem Agenten, mit dem ich schon seit meinem allerersten Roman, also seit zehn Jahren, zusammenarbeite.

Aber irgendwie glaubte ich weiterhin an Kaja und ihre Geschichte, und ich war nicht willens, die beiden dranzugeben. Also baute ich übers Wochenende um und aus. Ich dachte, strich, fügte hinzu und wieder zurück, bis ich ganz blöd im Kopf war und selbst nicht mehr genau durchblickte. Aber eines war klar: Kajas Reise gewann dabei enorm und wie von allein an Raum und Wichtigkeit.

In der Zwischenzeit wusste ich immerhin, wo diese sie hinführen sollte: in ein Land namens Mauretanien. Denn ich hatte recherchiert. Ein bisschen. Ach was – rudimentär! Die Internetverbindungen sind hier in diesem Jahr die schlechtesten, die ich jemals erlebt habe – weiß der Henker, woran es liegt, trotz nagelneuer Hardware und obwohl es doch angeblich von Jahr zu Jahr so etwas wie technischen Fortschritt geben soll. Jedenfalls lädt alles nur aufreizend langsam, so dass man das verantwortliche Gerät am liebsten anschreien und schütteln möchte vor Ungeduld. Trotzdem: In Mauretanien gilt das Schönheitsideal der runden Frau angeblich weiterhin. Jedenfalls laut meiner bisherigen Recherchen.

Mauretanien also! Na bravo. Ausgerechnet ein Land, von dem ich noch nicht einmal wirklich wusste, dass es überhaupt existiert. Es ist eines von diesen Ländern, die meine Omi bei »Stadt – Land – Fluss« immer eingetragen und womit sie auch meistens gewonnen hat – aber das war es dann auch mit dem, was ich damit in Verbindung bringe. Trotzdem: Ich gab mich weiter der nervigen Schnecken-Recherche hin, während ich an der zweiten Version meines Exposés arbeitete. Und fand dabei heraus, welche Blüten das »umgekehrte« Schönheitsideal in Mauretanien treibt.

Fasziniert-abgeschreckt las ich darüber, dass es dort Tradition war und teilweise noch sein soll, junge Mädchen regelrecht zu mästen, um sie im wahrsten Sinne des Wortes besser an den Mann bringen zu können. Dass Frauen dort, statt sich mit Diäten und gefährlichen Schlankheitspillen zu quälen, angeblich gefährliche Medikamente einnehmen, um an Gewicht zuzulegen und dem Idealbild der sinnlichen, runden und somit wohlhabenden, gebärfähigen und gesunden Frau nahezukommen.

Ganz »nebenbei« lernte ich, dass Mauretanien mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern ein sehr armes Land ist; eine französische Exkolonie mit vielen Nomaden, noch mehr Wüste und einer zunehmenden Bevölkerungswanderung in die wenigen, eh schon überfüllten Städte. Ich erfuhr, dass Mauretanien ein sehr heißes Land ist. Und ein politisch unruhiges; geprägt durch eine Diktatur von 1984 bis 2005 und gebeutelt durch fast ein Dutzend Putsche und Putschversuche. Just im vergangenen Jahr hatte es wieder einen solchen gegeben, in dessen Zuge der erste demokratisch gewählte Präsident durch das Militär gestürzt wurde; vor einigen Wochen, im Juli 2009, war der damalige Putschanführer, ein General, zum Präsidenten gewählt und vor erst wenigen Tagen vereidigt worden.

Aufregend!, dachte ich. Nicht mehr, nicht weniger. Und tippte meine Rechercheergebnisse eifrig in die zweite Variante meines Exposés – fast ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. Vielleicht spürte ich zu diesem Zeitpunkt schon, dass sich mir da etwas auftat, das mich gedanklich noch sehr, sehr lange beschäftigen würde; jedenfalls sandte ich das neue Exposé mit äußerst gemischten Gefühlen ab, die ich im Nachhinein nur schwer beschreiben kann. Ich fühlte eine Unruhe, die ungewohnt war. Dies war nicht die Ungeduld, die ich sowieso jedes Mal an den Tag lege, wenn ich auf ein Feedback zu meiner Arbeit warten muss. Dies war etwas anderes. Um 13.04 Uhr an diesem Sonntag schickte ich das zweite Exposé mit einem Stoßgebet auf die beschwerliche Reise zu Lektorin und Agent.

Die ersehnte Antwort aus dem Lektorat, die Reaktion auf mein zweites Exposé, kam am Montag um 15.47 Uhr. Ich hielt vorsichtshalber die Luft an, als ich die Mail öffnete.

»Liebe Tine«, schrieb meine Lektorin Susanne. »Liebe Tine, uns ist etwas tigergleich angesprungen in Deiner Mail: Mauretanien und das umgekehrte Schönheitsideal – in Konfrontation mit einer vom westlichen Idealbild qequälten Protagonistin. Das ist neu, originell, noch nicht gelesen und spannend! Wie wäre es, wenn die ganze andere Konstruktion wegfällt und der Roman stattdessen in Afrika seinen Ausgangspunkt nimmt?«

Bingo, dachte ich. Oder vielmehr: Scheiße. Oder auch schlicht: Oh nein, oh nein, ich hab’s geahnt.

»Liebe Susanne«, antwortete ich leichthin, »na prima – ich wusste doch, dass da wenigstens etwas Gutes drinsteckt!«

Aber ich dachte in Wirklichkeit etwas anderes. Nein, falsch, ich dachte es nicht – ich musste es nicht denken, denn es stand schon fest. Es dachte quasi mich. Denn ich würde nach Mauretanien reisen. Reisen müssen! Kajas Reise war eigentlich für mich bestimmt. Das hier war kein Roman, der geschrieben werden wollte, keine Fiktion. Das hier schrie nach einem Selbstversuch. Mein Roman war von einem Moment auf den anderen gestorben. Es würde ein Reisebericht daraus werden müssen. Ein Reisebericht der etwas anderen Art. Und Kaja war tot.

Wie fühlt man sich, wenn man soeben der bislang größten Herausforderung seines Lebens begegnet ist?

Und das ausgerechnet mir! Mir, die das Fliegen verabscheut und die Hitze hasst. Die sich zu Hause in Hamburg am wohlsten fühlt und schon Heimweh hat, wenn sie nur eine Nacht weg ist – es sei denn, natürlich, in Dänemark. Die man mit Fernreisen so gar nicht locken kann. Die es gern bequem und überschaubar hat, die ihre Rituale und Alltäglichkeiten liebt, ohne tägliches Haarewaschen nicht leben kann, ja schon fast ein bisschen eingefahren ist! Aber egal: Mit solchen Kinkerlitzchen würde ich mich erst beschäftigen, wenn aus meinem wahnwitzigen Plan überhaupt ein Buchprojekt werden könnte. Reisen in entfernte, fremde Länder hatten auch andere schon überstanden, ja sogar Spaß daran gehabt. Und außerdem: Noch wusste ja noch nicht einmal mein Agent Schorsch, was in meinem vermaledeiten Hirn gerade vor sich ging, dieser ollen Krücke, in der sich die Synapsen überschlugen und die mir momentan gerade mal wieder selbst Angst machte.

Ich einigte mich schließlich mit mir selbst darauf, dass es schlicht meine unbezähmbare Neugier war, die befriedigt werden wollte. Diese Neugier hatte mich zwar schon oft in Teufels Küche, aber letztendlich immer weitergebracht. Mal gucken, was diesmal passiert, dachte ich.

Also suchte ich nach Reiseberichten; fand nur ganz sporadisch ein paar Sätze – offenbar wird Mauretanien nur sehr wenig gezielt bereist, sondern eher nebenbei abgehandelt. Immerhin: Von Paris Linienflüge. Hotels? Sehr wenige, jedenfalls mit westlichem Standard, genauer gesagt: exakt ein Einziges, und das so teuer wie in Paris, na toll.

Nouakchott, die Hauptstadt – ursprünglich für 30000 Einwohner angelegt, heute mit weit über 700000 Menschen heillos übervölkert; in die Stadt gekommene Nomaden sollen dort in Zelten leben, für eine Wohnexpertin eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung. Weil islamische Republik, Alkoholverbot – die Wirtin und Partyqueen in mir gerät gleich mal in Panik. Sprache – hm, mit Französisch komme man ganz gut durch, schreibt jemand. Wieder Panik. Zwar habe ich in der Schule Französisch gelernt, aber das ist Jahre her; »Französisch auffrischen«, notiere ich also brav im Hinterkopf. So viel zu tun!

Ein paar Artikel sogar, die sich ganz gezielt mit »meinem« Thema beschäftigen, dem Schönheitsideal, das dem westlichen so entgegengesetzt ist – einer im Spiegel, einer im Tagesspiegel, einer in der italienischen Tagszeitung La Repubblica; alles so weit glaubwürdige Quellen. Und ich stelle fest, dass ich just zum richtigen Zeitpunkt aufmerksam werde: Ein zusätzliches Spannungsfeld tut sich auf. Denn seit kurzem wird das traditionelle Schönheitsideal, so scheint’s, auch in Mauretanien zur Diskussion gestellt. Man habe sogar eine Fernsehkampagne gestartet, die diese Diskussion nähre: In einem der Spots schiebe ein Ehemann seine fast bewegungsunfähige Ehefrau in einer Schubkarre umher, lese ich. Seit neuestem seien Frauen im stadteigenen Stadion anzutreffen, wo sie, eingewickelt in ihre langen Gewänder, langsame Runden drehen würden, auch der Figur wegen.

Dass Mauretaniens Frauen zunehmend berufstätig und damit auch selbständiger würden, steht in einem der Artikel; und dass Gewichtsabnahme dabei durchaus eine Rolle spielen könne, denn eine schlanke Frau gelte als schwerer zu verheiraten. In einem anderen Artikel hingegen wird eine junge Frau zitiert, deren Familie sich die kostspielige Fütterung der Tochter, um sie schön und begehrt zu machen, nicht mehr leisten konnte. Heute sei die Tochter unglücklich, weil »viel zu dünn«, fühle sich unter ihren Freundinnen als Ausgeschlossene und für ihren Ehemann nicht attraktiv genug. Wie irre ist das denn, denke ich, das ist doch verrückt! Wirklich alles genau andersrum. Verkehrte Welt!

Dann lese ich über die Zwangsfütterung. Diese soll es wirklich geben: in Einrichtungen, geführt von strengen Matronen, in denen kleine Mädchen regelrecht gemästet werden, um sie für den Heiratsmarkt wertvoll zu machen. Die traditionelle Zeit für die »Gavage« sei die Regenzeit von Juli bis Oktober – wenn man sie denn so nennen kann, denn in der Regel gibt es in Mauretanien sehr wenig Regen, und wenn, dann hauptsächlich im Süden an der senegalesischen Grenze. Trotzdem ist dies die fruchtbarste Zeit des Jahres: Dann finden die Schafe, Ziegen und Kamele Futter, und es ist genügend Kamelmilch für die Mästung der Mädchen vorhanden.

Gern spreche man über dieses Thema nicht, erfahre ich; erst recht nicht mit Ausländern, was meine Arbeit sicherlich nicht leichter machen wird. Aber ich verspüre sofort den Wunsch, unbedingt mit Frauen reden zu wollen, die so etwas tatsächlich durchgemacht haben. Aber auch mit den mauretanischen Männern würde ich gern sprechen. Darüber, was sie wirklich schön finden, zum Beispiel. Darüber, was ihnen dieses traditionelle Schönheitsideal bedeutet. Und darüber, ob die Durchsetzung ebenjenes vielleicht auch ein Instrument von Machterhaltung ist.

Was ich nicht will, ist mir hingegen genauso klar: Ich will nicht mit dem Finger auf eine Tradition dieses mir unbekannten Landes zeigen, »Du, du, du!« machen und mich als Westeuropäerin erhaben oder schlauer fühlen. Ich will mich auch nicht künstlich aufregen über etwas, das in unserer Gesellschaft genaugenommen ebenso brutal stattfindet. Nur eben unter anderen Vorzeichen und mit anderen Instrumenten. Macht es denn wirklich einen so großen Unterschied, ob ein Mädchen körperlich gemartert wird, damit es einem Schönheitsideal näherkommt, oder ob ein Mädchen durch den Druck seiner Umwelt seelische Qualen leidet, sich verrückt macht und nach dem Essen den Finger in den Hals steckt?

Ich bin die Letzte, die berechtigt dazu wäre, die Tradition eines Landes zu kritisieren, dessen Religion und Lebensweise mir völlig unbekannt sind. Ich habe keine Ahnung von Afrika, ich habe keine Ahnung vom Islam, und ich habe erst recht keine Ahnung von Mauretanien. Aber ich könnte versuchen, dieses Land und seine Tradition zu verstehen – und über diesen Umweg vielleicht auch etwas über uns und unsere Gesellschaft lernen.

Dazwischen völlig wirre Gedanken: Soll ich, soll ich nicht; was machst du hier eigentlich; du spinnst doch total; du überschätzt dich völlig; stell dich nicht so an; in fremde Länder reisen, das ist für manche ein Hobby und heutzutage doch ganz easy; leg dich einfach wieder hin; jetzt denk doch mal an was anderes. Ich ertappe mich dabei, dass ich über die Recherchen das Essen vergesse. »Aber du musst jetzt deine Figur halten! Für dein Projekt!«, schießt es mir durch den Kopf, und ich weiß gar nicht, ob ich darüber lachen oder weinen und überhaupt was ich damit anfangen soll. Ich verschiebe das Essen; ein paar Minuten noch. Da!, ein ganz aktueller Artikel, welt.de. Von heute. Ganz frisch! Ich lese:

Selbstmordattentat vor französischer Botschaft

Nouakchott/Paris. In Mauretanien hat sich ein Selbstmordattentäter vor der Botschaft der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in die Luft gesprengt. Bei der Explosion in der Hauptstadt Nouakchott seien drei Menschen, darunter zwei Franzosen, leicht verletzt worden, teilten die mauretanische Polizei und die Botschaft mit. Es war der erste Selbstmordanschlag in der Geschichte des Landes. Der Selbstmordattentäter sei ein 1987 in Nouakchott geborener Mauretanier gewesen, hieß es aus Polizeikreisen. Er werde der Dschihad-Bewegung zugerechnet. Mauretanien ist seit zwei Jahren Ziel von Anschlägen des nordafrikanischen Arms des internationalen Terrornetzwerks al-Qaida. 2007 waren vier Franzosen in Aleg ermordet worden. Zu der Tat hatte sich die al-Qaida im Maghreb ebenso bekannt wie zu der Erschießung eines US-Bürgers vor sechs Wochen in Nouakchott. ■

Sofort sehe ich meine ganzen Pläne den Bach runtergehen. Herausforderung hin oder her, sie muss ja wohl nicht gleich lebensgefährlich sein! Schnell wähle ich die Homepage des Auswärtigen Amtes an und suche die Reisehinweise für Mauretanien. Und die sind mehr als deutlich. Denn da steht:

»In den nordafrikanischen und den südlich an die Sahara grenzenden Ländern wächst die Gefahr des islamistischen Terrorismus und krimineller Übergriffe. Al-Qaida im Maghreb (AQMI) sucht derzeit gezielt nach Ausländern zum Zwecke der Entführung. Wirksame Gegenmaßnahmen gegen diese Terrorgruppe zeichnen sich nicht ab. Es ist, wie aktuelle Hinweise bestätigen, jederzeit mit weiteren Entführungen westlicher Staatsangehöriger zu rechnen. Gerade auch deutsche Staatsangehörige sind einer deutlich ansteigenden Anschlags- und Entführungsgefahr ausgesetzt. Das Auswärtige Amt rät von Reisen in entlegene, nicht hinreichend durch wirksame Polizei- oder Militärpräsenz gesicherte Gebiete der Sahara und ihrer Randbereiche eindringlich ab. Erhöhte Anschlagsrisiken bestehen auch für touristische Ziele, an denen regelmäßig westliche Staatsangehörige verkehren.«

Tja. Und es hätte alles so schön werden können. Beunruhigt gehe ich schlafen.

Dienstag, 18. August 2009

Mittlerweile habe ich immerhin Sibylle vom Management in meine Mauretanien-Pläne eingeweiht. Sie hat mir daraufhin prompt einen Artikel aus dem Süddeutsche Magazin vom 31. Juli nach Dänemark geschickt, der sich genau mit »meinem« Thema beschäftigt. Die Fakten, die die Autorin Michaela Haas in ihrem Essay zusammenträgt, sind keine bahnbrechenden Neuigkeiten im eigentlichen Sinne. In ihrer hier auftretenden Masse erschüttern sie mich dennoch:

Zwei Drittel aller zwölf- bis fünfzehnjährigen Mädchen in Europa und in den USA finden sich nicht schön genug. 40 Prozent aller Mädchen zwischen sechs und sechzehn Jahren würden sich gern Fett absaugen lassen. Jedes dritte Mädchen in Deutschland hat ein auffälliges Essverhalten. Mehr als eine halbe Million Schönheitsoperationen werden pro Jahr in Deutschland durchgeführt. 82 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten in den letzten zwei Jahren eine Diät gemacht. Die Adipositas-Gesellschaft erklärte vor zwei Jahren 70 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen in Deutschland für übergewichtig.

Auch international treibt der Schönheitswahn sein ausuferndes Unwesen: 30 Prozent aller Südkoreanerinnen zwischen zwanzig und fünfzig Jahren haben sich 2008 einem kosmetischen Eingriff unterzogen; die Hälfte aller jungen Frauen dieser Nationalität hat sich angeblich schon »westliche« Augenlider schneidern lassen. Die Argentinier bekommen Schönheitsoperationen von ihrer Krankenkasse erstattet; in Brasilien bezahlt sie gleich der Staat. In Nigeria begann vor acht Jahren ein landesweiter Diätwahn, nachdem zum ersten Mal eine (sehr dünne) Nigerianerin zur »Miss World« gewählt wurde. Chinesen lassen sich Metallrohre in die Oberschenkel einsetzen, um bis zu zehn Zentimeter größer zu werden. Schwedinnen dagegen, die sich für zu groß halten, lassen sich die Oberschenkelknochen brechen und zusammenstauchen. Allein in einer einzigen Ausgabe der amerikanischen Vogue sind rund 150 Bilder digital retuschiert und alle Models sorgfältig von vermeintlichen Makeln befreit worden.

»Das ist kein Geheimnis, das kann jeder nachlesen«, schreibt Michaela Haas. »Dennoch nehmen wir uns diese Avatare zu Vorbildern, eifern ihnen verzweifelt nach und glauben tatsächlich, dabei Herr unseres Willens zu sein, alle Schinderei freiwillig zu begehen und nicht in die Fangarme der Schönheitsindustrie geraten zu sein.« Und so, schlussfolgert Haas, entstehe der »moderne Körperhass«: »Der eigene Körper wird zum Feind, weil er sich nicht so stark formen lässt, wie wir es von ihm fordern.«

»Körperterror« nennt Susie Orbach das. Susie Orbach ist eine US-amerikanische Psychoanalytikerin, die schon Ende der Siebziger ein Buch mit dem schönen Titel »Fat is a Feminist Issue« schrieb, seither gegen überzogene Schönheitsideale kämpft, die Körper und Geist gefährden, und schon Prinzessin Diana wegen ihrer Bulimie therapierte. Im Gespräch mit Michaela Haas sagt sie: »Wir erleben eine nie dagewesene Hysterie um den Körper, es gilt als normal, ihn nicht zu mögen. Millionen Menschen schämen sich für ihn, kämpfen täglich gegen ihn, weil er sie stört und verunsichert. Das ist ein immenses Problem und hat nichts mit Eitelkeit zu tun.«

Und dieser Körperfetischismus der industrialisierten Welt, schreibt Michaela Haas, habe »den hintersten Winkel dieser Erde erobert«. Auch Mauretanien?

 

Ähnlich wie Susie Orbach hat die Psychologin Barbara Mangweth den Schwerpunkt ihrer Arbeit ebenfalls auf Ess- und Körperbildstörungen gelegt, und sie hat sicherlich im engeren Sinne recht, wenn sie schreibt: »Nur wir in unserer westlichen Industriegesellschaft versuchen, den Körper durch Hungern, Erbrechen, Anabolika und extremen Sport zu formen« (und, ergänze ich in Gedanken, durch Schönheitsoperationen). Die Tatsache an sich – nämlich die, dass Frauen sich für das Erreichen eines Ideals quälen – träfe aber auch in Mauretanien zu, falls auf den Frauen dort ein ähnlicher Druck lasten sollte, dick zu sein, wie hier, schlank zu sein. Denn dann wäre lediglich alles »andersrum« – von den Grundmechanismen her aber gleich.

Und im weiteren Sinne ist die Kasteiung für Schönheit (und Anerkennung) mitnichten ein Alleinmerkmal westlicher Industriegesellschaften. Anderswo ist nur die Fixierung eine andere: Bei den Mursi in Äthiopien sind Narben ein Statussymbol, die dadurch entstehen, dass dem (z.B. durch erfolgreiche Jagd) zu Ehren Gekommenen eine Wunde zugefügt wird, in die man immer wieder Salz streut. Dadurch verheilt die Wunde entsprechend schwer, und es entstehen (auch bei Frauen) bis zu zwei Zentimeter hohe Schmucknarben. Nicht nur in Äthiopien, sondern ebenso in Tansania und Mosambik, bei den Zo’é-Indianern im Amazonasgebiet, den Kayapo, Botokudo und Suyá in Brasilien, den Sara-Frauen im Tschad und den Tlingit in Alaska gibt es die sogenannten »Lippenteller« aus Ton (manchmal auch Lippenpflöcke aus Holz): Dort werden Mädchen am Ende der Pubertät zwei Schneidezähne ausgeschlagen, die Unterlippe aufgeschnitten und anschließend gedehnt, indem immer größer werdende Tonscheiben eingesetzt werden. Auch die Ohrläppchen werden auf diese Art und Weise verziert. Der Lippenteller ist nicht nur ein Zeichen von Schönheit (je größer, desto schöner): Eine so geschmückte Frau erhöht auch ihren Status und ihren Preis als Braut.

Die Hälse der Padaung-Frauen aus Myanmar werden durch das Tragen von schweren Schmuckringen, die die Schultern und Schlüsselbeine deformieren, und durch das regelmäßige Hinzufügen solcher Ringe von Jahr zu Jahr um bis zu sagenhafte vierzig Zentimeter »verlängert«: Je mehr Ringe eine Frau trägt, desto größer sind sowohl ihre Schönheit als auch das Ansehen ihrer Familie.

Interessanterweise verfolgten sowohl die »Tellerlippen« als auch die Halsringe ursprünglich den genau entgegengesetzten Zweck als den, für Schönheit zu sorgen: Eingangs sollten Mädchen und Frauen hierdurch für Feinde wie Sklavenhändler unattraktiv gemacht werden. Die Padaung-Frauen versuchten, durch die Halsringe ihre Töchter davor zu bewahren, dass der Maharadscha – der das Recht hatte, sich die schönsten Frauen zur Braut zu machen – sie erwählte und mit sich nahm.

In China quälten sich Frauen nahezu ein Jahrtausend lang für den sogenannten »Lotusfuß«, eine Deformierung, die erreicht wurde, indem der Fußrücken mit Hilfe eines Steines gebrochen und danach extrem eng mit einer Bandage umschlungen wurde. Als ideale Fußlänge galten zehn Zentimeter, was etwa der Schuhgröße siebzehn entspricht. Tatsächlich erreichten jedoch nur wenige Frauen diese Länge, die meisten abgebundenen Füße maßen im Durchschnitt dreizehn bis vierzehn Zentimeter. »Lebenslange Schmerzen und die körperliche Behinderung wurden selbstverständlich akzeptiert und machten junge Frauen bei Männern attraktiv. Es kam sogar vor, dass Männer gar nicht mehr auf das Gesicht ihrer Braut achteten, wenn nur die Füße klein waren, und dass Frauen mit größeren Füßen gesellschaftlicher Ächtung unterlagen. Die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit ließ viele Frauen zudem fülliger werden, was ebenfalls dem damaligen Schönheitsideal entsprach«, lese ich bei Wikipedia.

Das »Füßebinden« wurde erst im Jahr 1911 verboten, als die chinesische Regierung die Gleichberechtigung der Frauen verlangte, weil sie im Zuge der zunehmenden Industrialisierung als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Mit abnehmender Tendenz wurde es dennoch bis in die dreißiger Jahre praktiziert.

Welche Macht hat also das angebliche Ideal der »runden Frau« in Mauretanien? Wie stark ist der Druck, der dahingehend auf die mauretanischen Frauen ausgeübt wird? Geben die Frauen dort diesem Druck ebenso bereitwillig nach wie wir – und wie schon vor ihnen Millionen anderer Frauen in allen Ecken dieser Welt? Wenn ja, wie? Und wie fühlen sie sich dabei?

Am Wochenende kommt Boris mich besuchen. Ich befürchte, ich werde ihm sagen müssen, was ich vorhabe.

Montag, 24. August 2009

Es ist raus. Und es war gar nicht so schlimm. Obwohl es mir schwergefallen ist, meinem Freund die Beweggründe für den anstehenden Selbstversuch darzulegen. Denn wir haben bislang noch nie wirklich darüber gesprochen, dass ich äußerlich ja doch »anders« bin als manch andere Frau. Dass ich keine Superfigur habe, nach der die Männer sich auf der Straße umdrehen. Oder darüber, wie verletzend es sein kann, wenn andere einen aufgrund dieses vermeintlichen Makels bloßstellen – nicht nur in der persönlichen Begegnung, sondern in aller Öffentlichkeit. Also eben so, dass auch der eigene Partner es zwangsläufig mitbekommen muss oder gar selbst mit angegriffen wird. Wenn ich verletzende Dinge lese über meine Figur und mein Aussehen; darüber, »was für ein Kerl die wohl überhaupt anfassen will« und wie »die wohl nackt aussehen muss«, dann geht es nicht in erster Linie darum, wie sich das für mich anfühlt. Sondern eher darum, wie Boris sich dabei fühlen muss, wenn er so etwas liest oder hört. Oder auch meine Eltern, meine Freunde. Ich schäme mich dann dafür, dass die Menschen, die mir am nächsten stehen, so etwas ertragen müssen.

Dafür, dass ich so bin, wie ich bin, schäme ich mich nicht mehr, dazu habe ich mich zu sehr daran gewöhnt. Mittlerweile bin ich manchmal sogar dankbar dafür, so zu sein, denn man lernt sehr viel über die Menschen, wenn man »anders« ist. Und trotzdem fällt es mir schwer, solche Angriffe an mir abprallen zu lassen und sie nicht zum Anlass zu nehmen, an mir zu zweifeln.

Boris habe ich bislang nie danach fragen müssen, wie er damit umgeht, es war schlicht nicht nötig. Er macht mir oft Komplimente und hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ihn meine Figur stört. Und wenn es doch mal auf dieses Thema kommt, dann gibt er mir immer das Gefühl, dass ich richtig bin und die anderen die Idioten sind. Er ist ein toller Mann! Und deshalb werde ich auch nie vergessen, was er sagt, nachdem ich meine Ausführungen beendet habe.

Boris sagt: »Du musst das machen. Das ist klar. Aber eines musst du mir mal erklären: Warum ist Schönheit eigentlich immer so wichtig? Also, für euch Frauen? Euer Aussehen. Eure Figur. Warum spielt das so eine große Rolle?« Das ist eine gute Frage. Und ich werde ihr auf den Grund gehen müssen.

Freitag, 28. August 2009

Boris ist zurück in Hamburg, aber wir telefonieren viel miteinander. Und Boris wäre nicht Boris, wenn er zu meinem Projekt nicht doch noch etwas zu sagen hätte, auf das ich selbst bislang gar nicht gekommen bin. Etwas sehr Bedeutsames.

»Das ist nicht nur ein Buch«, sagt er in einem unserer Gespräche. Einfach mal so zwischendurch. »Das ist nicht nur ein Buch. Das ist auch ein Film. Du musst eine Kamera mitnehmen nach Mauretanien. Und zwar nicht nur die Fotokamera!«

Ich antworte nur: »Na, na, jetzt mal langsam mit den jungen Pferden«, aber zum zweiten Mal in kurzer Zeit bin ich wie elektrisiert.

Rückkehr nach Hamburg Samstag, 29. August 2009

Während der Heimfahrt von Däneland nach Hamburg denke ich nur an den möglichen Film zum Buch. Oder wäre es ein Buch zum Film? Das eine würde das andere auf jeden Fall beeinflussen, das steht fest. Aber ein Buch kann man allein schreiben. Einen Film hingegen kann man nicht allein drehen. Andererseits, ganz allein zu fahren – traue ich mir das überhaupt zu? Will ich nicht sowieso viel lieber jemanden an meiner Seite haben?

Und wenn ich eh mit jemandem reise, dann kann dieser Jemand auch eine Kamera in die Hand nehmen. Vorausgesetzt, man kriegt eine Drehgenehmigung da unten. Und vorausgesetzt, man findet überhaupt Menschen, die bereit sind, vor laufender Kamera so etwas Intimes wie ihr Schönheitsempfinden und ihre Schönheitspraktiken mit mir zu teilen – mit einer Westeuropäerin, die weder ihre Sprache spricht, ihre Religion kennt noch sonst irgendetwas über ihr Leben weiß. Und sich dabei deshalb wahrscheinlich alles andere als geschickt anstellt.

Und will ich selbst das überhaupt? Will ich, dass festgehalten wird, wie ich bei 37 Grad Hitze durch ein Land stapfe, das fast nur aus Wüste besteht? Will ich so nah dran dabei beobachtet werden, wie ich mich mit einem Thema beschäftige, das mir emotional doch sehr nahegeht? Und will ich mir neben der Verantwortung für ein druckfähiges Manuskript auch noch die Verantwortung für einen Film ans Bein binden, wo ich doch noch gar nicht weiß, was mich in diesem Land überhaupt erwartet – wenn ich es überhaupt bis dorthin schaffe?

Ich ertappe mich erst bei dem Gefühl, dass mir die ganze Angelegenheit über den Kopf wächst, und gleich darauf bei dem Wunsch, ich wäre überhaupt nie auf dieses Thema gekommen und auf die irrwitzige Idee, nach Mauretanien zu reisen. Tja. Zu spät. Wie heißt es doch gleich? Curiosity killed the cat.

Hamburg Dienstag, 1. September 2009

Bei Amazon alle verfügbaren Reiseführer über Mauretanien (1) und Westafrika (3) bestellt. Dazu einen Bericht von zwei Französinnen, die schon in den Neunzehndreißigern »barfuß durch Mauretanien« sind. In den Dreißigern! Dann kann es ja im Jahrhundert danach auch nicht mehr so schwierig sein, das Land zu bereisen. Oder?

Im Internet finde ich ein paar Foren, in denen sich Reisende tummeln, die auch vor Mauretanien nicht haltmachen wollen oder haltgemacht haben. Viele sind es nicht, und die meisten von ihnen scheinen erfahrene Backpacker zu sein oder Verrückte, die mit ihrem Wohnmobil da runtergurken. Bei der Lektüre ihrer Berichte komme ich mir vor wie eine blutige, unerfahrene Anfängerin, die von der Welt noch nichts gesehen hat. Ach was: Ich bin eine.

Dazu tonnenweise Literatur über Schönheit und Schönheitsideale geordert. Fühle mich in meine Zeit als Studentin zurückversetzt. Wann soll ich das alles lesen?

Donnerstag, 10. September 2009

Morgen Abend treffe ich mich in der »parallelwelt« mit meinem alten Freund René. Wir kennen uns schon seit Jahren, und René lebt das Leben, das ich mir absurderweise manchmal (zurück)wünsche. Ein Künstlerleben, würde man wohl sagen: ständig pleite, aber frei. Und voller Leidenschaft für seine Projekte: eine Retrospektive über Klaus Kinski, ein Buch zusammen mit der Filmemacher-Koryphäe Klaus Wildenhahn oder – Nachtigall, ick hör dir trapsen! – einen neuen Dokumentarfilm. Sein Geld verdient René als Filmvorführer in einem alten Hamburger Kino, als Dozent oder als Veranstaltungstechniker, aber sein Herz schlägt fürs Filmemachen. Das ist sein Ding.

Samstag, 12. September 2009

Ich hätte mir denken können, was dabei rauskommt. Also, neben einem Schädel, der sich gewaschen hat. Aber es war klar: Irgendwann sprudelte es nur so aus mir raus, und ich habe René von Mauretanien erzählt. Es hat keine zehn Minuten gedauert, bis er lichterloh in Flammen stand und für das Projekt genau so brannte wie ich. Und, verdammte Axt, es fühlte sich toll an, die Begeisterung teilen und gemeinsam Pläne machen zu können.

Heidewitzka, was haben wir rumgesponnen! Aber war es wirklich nur ein Rumspinnen? René hat jedenfalls gesagt, er will mit. Er will den Film machen. Ich schick ihm jetzt mal eine Mail und frag ihn, ob er sich daran erinnert.

Montag, 14. September 2009

Ja, René erinnert sich. Und will nicht nur mit nach Mauretanien, sondern hier in Hamburg sogar Filmförderung beantragen. Schöne Idee. Das Blöde daran ist nur: Für die kommende Vergaberunde ist in zwölf Tagen Abgabeschluss. Hahaha! Das schaffen wir nie.

Dienstag, 15. September 2009

Der dritte Dienstag im Monat – Mädelsstammtisch! Habe sie lange nicht gesehen, dementsprechend viel gibt es von allen zu erzählen. Von meinem Mauretanien-Projekt will ich eigentlich gar nicht berichten, weil es mir zu ernst und zu schwermütig erscheint für einen lustigen Abend, tue es dann aber irgendwann doch. Es ist ein Volltreffer. Binnen kürzester Zeit bricht die schönste und lebhafteste Diskussion über Schönheit, Schönheitsideale und unseren Umgang damit aus. Die Mädels reden sich die Köpfe heiß; die einen deutlicher, die anderen weinbedingt schon ein bisschen weniger deutlich.

Eines wird dabei ganz schnell klar: Das Thema betrifft und berührt jede Einzelne von uns. Jede von uns hat ihre eigenen Erfahrungen damit, ihren eigenen Komplex, ihre eigenen Makel schon verflucht und zu beseitigen versucht – auf der anderen Seite aber auch längst die Erkenntnis gewonnen, dass das eigentlich alles nicht so wichtig ist. Oder zumindest nicht so wichtig sein sollte.

Warum zum Teufel fällt es uns dann aber so schwer, uns von all den überzogenen Ansprüchen, die uns umgeben, nicht ins Bockshorn jagen zu lassen? Warum setzen wir uns so unter Druck? Warum sind wir nicht in der Lage, uns davon freizumachen? Warum pfeifen wir nicht auf Ideale, sondern finden uns einfach toll, so wie wir sind, und lassen auch allen anderen ihre Freiheit, sich toll zu finden, so wie sie sind? Auf diese Frage haben die Mädels auch keine Antwort, also notiere ich sie mir auf meiner Liste der offenen Merkwürdigkeiten.

Mittwoch, 16. September 2009

René sagt, wir schaffen das mit den Anträgen für die Filmförderung. Sein Wort in Gottes Ohr. Das wird ein Spaß!

Montag, 21. September 2009

Hatte ich gesagt: Das wird ein Spaß? Es ist die Hölle! René und ich haben sehr unterschiedliche Arbeitsweisen, und das treibt mich so langsam, aber sicher in den absoluten Wahnsinn. René ist extrem reflektiert, liebt die Beschäftigung mit Wenns, Fürs und Abers, er denkt und denkt und denkt und spricht über seine Bedenken, über die er denkt, und denkt dann noch mal über das, was er gesprochen hat. Dann geht das wieder von vorne los, und dazu läuft er immerzu um den Tisch herum wie ein Tiger im Käfig.

Ich hingegen sitze zwar still da, könnte aber gleichzeitig explodieren, denn ich will nur noch eines: Ergebnisse, Ergebnisse, Ergebnisse! Mal was fertig haben! Mir schwirrt der Kopf vor lauter Zahlen. Einen Film zu machen ist teuer; allein für die Projektentwicklung landen wir bei einer unvorstellbaren Summe, da ist die Produktion an sich noch nicht mal dabei. Und wenn wir wirklich einen Film machen wollen, dann müssen wir mindestens zu dritt reisen. Denn was nützt einem das schönste Bild, wenn man dazu keinen Ton hat? Und was, so ganz nebenbei, der beste Ton, wenn man keinen Übersetzer hat, der die Verständigung ermöglicht?

So viel Geld habe ich nicht. Hoffentlich klappt das mit der Förderung.

Mittwoch, 23. September 2009

Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ist mir sowieso alles egal. Ich will gar keinen Film mehr machen. Und ein Buch schreiben auch nicht.

Donnerstag, 24. September 2009

Bei unseren Recherchen stoßen wir heute auf einen Beitrag des französischen Fernsehens aus dem September 2007. »Grossir à tout prix« ist er betitelt, »Zunehmen um jeden Preis«.

Wir sehen ein kleines Mädchen, das eine riesige Schüssel Kamelmilch in ihren Händen hält. »Bois«, sagt die Frau, die neben ihr sitzt, »trink!« Auf dem Boden stehen weitere Schüsseln voller Milch. Schnitt auf den Fuß des Mädchens, die Frau hält einen Zeh des Kindes in der Hand und biegt ihn gefährlich weit in Richtung Körper hin – in die Richtung, in die es wehtut. So demonstriert sie, wie sie dem Mädchen im Fall der Fälle Schmerzen zufügen und es zwingen wird weiterzutrinken, auch wenn es nicht mehr kann. Ein weiteres kleines Mädchen hilft fröhlich, ja geradezu stolz bei der Präsentation. Sie scheint keine Angst zu haben, selbst wenn auch ihr diese Prozedur eines Tages bevorsteht.

Gavage in Mauretanien sei Frauensache, betont der Off-Sprecher, Männer hätten dabei nichts zu suchen. Trotzdem ist diese Reportage von Männern gemacht.

»Es gibt ein Sprichwort bei uns: Eine Frau hat im Herzen eines Mannes den Platz, der ihrem Umfang entspricht«, sagt eine der Frauen.

Im weiteren Verlauf des Beitrages lernen wir Aminetou kennen, die Präsidentin der »Association des Femmes Chefs de Famille«, einer Organisation, die für die Rechte der Frauen und gegen die Gavage kämpft. Aminetou ist groß, sehr schlank, trägt eine Brille, über die sie ihre Gegenüber streng anblickt – und Aminetou ist der Knaller. Mit offenem Mund sehen wir, wie sie sich auf dem Markt in Nouakchott mit den Männern anlegt, die dort an Frauen Medikamente zum Zunehmen verkaufen: Hormonbomben, die eigentlich für Tiere gedacht sind. Aminetou sagt darüber auf dem Markt derart laut ihre Meinung, dass sich schnell eine wütende, wildgestikulierende Männermenge um sie herum sammelt und sie Mühe hat, sich ihren Weg zurück zu ihrem Auto zu bahnen – was Aminetou aber nicht davon abhält, weiter laut und deutlich auf die Männer einzuschimpfen, während es zeitweise so aussieht, als würden diese gleich auf sie einprügeln.

Diese Frau müssen wir unbedingt treffen, also haben wir am Ende des Tages ein neues Ziel. Gleichzeitig haben wir aber auch neue Fragen: Warum hat man für diese Reportage ausgerechnet zwei Männer geschickt? Hätte eine Frau vielleicht anders darüber berichtet? Und sollen wir unhinterfragt alles glauben, was wir hier gesehen haben?

Freitag, 25. September 2009

Nachtschicht hingelegt. Heute ist der letzte Termin für die Einreichung der Unterlagen bei der Filmförderung. Haben es nur mit Hilfe eines chinesischen Lieferdienstes, zwei Flaschen Rotwein und Glückskeksen geschafft. »Sie werden eine aufregende Reise machen«, stand doch tatsächlich in Renés Keks. Und in meinem: »Niemals den Humor verlieren«. Wir haben sehr gelacht – und es dann durchgezogen. Und jetzt will ich davon erst mal nichts mehr hören.

Montag, 28. September 2009

Das mit dem »Nichts-davon-Hören« klappt leider überhaupt nicht. René ruft mich ganz aufgeregt an, denn er hat eine Studienkollegin, von der ihm einfiel, dass sie »irgendwie mal in Afrika« war. Jetzt hat sich herausgestellt: Sie war in der Zwischenzeit nicht nur mit einem Malier verheiratet, sondern sogar in Nouakchott. Das ist zwar Jahre her, aber was macht das schon? Wir müssen sie unbedingt treffen! Auch deshalb, weil sie einen Dokumentarfilm im Jemen gedreht hat. Irina spricht nicht nur Französisch, sondern auch Arabisch. Deshalb denken René und ich wahrscheinlich das Gleiche, während wir darüber telefonieren: Ist Irina unsere Dritte im Bunde?

Dienstag, 29. September 2009

Bis wir Irina treffen können, dauert es noch. Ich werde die Zeit nutzen, meinen offenen Fragen nachzugehen: Warum spielt der Wunsch nach Schönheit eine so große Rolle in unserem Leben? Warum können wir uns davon auch dann nicht freimachen, wenn wir es eigentlich längst besser wissen? Warum reagieren die Menschen entgegen besserem Wissen oftmals so heftig auf Leute, die »anders« sind und sich einem Ideal nicht beugen können – oder gar wollen? Und wer oder was bestimmt eigentlich, was schön ist?

Freitag, 2. Oktober 2009

Habe in den letzten Tagen ein kleines Experiment gemacht und ein paar Leute gefragt, was sie denken, warum Schönheit so wichtig sei. Die häufigsten Antworten waren so etwas wie: »Weil man sich einfach besser fühlt, wenn man gut aussieht und gepflegt ist«, »Weil es wichtig ist, etwas für sich zu tun« oder »Weil man in erster Linie eben doch nach seinem Äußeren beurteilt wird«.

So richtig befriedigend sind diese Antworten nicht. Sie sind eher Allgemeinplätze, die ein bisschen nach Ergebenheit klingen. Nach Wirkung, aber nicht nach Ursache. Man kümmert sich eben um sein Äußeres, weil es so üblich ist. Weil es erwartet wird. Aber es muss doch mehr dahinterstecken! Es hilft alles nichts: Ich muss endlich ran an die Literatur.

Sonntag, 4. Oktober 2009

Also, wenn ich das jetzt richtig verstehe, geht es bei »Schönheit« gar nicht in erster Linie um »Schönheit« an sich. Sondern darum, für die Mitmenschen und vor allem für potentielle Partner den sichtbaren Beweis zu erbringen, dass man – oder vielmehr frau – jung, fruchtbar und gesund ist. Wegen der Gene. So schreibt es jedenfalls Martin Gründl, Attraktivitätsforscher an der Universität Regensburg. Und Mode und Kosmetik sind dabei nichts als gezielte Täuschungsmanöver und Manipulationsversuche.

Mit ihrer Hilfe versuchen Frauen seit Jahrtausenden, sich jünger und gesünder zu machen, als sie sind. Ein zusätzlicher Zweck dieser Hilfsmittel, lerne ich außerdem, ist die Vortäuschung sexueller Erregung, zum Beispiel mit Rouge und Lippenstift, denn rote Wangen und Lippen sind Zeichen einer durch sexuelle Erregung erhöhten Durchblutung. Das hätte ich nun nicht gedacht: Dass wir jedes Mal, wenn wir Lippenstift auftragen, dies eigentlich tun, um zu signalisieren: Nimm mich, ich bin bereit! Die alten Ägypterinnen gingen dabei so weit, sich den Saft der Tollkirsche ins Auge zu träufeln, um ihre Pupillen zu erweitern, denn auch erweiterte Pupillen werden vom Gegenüber als Zeichen von Erregung verstanden.

Aber zurück zu Jugend und Gesundheit. Diese, so Martin Gründl, seien besonders gut an der Haut abzulesen: Pickel, Ausschläge, Entzündungen und Schuppen sind ein offensichtliches Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist, und so war eine glatte, makellose Haut schon immer ein Schönheitsmerkmal – deshalb Puder (früher) und Make-up (heute). Und am besten keine Sommersprossen, obwohl diese mit einer Krankheit nun gar nichts zu tun haben, aber sie widersprechen nun mal der erwünschten gleichmäßigen Färbung der Haut.

Auch dass wir uns die Haare nur äußerst selten lila, blau oder grün färben, selbst wenn uns diese Farbe doch sonst so gut steht, erscheint unter diesem Aspekt logisch. Bei Haarfarben herrscht ja, betrachtet man die Möglichkeiten, ziemliche Phantasielosigkeit. Aber auch mit unseren Haaren signalisieren wir eben Gesundheit, Jugendlichkeit und Frische. Und wenn man da einfach eine Farbe drüberknallt, die auf Menschenköpfen normalerweise gar nicht wächst, dann gehen dem Gegenüber diese Informationen über Gesundheit und »Allgemeinzustand« verloren.

Und die Vorliebe für die Jugend? Na ja, denke ich, das ist ja dann klar, ein paar Schuljahre Biologie hatte ich auch: Wer jung ist, ist meistens auch gesund, hat noch ein langes Leben vor sich und kann zwecks Arterhaltung noch viele Kinder gebären. So weit, so gut.

Blöderweise ist aber die Vorliebe, über die wir im Zusammenhang mit Schönheit und Attraktivität sprechen, letztendlich keine Vorliebe für Jugend im weiteren, sondern in weiten Teilen eine Vorliebe fürs Kindliche im engeren Sinne. Denn Frauen mit kindchenhaften Gesichtszügen werden von Männern als besonders attraktiv wahrgenommen. Und wir Frauen haben das natürlich erkannt: Die meisten Make-up-Tricks zielen darauf ab, dass wir uns künstlich Merkmale des Kindchenschemas zulegen. Also unsere Augen größer machen, unsere Augenbrauen schmaler, unsere Wimpern länger. Was den Körper betrifft: Völlig haarfreie und glatte Haut kommt bei erwachsenen Frauen, selbst wenn sie noch jung sind, auch nicht vor. Schwamm drüber, rasieren wir uns also, und zwar, wenn es sein muss, auch überall (bis auf oben auf dem Kopf natürlich – aber das hatten wir ja schon). Und auch hier sind wir völlig inkonsequent. Denn ironischerweise hört unsere Vorliebe fürs Kindchenschema heute genau da auf, wo bei einer erwachsenen Frau der (Baby-)Speck ins Spiel kommt: Dieser ist, anders als am niedlichen Baby, nun gar nicht mehr gern gesehen. Das Gesicht also soll kindlich sein, der Körper hingegen jugendlich schlank, straff – und fruchtbar.

Wenn aber eine schöne Frau eine Frau ist, die gleichzeitig Reife und Jugend bis hin zur Kindlichkeit signalisiert – tja, dann stinkt der Fisch doch schon vom Kopf her! Denn bevor eine Frau die Fruchtbarkeitsreife erlangt, muss sie nun mal durch die Pubertät. Und verliert dabei einiges an kindchenhafter Attraktivität. Was also an einer Frau als »schön« gilt, ist ein Widerspruch in sich. Und kommt in der Natur nicht vor. Eine Frau, die alles, was erwünscht ist, vereint, die gibt es nicht, und die wird es nie geben. Selbst wenn man uns genau das vormachen will.

Das versuchten auch schon die Maler im 16. Jahrhundert und malten reife, üppige Frauen mit beeindruckenden Fettpolstern an Oberschenkeln, Bauch und Hüften, aber vergleichsweise viel zu kleinen Brüsten und Gesichtern. Alessandro Allori (1535–1607) zum Beispiel verpasste seiner Venus, der Göttin der Liebe, des erotischen Verlangens und der Schönheit, den Körper einer üppigen, sehr reifen Frau, die aber die kleinen festen Brüste einer Achtzehnjährigen hat – und das Gesicht eines Kindes. So signalisiert die Göttin: Ich bin reif. Und ich bin jung! Ätsch!

Aber letztendlich ist das alles nur getürkt. Selber ätsch! »Einer Person, die so viele Pfunde auf die Waage bringt wie diese Göttin, würde man ihr Gewicht auch am Gesicht ansehen«, schreibt Martin Gründl. Das ist hier nun so gar nicht der Fall.

Und der kleine Busen? »Bei der übrigen Körperfülle würde man auch da etwas mehr erwarten«, schreibt Gründl. »Der Grund dafür dürfte sein, dass der Busen gerade durch seine geringe Größe signalisierte, dass die betreffende Frau noch jung war. Anders als heute diente er damit offenbar weniger als Kennzeichen von Reife, sondern als Kennzeichen von Jugendlichkeit. Die Geschlechtsreife konnte man ja mehr als deutlich am üppigen Gesäß und den Oberschenkeln ersehen.«

Also, alles Lug und Betrug. Und wer – so wie ich es bis gerade eben getan habe – glaubt, dass Manipulationen und Korrekturen in Darstellungen von vermeintlich »schönen« Frauen etwas Neues sind, das es erst seit der Existenz von Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop gibt, irrt somit gewaltig. Das Ideal, von dem solche Darstellungen ausgehen, ist früher wie heute eigentlich nur eines: völlig absurd und unrealistisch.

Nur dass dieses Ideal im Vergleich zu dem des 16. Jahrhunderts heute sozusagen genau »andersrum« ist: Heute ist ein sehr schlanker Körper mit einem eher großen Busen attraktiv, während es früher ein üppiger Körper mit einem kleinen Busen war. Total spinnert, da schlicht unmöglich, ist aber beides. »Bei einer Figur mit reichlich Fettansatz lagert sich auch mehr Fett im Brustgewebe ein, und bei einer Frau, die sich eine heutzutage als schön geltende dünne Figur ›erhungert‹, nimmt gleichzeitig auch die Größe des Busens ab.« Letztendlich bedeutet das, dass wir alle uns von etwas verrückt machen lassen, das nicht mehr ist als eine hübsche kleine Illusion. Und dann auch noch eine, die mal so, mal so aussieht! Eine Verarschung im Namen der Fortpflanzung sozusagen.

Wobei das Ganze aber sooo wichtig zur Fortpflanzung auch wieder nicht sein kann, denke ich. Denn wenn es wirklich so wichtig wäre, »schön« zu sein und einem Ideal zu entsprechen, um einen Partner zu finden und Kinder zu kriegen, wenn also »Schönheit« tatsächlich eine unabdingbare Voraussetzung wäre für Sex und Fortpflanzung oder gar für Liebe, wäre die Menschheit dann nicht längst ausgestorben? An ihrem eigenen Anspruch zugrunde gegangen? Oder aber es gäbe nur noch eine Handvoll wirklich »schöner« Menschen, was dann aber auch wieder nicht von Dauer wäre, wegen der Gefahr von Inzucht und so, die ja erwiesenermaßen auch nicht unbedingt hübscher macht.

Mein Respekt vor der Evolution und der angeblichen Intelligenz des Menschen ist seit heute immens gesunken. Aber dafür ist meine Laune um einiges gestiegen. Immerhin entspräche ich fast dem Schönheitsideal des 16. Jahrhunderts – wenn nur mein Busen straffer und mein Gesicht kindlicher wären! Die Frage ist jetzt, wie es passieren konnte, dass ich damit leider gar nicht mehr in die heutige Zeit passe. Und was ist eigentlich mit den Männern?

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Habe mir in einem Gesundheits-Schuhversand schon mal ein paar schicke Schuhe für die Wüste bestellt. Kann ja nicht schaden. Ich habe sie ins Atelier kommen lassen, wo meine Mitarbeiterin Catrin sie prompt für eine Fehlbestellung hielt und zurückschicken wollte, weil sie so pottenhässlich sind. Sie sehen aus wie Elefantenfüße, genauso grau, genauso klobig und mit Klettverschlüssen obendrauf. Aber sie haben eine Luftsohle und so komische Noppen, die die Füße massieren sollen. Klingt super. Ich behalte sie und lagere sie ganz hinten im Schrank. Mit den richtigen Gesundheitsschuhen wird alles gut.

Freitag, 9. Oktober 2009

Jetzt muss ich glatt noch mal bei Adam und Eva anfangen! Jedenfalls wenn ich mich weiter mit dem Herrn Gründl beschäftige. Der hat nämlich zu Recht bemerkt, dass es auch vor ein paar Jahrhunderten – entgegen dem damaligen eher üppigen Ideal – schon Darstellungen sehr schlanker Frauen gab. Oder vielmehr einer sehr schlanken Frau – Eva nämlich. Auf einem Bild aus dem Jahr 1425, das sie mit Adam im Garten Eden zeigt, wirkt sie schmal und durchtrainiert. Ihre Bauchmuskeln sind gut zu erkennen und erinnern an ein männliches »Sixpack«, ihr Busen hingegen ist kaum vorhanden und sitzt viel zu weit oben, nämlich nicht unterhalb der Achsel, sondern darüber. Alles in allem erinnert vor allem ihr Oberkörper mehr an den eines Mannes als an den einer Frau. Aus heutiger Sicht würde man vielleicht sogar sagen: an den Körper eines Mannes, dem nach viel Bodybuildung und der Einnahme von noch mehr Hormonen so etwas wie kleine Brüste gewachsen sind.

Martin Gründl schreibt dazu: »Wer im Jahr 1425 einen nackten Menschen malen wollte, musste dies vor den kirchlichen Sittenwächtern schon gut begründen können. Daher ist das beliebteste Nackt-Motiv des Mittelalters die Darstellung von Adam und Eva im Garten Eden. Gegen dieses religiöse Motiv aus der Bibel konnte auch die Kirche nichts einwenden. Dennoch musste ein Maler aufpassen, dass seine Figuren (vor allem die Frau) nicht zu sexy wirkten, denn dies hätte den Betrachter auf unkeusche Gedanken bringen können und auch den Künstler dem Verdacht der Unsittlichkeit aussetzen können.«

Aha. Eine durchtrainierte, sehr schlanke Frau galt damals also als absolut unsexy und als gar nicht geeignet, im Betrachter ein erotisches Verlangen zu wecken. Eva war zu androgyn und ihrem Gatten zu ähnlich, sie sah zu wenig nach »Weib« aus, um wirklich attraktiv zu sein. »Interessanterweise«, schreibt Martin Gründl, »kommt aber gerade diese absichtlich unsexy gemalte Figur dem heutigen schlanken Schönheitsideal relativ nahe – mit Ausnahme des Busens.«

Wie konnte das denn passieren? Wie konnte sich das Ideal so verändern – von der üppigen Venus mit dem kleinen Busen zur fast knabenhaft schmalen Frau, die aber trotzdem unrealistisch große Brüste und am besten auch noch einen knackigen, runden Po haben soll? Und warum waren die fülligen Idealfiguren früherer Zeiten doch noch ein wenig üppiger als eigentlich nötig, um nur Fruchtbarkeit zu signalisieren? Die Betonung typisch weiblicher Kurven hätte man im Zweifelsfall ja auch mit ein bisschen weniger Fett erreichen können. Die Fettpölsterchen der Damen müssen also noch eine weitere Bedeutung gehabt haben, die für uns heute nicht mehr relevant (oder mittlerweile gar unerwünscht) ist.

»Ein Körper mit reichlich Fettansatz galt als etwas Erstrebenswertes, da er für die Mehrheit der Bevölkerung etwas Unerreichbares war«, fasst Martin Gründl diese Bedeutung zusammen. Oder, anders ausgedrückt: Früher war es ein Problem, genug zu essen zu haben und satt zu werden. Es gab Kriege, Hungersnöte und strenge Winter; Nahrung musste unter hartem körperlichen Einsatz erarbeitet, geerntet oder gejagt werden. Dick wurde so niemand. Nur Reiche und Mächtige konnten sich Nahrung im Überfluss leisten oder gar so etwas wie Müßiggang, und Fett war nichts anderes als ein Statussymbol.

Heute hingegen, so schreibt Michaela Haas in ihrem Essay »Der Feind in mir«, arbeiten wir nicht mehr körperlich – »stattdessen glauben wir, uns einen Körper erarbeiten zu müssen«. Es gibt genug zu essen für alle, und die industriell gefertigte Nahrung kommt mehr oder weniger fertig auf unseren Tisch, ohne dass wir uns groß dafür anstrengen müssen. Körperfett ist somit überflüssig. Oder, wie Gründl es ausdrückt: »In unserer westlichen Überflussgesellschaft mit einer gesicherten Nahrungsversorgung hat ein fülliger Körper seinen Informationswert als äußerlich sichtbares Zeichen von Reichtum verloren.«

In Mauretanien, denke ich, wird das anders sein. In einem Land, das größtenteils aus Wüste besteht, haben ausreichend Nahrung und deren Beschaffung vermutlich auch heute noch einen höheren Stellenwert. Vermögend ist dort wahrscheinlich nach wie vor, wer genug zu essen hat; ein glücklicher Mann einer, der durch eine üppige Ehefrau zeigen kann, dass bei ihm niemand Not leiden muss; eine angesehene Familie eine, die ihre Tochter sorglos rund füttern und dementsprechend gut verheiraten kann, um darüber wiederum die Existenz der Familie zu sichern.

Schönheitsideale sind somit nicht nur seit jeher eine unrealistische Illusion, von der uns weisgemacht wird, dass wir sie erreichen können, wenn wir uns nur genügend anstrengen: Sie sind noch dazu nichts anderes als eine durchschaubare Reaktion auf die Gegebenheiten des Lebensumfeldes.

Ein ähnlicher Mechanismus greift auch in Bezug auf die als jeweils »schön« geltende Hautfarbe: Jahrhundertelang war bei Frauen eine möglichst helle Haut das Ideal. Braune Haut hingegen galt als »hässlich, abstoßend und vulgär«, denn eine braungebrannte Frau war eine, die draußen auf dem Feld in der Sonne harte Arbeit verrichtete. Blass hingegen waren nur die Adligen und Wohlhabenden, denn sie flanierten mit einem Sonnenschirm bewaffnet durch gepflegte Gärten und hielten sich ansonsten in den schattigen Gemächern auf.

Heute ist das schon wieder anders: Wer braungebrannt ist, der signalisiert, dass er Zeit und Geld dafür hat, in der Sonne zu liegen, und nicht wie die meisten anderen tagein, tagaus sein Dasein in Büro oder Fabrik fristet. Wer braune Haut hat, wird als gesünder, sportlicher, fitter und jünger wahrgenommen – und das, obwohl wir doch mittlerweile sehr genau wissen, dass Sonneneinstrahlung die Haut altern lässt und Hautkrebs verursachen kann. In Afrika versuchen Frauen, ihre Haut zu bleichen, denn dort ist es erstrebenswert – so wie noch vor einiger Zeit hier – zu zeigen, dass man sich drinnen, im Zelt oder Haus, aufhalten und das Tierehüten oder Wasserholen anderen überlassen kann. Gleichzeitig legen wir in Europa uns unter die Klappkaribik, um endlich braun zu werden, und riskieren dabei unsere Gesundheit.

Das ist alles total absurd, und langsam zweifele ich an unser aller Verstand. Was veranstalten wir eigentlich?

Samstag, 10. Oktober 2009

Ich mag Irina. Man merkt ihr sofort an, wie sehr sie den afrikanischen Kontinent und seine Menschen liebt. Und auch, wie wichtig es ihr ist, bei einer Darstellung derselbigen bei den Fakten zu bleiben, Rücksicht auf Land und Leute zu nehmen und dabei nicht zu vergessen, dass wir als Westeuropäer auch nicht immer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben.