Passion und Vernichtung - Dagmar Pöpping - E-Book

Passion und Vernichtung E-Book

Dagmar Pöpping

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Beschreibung

Im Juni 1941 überschritten mehr als drei Millionen deutsche Soldaten die Grenze zur Sowjetunion und begannen einen Krieg, der als erklärter Rassen- und Vernichtungskrieg geführt wurde. Am Ende dieses Krieges hatten ca. 18 Millionen sowjetische Zivilisten, über 8 Millionen Soldaten der Roten Armee fast 3 Millionen deutsche Soldaten ihr Leben verloren. Inmitten des Infernos von massenhaftem Mord und tausendfachem Sterben verkündeten Wehrmachtgeistliche beider christlicher Konfessionen im Auftrag des NS-Staates die »Frohe Botschaft«. Wie gingen diese Geistlichen damit um, dass sie sich in einem Vernichtungskrieg befanden? Was sagten sie sich und anderen, als sie Zeugen von Morden an Juden und Kriegsgefangenen wurden? Und wie kommentierten sie den Tod der eigenen Soldaten? Antworten auf diese Fragen finden sich in unveröffentlichten Tagebüchern, Briefen und Berichten, die von Dagmar Pöpping in zahlreichen Archiven gefunden und ausgewertet wurden.

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Dagmar Pöpping

Passion undVernichtung

Kriegspfarrer an der Ostfront 1941–1945

Mit 20 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13,D-37073 GöttingenAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagfoto: Schitomyr (Ukraine): zerstörtes Kriegsgerät, im Hintergrunddie russisch-orthodoxe Verklärungskathedrale, 13.12.1943 © ullstein bild

Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-90148-0

Inhalt

Vorwort

1.Einleitung

2.Das Erbe der Tradition

3.Der Ostkrieg

4.Die Missionierung der Kirchenfernen

5.Der Beruf des Kriegspfarrers

6.Das Schaf im Wolfspelz

7.Die Netzwerke der Kriegspfarrer

8.Die Arbeit an der Grenze des Todes

9.Die Verklärung des Todes

10.Der Ostkrieg als Bildungsreise

11.Die Spuren des Christentums

12.Die Vernichtung der Seelenlosen

13.Das Ende der Hoffnung

14.Der Sieg des Christentums

15.Schluss

Abkürzungen

Ausgewählte Literatur

Biogramme

Anmerkungen

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die gekürzte und überarbeitete Fassung des Buches „Kriegspfarrer an der Ostfront“, das 2017 erschienen ist. Sie entstand auf Vorschlag des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht, der damit der großen Resonanz, die das Buch nach seinem Erscheinen erfahren hat, Rechnung tragen will.

Diese Resonanz verdankt sich dem heute weit verbreiteten Gefühl, dass das Wirken von deutschen Geistlichen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ein moralischer Skandal ohnegleichen war, der nicht zuletzt den Wert der christlichen Religion selbst infrage stellt.

Das Buch ist der Versuch, das Selbstverständnis der deutschen Militärgeistlichen zu analysieren, die an der Ostfront wirkten und Zeugen der Verbrechen von SS und Wehrmacht wurden. Dahinter steht das Interesse, die Beweggründe hinter dem Denken und Handeln dieser Geistlichen offen zu legen, was selbstverständlich nicht gleichbedeutend mit Gutheißen ist.

Der Darstellungsteil lässt deshalb vor allem die Geistlichen selbst in ihren autobiographischen Zeugnissen (Briefe, Tagebücher usw.) zu Wort kommen. Biografische Informationen der hier erwähnten Kriegs- und Wehrmachtpfarrer sowie der wichtigsten Tagebuchschreiber finden sich in den Biogrammen am Ende des Buches.

Auf den wissenschaftlichen Anspruch wurde auch in dieser Ausgabe nicht verzichtet; dementsprechend sind alle Zitate und die wichtigsten Belege der Darstellung in den Endnoten nachgewiesen.

Danke an die Gerda-Henkel-Stiftung und die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte für die großzügige Unterstützung meiner Forschungen, auf denen dieses Buch basiert. Stellvertretend für alle Archivare, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, danke ich Michael Bing, Wolfgang Stetter, Dr. Gotthard Klein, Dr. Markus Seemann sowie Stephan Kühmayer. Danke an Kai-Uwe Thyret, der mir bei den Archivrecherchen half und an Prof. Dr. Manfred Gailus für seine Kritik und Korrekturen. Dr. Irmfried Garbe und Dr. Edith Rudolph machten mir die Kriegstagebücher von Hermann Wolfgang Beyer und Johannes Rudolph aus ihrem Privatbesitz zugänglich. Dafür danke ich ihnen von Herzen.

Dankbar bin ich meinem Freund und Förderer Hans Mommsen (1930–2015), der sich bis zuletzt so kraftvoll für mich eingesetzt hat.

Der größte Dank aber gilt Michael Grüttner für seine unbeirrbare Zuwendung. Ohne ihn wären die „Kriegspfarrer“ nur ein Projekt geblieben.

1.Einleitung

In der Nacht zum 22. Juni 1941 überschritten 3,3 Millionen Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze zur Sowjetunion und begannen einen Krieg, der als erklärter Rasse- und Vernichtungskrieg in die Geschichte einging. Am Ende dieses Krieges hatten ca. 18 Millionen sowjetische Zivilisten, 8,7 Millionen Soldaten der Roten Armee und 2,7 Millionen deutsche Soldaten ihr Leben verloren. Inmitten des Infernos von massenhaftem Mord und millionenfachem Sterben arbeiteten Geistliche beider Konfessionen und verkündeten den deutschen Soldaten im staatlichen Auftrag die christliche Botschaft.

Die Teilnahme von evangelischen und katholischen Geistlichen am deutschen Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war lange ein Randthema der historischen Forschung. Erst nachdem eine Generation von Historikern, die von der Holocaustforschung geprägt wurde, das Thema aufgriff, erfreut es sich größerer Aufmerksamkeit. Allein die Teilnahme von Kriegspfarrern am Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion erscheint den Forschern heute als moralischer Skandal ohnegleichen, der nach Erklärungen verlangt. Wie war es möglich, dass Geistliche an einem zutiefst unmoralischen Krieg teilnahmen und wie ließ sich dieser offen genozidale Krieg für die Geistlichen z. B. mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe vereinbaren?

Neu ist diese Frage nicht. Sie bewegte bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die deutsche Öffentlichkeit. Spätestens in den 1960er Jahren gerieten ehemalige Funktionäre der Wehrmachtseelsorge in die Defensive gegenüber einer Gesellschaft, die sie zunehmend als „Nazi-Funktionäre“ wahrnahm.

Die Argumente von Verteidigern der Wehrmachtseelsorge und ihren Angreifern sind indes immer noch dieselben, doch heute finden sie sich kaum noch in der Tagespresse, sondern in der historischen Forschung. Immer noch stehen sich Vertreter einer kirchenfernen Öffentlichkeit auf der einen und Vertreter einer kirchennahen Position auf der anderen Seite gegenüber. Während die Profanhistoriker schon die bloße Anwesenheit von Geistlichen im Rasse- und Vernichtungskrieg als moralisch inakzeptabel verurteilen, heroisieren Kirchenhistoriker teilweise bis heute die Rolle von Kriegspfarrern als Tröster und Helfer deutscher Soldaten, ja sogar als christlichen Widerstand gegen den NS-Staat. Moralische Verurteilung auf der einen, Rechtfertigung auf der anderen Seite stehen sich nach wie vor schroff und unvermittelt gegenüber, oft ohne gegenseitige Kenntnis voneinander.

Die konträren Urteile gründen auf unterschiedliche Blickrichtungen: Die einen blicken auf die Millionen Opfer der deutschen Wehrmacht. Die anderen sehen vor allem auf die Opfer unter den deutschen Soldaten, die Trost, Hilfe und Mut von den Geistlichen bekamen oder von diesen beerdigt und betrauert wurden.

Wer den Fokus allein auf die Rolle der Kriegspfarrer als Seelsorger, Tröster und Helfer legt, redet meistens nicht über den staatlichen Auftrag der Kriegspfarrer im politischen Kontext des Nationalsozialismus. Wer allein auf die Funktion der Kriegspfarrer innerhalb des nationalsozialistischen Krieges sieht, hat in der Regel wenig zu sagen über die subjektiven Motivationen und Wahrnehmungen dieser Geistlichen.

Die folgende Studie ist bestrebt, die Funktion der Militärgeistlichen im Kontext des Nationalsozialismus nicht aus dem Blick zu verlieren. Eine ausschließlich moralische Beurteilung der christlichen Akteure wird allerdings vermieden. Mentalitäten, Intentionen und das subjektive Erleben der Kriegs- und Wehrmachtpfarrer sollen angemessen berücksichtigt werden. Erst wenn sich nachvollziehen lässt, wie christliche Moral in der konkreten historischen Situation des Krieges gegen die Sowjetunion von den Geistlichen selbst verstanden wurde, eröffnet sich ein Horizont, vor dem das Zusammenspiel von Christentum und Verbrechen im NS-Staat sichtbar wird.

Im Zentrum dieser Darstellung steht die Frage, warum der moralische Skandal von heute damals nicht als Skandal empfunden wurde. Wie war es möglich, dass die Kriegspfarrer, Teil des militärischen Apparates waren, der den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion betrieb, und gleichzeitig den Krieg in subjektiver Unschuld oder sogar im Bewusstsein ihrer besonderen moralischen Leistung erlebten?

Antworten auf diese Frage versprechen die von den Kriegspfarrern selbst verfassten Tagebücher, Briefe und Berichte, bis hin zu rückblickenden Darstellungen, denen sich das letzte Kapitel „Sieg des Christentums“ widmen wird. Aus heutiger Sicht erweist sich das unstillbare Bedürfnis der Kriegspfarrer, ihre Erfahrungen für die Nachwelt in Tagebüchern festzuhalten, als Glücksfall. Damit hinterließen sie einzigartige Einblicke in eine Gefühls- und Gedankenwelt, die sich in vielerlei Hinsicht von den Menschen heute unterscheidet.

Ausgewertet wurden die Tagebücher der evangelischen Kriegs- und Wehrmachtpfarrer Hans Kähler, Johannes Rudolph und Hermann Wolfgang Beyer. Der evangelische Pfarrer Gerhard Knapp, der als Sanitätssoldat in den Krieg gegen die Sowjetunion zog, vertrat nur zeitweise seinen Divisionspfarrer, hat aber ebenfalls ein umfangreiches Kriegstagebuch hinterlassen, auf das häufig zurückgegriffen wird.

Auf katholischer Seite wurden die Tagebücher von Johannes Stelzenberger, Josef Wassong, Johannes Opfermann und Theodor Loevenich ausgewertet. Von besonderem Interesse sind die Kriegstagebücher Johannes Stelzenbergers, der sich während seines Einsatzes als Divisionspfarrer an der Ostfront zwei Mal für die Lehre an der theologischen Fakultät der Universität Breslau beurlauben ließ. Seine Tagebücher sind in lateinischer Schrift und Gabelsberger Kurzschrift verfasst. Letztere benutzte er allerdings nur für politisch heikle Stellen.

Eine besondere Quelle sind die Notizen des katholischen Feldgeneralvikars Georg Werthmann. Werthmann war der eigentliche Kopf der katholischen Wehrmachtseelsorge im Krieg. Er führte die Geschäfte des Feldbischofs Franz-Justus Rarkowski, der gesundheitlich angeschlagen und kaum arbeitsfähig war.

Nach dem Krieg fiel Werthmann eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau der Militärseelsorge in der Bundesrepublik zu. Dabei konnte er sich auf ein umfassendes Archiv stützen, das im Unterschied zu den Akten der evangelischen Wehrmachtseelsorge nicht in den Kriegswirren verbrannt war. Vorausschauend hatte Werthmann bereits 1939 damit begonnen, die Dokumente der katholischen Wehrmachtseelsorge aus der Reichshauptstadt heraus zu schaffen. Diese Akten befinden sich heute im 1956 gegründeten katholischen Militärbischofsamt. Da Werthmann lange Zeit plante, selbst eine Geschichte der Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg zu schreiben – das Projekt wurde nie verwirklicht – ordnete er nach dem Krieg die über 10.000 Dokumente aus dem Feldbischofsamt neu und legte damit die Struktur seines geplanten Buches fest. Mit hoher Wahrscheinlichkeit vernichtete er Dokumente, die die Wehrmachtseelsorge in der Öffentlichkeit diskreditiert hätten. Auch sorgte er dafür, dass seine persönlichen Tagebücher nach seinem Tod vernichtet wurden.

Trotz dieser Einschränkungen ist das Archiv Werthmanns von zentraler Bedeutung, schon deshalb, weil dieser jedem Aktenkonvolut einen eigenen Kommentar voranstellte. Diese Kommentare sind längst selbst zur historischen Quelle geworden. Selbstredend sind sie nur mit hermeneutischer Distanz zu gebrauchen, sollten sie doch Teil einer geplanten Apologie der katholischen Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg werden, deren selbstbekundete Absicht das „Rehabilitieren, Retten und Hinüberretten“ der Militärseelsorge in die Zeit nach dem Krieg war. Werthmanns Sicht auf die Rolle der Wehrmachtseelsorge während des Krieges bleibt jedoch von großem Interesse, denn sie zeigt eine Perspektive, die noch unmittelbar von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geprägt war und die von der einstmals protestantischen Wehrmachtseelsorge in vielen Aspekten geteilt wurde.

Der Bestand der protestantischen Wehrmachtseelsorge ist nur noch in Rudimenten vorhanden. Die Akten der Dienststelle des Evangelischen Feldbischofs im OKH wurden bei einem Bombenangriff 1943 zum großen Teil vernichtet. Schon aufgrund dieser Differenz ist die Geschichte der katholischen Wehrmachtseelsorge im Zweiten Weltkrieg besser erforscht als die der evangelischen Wehrmachtseelsorge.

Der konfessionsübergreifende Ansatz dieser Studie ist neu und in gewisser Hinsicht ein Wagnis, denn die kirchenhistorische Forschung hat sich bislang auf die Erforschung der je eigenen Konfession konzentriert. Im Fall der Wehrmachtseelsorge ist die Beschäftigung mit nur einer Konfession allerdings problematisch, denn hier geht es zwar um Geistliche, die von ihrer Kirche geprägt waren, doch gerade in der Wehrmachtseelsorge standen diese Geistlichen im Kontext derselben militärischen Welt und derselben Ereignisse. Dieser Kontext drängte die konfessionellen Unterschiede oftmals in den Hintergrund und beförderte einen – auch in theologischer Hinsicht – gemeinsamen Umgang mit dem Krieg und seinen Herausforderungen.

Schon die Organisation der Wehrmachtseelsorge ebnete konfessionelle Unterschiede eher ein. Katholische und evangelische Wehrmachtseelsorge verfügten über dieselbe Zahl an Kriegspfarrern. Ihre Leitungen, die Feldbischofsämter im OKH, arbeiteten gedeihlich zusammen, was auch im Großen und Ganzen auf die Kriegspfarrer an der Front zutraf. Man habe in gewisser Weise eine „Vernunftehe“ geführt, doch seien diese ja bisweilen nicht die schlechtesten, schrieb der evangelische Wehrmachtdekan a. D. Siegfried Sprank rückblickend. „Wir aßen an einem Tisch, wohnten in einem Quartier, unternahmen meist im gleichen Auto dieselben Dienstreisen, verhandelten mit den militärischen Dienststellen, wenn nicht anders befohlen oder zweckmäßig, gemeinsam.“ Welche Bedeutung man im OKH der Zusammenarbeit von evangelischen und katholischen Militärgeistlichen im Krieg beimaß, zeigen die in jedem Quartal abgelieferten Seelsorge- und Tätigkeitsberichte der Geistlichen, in denen das Verhältnis zum evangelischen bzw. katholischen Kollegen einen festen Strukturpunkt bildete.

Zudem hatten katholische und evangelische Kriegspfarrer mit denselben Problemen zu kämpfen. Insbesondere die feindselige Einstellung der Machthaber gegen die Kirchen, gleichgültig, ob evangelisch oder katholisch, brachte sie in eine gemeinsame Front gegen ihre Widersacher. Vor diesem Hintergrund sprach Siegfried Sprank von einer „aus der Not geborenen Una Sancta“, d. h. einer Ökumene von katholischen und evangelischen Kriegspfarrern. Zu einem ähnlichen Urteil gelangte der einstige katholische Feldgeneralvikar Georg Werthmann nach dem Krieg:

„Katholizismus und Protestantismus standen während der nationalsozialistischen Zeit überall im gleichen politischen Raum; ihr Verhältnis war nicht mehr in der Sphäre politischer Relevanz und die aus dem früheren Verhältnis hervorgegangene ‚kulturkämpferische‘ Haltung hatte ihren Sinn verloren.“1

Die Zusammenarbeit mit der jeweils anderen Konfession war notwendig geworden, wenn man selbst überleben wollte. Bemerkenswert ist diese Nähe der Konfessionen schon deshalb, weil protestantische und katholische Geistliche vor dem Krieg kaum etwas voneinander wussten und sich eher als Antipoden begriffen, denn als gemeinsame Vertreter der christlichen Religion.

Vor dem Hintergrund dieser zum Vergleich geradezu einladenden Konstellation soll es auch um die Frage gehen, wie sich evangelische und katholische Kriegspfarrer in ihrer Sicht auf den Krieg gegen die Sowjetunion voneinander unterschieden.

Streng quantifizierende Aussagen über die Kriegserfahrungen von Geistlichen konnten nicht getroffen werden, wenn sich auch aus den vorhandenen Tagebüchern Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beurteilung des Kriegsgeschehens und der eigenen Situation abzeichnen.

Über die Wahrnehmung der Wehrmachtseelsorge durch die Soldaten lassen sich aus den zugrunde liegenden Quellen, bei denen es sich ganz überwiegend um Selbstaussagen von Kriegspfarrern handelt, kaum brauchbare Angaben machen. Messbar ist der Einfluss der Wehrmachtseelsorge auf die Masse der Soldaten nicht. Doch besonders groß kann er nicht gewesen sein. Insgesamt hatten etwa 1000 Kriegspfarrer rund zehn Millionen Soldaten zu betreuen, so dass oftmals nicht einmal die pastorale Grundversorgung sichergestellt war.

2.Das Erbe der Tradition

Im Vergleich zum Ersten Weltkrieg war die christliche Wehrmachtseelsorge im Zweiten Weltkrieg ausgesprochen gut organisiert. Mit der Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 begann auch der Ausbau der Wehrmachtseelsorge im nationalsozialistischen Deutschland, wo man sich seit 1937 auf den Mobilmachungsfall vorbereitete. Bereits Ende Januar 1939 war der Bedarf an Bewerbern für die evangelische und katholische Wehrmachtpfarrerlaufbahn fast vollständig gedeckt. Zu Kriegsbeginn gab es für jede Konfession etwa 100 hauptamtliche oder „aktive“ Wehrmachtpfarrer, die Reichsbeamte auf Lebenszeit waren und zugleich in einem militärischen Dienstverhältnis standen. Diese Geistlichen hatten sich meist lange vor dem Krieg bewusst für die militärische Laufbahn entschieden und standen dem Militär in der Regel näher als ihren zivilen Kirchenleitungen. Die nach Kriegsbeginn eingestellten etwa 300 katholischen und evangelischen Kriegspfarrer auf Kriegsdauer (a. K.) standen der militärischen Welt eher fremd gegenüber. Sie waren nur für die Dauer des Krieges als Wehrmachtbeamte eingestellt und sollten nach Kriegsende wieder in die zivile Seelsorge zurückkehren.

Dagegen waren im Ersten Weltkrieg viele Geistliche noch auf eigene Faust als „nicht-etatmäßige“ Pfarrer ins Feld gezogen, ausgestattet mit einer geringen Aufwandsentschädigung und der Billigung ihrer Kirchenleitungen. Ihre Position innerhalb der militärischen Hierarchie blieb während des gesamten Krieges ungeklärt. Häufig wurden sie als Sanitäter in Lazaretten eingesetzt, was schnell zu bitteren Klagen über „nicht standesgemäße Behandlung“ durch die Ärzte führte.2

Nicht zuletzt musste sich die Seelsorge an den Soldaten während des Ersten Weltkrieges erst aus der Praxis heraus organisieren, was schwierig war, da man weder auf die Ausdehnung der Kriegsschauplätze noch auf die Kriegsdauer vorbereitet war.

Im Zweiten Weltkrieg hatten sich die Verhältnisse geradezu umgekehrt. Der guten Organisation stand eine gegenüber dem Ersten Weltkrieg um das Vierfache reduzierte Zahl von Militärgeistlichen gegenüber. Als der Ostfeldzug 1941 begann, wurden 455 Kriegspfarrer in jeder Konfession gezählt. Insgesamt betrug die Zahl der Planstellen für Kriegspfarrer im Zweiten Weltkrieg 1342.

Anders als im Ersten Weltkrieg war die Wehrmachtseelsorge nun vollständig in die militärische Organisation integriert. Zwar waren die Feldbischöfe formal die Dienstvorgesetzten aller Pfarrer und Beamten der Wehrmachtseelsorgedienststellen. Aber innerhalb der militärischen Hierarchie unterstanden die Feldbischöfe dem Chef der Gruppe Seelsorge im OKH, dem das Allgemeine Heeresamt übergeordnet war, das wiederum dem Chef der Heeresrüstungen und Befehlshaber des Ersatzheeres untergeordnet war. Manche Geistliche wandten sich deshalb erst gar nicht an den Feldbischof, wenn sie befördert werden wollten, sondern gleich an dessen Vorgesetzten im Allgemeinen Heeresamt, von dem sie hofften, dass er den Feldbischof unter Druck setzten konnte.

Auch innerhalb der Kirchen war die Position der Feldbischöfe schwach. Sie agierten „exemt“, d. h. institutionell unabhängig von ihren Kirchen, wobei der katholische Feldbischof einer eigenen Bischofskirche mit ordentlicher Jurisdiktion über katholische Soldaten und Wehrmachtbeamte vorstand, während der evangelische Feldbischof zwar eine Sondereinrichtung innerhalb des OKH darstellte, aber keine eigenständige Kirche leitete. Die evangelischen Soldaten und Wehrmachtbeamten blieben kirchenrechtlich weiterhin an ihre Landeskirchen gebunden.

Kurz vor Kriegsbeginn gab das OKH das „Merkblatt über Feldseelsorge“ heraus, das die Aufgaben der Wehrmachtseelsorge für den Kriegsfall regelte.3 Mit dem „Merkblatt“ hatte der Staat erstmals eine Grundlage geschaffen, von der aus eine gemeinsame Regelung der Militärseelsorge für beide Konfessionen möglich war. Bezeichnenderweise war das „Merkblatt“ ohne die Beteiligung der Feldbischöfe entstanden. Es formulierte ein rein funktionalistisches Religionsverständnis, nach dem die Kriegspfarrer vor allem die Aufgabe hatten, die Kampfkraft der Soldaten zu stärken. Das „Merkblatt“ stellte sich auf den Boden religiöser Neutralität und beendete die explizit christliche Ausrichtung, die bis dahin zur „Kultur des Krieges“ in Deutschland gehört hatte.4 So war noch 1934 der Kirchenaustritt von Wehrmachtangehörigen unerwünscht gewesen und bis 1936 mussten Offiziersbewerber einer der beiden christlichen Konfessionen angehören.5

Erste Seite des „Merkblatts über Feldseelsorge“ – OKH, Berlin, 21. August 1939 (AKMB, SW 80).

Die im „Merkblatt“ verankerte Position der Wehrmachtseelsorge als „dienstlich befohlene Einrichtung der Wehrmacht“ legitimierte die Arbeit der Kriegspfarrer von staatlicher Seite. Mit Verweis auf die im „Merkblatt“ verankerte Aufgabe der „Förderung und Aufrechterhaltung der inneren Kampfkraft“ konnten die Kriegs- und Wehrmachtpfarrer selbständig und ohne große Komplikationen ihren zahlreichen Aufgaben nachkommen. Sie waren Teil der psychologischen Kriegführung und somit „wehrpsychologische Assistenten“ des Kommandeurs, wie es der Kirchenhistoriker Irmfried Garbe formuliert hat.6

Diese zentrale Rolle innerhalb der Wehrmacht schützte die Geistlichen vor Angriffen kirchenfeindlicher Kräfte aus Staat und Partei. Sie konnten sich in der Wehrmacht sicherer fühlen als in ihren zivilen Kirchen, die der politischen Verfolgung sehr viel ungeschützter ausgeliefert waren. Die Wehrmacht bot den Kriegspfarrern „freieste Entfaltungsmöglichkeiten“, wie der evangelische Divisionspfarrer Ernst Ufer schrieb.7

Das Konzept für das „Merkblatt“ sowie für das evangelische Feldgesangbuch stammte von Heinrich Lonicer, einem evangelischen Wehrmachtdekan, der in der Wehrmachtseelsorge ein Laboratorium für eine künftige deutsche Nationalkirche sah. Lonicer, der 1933 in die NSDAP eingetreten war, übte bis 1941 Einfluss über den Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, aus. Nach dessen Absetzung verlor auch Lonicer sein Gewicht innerhalb der Wehrmachtseelsorge.

Das „Merkblatt“ betonte die Überkonfessionalität der Wehrmachtseelsorge. Die Feldgottesdienste sollten von evangelischen und katholischen Soldaten gemeinsam besucht werden, um diese „in feierlicher Andacht“ zu einer Kampfgemeinschaft zusammenzuschweißen. Eine Position, die auch Karl Edelmann, Chef der Amtsgruppe Ersatz und Heerwesen im OKH, dem die Feldbischöfe untergeordnet waren, leidenschaftlich vertrat. Sein Ziel war es, das Militär zum Vorreiter des nationalsozialistischen Ideals der „Volksgemeinschaft“ zu machen.8 Historisch knüpfte er an die „Frontgemeinschaft“ des Ersten Weltkrieges an, innerhalb derer es spontan zu konfessionsübergreifenden Gottesdiensten gekommen war.

Ein Geistlicher, der sich auf den Posten eines Wehrmachtseelsorgers bewarb, sollte fest auf dem Boden des Nationalsozialismus stehen. So hatte es Walther von Brauchitsch 1938 verkündet und so schärfte es Edelmann den Kriegspfarreranwärtern auf den insgesamt zehn Kriegspfarrerlehrgängen ein, die vom Dezember 1940 bis April 1942 stattfanden. Wie der Offizier sollte der Kriegspfarrer stets beispielgebend in und außer Dienst vorangehen. Edelmann erwartete Vaterlandsliebe und eine nationalsozialistische Einstellung von den Kriegspfarrern. Außerdem sollten sie in ihren Predigten „lebendig“ auf das Kriegsgeschehen eingehen.

Der Kriegspfarrer hatte sich die politischen Ziele des Krieges zu eigen zu machen und diese – gleichsam ins christliche übersetzt – gegenüber den Soldaten zu vertreten.

Trotz aller Bemühungen, den Erwartungen des NS-Regimes gerecht zu werden, blieben die Kriegspfarrer Ziel von Angriffen der kirchenfeindlichen Kräfte aus Staat und Partei. Bereits im April 1940 sprach sich Reichsleiter Martin Bormann, neben Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg der wohl schärfste Gegner der christlichen Kirchen im NS-Staat, offen für die Abschaffung der Wehrmachtseelsorge aus. Für Hitler aber waren die „Dinge noch nicht reif“. Er suchte den kirchenpolitischen „Burgfrieden“ in der Zeit des Krieges zu wahren.9 Dieser Linie folgte auch Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der 1941 die Drucklegung des Neuen Testamentes für die Wehrmachtseelsorge mit den Worten unterstützte, man müsse jetzt versuchen, „durch die in der Zeit liegenden Schwierigkeiten hindurchzukommen“. Nach dem Krieg werde man sich dann aber wieder sprechen.10

Das hielt die NSDAP jedoch nicht davon ab, sich in die „Truppenbetreuung“, die traditionell in der Hand der Kirchengemeinden oder der Soldatenseelsorge lag, einzumischen. Am 12. Juli 1940 erging das Verbot an die christlichen Gemeinden, Feldpostadressen ihrer Gemeindemitglieder zu sammeln und religiöse Schriften ins Feld zu versenden. Nun nahmen sich die Ortsgruppen der NSDAP der Soldatenbetreuung auf ihre Weise an. Mit der Begründung, dass der „Dolchstoß“ in den Rücken der Front, durch den angeblich die militärische Niederlage des Hohenzollernreiches im Ersten Weltkrieg herbeigeführt worden war, sich nicht wiederholen dürfe, organisierten sie „Kameradschaftsabende“ für Fronturlauber, „beglückten“ Verwundete in den Lazaretten mit Geschenken oder kümmerten sich um die Sorgen der Soldatenfrauen, angefangen von finanziellen Fragen bis hin zu Eheproblemen. Bevor der Kriegspfarrer den Familien Nachricht über den Tod eines Soldaten geben durfte, hatte der Ortsgruppenleiter die Familie zu informieren. An die Stelle des Gedenkgottesdienstes für die Gefallenen traten organisierte Heldengedenkfeiern und Gefallenenehrungen. Mit dem Fortschreiten des Krieges konnten diese allerdings immer weniger mit den traditionellen kirchlichen Gedächtnisfeiern und Gefallenenmessen konkurrieren.

Im ersten „Russlandwinter“ 1941/42 änderten Hitler und Goebbels ihre Haltung zur Wehrmachtseelsorge. Hitler, der noch in „Mein Kampf“ den Wert der Feldseelsorge für die Widerstandskraft der Deutschen im Ersten Weltkrieg gewürdigt hatte, war wie Goebbels – nicht zuletzt durch die Kampferfahrungen an der Ostfront – zu der Auffassung gekommen, dass die dem „Merkblatt“ zugrunde liegende These, nach der die Religion die Kampfkraft der Soldaten stärke, falsch sei. Auch die „Bolschewisten“ – argumentierte Goebbels – seien nicht fromm und kämpften trotzdem „tapfer und zähe“. Ebenso wenig seien die Männer der SS-Waffenverbände christlich erzogen, aber dennoch die Auslese männlicher Tapferkeit.11

Diese neue Sicht der Machthaber auf die Wehrmachtseelsorge hatte fühlbare Konsequenzen. Das „Merkblatt über Feldseelsorge“ wurde aufgehoben, der Neudruck und die Verteilung der von der Heeresseelsorge verfassten Schriften wurde verboten. Seit 1942 durften hohe Kriegsauszeichnungen wie das Eiserne Kreuz Erster Klasse nicht mehr an Kriegspfarrer vergeben werden. Dennoch wurde nahezu jeder Kriegspfarrer mehrfach mit Kriegsorden ausgezeichnet. In der Regel handelte es sich um das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern und die „Medaille Winterschlacht im Osten 1941/42“, auch „Gefrierfleischorden“ genannt. Dazu kamen das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse mit Schwertern, das Verwundetenabzeichen in Schwarz, Silber oder Gold oder auch seltenere Orden wie die rumänische Kriegserinnerungsmedaille „Kreuzzug gegen den Kommunismus“. 1941 und sogar noch 1942 wurden einzelne Kriegspfarrer mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet.

Die Kriegspfarrer empfanden die Anordnung, keine höheren Kriegsauszeichnungen mehr an Wehrmachtseelsorger zu vergeben, als besonders diskriminierend. So empörte sich der evangelische Divisionspfarrer Hermann Wolfgang Beyer: „Die grundsätzliche Ausschließung der Kriegspfarrer von dieser Auszeichnung ohne jede Rücksicht auf das, was sie leisteten, also auch im Falle einer sehr schweren Verwundung, wo jeder Soldat das Kreuz erhält, wenn er sich bis dahin anständig geführt hat, ist ein Ausdruck der Mißachtung unseres Amtes, wie es sie in der Geschichte unserer Armee noch nicht gegeben hat.“12

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Maßnahmen bildeten die „Richtlinien für die Ausübung der Feldseelsorge“ vom 24. Mai 1942, die auf Betreiben der Parteikanzlei vom OKW/Inland der Heeres-Dienstvorschrift 373 von 1941 zugefügt wurden. Die Richtlinien definierten die allgemeine Aufgabenbestimmung und Zielrichtung der Feldseelsorge grundsätzlich neu.

Hatten Kommandierungen zu Gemeinschaftsgottesdiensten bislang zur Tagesordnung gehört, unterlag der Gottesdienstbesuch nun dem Prinzip strikter Freiwilligkeit. Weder aus der Teilnahme noch aus der Nichtteilnahme am Feldgottesdienst sollte einem Angehörigen der Wehrmacht ein Nachteil erwachsen.13 Mit den „Richtlinien“ verlor der überkonfessionelle Feldgottesdienst oder „Gemeinschaftsgottesdienst“, den das „Merkblatt“ noch als Kernstück der Tätigkeit des Kriegspfarrers bezeichnet hatte, seine Bedeutung. Die Wehrmacht benötigte die Gottesdienste nur noch als religiöse Dienstleistung, nicht mehr für die Stärkung eines gemeinsamen Kampfgeistes. Die Schwerpunkte der Gottesdienste sollten künftig auf der Verkündigung des Evangeliums und der kirchlichen Liturgie liegen. Der konfessionelle Gottesdienst trat an die Stelle des „Gemeinschaftsgottesdienstes“, in dem Gottesdienst und militärische Feier miteinander verbunden gewesen waren. Laut „Richtlinien“ waren militärische Feiern strikt von religiösen zu trennen.

Als beleidigend empfanden Wehrmachtseelsorger auch die sogenannte Beerdigungsrichtlinie, nach der ein Kriegspfarrer nur noch dann zu einer Beerdigung hinzuzuziehen war, wenn der Tote einer christlichen Kirche angehörte oder den ausdrücklichen Wunsch nach einem christlichen Begräbnis geäußert hatte.

Aus der „dienstlich befohlenen Einrichtung der Wehrmacht“ wurde eine „gebilligte Bedürfnisseelsorge“. Mit der Umdefinition zur religiösen Dienstleistung trat die Wehrmachtseelsorge aus ihrer bisherigen zentralen Stellung in der Wehrerziehung heraus und wurde zu einer marginalen Größe. Zudem verschlechterten die „Richtlinien“ die Position der Wehrmachtseelsorge innerhalb der Wehrmachthierarchie, denn sie betonten die disziplinarische Unterordnung des Kriegspfarrers unter den Truppenführer. Hieß es im „Merkblatt“, der obere Führer solle im Feldseelsorger seinen Gehilfen sehen, der ihn gleichsam partnerschaftlich bei der Beurteilung und Förderung der seelischen Kraft seiner Truppe unterstützte, hatte der militärische Vorgesetzte in den „Richtlinien“ von 1942 die Arbeit des Kriegspfarrers zu „überwachen“.

Ende April 1942 fand der letzte Kriegspfarrerlehrgang im Oberkommando des Heeres (OKH) statt. Danach wurden keine neuen Kriegspfarrer mehr ausgebildet. Ab September 1942 hatten neu aufgestellte Divisionen keine Kriegspfarrer mehr in ihren Divisionsstäben. Im November 1942 fiel auch die reguläre Nachbesetzung von Kriegspfarrerstellen weg, die durch Verwundung, Krankheit oder Tod frei geworden waren. In dieser Situation war die katholische Wehrmachtseelsorge im Vorteil. Sie konnte sich behelfsweise aus einem Pool von Priestersoldaten bedienen, die in der Regel nicht zur kämpfenden Mannschaft gehörten, sondern bei der Sanität zu finden waren. Dagegen befanden sich evangelische Theologen häufig als Offiziere bei der kämpfenden Truppe und waren nur selten für die Wehrmachtseelsorge zu gewinnen. Die evangelische Wehrmachtseelsorge verfügte über eine weitaus geringere Reserve von Geistlichen, die als Sanitätssoldaten in den Lazaretten tätig waren, und fühlte sich entsprechend benachteiligt.

Am 9. März 1943 ergriffen Franz Dohrmann und Franz Justus Rarkowski gegenüber dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) Wilhelm Keitel die Initiative und ließen ihn wissen, dass „schon jetzt“ eine einigermaßen geregelte und auch nur annähernd ausreichende Feldseelsorge nicht mehr gewährleistet sei.14 Von insgesamt 1348 Kriegspfarrerstellen seien 198 unbesetzt. Die beiden Feldbischöfe baten darum, den Einstellungsstopp für Kriegspfarrer aufzuheben und wenigstens die in Stalingrad gefallenen und verwundeten Kriegspfarrer zu ersetzen, was Keitel jedoch ablehnte.

In den neu aufgestellten Volksgrenadierdivisionen des Ersatzheeres, das nach dem 20. Juli 1944 Himmler unterstellt wurde, waren gar keine Stellen für Kriegspfarrer eingeplant. Schließlich sollte in sämtlichen Divisionen der Wehrmacht die Abteilung IVd der Wehrmachtseelsorge durch den Nationalsozialistischen Führungsoffizier (NSFO) ersetzt werden; eine Maßnahme, die jedoch nicht mehr vollständig zur Ausführung kam.

Dennoch gelang es der Partei, den NSFO in den Führungsstäben der Wehrmacht zu etablieren. Ende 1944 gab es bereits 1074 NSFO. Ihre Aufgabe war es, aus den Offizieren der Wehrmacht fanatische „Glaubenskämpfer“ für den Nationalsozialismus zu machen. Auf diese Weise hofften Hitler und seine Umgebung, die sich abzeichnende Niederlage abzuwenden. Die Partei-Kanzlei ging davon aus, dass der NSFO zwangsläufig mit dem Wehrmachtgeistlichen in Kollision geraten müsse, sollte er doch – wie der Kriegspfarrer – als „Prediger des Glaubens an Führer und Endsieg“ die Kampfkraft der Truppe stärken.15

Für die leitenden Funktionäre der Wehrmachtseelsorge, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, bedeuteten diese Maßnahmen einen enormen Statusverlust.

Die Wehrmachtseelsorge – so lässt sich festhalten – war ein Zugeständnis Hitlers an die Tradition, wie der Historiker Christian Hartmann festgestellt hat.16 Militärgeistliche hatten bis dahin selbstverständlich zum preußisch-protestantisch geprägten Heer gehört. Ihre glanzlose Nischenexistenz im Zweiten Weltkrieg war christlich geprägten Offizieren kaum verständlich zu machen. Doch die Umwandlung der Wehrmacht in eine Streitkraft ohne christliche Sinnbezüge war gegen Ende des Krieges in vollem Gange.

Dass die Wehrmachtseelsorge dennoch bis 1945 den Entkonfessionalisierungsbestrebungen des NS-Regimes widerstand, verdankte sich ihrem hohen Organisationsgrad sowie den Beharrungskräften überkommener militärischer Strukturen. „Die Partei-Kanzlei ahnte – gottlob – nicht, wie sehr die Feldseelsorge innerlich ausgebaut war und hatte bei dem Versuch, sie zu zerschlagen, wahrhaftig kein leichtes Spiel“, stellte Georg Werthmann kurz nach dem Ende des Krieges fest.17

Letztlich lag es in den Händen der militärischen Führung, wie strikt sich Kriegspfarrer an die „Richtlinien“ hielten. Hatte ein Kriegspfarrer die Rückendeckung seines militärischen Vorgesetzten, konnte er trotz aller neuen Vorschriften ungestört auch weiterhin politische und historische Vorträge halten und gegen den Bolschewismus predigen.18

Der evangelische Wehrmachtdekan Heinrich Lonicer und seine Anhänger, die hinter der Konzeption des „Merkblattes“ von 1939 standen und die Wehrmachtseelsorge für einen zentralen Teil der politischen Wehrerziehung hielten, verurteilten diese auf Marginalisierung der Kriegspfarrer zielende Politik. Sie intervenierten beim OKW, das für die Formulierung der „Richtlinien“ zuständig war. Verantwortlich waren in ihren Augen jedoch nicht die kirchenfeindlichen Kräfte in der NSDAP, sondern katholische Kreise, die angeblich hinter ihrem Rücken agierten und konfessionelle Eigeninteressen verfolgten.19

In der Tat kam es Teilen der katholischen Wehrmachtseelsorge durchaus gelegen, aus der Mitverantwortung für die staatspolitische Erziehung der Soldaten im Sinne des NS-Regimes entlassen zu werden. Doch ihr leitender Funktionär Georg Werthmann gehörte nicht dazu. Ihm war klar, dass die Einführung der „Richtlinien“ das Ziel hatte, den Einfluss des Christentums auf die breite Masse der Soldaten zurückzudrängen und es gefiel ihm nicht, dass die Gottesdienstbesuche keine Rolle mehr in der militärischen Erziehung der Soldaten spielen sollten, sondern nur noch als Privatsache behandelt wurden. Politischen Kreisen, hinter denen die Parteikanzlei Bormanns stehe – so Werthmann – habe es nicht gepasst, dass die Gemeinschaftsgottesdienste eine Nichtteilnahme der Soldaten erschwerten. Sie hätten das „Merkblatt“ in der Hoffnung aufgehoben, dass die Mehrheit der Soldaten überhaupt kein Interesse an konfessioneller Betreuung mehr zeige.20

Innerhalb der evangelischen Militärseelsorge dürfte das Echo auf die Abschaffung des „Merkblattes“ geteilt gewesen sein. Wer etwa als Mitglied der Bekennenden Kirche Wert auf die Bewahrung seiner konfessionellen Eigenart legte, mochte in den „Richtlinien“ eine Chance sehen, sich von ungewollten Einmischungen der Politik in die christliche Verkündigung zu befreien.

Vor allem rückblickend war manch ein Funktionsträger der Wehrmachtseelsorge gar nicht so undankbar für die Marginalisierung der Wehrmachtseelsorge im Krieg, die ihn von dem Verdacht entlastete, mit dem NS-Regime paktiert zu haben. So erläuterte Siegfried Sprank 1955, der Kriegspfarrer sei nach 1942 in seiner Verkündigung freier geworden. Nun habe er nicht mehr als Sprachrohr seines obersten Kriegsherrn dienen müssen, sondern sich ganz auf die Verkündigung des Evangeliums konzentrieren können.21

3.Der Ostkrieg

Die beiden großen Kirchen in Deutschland begrüßten den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 nicht euphorisch und teilten diese Haltung wohl mit der Mehrheit der Deutschen. Bereits im Jahr zuvor hatte sich im Zuge der Sudetenkrise eine wachsende Kriegsfurcht in der Bevölkerung ausgebreitet. Zu lebendig war vielen noch die Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkrieges. In der evangelischen Kirche erinnerte man sich noch gut an die eigenen peinlichen Entgleisungen der Kriegspredigten von 1914, als Pfarrer den Krieg des Deutschen Kaiserreiches als „Heiligen Krieg“ gefeiert hatten. Auch unter den deutschen Katholiken machte sich 1939 keine Begeisterung breit.

Die Kirchen in Deutschland erlebten den Kriegsausbruch aus einer Position der Schwäche. Seit Mitte der 1930er Jahre standen sie im Fokus von antichristlichen Aktionen verschiedener Parteistellen. Ein beträchtlicher Teil der konfessionell ausgerichteten Zeitungen war zur Aufgabe gezwungen worden, Theologische Fakultäten wurden geschlossen oder mussten um ihren Bestand fürchten. Vor allem im evangelischen Bereich brach die Zahl der Theologiestudenten ein. Die Kirchenaustritte erreichten 1939 ihren Höhepunkt. Der deutsche Protestantismus befand sich nach Jahren des aufreibenden innerevangelischen „Kirchenkampfes“ um die Frage, wieweit der NS-Staat in die kirchliche Autonomie eingreifen dürfe, in einem Zustand der Konfusion.22 Die 28 evangelischen Landeskirchen standen den Angriffen des Staates ohne einheitliche Linie gegenüber. Die traditionell staatsverbundenen Protestanten mussten erleben, dass ausgerechnet die Partei, die mit Hilfe ihrer Stimmen groß geworden war, sie nun als patriotisch unzuverlässig denunzierte und bekämpfte. Zum ersten Mal in ihrer nationalen Geschichte waren die Protestanten mit einer Staatsführung konfrontiert, die mit der institutionellen Vernichtung ihrer Kirchen drohte.

Noch härter traf es die katholische Kirche. Sie musste sich seit 1937 mit einer Kampagne gegen ihre moralische Autorität auseinandersetzen. Im Zentrum der Kampagne standen ca. 250 Sittlichkeitsprozesse gegen Priester und Ordensleute, denen man Homosexualität oder Pädophilie vorwarf. Das 1933 geschlossene Konkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan war bei Kriegsausbruch in wesentlichen Punkten von den Machthabern außer Kraft gesetzt worden.

Dies alles hielt Pfarrer und Theologen beider Konfessionen nicht davon ab, sich in großer Geschlossenheit hinter ihre Staatsführung zu stellen. Am 2. September 1939 formulierte der „Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche“ einen Aufruf, in dem er auf die in der Folge des Ersten Weltkrieges erlittenen Gebietsverluste im Osten des Deutschen Reiches anspielte und verkündete, dass nun „deutsches Blut zu deutschem Blut heimkehren“ dürfe. Zudem enthielt der Aufruf eine Fürbitte „für Führer und Reich, für die gesamte Wehrmacht und alle, die in der Heimat ihren Dienst für das Vaterland tun.“23

Selbst wenn der „Geistliche Vertrauensrat“ nicht für den ganzen in sich zerstrittenen Protestantismus sprechen konnte, gehörte die Identifikation mit der Nation zum festen Kern des protestantischen Selbstverständnisses. Im Angesicht des Krieges schlossen selbst die verfeindeten Kirchenkampflager innerhalb der Evangelischen Kirche „Burgfrieden“ miteinander. „Großdeutschland ruft zum Dienst. Es ist Kampf. Im Kampf verstummt jeder Mißklang im eigenen Lager. Jetzt stehen wir alle in einer Reihe und tragen alle dieselbe Rüstung“, ließen die Deutschen Evangelischen Pfarrervereine am 8. September 1939 verkünden und drückten damit vermutlich die durchschnittliche Haltung der deutschen Protestanten zum Krieg aus.24 Selbst die Angehörigen der Bekennenden Kirche, die wie die katholischen Geistlichen von den Nationalsozialisten als Gegner eingestuft wurden, ließen keinen Zweifel an ihrer nationalen Zuverlässigkeit. Sie wollten sich von niemandem an staatspolitischer Loyalität übertreffen lassen. Wie stark hier das patriotische Motiv war, zeigt das Beispiel Martin Niemöllers, des Kopfes des radikalen Flügels der Bekennenden Kirche, der sich aus dem Konzentrationslager heraus als Kriegsfreiwilliger meldete.25

Unterstützung für den Krieg fand sich auch auf katholischer Seite. Im Hirtenbrief der Bischöfe vom 17. September 1939 fehlte zwar das Gebet für den Führer, doch ermahnte er die katholischen Soldaten, „in Gehorsam gegen den Führer opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun.“ Als die Wehrmacht in Warschau einmarschiert war, folgte der Episkopat der Aufforderung, sieben Tage mittags eine Stunde die Kirchenglocken zu läuten.

Der historische Hintergrund der katholischen Loyalitätsbekundungen war indes ein anderer als bei den Protestanten, die auf eine Geschichte engster institutioneller und mentaler Verbindungen mit der deutschen Nation preußischer Prägung zurückblickten und für die ein kirchenfeindlicher Staat noch ungewohnt war. Dagegen hatte sich die katholische Minderheit in Deutschland seit den Tagen des Kaiserreiches wegen ihrer Orientierung auf den Papst in Rom mit dem Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit auseinandersetzen müssen und stand unter dem steten Druck beweisen zu müssen, dass sich Katholizismus und Vaterlandsliebe sehr wohl miteinander vertrugen. Der Krieg bot den deutschen Katholiken die Gelegenheit, ihre Loyalität zum Vaterland zu beweisen und nährte die Hoffnung auf gesellschaftliche, kulturelle und politische Rehabilitation.

Beide Konfessionen und alle kirchlichen Parteien waren in der Loyalität zum Vaterland zutiefst miteinander verbunden. Dabei blendeten sie aus, wie eng diese Loyalität sie an die herrschenden Machthaber band. Aus ihrer Sicht war es sehr wohl möglich, gegen Hitler und die Politik der Nationalsozialisten zu sein, gleichzeitig aber unbedingt loyal zum Staat zu stehen.

Die Theologen blickten durchaus aus unterschiedlichen Perspektiven auf den Krieg. Während die Anhänger der protestantischen Deutschen Christen den Krieg im Sinne der Volkstumsideologie deuteten, nach der das Volk eine göttliche Setzung war, aus der sich das Recht, Krieg zu führen, zwingend herleitete, sahen katholische Geistliche und Pfarrer der Bekennenden Kirche im Krieg eher eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen.

Die kirchliche Lehre, die es grundsätzlich möglich gemacht hätte, über die Legitimität des Krieges zu urteilen, wäre die aus der Scholastik stammende Lehre vom „bellum iustum“ gewesen, auf die sich Protestanten und Katholiken gleichermaßen bezogen. Danach durften Kriege 1. nur von einer legitimen Obrigkeit geführt werden, 2. mussten sie einen rechtmäßigen Grund haben, 3. durften sie nur zur Wiederherstellung des Rechtszustandes dienen und 4. sollten sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Der Reformator Martin Luther hatte darüber hinaus in seiner 1526 erschienenen Schrift „Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können“ die militärisch erlaubte Auseinandersetzung auf den reinen Verteidigungskrieg eingeschränkt.

Das waren Kriterien, an denen die Berechtigung des aktuellen Krieges hätte gemessen werden können. Doch eine ernsthafte Anwendung dieser Lehre vom Krieg erfolgte in keiner der beiden Kirchen. Selbst katholische Kirchenführer wie Konrad Preysing, die den Krieg Hitlers persönlich für illegitim hielten, ermahnten die Soldaten zu treuer Erfüllung ihres Dienstes in der Wehrmacht. Entscheidend war, dass die Lehre vom bellum iustum mit dem Westfälischen Frieden 1648, der Gewalt auf dem Gebiet religiöser Auseinandersetzung für immer verbot, ihre Bedeutung verloren hatte. Seitdem war der Krieg kaum noch Gegenstand theologischer Diskussionen.26 In der Politik aber herrschte die weltliche Obrigkeit, die nach dem Neuen Testament (Römer 13) für beide Konfessionen eine von Gott legitimierte Autorität besaß. Und so war es am Ende diese weltliche Obrigkeit, die den Zweiten Weltkrieg als „gerecht“ deklarierte und den Kriegspfarrern den Auftrag erteilte, den Soldaten die „Idee eines gerechten Krieges aus sozialer und völkischer Notwehr“ zu vermitteln.27

Die Mehrheit der Theologen und Kirchenführer sah den Krieg nicht als menschengemachtes Geschehen, sondern als gottgegebene Bewährungsprobe, als Prüfung, die man als Christ zu bestehen hatte. Aufgabe der Geistlichkeit war es, zum Gelingen dieser Prüfung beizutragen.

Der Kriegsbeginn 1939 weckte in beiden Kirchen zunächst die Hoffnung auf ein Ende der kirchenfeindlichen Politik des NS-Regimes. Hitler hatte angeordnet, keine neuen Maßnahmen gegen die Kirchen zu ergreifen, solange der Krieg andauerte. Doch der erhoffte „Burgfrieden“ zwischen NS-Staat und den Kirchen blieb aus. Vielmehr nutzten die kirchenfeindlichen Kräfte in Staat und Partei den Krieg mit dem Hinweis auf kriegsnotwendige Einschränkungen, um die „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ voranzutreiben.

Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, war die Lage der Kirchen in Deutschland so schlecht wie nie. Die Papierkontingente für die kirchliche Presse waren gesperrt, die konfessionellen Schulen und Kindergärten geschlossen. Zahlreiche katholische Klöster und Ordenshäuser waren im Zuge des sogenannten Klostersturms beschlagnahmt und enteignet worden. Wie groß der Druck war, der auf der katholischen Kirche lastete, zeigt der Hirtenbrief der Bischöfe vom 26. Juni 1941, der ausführlich die Beengungen der Kirche durch die nationalsozialistische Politik kritisierte und mit der dramatischen Warnung endete: „Es geht um Sein oder Nichtsein des Christentums und der Kirche in Deutschland.“28

Hatte es schon zu Kriegsbeginn 1939 keine Euphorie in der Bevölkerung gegeben, so löste der Angriff auf die Sowjetunion in weiten Kreisen der Bevölkerung Bestürzung und Angst über die unabsehbare Verlängerung des Krieges aus.29

Für die Kirchen indes war der neue Kriegsgegner nicht fremd. Vielmehr bekämpften sie ihn schon lange und leidenschaftlich. Der atheistische Kommunismus galt als ausgemachter Feind des Christentums. Theologen beider Konfessionen interpretierten ihn seit dem 19. Jahrhundert als radikale Antithese zum eigenen Welt- und Menschenverständnis. Im evangelischen Raum waren die Argumente vorgeprägt durch die Kommunismusdeutung des Berliner Rechtsprofessors Friedrich Julius Stahl. Stahl sah im Kommunismus ein Kind der Aufklärung und die Rebellion des autonomen Menschen gegen eine göttlich legitimierte Weltordnung. Seit seinem Bestehen wurde der Kommunismus als „Gegenreligion“ zum Christentum verstanden und in einen heilsgeschichtlichen Kontext gestellt. Im Kampf der Mächte von Gut und Böse verkörperte der Kommunismus das Böse.30

Mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917 in Russland bekam diese Deutung für beide Konfessionen eine bedrohliche Aktualität. Berichte von der gewaltsamen Ausschaltung der Kirchen aus dem öffentlichen Leben der Sowjetunion und Bildbroschüren über zerstörte und geplünderte Kirchen lösten helle Empörung und tiefe Furcht aus. Sie bewirkten, dass der „Bolschewismus“ zum Synonym für radikale Kirchenfeindschaft wurde und zum politischen Kampfbegriff für alle, die sich der christlich abendländischen Tradition zurechneten.

Ende der 1920er Jahre gingen die Katholiken mit großangelegten publizistischen Kampagnen zum Gegenangriff über. Unter der Führung von Konrad Algermissen begann der Volksverein für das katholische Deutschland einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Bolschewismus, der auch in Deutschland in Gestalt der „Gottlosenbewegung“ und der deutschen Freidenkerorganisationen den Einfluss der Kirche auf die Gesellschaft bekämpfte. Gestützt von Papst Pius XI., der 1930 die Katholiken der Welt zu einem „Kreuzzug des Gebetes“ gegen den gottlosen Bolschewismus aufrief, organisierte Algermissen über die „Forschungs- und Auskunftsstelle über Bolschewismus und Freidenkertum“ zahlreiche Priesterkonferenzen, Laientagungen, Kurse oder Versammlungen bis hin zu Massenkundgebungen und brachte Flugblätter in Millionenhöhe unter das Volk. Algermissen wollte seine Kampagne als Abwehr des Vernichtungskampfes der Bolschewisten gegen die katholische Kirche verstanden wissen. Zwischen der katholischen Kirche und dem Bolschewismus, so schrieb er, werde einmal der End- und Entscheidungskampf ausgetragen werden. „Entweder überwinden wir den russischen Bolschewismus oder es kommt zum Weltbolschewismus“, lautete seine Prophezeiung.31

Die evangelische apologetische Centrale des Central Ausschusses für Innere Mission führte eine antibolschewistische Kampagne mit dem kämpferischen Ziel, Hilfstruppen der Pfarrer im Weltanschauungskampf zu sammeln und in „Laienführerkursen“ eine „apologetische Kampfschar“ gegen Freidenker und Bolschewisten auszubilden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden diese kirchlichen Verbände beider Konfessionen in ihrem Kampf gegen den Bolschewismus durch die Zuschüsse des Reichsinnenministeriums sogar noch gestärkt.32

Die katholische als auch die evangelische Kirche stimmten dem Antibolschewismus des NS-Regimes kritiklos zu. Der katholische Bischof Michael von Faulhaber hatte Hitler darin beigepflichtet, dass der Kommunismus der gemeinsame Feind von Christentum und Faschismus sei. Auch im „Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen“, das der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber 1937 mit Empfehlung des deutschen Gesamtepiskopates herausgab, stand das Thema Bolschewismus im Mittelpunkt. Die deutschen Bischöfe, so Gröber im Vorwort, verfolgten mit dem Handbuch das Ziel, den „Wall“ zu stützen, den der Führer gegen den Bolschewismus aufgeworfen habe.33

Im gleichen Jahr erschien das Buch des christlich-konservativen Schriftstellers August Winnig „Europa. Gedanken eines Deutschen“ in einer Auflage von 80.000 Exemplaren und wurde zu einer beliebten Lektüre in evangelischen Kreisen. Während seines Kriegseinsatzes in der Sowjetunion las Wehrmachtpfarrer Hans Kähler seinen Soldaten daraus vor. Pfarrer Gerhard Knapp zitierte es häufig in seinem Tagebuch. Und auch Kriegspfarrer Hermann Wolfgang Beyer sprach voller Bewunderung über den zum Christen gewandelten ehemaligen Gewerkschaftsfunktionär Winnig. Für diesen war der Bolschewismus eine Kraft, die nicht nur Deutschland, sondern das gesamte christliche Europa bedrohte. Er schrieb dem Bolschewismus religiöse Qualität zu, weil der Kampf gegen Gott sein höchstes Ziel sei. Wenn Europa überleben wolle müsse es seinem göttlichen Auftrag nachkommen und das Kreuz gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion verteidigen.34

Bei so großer prinzipieller Zustimmung zum antibolschewistischen Feldzug gegen die Sowjetunion wundert es nicht, dass das Telegramm, das der „Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche“ am 30. Juni 1941 anlässlich des beginnenden Krieges gegen die Sowjetunion an Hitler sandte, weit über die vorangehenden Loyalitätsbekundungen dieses Gremiums hinausging. Hier legitimierte man den Krieg, indem man Bedrohungsszenarien aufbaute und Vernichtungswünsche hinterher schob. Mittelpunkt des Schreibens bildete die Wahrnehmung des Bolschewismus als „Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur“. Dabei ging man davon aus, dass das „namenlose Leid“, welches der sowjetische Bolschewismus seinen eigenen Völkern zugefügt habe, nun auch allen anderen Nationen bereitet werden solle. In diesem Kontext gedachte man der „baltischen evangelischen Märtyrer“ von 1918, mit denen man die deutschstämmigen Pastoren meinte, die nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus dem Baltikum von Bolschewisten ermordet worden waren. Die Kirchenvertreter versicherten ihrem „Führer“ und seinen „unvergleichlichen Soldaten“ den Beistand aller Gebete der Evangelischen Kirche und äußerten die Hoffnung, dass diese nun mit gewaltigen Schlägen den „Pestherd des Bolschewismus“ beseitigen, eine neue Ordnung in Europa unter der Führung Hitlers etablieren und „alle innere Zersetzung, alle Beschmutzung des Heiligsten, alle Schändung der Gewissensfreiheit“ beenden würden.35