Paris bleibt in Paris - Emma Hausser - E-Book

Paris bleibt in Paris E-Book

Emma Hausser

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Beschreibung

Elly, Mitte dreißig, hat eine süße, vierjährige Tochter, einen Job, der ihr Spaß macht, und einen Mann, den sie nicht liebt. Während einer Tagung in Paris hat sie eine Affäre mit ihrem verheirateten besten Freund. Und verliebt sich in ihn. Danach ist nichts mehr wie es war. Elly verliert das, was sie am meisten liebt. Wird sie einen Weg finden, es zurückzubekommen? Seelische Unterstützung erhält Elly von zwei männlichen Seiten. Mit dem einen Mann verbindet sie Geborgenheit, Vertrauen und Freundschaft. Doch was hat sein seltsam geheimnisvolles Verhalten zu bedeuten? Mit dem anderen hat sie eine Vergangenheit und gegenwärtig eine leidenschaftliche Beziehung. Bis die Vergangenheit zum Problem wird. Aber was ist eigentlich mit dem Mann, in den sie sich in Paris verliebt hat? Warum hat er den Kontakt abgebrochen? Hat ein einziger Moment der Leidenschaft alles zerstört, was sie je hatten? Elly beginnt, die Scherben ihres Lebens neu zusammenzusetzen.

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Seitenzahl: 335

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EMMA HAUSSER

***

PARIS BLEIBT IN PARIS

© 2021 Emma Hausser

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlag: © 2019 Büro für Gestaltung Holzwarth, Stuttgart

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-19141-9

Hardcover:

978-3-347-21358-6

e-Book:

978-3-347-21359-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

PARIS BLEIBT IN PARIS

Menschen, die mir begegnen,sind meine Inspiration,ihre Geschichten frei erfunden.

Listen

Die Kopfhörer beim Schreiben gehören zu mir wie die Luft zum Atmen oder der Eiffelturm zu Paris. Musik begleitet jedes Wort und jeden meiner Charaktere.

Daher befinden sich im Text Hinweise, welchen Song ich beim Schreiben der einzelnen Passagen gehört habe. Manchmal im Original, manchmal in der genannten Version.

Die Playlist zum Buch gibt es bei YouTubeDE unter „Paris bleibt in Paris“.

Vorspiel

LISTEN: The Piano Guys A Thousand Years

Es war eine laue Julinacht in den Straßen von Paris. Sie hatten gut gegessen und waren nach ein paar Gläsern Champagner ein wenig angetrunken. Elly lag allerdings die Crème brulée schwer im Magen und anstatt des klebrig-süßen Champagners wäre ihr ein Glas Wein lieber gewesen. Aber da sie das teure französische Essen dank ihres Dozenten nicht selbst hatte bezahlen müssen, nahm sie es hin.

Nach dem Essen schlenderte die Studiengruppe noch einmal Richtung Eiffelturm, erklomm die Treppen zum Palais de Chaillot am Place du Trocadéro und sah sich das glitzernde und funkelnde Symbol der Metropole bei Nacht an. Die Fotoapparate hörten gar nicht mehr auf zu blitzen. Elly bezweifelte, dass ein gescheites Foto dabei herauskommen würde. Leider würden sie es erst sehen, wenn der Film entwickelt war. Daher unterließ sie es, selbst ein Bild zu schießen. Sie träumte von einer Spiegelreflex, mit der sie endlich ansehnliche Fotos, besonders bei Nacht und Lichtverhältnissen wie diesen, machen konnte. Doch ihr BAföG reichte nicht aus, um eine solche Kamera zu finanzieren.

Zwischen dem Blitzlichtgewitter hatte sie hier und da eng umschlungene Paare erspäht. Liebestaumelnd, nur Augen für den anderen. Elly hätte auch gerne zu ihnen gehört und schaute zu dem Ein-Meter-neunzig-Lockenkopf namens Paul neben sich – und konnte es sich einfach nicht vorstellen. Er in diesem Moment vielleicht schon.

„Schön, nicht wahr?“, flüsterte Paul Elly ins Ohr.

Das Gefühl seines warmen Atems an ihrem Hals ließ sie erschauern und sie machte unbewusst einen kleinen Schritt weg von ihm.

„Ja“, sagte sie nur und starrte weiter in Richtung Eiffelturm. Erleichtert nahm sie wahr, dass die anderen sich zum Gehen wandten.

Die nächtlichen Gassen von Paris waren einsam wie sie selbst.

„Frierst du?“ Anja riss sie aus ihren Gedanken.

„Etwas.“

„Du hast eine Gänsehaut.“

Im gleichen Moment zog Simon sein Jackett aus und legte es Elly um die Schultern.

„Besser?“

Überrascht schaute sie zu ihm auf. „Ja, danke.“

Elly fuhr in die Ärmel der Jacke hinein und sie setzten ihren Weg zum Hotel fort. Die Straßen wurden noch einsamer, kaum ein Mensch kam ihnen entgegen. Nur hin und wieder drang Lärm aus einer Bar, an der sie vorbeikamen. Sie zog das Jackett enger um sich und steckte die Hände in die Taschen. Was war denn das?

Sie befühlte den Gegenstand eingehend und wagte schließlich einen verstohlenen Blick darauf. Ob Simon der Inhalt seiner Jacke bewusst gewesen war, als er sie verliehen hatte? Dass er eine Schwäche für Anja hatte, war zwar offensichtlich, doch diese Art von Erwartung während der Studienreise war ihr doch etwas neu. Elly schmunzelte vor sich hin und verspürte den Drang, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen. Indem sie sich ein Stück zurückfallen ließ, erregte sie Pauls Aufmerksamkeit und er tat es ihr nach. Wie berechenbar Männer doch waren!

„Simon trägt interessante Sachen mit sich herum“, machte sie Paul neugierig.

Der Lockenkopf schaute sie verdutzt an. „Hä?“

Sie sah in seinen Augen, dass er unbedingt wissen wollte, wovon sie redete. „Unser Professor hat wohl noch einiges vor in der Stadt der Liebe“, lachte sie verschwörerisch und lenkte ihren Blick auf etwas, das sie ein Stückchen aus der Jackentasche zog.

Ihr Verehrer wechselte auf ihre linke Seite und schielte zu Ellys Hand. Er unterdrückte ein lautes Lachen, indem er sich die Hand vor den Mund hielt. Zum Glück gehörte er zu jenen, die kein Gespür für jenes Knistern in der Luft zwischen zwei Menschen hatten. Für ihn waren das in der Tasche lediglich zwei Kondome, die sein Dozent wahrscheinlich für den Fall der Fälle mit sich führte. Er wusste nichts von Gina noch sah er die Blicke, die Simon Anja schenkte. Anja gestikulierte aufgeregt mit den Händen, während sie Simon gerade etwas erzählte, lachte und strahlte ihn an. Blond, blauäugig – und beneidenswert intelligent.

Elly schlenderte schweigend neben Paul zurück zum Hotel, während er ihr vorschwärmte, wie toll doch das Seminar von Simon sei. Sie schaltete ein bisschen ab und fragte sich, was das nächste Semester für sie bringen würde. Im Gegensatz zu allen anderen Mitreisenden, Anja ausgenommen, war es ihr letztes. Würde sie alles erreichen, was sie sich vorgenommen hatte? Was würde danach kommen?

LISTEN: Constantino Carrara Let Her Go

Der nächste Tag stand zur freien Verfügung. Die meisten von Ellys Mitstudenten entschieden sich für Relaxen und Sonnetanken in einem der unzähligen kleinen Parks. Anja bevorzugte es, sich von Simon mittelalterliche Handschriften in der Nationalbibliothek zeigen zu lassen.

Elly liebte, dank ihres Vaters, seit ihrer Kindheit Museen. Egal, wo sie gewesen waren, egal, wo sie ihren Urlaub verbracht hatten, ganz egal, wo der Ausflug an einem Feiertag hingegangen war, Gedenkstätten, Museen und Kirchen hatten immer zum Repertoire gehört. Geschichte faszinierte ihren Vater, einen passionierten Produktmanager bei einem internationalen Konzern für Luftfahrttechnik. Er zeigte seiner Tochter kunstvoll gearbeitete Schätze in den Vitrinen. Erzählte ihr, was auf den Tafeln stand, und stellte lustige Vermutungen darüber an, was man wohl mit jener Pistole angestellt haben könnte oder warum dieser ausgesprochen gut aussehende, mittelalterliche Herrscher wahrscheinlich keine Frau gefunden hatte. Elly hatte auf spielerische Art und Weise gelernt, die Dinge zu hinterfragen und wertzuschätzen. Sie liebte die Vorstellung, dass die Objekte hinter Glas Jahrhunderte, ja Jahrtausende und manchmal Millionen Jahre alt waren. Wer sie alles in der Hand gehabt haben mochte. Was sie alles gesehen und gehört haben könnten, wären sie lebendig gewesen. Die Geschichten, die sie hätten erzählen können, mochte sie sich kaum erträumen. Geschichten, die nie jemand aufgeschrieben, die nie ein Mensch belauscht hatte. Geschichten, die vielleicht ihre aller Vorstellung von der Welt verändern würden.

Paul und sie beschlossen daher, sich das Militärmuseum im Invalidendom anzusehen. Es war riesig. Die schier unendliche Sammlung an historischen Uniformen und Waffen aller Epochen beeindruckte Elly. Paul war hingerissen und blieb vor jeder neuen Vitrine mit den Worten „Schau mal hier! Das musst du dir ansehen“ stehen.

Elly amüsierte sich köstlich, wenn er einen neuen Raum betrat, große Augen machte und voller kindlicher Begeisterung ein „Wahnsinn“ flüsterte. Sie fragte sich, warum er bei so viel Begeisterung für die neuere und neueste Geschichte sein Hauptfach nicht in diesen Bereich legte. Simon konnte beeindruckend sein, das wusste sie. Daher lag die Vermutung nahe, dass Paul nicht der einzige von Simons Studenten war, der seine Faszination für mittelalterliche Geschichte von dessen Person abhängig machte. Es war eine Faszination, die Elly durchaus teilte. Simon konnte furchtbar interessant erzählen und Zusammenhänge anschaulich erklären. Außerdem wusste er eigentlich auf jede Frage eine Antwort. Aber Elly hatte ein großes Laster, was ihr die Beschäftigung mit dem „dunklen“ Zeitalter enorm erschwerte: Latein. Der prüfende Professor beim Latinum hatte sie mit den Worten entlassen: „Danken Sie Zeus, den griechischen und römischen Göttern und machen Sie sich raus hier, bevor ich es mir anders überlege.“ Im Anschluss hatte sie sich der Geschichte und Politik nach 1789 zugewandt und einige Seminare der Medien- und Kommunikationswissenschaften besucht.

Nach mindestens drei Stunden Staunen und Bewundern taten Elly die Füße weh und in ihren Kopf ging eindeutig nichts mehr rein. Paul war ganz Kavalier und zeigte vollstes Verständnis. Sie verließen das Museum und fanden in einem nahe gelegenen Park eine sonnige Bank. Paul verschwand kurzzeitig und kehrte mit zwei Bechern Kaffee zurück. Elly hätte ihn küssen können. Nur können.

„Schuhe ausziehen!“

„Wie bitte?“

„Schuhe ausziehen und hergeben“, wiederholte Paul streng.

Sie tat wie ihr befohlen und hielt ihre Turnschuhe hoch. Allerdings wollte Paul nicht ihre Schuhe, sondern ihre Füße. Elly wurde ein wenig rot. „Sorry.“

Ihr Kavalier legte sich ihre Beine auf den Schoß und begann, ihre geplagten Füße zu massieren. Sie stützte sich auf ihre Ellenbogen, legte den Kopf in den Nacken und schnurrte fast wie ein Kätzchen. Ob er ihr den Rücken auch massieren würde, wenn sie ihn darum bat? Nein, lieber nicht.

LISTEN: The Piano Guys More Than Words

„Du kennst Herrn Kramer privat. Wie ist er so?“

Tja, wie war Simon so? Was sollte sie ihm sagen? Was durfte sie ihm sagen?

„Er soll gut Party machen können, heißt es.“ Paul schaute sie herausfordernd an.

Hier sollte sie vielleicht widersprechen. „Wer erzählt denn so etwas? Nein, wir treffen uns manchmal auf ein Glas Wein, aber die Partys, die du meinst, hatte er bestimmt früher genug. Heute als Dozent nicht mehr, zumindest weiß ich davon nichts.“ Sie hoffte, überzeugend zu wirken. Vielleicht sollte sie Simon erzählen, dass sich gewisse Dinge herumgesprochen hatten.

„Und sonst?“

Sonst? Sonst war ihr einunddreißigjähriger Dozent charmant, witzig, überraschend und attraktiv. Sie dachte an Anja und wie sie ihrem Vorgesetzten in diesem Moment bestimmt wieder schöne Augen machte. Niemals hatte Anja eine Anmerkung darüber gemacht, dass sie Simon für anziehend hielt. Niemals hatte sie geäußert, mehr von ihm zu wollen. Und doch hatte Elly das Knistern zwischen den beiden von dem Moment an gespürt, als sie im zweiten Semester zum ersten Mal Simons Seminarraum betreten hatten. Sein Blick war sofort auf Anja gefallen. Während Elly sich von Woche zu Woche mit der Übersetzung der Quellen geplagt hatte und kaum mit der Lektüre der erforderlichen Aufsätze hinterhergekommen war, hatte ihre Freundin eine Frage nach der anderen zu dem Gelesenen gestellt. Dabei hatte sie ihr blondes, wallendes Haar in die Hände genommen, es über ihre Schulter nach hinten geworfen und Simon angelächelt. Leider waren es, Elly musste es sich schweren Herzens eingestehen, immer furchtbar intelligente Fragen gewesen. Doch während andere Professoren Anerkennung spendeten, sich aber anschließend abwandten, zeigte Simon Ausdauer und offensichtliche Bewunderung. Sein freudiges Gesicht, wenn Anja den Raum betrat, und die Leidenschaft, mit der er ihren Wissensdurst stillte, zeigten, dass hier mehr im Spiel war.

Neid kannte Elly kaum. Doch ein kleines bisschen von Anjas Intelligenz hätte sie gerne abbekommen. Besonders bei der Zwischenprüfung. Wobei zu diesem Zeitpunkt auch erstmals ein Gefühl von Ärger und Wut aufgekommen war. Elly hätte bei der Vorbereitung dringend Hilfe bedurft. Doch Anja hatte sich lieber mit Simon getroffen. Daher hatte es nicht verwundert, dass sie im Hauptstudium seine Tutorin geworden war.

Der häufige Kontakt der beiden hatte auch Elly Simon nähergebracht. Ein privater Kaffee hier, eine heiße Schokolade da und die Einladung zur nächsten Party bei Steffi, die Elly seit ihrer ersten Marketingvorlesung kannte. Das Du hatte nicht lange auf sich warten lassen. Und doch war Elly sich bei ihren Treffen mit Simon und Anja wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen und tat es noch immer. Sie spürte deutlich, dass Simon dem entgegenzuwirken versuchte. Andererseits war er jedoch stets geneigt, auf Anja einzugehen, zu diskutieren und zu flirten.

Und Elly fiel es schwer, der Freundin böse zu sein. Zu zweit hatten sie stets Spaß und konnten über alles reden und stundenlang quatschen. Ein Anruf mitten in der Nacht und Anja stand vor der Tür. Außerdem war sie auch eine typische Hamburger Deern mit ein bisschen derberem Humor und einer Vorliebe für Garnelenbrötchen am Sonntagmorgen um fünf auf dem Fischmarkt. Ein Ritual, dem sie sich nach einer durchfeierten Nacht stets hingaben.

Simon hatte nach kurzer Zeit fest zu Steffi, Anja und ihr gehört. Die Frage, wohin er am Wochenende manchmal reiste und worum er ein großes Geheimnis machte, hatte sich schließlich auch geklärt. Irgendwann war er in Begleitung zurückgekommen. In Begleitung von Gina, einer italienischstämmigen, unverwüstlich gut gelaunten Frau aus Basel. Die drei Hamburgerinnen hatten sie sofort ins Herz geschlossen.

Und trotzdem hielt das „Anschmachten“ Anjas, wie Steffi es bezeichnete, von Simon an. Und Anja nutzte es gekonnt aus. Sie war sich ihres Aussehens und ihrer Wirkung vollends bewusst. Irgendwann war sie neben Simons Tutorin Hiwi eines Professors und dann des Institutsleiters geworden. Elly gönnte es Anja von Herzen und wusste, dass sie es verdient hatte. Doch während sie selbst akribisch die Aushänge für Tutoren- und Hiwi-Stellen durchforsten und auf eine der begehrten Stellen hoffen musste, brauchte Anja nur mit ihren langen Wimpern zu klimpern und Simon zog die entsprechenden Fäden. Steffi hatte das alles eines Tages so auf die Palme gebracht, dass sie Simon ganz direkt gefragt hatte, warum er dieses Spiel mitspielte. Es war das einzige Mal gewesen, dass er keine Antwort auf eine Frage gegeben hatte.

Das Spiel hatte seine Verlängerung hier in Paris gefunden. Elly fand es wunderbar, dass Anja bei dem noch freien Platz an sie gedacht hatte. Doch mehr und mehr schlich sich bei ihr das Gefühl ein, dass sie nur mitgenommen worden war, damit Anja sich mit keiner Fremden das Zimmer teilen musste.

„Elly! Erde an Elly!“ Paul fuchtelte mit den Armen vor ihrem Gesicht herum.

„Tut mir leid, ich war in Gedanken. Wie war noch gleich die Frage?“

„Wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät.“

Abendessen mit allen zwölf Teilnehmern der Studienreise. Elly verspürte keine besondere Lust darauf. Sie hatte kein Verständnis für all jene, die den Tag zum Shoppen und Rumliegen genutzt hatten. Wie konnte man in Paris nur ans Faulenzen denken? Es gab noch so unendlich viel zu sehen und zu entdecken! Warum studierten die alle Geschichte – und das bereits im vierten Semester –, wenn sie den Tag lieber im Kaufhaus verbrachten?

Elly ließ ihre Füße unter dem Tisch kreisen. Sie taten immer noch weh. Und trotzdem freute sie sich bereits auf den Ausflug nach Versailles am nächsten Tag. Paul berichtete Anja und Simon gerade aufgeregt von ihrem Tag im Museum. Elly hörte nicht hin. Sie nahm in Anjas Augen Langeweile und einen Hauch von Abschätzigkeit wahr. Simon saß ihr gegenüber. Sah er das denn nicht? Sie ärgerte sich über ihre Freundin. Was gab ihr das Recht, über Paul und sie zu urteilen? War das Interesse an Militärgeschichte weniger wert als das an Urkunden aus dem zwölften Jahrhundert?

Etwas wortkarg schlenderte sie später mit den anderen zurück zum Hotel. Ihr war die Lust auf Reden vergangen. Sie registrierte, dass Simon sie ab und zu skeptisch beäugte, er sagte jedoch nichts.

LISTEN: Yiruma Kiss the Rain

Im Zug zurück nach Hamburg saß ihr Simon gegenüber. Er hatte die Augen geschlossen und döste. Elly beobachtete ihn eine Weile und überlegte, wie es sich wohl anfühlte, durch seine dunklen, fast schwarzen, vom Pariser Wind noch verstrubbelten Haare zu streichen, mit den Fingern über sein ebenmäßiges Gesicht zu fahren und seine Lippen zu berühren. Es musste schön sein, jetzt neben ihm zu sitzen, ihre Hand in seiner und den Kopf an seine Schulter gelehnt. Zu wissen, dass man zusammen nach Hause gehen und das Bett miteinander teilen würde. Noch während sie darüber nachdachte, erschrak sie vor sich selbst. Wie kam sie plötzlich auf solche Ideen? Zugegeben, ihre letzte Beziehung lag einige Monate zurück und sie fühlte sich etwas einsam. Doch von Simon zu träumen, war keine Lösung. Er war einer ihrer besten Freunde. Und er hatte Gina und würde sich wahrscheinlich eher auf eine Affäre mit Anja einlassen als mit ihr. Sie stand auf, um sich auf der Toilette kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und wieder klare Gedanken zu fassen. In dem Moment öffnete Simon die Augen und sah sie einen Moment zu lange, zu intensiv an. Sie wandte sich irritiert ab, stürmte den Gang hinab und schob ihre wirren Tagträume auf die Anstrengungen der vergangenen Woche.

Bei ihrer Rückkehr an ihren Sitzplatz schaute Simon sie nicht an. Er war mit Anja in eine hitzige Diskussion vertieft. Elly setzte ihre Kopfhörer auf, schloss die Augen und versuchte, sich auf ihre Geburtstagsfeier in zwei Wochen zu konzentrieren. Die Mitgliedschaft ihres Vaters im Segelklub ermöglichte es ihr, den Klubraum auf der Außenalster für private Feiern zu mieten. Es würde nicht so groß und ausgefallen werden wie Steffis Partys, aber sie freute sich trotzdem darauf. Es war vielleicht eine der letzten Gelegenheiten, mit allen Freunden und Studienkollegen zusammenzukommen.

Elly ahnte noch nicht, dass zwei Dinge geschehen würden, die auf ihre eigene Art und Weise die Party unvergesslich machen würden. Das eine Ereignis betraf Simon und Anja. Anja würdigte Simon den ganzen Abend über kaum eines Blickes, sondern widmete sich ausgiebig Steffis Bruder. Alexander promovierte gerade in Kunstgeschichte und hatte sich bereits jetzt in der Forschung einen Namen gemacht. Simon schaute etwas konsterniert und schien zunächst nicht zu wissen, wohin mit sich. Steffi und Elly hatten zwar ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, was ihre Schadenfreude hinsichtlich Anjas fehlender Aufmerksamkeit für ihren Vorgesetzten betraf, aber sie hofften, dass Simon nun endlich aufwachen würde. Eine zweite Sache, die Elly nicht vergessen sollte, ereignete sich auf ihrem Heimweg. Sie war allerdings nicht so folgenreich und wurde auch nicht bildlich dokumentiert wie das, was bei Steffi ein paar Monate später geschehen sollte.

Paris

BIST DU IMMER NOCH UNTER DER WOCHE IN PARIS?

JA, DAS FORSCHUNGSSTIPENDIUM GEHT NOCH BIS DEZEMBER. ICH HOFFE AUF EINE VERLÄNGERUNG. GERADE SITZE ICH IM KELLER DES INSTITUTS, WÄHREND DRAUßEN DIE SONNE SCHEINT UND ICH LIEBER IM JARDIN DU LUXEMBOURG WÄRE.

Simon klang nicht gerade erfreut darüber, dass er arbeiten musste, anstatt den Sommer zu genießen.

ICH FAHRE IN ZWEI WOCHEN VOM VERLAG AUS ZU EINER TAGUNG ÜBER WESTEURO-PÄISCHE LITERATUR NACH PARIS. GEHEN WIR MAL WAS ESSEN, WENN ICH DA BIN?

Ellys Finger fingen beim Tippen plötzlich an zu zittern und ihr Herz schlug schneller als sonst. Seit wann machte sie eine Geschäftsreise nervös? Vielleicht, weil von ihrem Schulfranzösisch nur noch einige spärliche Grundkenntnisse übrig geblieben waren und sie sich ganz und gar nicht sicher war, ob sie überhaupt mit den anderen Teilnehmern der Tagung würde kommunizieren können. Eigentlich verunsicherte sie schon der Gedanke, dass die Vorträge überwiegend in Englisch sein würden. Ihre Englischkenntnisse waren zwar mehr als gut, aber würden diese für den Besuch einer Fachkonferenz reichen? Die Liste der Teilnehmer wies leider eine große Zahl an französischen Gästen auf. Sie hoffte inständig, dass sich nur wenige Kommunikationsmöglichkeiten ergeben würden. Und wenn doch, dass ihre Kollegin Zoé vom französischen Tochterunternehmen die Unterhaltung an sich reißen würde.

Ellys Tochter riss sie abrupt aus ihren Gedanken. „Was machst du da?“

Vor Schreck nahm Elly die Füße vom Tisch, brachte sich in eine aufrechte Position und klappte den Laptop zu, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Wahrscheinlich lief sie auch noch rot an, was Emily zum Glück noch nicht bemerkte.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich bald ein paar Tage verreise und du mit Papa allein bist. Dafür habe ich noch was nachgeschaut.“ Emily kannte Simon doch. Wieso machte sie jetzt so ein Geheimnis aus ihrem Chat mit ihm?

Sie brauchte dringend noch etwas zum Anziehen für die Reise. Ein neues Abendkleid wäre auch nicht schlecht. Bei Mariano’s war gerade ZwanzigProzent-Aktion. Sie könnte morgen nach der Arbeit schnell vorbei. Emily würde sowieso von Leonie, ihrer Babysitterin, abgeholt werden.

„Mami!“ Ihre Tochter musste sie wiederholt aus ihren Gedanken reißen.

„Ja?“

„Ich will auch verreisen.“ Emily sah sie fordernd mit ihren großen blauen Kulleraugen an.

„Nein, Schatz, das geht nicht. Du wirst ganz viel mit Papa und Leonie spielen. Wir fahren aber dieses Jahr noch ans Meer zum Baden. Alle zusammen. Dann bauen wir wieder eine Sandburg.“

„Eine ganz große“, jubelte Ellys kleiner blonder Schatz. Sie fragte sich immer wieder, woher sie diese Haarfarbe nur hatte. Ihr Vater hatte kohlrabenschwarzes Haar und braune Augen.

„He, Mami“, zupfte Emily sie ungeduldig am Pullover. „Kommst du mit raus?“

„Ja, klar.“ Sie kehrte in die Realität zurück und widmete sich ihren mütterlichen Spielpflichten.

Nachdem sie ein paarmal Emily den Ball zugeworfen und ihn zweimal aus Nachbars Garten geholt hatte, waren ihre Gedanken bereits zurück in ihrem Kleiderschrank. Jeans und T-Shirt würden reichen, um sich im allgemeinen Touristenrummel zu bewegen. Sie glaubte jedoch kaum, dass sie nach mehreren Stunden auf der Tagung noch Lust auf Kultur haben würde. Sosehr sie sich freute, Paris wiederzusehen, fragte sie sich, warum diese verdammte Tagung nicht in Deutschland sein konnte. Ihr graute davor, mit den vorhandenen Sprachkenntnissen zu versagen. Die Chefetage würde einen Bericht erwarten und Elly glaubte kaum, dass Zoé diesen schreiben würde. Als eine andere Kollegin aus der Redaktion für Literatur aus dem westeuropäischen Raum gefragt hatte, ob Elly sie vertreten würde, hatte sie spontan Ja gesagt. Nun fragte sie sich ernsthaft, wie blöd sie in dem Moment gewesen war. Sie hatte nur Paris gehört und überhaupt nicht daran gedacht, dass es gewisse Probleme geben könnte mit ihren „Grundkenntnissen“. Was hatte sie, auf Politik und Geschichte spezialisiert, dort zu suchen? Außerdem konnte sie Zoé, die sie einmal bei einer Weihnachtsfeier in Stuttgart kennengelernt hatte, gar nicht leiden.

Ihr Hosenanzug war veraltet. Sie musste sich dringend einen neuen zulegen. Und ein Kleid für das Abendessen am Ende der Tagung und für das mit Simon. Ihr fiel ein, dass sie nachher unbedingt noch einmal an den Laptop musste, um Simon den plötzlichen Kontaktabbruch zu erklären. Dann hörte sie hinter sich das Gartentor quietschen und erkannte in den Augen ihrer Tochter, dass ihr Mann nach Hause gekommen war. Stefan sah an ihr vorbei und begrüßte Emily überschwänglich. Elly warf den Ball etwas zu hart nach ihm und ging wortlos nach drinnen an ihren Computer.

LISTEN: The Piano Guys Just the Way You Are

Elly betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden. Das neue kleine Schwarze stand ihr richtig gut. Die Pumps waren hoch, aber bequem genug, um den ganzen Abend darin laufen zu können. Ein bisschen Make-up, die braunen Locken mit Haarspray gebändigt. Nun noch das Tuch und die Handtasche. Das Handy steckte sie ausgeschaltet hinein. Sie eilte die Treppen hinab, hinaus aus dem Hotel und weiter hinunter zur Metro. Ausstieg Louvre.

Als Elly den Innenhof des Museums betrat, stand Simon auf der in den Boden ragenden Glaspyramide. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und blickte in die Tiefe wie Robert Langdon. Ob der Sarkophag Maria Magdalenas wirklich da unten lag? Elly glaubte es nicht – sicher hatte mittlerweile auch schon jemand nachgesehen und an Verschwörungstheorien à la Dan Brown glaubte sie schon gar nicht –, aber beschwören hätte sie es trotzdem nicht wollen. Sie fand es schön, wenn es im Leben noch ein paar Mysterien gab, Dinge, die man nicht erklären, die vielleicht doch sein konnten. Ein bisschen Hoffnung, dass es mehr gab, als man tatsächlich sah. Geheimnisse, die die Geschichte nicht preisgab. Mehr als die schnöde Realität.

Ein bisschen mehr war eigentlich schon jener Augenblick. Niemand außer ihnen beiden war hier. Nur sie und die ehrwürdigen Mauern neben den Pyramiden aus Glas und Stahl. Keine Menschenseele tummelte sich an diesem Abend an einem der sonst meistbesuchten Orte von Paris.

Elly näherte sich Simon. „Ich hoffe, du fällst jetzt nicht noch auf die Knie wie der Professor!“

Simon drehte sich um und lachte. Er wusste sofort, von wem sie sprach, obwohl er Ellys Vorliebe für The Da Vinci Code – Sakrileg keineswegs teilte und ihr nach dem gemeinsamen Kinobesuch sofort sämtliche im Film aufgestellten Behauptungen widerlegt hatte. „Nein, meine Religiosität hält sich in Grenzen, wie du weißt.“

„Bis zu jenem Tag war Professor Langdon auch ein Zweifler. Man weiß ja nie.“

Sie umarmten sich.

„Gut siehst du aus“, sagte Simon bewundernd, indem er Ellys rechte Hand nahm, sie in die Luft hob und ihr zu verstehen gab, sich einmal um sich selbst zu drehen. Sie wurde rot und war froh, dass die Dunkelheit es verbarg.

„Du aber auch.“ Es war ungewohnt, Simon in Anzug und Hemd zu sehen. „Fordert das Forschungsinstitut Schlips und Kragen?“

Das Pariser Forschungsinstitut für mitteleuropäische Geschichte hatte weltweit einen sehr guten Ruf und war eine der begehrtesten Einrichtungen für Praktika, Stipendiat oder Forschungsstelle eines Historikers. Elly selbst hatte sich nie dafür beworben, da ihr früh klargeworden war, dass sie das wissenschaftliche Arbeiten nie hauptberuflich würde betreiben wollen.

„Nein.“ Simon lächelte verschwörerisch. „Nur für dich.“

Sie wurde kurz verlegen.

„Was hast du geplant? Sag nicht, dass wir in die Oper gehen.“

„Nein.“

Damit machten sie sich auf den Weg.

So wortkarg und geheimnisvoll kannte sie Simon gar nicht. „Nein? Alles nein heute? Wo gehen wir hin?“

Simon verriet nichts. Stattdessen erzählte er vom Absturz des Computersystems im Institut, plauderte über seinen Doktoranten an der Universität Basel und fragte nach der Tagung.

Elly erzählte ihm, dass sie zwar der Eröffnungsrede und den beiden Vorträgen hatte folgen können, aber die meisten Teilnehmer sich in den Pausen dann doch auf Französisch oder Spanisch unterhalten hätten. Sie hatte wenig verstanden und in Gesprächsrunden meist nur wissend gelächelt. Dabei hatte sie inständig gehofft, ihre Zustimmung nicht zu den abstrusesten Meinungsäußerungen gegeben zu haben. Beim Mittagessen hatte Zoé ihr vorgeschwärmt, wie viel sie bereits an Kontaktdaten ausgetauscht hatte.

„Schlechter Tag also?“

„Ja. Aber ich habe zurück zum Hotel einen Umweg über den Montmartre gemacht. Dann ging es mir wieder besser. Die schönen Bilder und die Aussicht haben mich für den miesen Start der Woche entschädigt.“

„Die Aussicht mag nicht schlecht sein, aber ich habe heute eine noch schönere für dich.“ Mit diesen Worten blieb Simon stehen und blickte nach oben.

Sie standen vor dem Tour Montparnasse. Ihr Begleiter hielt ihr die Tür auf. Während die Erinnerungen in ihr aufflackerten, gingen sie zum Fahrstuhl.

„Etage?“, fragte sie mit dem Finger über der Tastatur schwebend.

„Sechsundfünfzigste, bitte.“

Der Fahrstuhl trug sie beide in wenigen Sekunden weit über die Dächer von Paris. Von der sechsundfünfzigsten bis zur neunundfünfzigsten Etage mussten sie die Treppe nehmen. Anschließend bot sich ihnen eine Aussicht wunderbarer als noch zwölf Jahre zuvor. Elly lehnte sich an das Geländer und vor ihr breitete sich ein Meer aus Lichtern aus. Der Eiffelturm glitzerte und funkelte. Der Lärm der Straße drang nur noch gedämpft bis hierherauf. Wo waren heute nur all die Touristen geblieben? Nur ein paar vereinzelte Personen hatten sich auf die Terrasse verirrt.

Es schien eine warme Julinacht zu werden. Selbst hier oben wehte nur ein laues Lüftchen. Elly sog die Luft ein und schloss für einen Moment die Augen. Die Anstrengung des Tages fiel von ihr ab. Der Stress der letzten Wochen verschwand.

„Kommst du noch oft hierher?“ Elly konnte sich erinnern, dass Simon einmal erwähnt hatte, dass er während seiner Studienzeit an der Sorbonne gerne ein Glas Champagner mit guter Aussicht genossen hatte.

„Nicht bei den Eintrittspreisen. Da wird das Glas Champagner ungenießbar.“

„Und heute?“ Sie schaute aus dem Augenwinkel zu Simon.

Dieser lächelte. „Ich muss gestehen, dass ich die Karten von einem Kollegen habe. Seine neue Freundin arbeitet im Restaurant. Und ich fand es eine schöne Gelegenheit, da wir damals auch hier oben waren.“

Damals war es der letzte Abend ihrer Studienreise gewesen. Wehmütig hatten sie alle am Geländer gestanden und sich von Paris verabschiedet. Die Erschöpfung nach dem relativ vollen Programm der Reise war ihnen anzusehen gewesen. Sie waren geschafft, aber die Stadt hatte sie so in ihren Bann gezogen, dass keiner so recht am nächsten Morgen nach Hause hatte fahren wollen. Anja und Elly hatten im folgenden Semester Abschlussprüfungen erwartet. Gern wären sie diesem Gedanken noch eine Weile entflohen. Doch was kam danach? Für Anja hatte bereits festgestanden, dass sie promovieren würde. Elly hingegen hatte gerne ihre Redakteurstätigkeit, der sie bei der Uni-Gazette nachgegangen war, fortsetzen wollen. Allerdings nicht bei einer Tageszeitung, sondern in einem Fachverlag. Doch die Aussichten, dort einen Job zu bekommen, waren gering gewesen. Vor allem hatte sie nicht damit gerechnet, dass es sie in den Süden der Republik verschlagen würde.

Was sie wohl in der kommenden Woche noch erwarten würde? Werde ich am Ende wieder ein wenig traurig hier stehen?, dachte sie und seufzte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, legte Simon ihr seinen Arm um die Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: „Die Woche fängt erst an. Lass uns etwas essen.“

Elly spürte seinen Atem an ihrer Wange und bekam eine leichte Gänsehaut. Seine warmen Hände lagen auf ihren Schultern, während er sie zum Aufzug dirigierte.

„Wohin gehen wir?“

„Ins Ciel.“

„Was? So schick?“ Sie konnte es kaum glauben. Das Ciel lag im sechsundfünfzigsten Stock und war berühmt für seine Köstlichkeiten inklusive atemberaubenden Ausblicks.

„Wenn du schon einmal zu Besuch bist, für dich nur das Beste.“

Elly schlang einen Arm um Simons Bauch und drückte ihn kurz. Dabei fühlte sie sich plötzlich unheimlich wohl. Sie machte sich keine Sorgen mehr über die kommenden Tage.

Simon hatte sogar einen Fensterplatz reserviert. Mit Blick auf den Eiffelturm. Der Mann machte sie sprachlos. Was konnte er erst Gina bieten, wenn er sich für sie schon so ins Zeug legte? Warum eigentlich?

In akzentfreiem Französisch bestellte er eine Flasche Wein und für sie ein Soufflé de chèvre. Sie schaute Simon erstaunt an, weil er nicht nur genau die Sorte Wein aussuchte, die sie am liebsten mochte, sondern sich auch zu erinnern schien, dass sie eine Schwäche für Ziegenkäse hatte. Der Mann wollte sie echt verwöhnen.

Ihr fiel auf, dass sich in seinem dunklen, leicht gewellten Haar schon so einige graue Strähnen befanden. Und sie musste feststellen, dass diese Tatsache Männer wirklich noch attraktiver machte. Sie lächelte vor sich hin.

„Was gibt es zu lachen?“ Simon schaute sie an.

Elly merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Je röter sie wurde, desto interessierter schaute ihr Gegenüber. Sein amüsierter Blick über den Rand seiner Brille hinweg machte es nicht besser.

„Sollte ich nicht wissen, über was du an mir lachst?“

Sie räusperte sich. „Ich finde es lustig, dass du schon graue Haare bekommst.“

„Das findest du lustig? Ich finde es erschreckend.“ Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Das erklärt aber nicht deine Röte.“

Herrgott, Deern, fluchte sie innerlich. Musst du dir deine Gedanken auch immer ansehen lassen!

Laut sagte sie, ohne Simon anzusehen: „Ich habe überlegt, dass Männer im Alter mit grauen Haaren scheinbar wirklich attraktiver werden.“ Themenwechsel. „Kommst du mit deiner Forschung voran? Hast du die Urkunde gefunden, von der du letztens erzählt hast?“

LISTEN: The Piano Guys Can’t Help Falling in Love

Simon war sichtlich irritiert. „Äh, nein, ja, also, ich weiß jetzt zumindest, dass sie nicht in Paris liegt, sondern in einem Privatarchiv in der Provence. Wie sie dahin gekommen ist, kann ich noch nicht sagen.“

Ihm schien Ellys neues Thema nicht zu gefallen. „Was macht dein Italienisch?“

„Gute Frage, nächste Frage, bitte“, antwortete sie völlig uninteressiert, konnte dabei aber nicht völlig ernst bleiben. Denn irgendwie war es schon peinlich, dass sie nach zwei Jahren immer noch bei Lektion drei war.

„Lektion drei?“

„Ja. Ich bin nun mal nicht so ein Genie wie du“, gab sie schmollend zurück. Die Tatsache, dass Simon neben Französisch und Italienisch fließend Latein sprach, gab ihr immer noch Rätsel auf. Sein verhandlungssicheres Englisch hatte sie dabei bereits unter „selbstverständlich“ abgelegt.

„Soll ich dir per Fernkurs helfen?“

Diese Vorstellung gefiel ihr sehr. „Sehr gerne.“ Warum Simon und nicht seine italienischstämmige Frau, hinterfragte sie nicht.

Dann kam ihr Essen. Während Elly sich das Soufflé auf der Zunge zergehen ließ, schaute sie aus dem Fenster über die Dächer von Paris. Sie fragte sich, warum sie so lange nicht hier gewesen war. Der Urlaub in der Normandie war nichts dagegen gewesen. Sie liebte das Meer und die raue Seeluft. Doch diese Stadt mit ihrer Mischung aus historischen Gebäuden und moderner Architektur, aus Geschäftigkeit und Laisser-faire berührte sie.

Can’t help falling in love. An dem Flügel, der mitten im Raum auf einem Podest stand, hatte ein junger Mann Platz genommen und begleitete ihre Gedanken mit seinen Melodien. So viel Kitsch brachte sie beinahe zum Weinen. Doch konnte man in Paris überhaupt genug davon bekommen?

„Besser als Oper?“, riss Simon sie aus ihren Träumen.

„Ja, ganz bestimmt.“

Simon ging gerne ins Theater und seit er Gina kannte, auch regelmäßig in die Oper. Ersteres mochte Elly ebenfalls recht gern, doch Opernaufführungen blieben ihr fremd. Sie hatte es in Hamburg mehrmals versucht, doch den Zugang nie wirklich gefunden. Was höchstwahrscheinlich daran lag, dass sie beim Thema Kunst und Kultur in gewisser Hinsicht altmodisch war. Ihr stellten sich bei der Vorstellung, Papageno mit E-Gitarre über die Bühne rennen zu sehen, die Nackenhaare auf. Simon hingegen konnte sich durchaus für die meist modernen Inszenierungen alter Klassiker begeistern.

„La Bohème wird gerade gespielt.“ Simon sah sie herausfordernd an.

„Puccini würde sich im Grabe herumdrehen?“, fragte sie, die Antwort ahnend.

Simon senkte den Kopf und stöhnte leicht. „Das kannst du gar nicht wissen. Ich glaube, es würde ihn umhauen.“ Er verteidigte sich lebhaft.

„Eben“, grinste sie.

„Ach, du Kulturbanausin! Du solltest es dir ansehen, bevor du ein Urteil fällst. Lass uns hingehen!“

„Nee.“ Elly stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte die Hände und legte ihr Kinn darauf. Dann schaute sie ihn mit ihrem schönsten Lächeln und klimpernden Wimpern an.

Simon musste wieder lachen. „Es ist doch zum Verrücktwerden mit dir.“ Er schüttelte den Kopf und schaute erneut über den Rand seiner Brille hinweg.

„Siehst du eigentlich durch deine Gläser nichts?“ Sie hatte eindeutig schon zu viel Wein.

„Da biete ich dir das hier“, er holte weit mit den Armen aus und gab sich beleidigt, „und du wirst frech.“

„Du bist ein schlechter Schauspieler“, sagte sie trocken. „Ich sehe dir ganz deutlich an, dass du kaum ernst bleiben kannst.“

„Deine Unschuldsmiene zeugt auch nicht gerade von solch hoher Kunst.“

LISTEN: The Piano Guys (Jon Schmidt) All of Me

Als sie beide losprusteten, kam der Kellner und brachte zwei Gläser Champagner. Der Pianist gab gerade All of me von Jon Schmidt zum Besten. Elly sah einen der anderen Kellner, wie er zum Klavier hastete und dem jungen Mann zu verstehen gab, dass er ein bisschen weniger in die Tasten hauen sollte.

„Schade, ich mag das Lied.“

Simon erhob sein Glas. „Auf Paris.“

„Auf Paris und den wunderbaren Abend.“

Elly beobachtete Simon, wie er das Glas an die Lippen setzte, und erinnerte sich daran, dass sie diese Lippen schon einmal geküsst hatte. Vor langer Zeit.

Der Heimweg von ihrer Geburtstagsparty auf der Alster hatte sie durch die Colonnaden geführt, wo Simon plötzlich zwischen zwei Rundbögen ihre Hand genommen hatte und stehen geblieben war. Elly hatte ihn erstaunt angesehen. Er hatte seine Brille abgenommen, gesagt, was für ein schöner Abend das gewesen war, und sie geküsst. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Sie hatte die Augen geschlossen, seine Hand gedrückt und seine weichen Lippen auf den ihren gespürt. Bis eine Gruppe grölender Jugendlicher aufgetaucht war. Sie waren erschrocken auseinandergefahren. Simon hatte ein „Entschuldigung“ gemurmelt und sie nach Hause gebracht.

Als sie sich am Tag darauf in der Mensa getroffen hatten, waren sie beide etwas verlegen gewesen. Simon hatte ganz gegen seine Art unsicher mit dem Fuß Kreise auf dem Boden gezogen, war sich durch das Haar gefahren und hatte zur Decke geschaut, als er sagte: „Tut mir leid wegen gestern. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“

Elly hatte ihm mit den Händen in den Hosentaschen gegenübergestanden und ebenso wenig gewagt, ihn direkt anzusehen. „Schon gut. Wir haben alle eindeutig zu viel getrunken.“

Nach einigen peinlichen Schweigesekunden hatten sie sich jeder ein Tablett genommen.

Erst jetzt merkte sie, wie wundervoll der Kuss sich angefühlt hatte. Jede Sekunde davon hätte sie noch heute beschreiben können. Er war so völlig unerwartet gekommen und hatte sich doch so vertraut angefühlt. Warum, konnte sie nicht erklären. Damals war irgendwann der Gedanke aufgekommen, doch nur der Trostpreis des Abends gewesen zu sein, was dem Kuss einen negativen Beigeschmack verliehen hatte. Gina war nicht da gewesen und Anja hatte Simon ignoriert oder zumindest ihm ihre Aufmerksamkeit entzogen.

„Woran denkst du?“

„Nichts. Ich habe der Musik gelauscht.“ Elly faltete hastig mit gesenktem Kopf die Serviette auf ihrem Schoß zusammen, da sie merkte, wie ihr das Blut erneut in die Wangen geschossen war. Sie hatten nie wieder über den Kuss geredet.

„Wollen wir gehen?“

„Ja.“

„Wirklich?“

Nein, eigentlich wollte Elly dem Pianisten noch ein wenig lauschen. Sie liebte den Klang eines Klaviers, konnte sich regelrecht in der Musik verlieren. Stundenlang hätte sie ihm zuhören können, ohne das wahrzunehmen, was um sie herum geschah.

„Ich bin wegen dir hier, nicht wegen dem Klavier. Auch wenn es schwerfällt“, lächelte sie. „Komm.“

Sie standen auf, Simon nahm galant ihr Tuch und hängte es ihr um die Schultern. Seinen Arm ließ er gleich darauf liegen. Es fühlte sich ganz selbstverständlich an und tat ihr fast leid, als er ihn im Aufzug wieder sinken ließ. Vor dem Eingang des Tour Montparnasse schaute sie ein letztes Mal empor.

„Schade“, seufzte sie.

„Ach, Deern“, sagte Simon. Elly konnte sich nicht mehr daran erinnern, seit wann er sie so nannte, aber sie hatte sich von jeher geschmeichelt gefühlt, da er nur sie so bezeichnete. Er legte den Arm wieder um ihre Schultern und drückte sie kurz an sich. Ihr wurde flau im Magen. Sie fing an, sich zu fragen, ob ihr in den letzten Stunden etwas Wesentliches entgangen war. Was passierte hier?

„Wenn du so gerne die Aussicht genießt, habe ich noch eine andere Idee. Metro oder laufen?“

„Metro“, sagte sie unsicher.

LISTEN: Giovanni Allevi Loving You

Elly ahnte ihr Ziel, als sie in die M6 stiegen. Place du Trocadéro, der beste Platz für ein Foto.

Oder auch nicht, dachte sie zwanzig Minuten später. Sie stiegen bereits an der Station Bir-Hakeim aus und gingen direkt auf den Eiffelturm zu. Sie fragte nicht mehr. Sie ließ sich führen. Wenn Simons Ideen für den weiteren Abend ebenso grandios waren wie bisher, konnte es nur wundervoll werden. Dieser ganze Abend besaß einen Zauber, den sie kaum zu beschreiben vermochte. Sie wagte es kaum zu denken und verscheuchte den Gedanken auch gleich wieder, aber die Romantik in der Luft entsprach nicht der Art von Verabredung, die es hätte werden sollen.

Sie setzten sich auf eine Bank und genossen eine Aussicht ganz anderer Art – nach oben. Der Eiffelturm leuchtete fast über ihnen. Elly musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitze zu erkennen. Es glitzerte und funkelte und sie versuchte vergeblich, all die Lichter zu zählen. Als hätten sie ihren eigenen, ganz besonderen Nachthimmel voller Sterne, die aufblinkten, erloschen und erneut für sie strahlten. Wäre plötzlich eine Sternschnuppe vorbeigeflogen, hätte sie sich die Ewigkeit für diesen Moment gewünscht. Nichts erschien mehr wichtig, nur das Hier und Jetzt. Diese Bank, diese Nacht mit einem wie Diamanten funkelnden Firmament. Und Simons Schulter, an die sie ihren Kopf legte.

Simon beendete irgendwann die gefühlte Ewigkeit und führte sie Richtung Metro. Als er seinen Arm von ihren Schultern nehmen wollte, griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest. Er streichelte ihre Schulter und gab ihr einen Kuss auf ihr Haar. Kein Wort hatten sie gesprochen, seit sie am Eiffelturm angekommen waren.

Sie stiegen einmal um. Den Rest des Weges gingen sie eingehakt zu Fuß, ein jeder in seine Gedanken vertieft. Elly bemerkte, dass Simon sie manchmal von der Seite ansah, getraute sich aber nicht, den Kopf zu wenden. Einerseits fragte sie sich, warum er das tat. Andererseits wollte sie die Frage nicht beantworten, weil sie tief in sich drin ein Glücksgefühl verspürte, welches sie nicht deuten konnte, das sie nur genießen und vor allem nicht durch Nachdenken zerstören wollte.

In den kleinen Straßen brannte in manchem Fenster noch Licht. Zu hören war im Hintergrund nur der allgemeine Lärm der Großstadt. Dann bogen sie in eine lange Allee ein, gesäumt von sehr alten Lindenbäumen, die bestimmt bereits eine Menge Menschen unter ihrem Dach hatten wandeln sehen. Auch solch einsame Nachtwandler wie sie beide. Wenn Elly nach oben schaute, konnte sie zwischen dem Blätterdach nur Schwarz erkennen. Es machte sie ein wenig traurig, dass sie ihren persönlichen Sternenhimmel hatte verlassen müssen. Sie nahm sich vor, ihn sich noch einmal anzusehen, bevor sie abreiste. Vielleicht würde Simon sie ja begleiten?

Als sie sich einem Haus näherten, vor dem ein kleiner Springbrunnen vor sich hinplätscherte, wurde Simon langsamer. Während Elly schlagartig bewusst wurde, dass das nicht ihr Hotel war. Sie ließ Simon los und drehte sich zu ihm. Sie wollte etwas sagen, doch sie wusste plötzlich nicht mehr was.