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Patriarchat im Wandel E-Book

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Beschreibung

Der Rückbau der Demokratie und des Säkularismus in der Türkei betrifft unmittelbar auch das Verhältnis zwischen Frauen und Männern. Der Band beleuchtet erstmals die Politik und Geschlechterverhältnisse unter der AKP sowie die aktuellen Positionen und Ziele der vielfältigen feministischen Bewegungen seit den 2000er Jahren bis heute. Mit Blick auf politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen zeigen die Autorinnen des Bandes, wie die historisch gewachsenen, weiterhin aktiven Frauenbewegungen in der Türkei mit einem Wiedererstarken patriarchalischer Strukturen konfrontiert sind.

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Hürcan Aslı Aksoy (Hg.)

Patriarchat im Wandel

Frauen und Politik in der Türkei

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Der Rückbau der Demokratie und des Säkularismus in der Türkei betrifft unmittelbar auch das Verhältnis zwischen Frauen und Männern. Der Band beleuchtet erstmals die Politik und Geschlechterverhältnisse unter der AKP sowie die aktuellen Positionen und Ziele der vielfältigen feministischen Bewegungen seit den 2000er Jahren bis heute. Mit Blick auf politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen zeigen die Autorinnen des Bandes, wie die historisch gewachsenen, weiterhin aktiven Frauenbewegungen in der Türkei mit einem Wiedererstarken patriarchalischer Strukturen konfrontiert sind.

Vita

Hürcan Aslı Aksoy, Dr. rer. soc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Inhalt

Vorwort

Teil I Geschlechterregime und Politik in der Türkei

Hürcan Aslı Aksoy: Geschlechterregime im Wandel: Historische Entwicklung der Gleichberechtigung in der Türkei

Einleitung

Geschlechterregime zwischen Nationbuilding und Staatsfeminismus: Die kemalistische Ära

Grenzen des Staatsfeminismus: Feministische Herausforderungen

Vom Staatsfeminismus zur Frauenpolitik: Neugestaltung des Geschlechterregimes

Das neue Zivilgesetzbuch (2002)

Revision des Arbeitsrechts (2003)

Revision des Strafrechts (2004)

Einführung von geschlechtersensiblen Policies und Mechanismen

Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen

Das neue Gesetz (Nr.6284) zum Schutz vor häuslicher Gewalt (2012)

Defizite und Probleme des Geschlechterregimes

Fazit

Literatur

Renate Kreile: Gender und Politik unter der AKP-Regierung

Einleitung

Theorieorientierte Überlegungen: Politischer Kapitalismus, Patronage, Patriarchat

Autoritärer Staatsfeminismus und Nationbuilding

Aufstieg der Gegen-Elite, politische Öffnung und »post-patriachale« Gesetzgebung

Hegemonie der AKP, Faith-Based-Organizations und patriarchale Re-Strukturierung

Die zwei Gesichter der AKP an der Macht

Das soziale Netz von Staat, Familie und Wohltätigkeit

Re-Vitalisierung konservativer Geschlechternormen und paternalistische Benevolenz

Legitimationsprobleme, politische Schließung und »paternalistischer Populismus« (Kandiyoti 2014b)

Fazit und Perspektiven

Literatur

Teil II Zwischen Staat und Gesellschaft. Frauenbewegungen unter dem AKP-Regime

Bihter Somersan: Feministische Politik in der Türkei: Die politischen Handlungsfähigkeiten der Frauenbewegungen und eine kritische Evaluation der staatlichen Frauenpolitik

Einleitung

Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei

Die Frauenpolitik der AKP und die politischen Reflexe der Frauenbewegung – Ein Überblick

AKP-Regierungspolitik – Die Neuerfindung der »Demokratie«?

Die Frauen- und Familienpolitik der AKP – Die Vereinnahmung feministischer Politik und die Propagierung der »anständigen Frau«

Die politischen Reflexe der Frauenbewegungen – Spannungsfelder, Herausforderungen, Subjektivitäten und Bündnisse

Resümee: Die aktuelle Situation, zukünftige Handlungsmöglichkeiten und Strategien der Frauenbewegungen

Literatur

Ayşe Dursun: Der Aufstieg von konservativen Frauen-NGOs in der »neuen Türkei«: Eine Analyse des Vereins für Frau und Demokratie

Einleitung

Das Patriarchat im Wandel

Begriffsbestimmung

Die Notwendigkeit eines kontextuellen Updates: Konservative Frauen und GONGOs

Der Verein für Frau und Demokratie

Schlussfolgerungen

Literatur

İclal Ayşe Küçükkırca: The Relationality between the »Free Women’s Movement of Kurdistan« and the Feminist Movement in Turkey: Building Solidarity or Coalition in Peace and Wartime

Introduction

Understanding Two Different Public Spaces

Approaches to the Solidarity and Coalition Debate

Solidarity

Coalition

The Relationality between the FMT and the FWMK

The 1990s—Silence due to Conflict

The 2000s – Starting to Engage with Each Other Again

2013–2015: Resolution Process and the Resumption of Armed Clashes

2015–16: Despair

Conclusion

References

Nil Mutluer: Kemalist Feminists in the Era of the AKP

The Ambiguous Backdrop Story of Kemalist ›Feminism‹

Kemalist women and ›their‹ feminist movement after 1980

›Reformist‹ and ›Conservative‹ Kemalist Feminists on the Headscarf/Turban: The Flimsy Boundaries of Laicism

»Being Ready for Duty«: The Everyday Manifestations of Militarism

Kemalist Feminists and the AKP’s Politics of Family and Women

Kemalist Feminists and ›the Others‹: Nation and Nationalism

Epilogue: Different Thinking for Kemalist Feminists, but how?

References

Teil III Soziale Dynamiken der Geschlechterverhältnisse

Çağla Ünlütürk Ulutaş: Burden of Care in a Gendered Welfare Mix: The Turkish Care Regime

Introduction

Who cares? Gender relations in Turkish Care Regime

Child Care Regime and Family Policies

Post-Natal Leave Regulations in Turkey

Institutional Early Childhood Care and Education (ECCE) Services in Turkey

Elderly Care

Cash Support and Home-Based Care Opportunities for the Elderly

Institutional Care Services for the Elderly

Old Age Asylum

Elderly Care Centres

Elderly Persons with Alzheimer and Day Care Centre

Conclusion

References

Berna Zengin Arslan: The Making of New Muslim Femininities and Masculinities: Gendered Spaces and the Pedagogies of the Gülen Community

Introduction: Space, Visibility, and Invisibility

The Gülen Community, Modernity, and Islam

The Making of Space: Light Houses and Schools

Schools, Pedagogical Tradition, and Modernity

Embodying Islam: Teachers, Hizmet and Temsil

The Question of Agency, Gender, and Islam

The Making of Space, the Making of Gender

Male space: The Boys’ School as the Public Space

The New Muslim Masculinities

Female Space: The Girls’ School and the Islamic Habitus

Learning the Islamic Habitus: Recreational Activities in the Girls’ School

Girls in Science School, Potentials and Frustrations

Conclusion

References

Autorinnen

Vorwort

Der vorliegende Band ist ein Beitrag zur Diskussion über den Wandel der Geschlechterverhältnisse in der Türkei. Der geschlechterkritische Blick richtet sich sowohl auf die Prozesse der Veränderung als auch auf die beharrlichen Kräfte in den politischen, sozioökonomischen und kulturellen Verhältnissen in der Türkei. Die Autorinnen des Bandes gehen den folgenden Fragen nach: Welche Rolle spielen Frauen im politischen und gesellschaftlichen Wandel? Welche Rechte haben Frauen in der Türkei? Wie beeinflusst der Streit zwischen Religion und Säkularismus die Geschlechterordnung? Inwiefern prägt die politische Repression das zivilgesellschaftliche Engagement von Frauen? Wird in der Türkei um die Verbesserung der Frauenrechte beziehungsweise die Überwindung patriarchaler Verhältnisse gerungen? Wie konfrontieren die Frauenbewegungen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gegen Frauen in Zeiten des Wiedererstarkens des Patriarchats?

An dieser Stelle möchte ich ein paar Sätze zur Entstehungsgeschichte dieses Buches schreiben. Mit der Idee, ein Buch über die Geschlechterverhältnisse in der Türkei in deutscher Sprache herauszugeben, kam Prof. Dr. Cornelia Klinger vor fünf Jahren auf mich zu. Im deutschsprachigen Raum gebe es kaum Bücher, die die Geschlechterdynamiken im Lichte des soziökonomischen und politischen Wandels seit der Machtübernahme der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 untersuchten. Der politische Wandel unter der religiös-konservativen AKP und ihr Einfluss auf die politisch-kulturelle Ordnung der streng säkularen Türkei erweckten großes Interesse sowohl im akademischen Milieu als auch in der deutschsprachigen Öffentlichkeit. Aus diesen Gründen habe ich die Anfrage mit großer Freude angenommen, musste dieses »Projekt« aber zunächst wegen meiner Tätigkeit in der universitären Lehre und Forschung liegen lassen. Mir war allerdings bewusst, dass die Türkei ein bewegliches Untersuchungsobjekt bleiben würde und eine akademische Arbeit stets neu herausfordern könnte. In der Tat ereigneten sich 2013 zunächst die Gezi-Park-Proteste, die zum weltweiten Symbol des Aufstandes wurden. Im selben Jahr wurde den führenden Politikern der AKP-Regierung Korruption vorgeworfen. Nun forderten viele moderne, gut ausgebildete junge Leute mehr Demokratie und den Rücktritt des damaligen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan. Trotz der wachsenden Kritik an seinem Führungsstil wählten im August 2014 52 Prozent der türkischen Wähler_innen Erdoğan zum Staatspräsidenten. Auf dem konsolidierten Machtanspruch aufbauend, versuchten Erdoğan und die führenden Persönlichkeiten der AKP kontinuierlich, mit paternalistischen Wertevorstellungen, die auch eine sexistische Sprache mit sich brachten, das Privatleben der Bürger_innen zu bestimmen. Die Zeitungen, Fernsehprogramme und Thinktanks in Deutschland und anderen Ländern fragten: Wohin steuert die Türkei? Auf der Suche nach einer Antwort, habe ich im Frühjahr 2015 die Arbeit an dem Sammelband wiederaufgenommen mit dem Ziel, die rasanten politischen Entwicklungen aus der Geschlechterperspektive heraus zu betrachten.

In der Anfangsphase habe ich Akademikerinnen kontaktiert, die auch Texte in deutscher Sprache verfassen können. Überraschenderweise gab es sehr wenige, die über das Thema Geschlechterverhältnisse und Politik in der Türkei auf Deutsch schreiben konnten. Um das Thema breiter zu beleuchten, war es nötig, mehr Akademiker_innen aus der Türkei einzubinden, die die Texte in englischer Sprache verfassen konnten. Nach einer langen und oft schwierigen Phase entstanden die ersten Entwürfe Ende 2015. Als diese Aufsätze im Laufe des Jahres 2016 bearbeitet wurden, ist der bewaffnete Konflikt zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wieder aufgeflammt. Mehr als 1000 Akademiker_innen, darunter vier Autorinnen dieses Bandes, haben die AKP-Regierung für ihr Vorgehen gegen Kurden mit einer Petition kritisiert. Von Erdoğan dazu aufgerufen, erhob die türkische Staatsanwaltschaft den Vorwurf der »Propaganda für eine Terrororganisation«, namentlich für die PKK gegen sie. In der Folge haben viele Akademiker_innen ihre Arbeit an türkischen Universitäten verloren, darunter auch eine Autorin des Bandes, die in Berlin Zuflucht fand. Unter diesen Umständen erlebte die Türkei auch noch einen Putschversuch im Juli 2016. Seitdem befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand und der Staatspräsident Erdoğan regiert durch Notstandsdekrete. Im Zuge der Verfolgung mutmaßlicher Anhänger_innen des im US-amerikanischen Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen schränkt die AKP-Regierung die Meinungsfreiheit und die Medien immer massiver ein. Oppositionelle Aktivist_innen und Politiker_innen wurden entweder inhaftiert oder ihnen wurde zumindest die Möglichkeit genommen, Kritik zu äußern. Nach den neuesten Angaben des türkischen Innenministeriums wurden mehr als 50.000 Menschen inhaftiert und 125.000 Staatsbedienstete wegen angeblichen Verbindungen zu Gülen suspendiert. Während dieser »Säuberungswelle« hat noch eine weitere Autorin des Bandes im Januar 2017 ihre Arbeit an einer öffentlichen Universität verloren. Auch ihr Pass wurde annulliert. Autoritäre Politiken und Machtansprüche haben erhebliche Konsequenzen für das akademische Leben in der Türkei. Dafür, dass die Autorinnen in der Türkei sich trotz politischer und akademischer Belastungen den zahlreichen Wünschen von Seiten der Reihenherausgeberin und mir selbst bereitwillig nachgekommen sind, gilt ihnen allen besonderer Dank. Trotz der Repression untersuchen sie weiter die Dynamiken der Geschlechterverhältnisse und engagieren sich leidenschaftlich für die Verbesserung der Situation der Frauen in der Türkei.

Während des langen, mühsamen und schwierigen Arbeitsprozesses an diesem Buch habe ich von verschiedenen Seiten Unterstützung erfahren. Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen gab mir ein dreimonatiges Stipendium und ermöglichte mir dadurch, diesen Band erstmals in die Wege zu leiten. Dafür bedanke ich mich bei Prof. Dr. Cornelia Klinger, die die Entstehung des Bandes von Anfang an begleitete, den Kontakt zum Campus Verlag herstellte, mir mit Ratschlägen zur Seite stand und mich ermutigte, das Buch herauszugeben. Prof. Dr. Birgit Sauer vermittelte mir die Kontakte zu einigen Autorinnen, die an dem Buch mitgewirkt haben. Jonas Hensler unterstützte mich als studentische Hilfskraft tatkräftig bei der Bearbeitung und Formatierung der Manuskripte. Dies war nicht zuletzt möglich durch die finanzielle Förderung, die das Büro für Gender und Diversity der Universität Erlangen-Nürnberg bereitstellte. Ich danke auch Prof. Dr. Thomas Demmelhuber, dem Inhaber des Lehrstuhls, an dem ich arbeite, für den wissenschaftlichen Freiraum, der es mir gestattete, an den Band zu arbeiten. Ich danke besonders dem Campus Verlag und Joe Kroll für die Unterstützung durch ein sorgfältiges Lektorat der Texte. Sehr dankbar bin ich meiner Familie und meinen Freund_innen, die an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden können. Sie wissen alle ihre Namen.

Abschließend möchten die Autorinnen und ich all den Frauen danken, die einen unermüdlichen Kampf gegen Gewalt gegen Frauen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Türkei führen. Ohne sie wäre unser Buch nicht denkbar gewesen. Dieses Buch ist ihnen gewidmet.

Erlangen, im August 2017

Hürcan Aslı Aksoy

Teil I Geschlechterregime und Politik in der Türkei

Geschlechterregime im Wandel: Historische Entwicklung der Gleichberechtigung in der Türkei

Hürcan Aslı Aksoy

Einleitung

Die säkulare Türkei war immer eine Ausnahmeerscheinung in der »muslimischen Welt«. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der neu gegründete türkische Staat umfassende geschlechterpolitische Reformen im Zuge eines radikalen Modernisierungsprojekts durch. Das auf emanzipatorischen und säkularen Maßstäben basierende Geschlechterregime machte die junge Türkische Republik zum fortschrittlichsten Land in der nahöstlichen Region (vgl. Kandiyoti 1987). Die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ermöglichte den Frauen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und führte zu einer nie dagewesenen Sichbarkeit in der Öffentlichkeit. Dennoch bestanden die patriarchalischen Strukturen fort, die Mehrheit der Frauen und Männer hielt an traditionellen Wertevorstellungen fest. Der Wandel im Geschlechterregime kam erst mit der neoliberalen Umstrukturierung und der sich anschließenden Transformation der politischen Machtverhältnisse in den 1980er Jahren. Zum einen brachte die neue feministische Bewegung frauenpolitische Themen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und die rechtliche Diskriminierung von Frauen auf die politische Agenda, die vom männer-dominierten politischen Establishment lange ignoriert wurden, und forderte damit patriarchalische Geschlechterverhältnisse und die staatliche Frauenpolitik heraus. Zum anderen setzte der Staat seine paternalistische Politik gegenüber Frauen fort – wenn er auch auf einige Forderungen der Frauen einging.

In der letzten Dekade erlangte die islamistisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) die politische Macht in der säkularen Türkei. Zu Beginn ihrer Regierungszeit (2002) führte die AKP geschlechtersensible Gesetze und Regelungen ein. Mit der Konsolidierung ihrer politischen Macht nach den Parlamentswahlen 2011 nahm die AKP-Regierung jedoch eine konservativ-religiöse Position in der Geschlechterpolitik ein und entwickelte Strategien und Maßnahmen zur Förderung von konservativen Rollenbildern der Frau. In der Folge stellten sich die Frauenrechtlerinnen den konservativ-religiösen Politiken der AKP-Regierung entgegen und begannen abermals, um ihre Rechte zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob sich Verschiebungen oder Umbrüche in der Organisation des Geschlechterregimes ausmachen lassen.

Dieser Beitrag bietet einen historischen Überblick zur Gleichstellung der Geschlechter in der Türkei. Grundsätzlich lässt sich die rechtliche Stellung anhand der Gesetze, staatlichen Programme und Regelungen verdeutlichen. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft hat einen geschlechterpolitischen Charakter, der die Geschlechterverhältnisse und -ungleichheiten produziert, umsetzt und reproduziert (Goertz/Mazur 2008; Htun 2005; Sauer 2001). Dementsprechend ist es notwendig, die Frauenrechte in der Gesetzgebung zu untersuchen und dabei auch auf die Rolle der staatlichen Institutionen in der Gestaltung der Geschlechterpolitik einzugehen.

Basierend auf diesen Überlegungen wird hier der Wandel des Geschlechterregimes in der Türkei aus einer historischen Perspektive dargestellt. Dabei sollen auch die folgenden Fragen beantwortet werden: Was für eine Rolle spielten die staatlichen Institutionen bei der Gleichstellung der Geschlechter und der Förderung der Frauen? Welche Institutionen haben den Wandel im Geschlechterregime eingeleitet? Mit welchen geschlechterpolitischen Maßnahmen hat der Staat auf Forderungen von Frauen reagiert? Und in welchen Bereichen? Welche Einflüsse haben die internationalen Geschlechtergleichheitsnormen auf die Dynamiken der Geschlechterverhältnisse in der Türkei bis heute? Was für Hindernisse stehen der Gleichberechtigung der Geschlechter im Weg? Bei der Suche nach Antworten werden auch die türkischen Frauenbewegungen einbezogen, da sie in den Beiträgen dieses Bandes eine wichtige Rolle spielen. Die Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen des Geschlechterregimes wird dabei helfen, die unterschiedlichen Aspekte der Geschlechterverhältnisse und die vielfältige Positionierung der nichtstaatlichen Akteure besser zu verstehen.

Im ersten Schritt werfe ich einen kritischen Blick auf die Stellung der Frau in den Gründungsjahren der Türkischen Republik. Diese Ära ist wichtig, um die Rolle des modernen türkischen Staates bei der Konstruktion des politischen Geschlechterdiskurses in der streng religiösen Gesellschaft zu verstehen. Zunächst werde ich die feministischen Herausforderungen der 1980er Jahren gegenüber der staatlichen Geschlechterpolitik erörtern, die sowohl gesetzliche Änderungen als auch eine Umstrukturierung des Geschlechterregimes hervorbrachten. Der Fokus dieses Beitrags liegt jedoch auf den geschlechterspezifischen Gesetzesänderungen und Politiken während der AKP-Ära. Die Darstellung der geschlechterpolitischen Gesetze, Programme und Policies hilft, Aussagen über die strukturellen Dynamiken der Geschlechterverhältnisse zu treffen. Im Anschluss geht es um die reale Wirkung der geschlechtersensiblen Gesetze. Am Ende werde ich die wesentlichen Punkte zusammenfassen und Vorschläge für eine bessere Durchsetzung der Geschlechtergleichheit formulieren.

Geschlechterregime zwischen Nationbuilding und Staatsfeminismus: Die kemalistische Ära

Feministische Wissenschaftlerinnen verweisen längst auf die Bedeutung der Nationbuilding- und Modernisierungsprozesse für die Konstruktion des Geschlechterregimes im »Globalen Süden« (Kandiyoti 1991; Moghadam 1994; Yuval-Davis 1991). Sie argumentieren, dass die Geschlechterverhältnisse durch Modernisierungsprozesse staatlich konstruiert sind und Frauen und Männern besondere gesellschaftliche Rollen zugeschrieben werden. Die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse in der Türkei bildet dabei keine Ausnahme. Viele Wissenschaftler_innen und Frauenrechtler_innen, die sich mit Gender, Staat, Zivilgesellschaft und Frauenrechten in der Türkei beschäftigen, weisen zunächst auf die Gründungsjahre der Türkischen Republik hin, um die Meilensteine der heutigen Gleichstellung bzw. des Geschlechterregimes aufzuzeigen (vgl. Arat 2000; Ertürk 2006; Kandiyoti 1987, 1991; Tekeli 1995; White 2003).

In den frühen Jahren der Türkischen Republik machte es sich die Staatselite unter der Führung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) zum Ziel, eine moderne, prowestliche und »laizistische« türkische Nation aufzubauen (Arat 2008; Diner/Toktaş 2010; Kandiyoti 1987). Der Laizismus, der für eine Trennung von Politik und Religion steht, war für die Gründungselite das effektivste Instrument, um mit der islamischen Tradition im institutionellen und rechtlichen Raum zu brechen und die Öffentlichkeit weitgehend zu modernisieren. Dank der osmanischen Tradition eines »starken Staates« (Heper/Evin 1994), der die autoritätsgläubige und ungebildete Bevölkerung besteuern und beeinflussen konnte, griff die republikanische Staatselite ohne Probleme zu autoritären Maßnahmen, um in kürzester Zeit Reformen umzusetzen (vgl. Arat 1999; Pawelka 2008). Die diskursive Konstruktion des Frauenbilds spielte dabei eine zentrale legitimatorische Rolle (Kreile 2009; Pawelka 2008). Die Aufwertung des gesellschaftlichen Status der Frau wurde zur öffentlichen Staatspolitik (Kandiyoti 1991; Tekeli 1995; White 2003; Yuval-Davis 1991). Um die Umsetzung der Geschlechtergleichheit zu legitimieren, behauptete die republikanische Staatselite zusammen mit führenden Intellektuellen im Land, dass Frauen und Männer bereits in den vorislamisch-türkischen Gesellschaften Zentralasiens gleichberechtigt waren und sich das erst während der islamisch-osmanischen Periode änderte (Arat 2000; Bodur 2005). Arat kommentiert dieses Argument wie folgt:

»This argument allowed Republican reformers, who readily identified modernization with Westernization, to make claims for improving women’s status and defend it as a Turkish tradition. Efforts to improve women’s status were used to as a means to cultivate Turkish nationalism and adopt Western nations of equality and secularism« (Arat 2000: 109).

Zunächst begann die Staatselite mit den Reformen im islamisch geprägten Bildungswesen. 1924 wurden die Bildungsstätten säkularisiert, religiöse Schulen verboten und die gesetzliche Schulpflicht für Jungen und Mädchen zwischen sieben und 14 Jahren eingeführt. Die Wissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Yakın Ertürk konstatiert: »Education was perceived to be the cornerstone of the republican reforms, through which modernization and the creation of a citizenry was to be achieved« (Ertürk 2006: 86). Der Staatsgründer Mustafa Kemal adoptierte zahlreiche Mädchen aus einfachen Familien und ermöglichte ihnen eine gute Ausbildung, um dem türkischen Volk zu zeigen, dass die »Töchter der Republik« die gleichen Bildungschancen wie Jungen haben sollten. Somit hatten sich die Möglichkeiten für Mädchen deutlich verbessert.

Der nächste Schritt war, das islamische Gesetz (Scharia), das das ganze Rechtssystem und die Gerichtsbarkeit für die muslimische Bevölkerung bestimmte, durch ein säkulares Rechtssystem zu ersetzen. Die Staatselite ließ ein am Westen orientiertes Zivilrechtssystem gestalten, das schließlich im Jahr 1926 in Form eines säkularen Zivilgesetzbuches eingeführt wurde (Arat 2000; Ertürk 2006; White 2003). Das neue Zivilgesetzbuch verbot die Polygamie und erkannte Frauen das Scheidungsrecht sowie die Vormundschaft für ihre Kinder zu (Aksoy 2014a). Zudem wurde die Zivilehe zur gesetzlichen Norm. Das Mindestheiratsalter wurde für Frauen auf 15 und für Männer auf 17 Jahre festgelegt (Anıl et al. 2002: 5). Das Zivilgesetzbuch stellte auch Frauen vor Gericht beim Erb- und Eigentumsrecht mit den Männern gleich (vgl. Arat 2000; Diner/Toktaş 2010). Anders als in der Scharia waren Frauen mit dem neuen Zivilgesetz im Hinblick auf eidesstattliche Erklärungen mit Männern gleichgestellt. Das neue Zivilgesetzbuch veränderte die rechtliche Stellung der Frau grundlegend (vgl. Arat 2000; Ertürk 2006).

Ein anderer wesentlicher Schritt bei der Gleichstellung der Geschlechter war die Etablierung politischer Rechte für Frauen. 1930 gewährte das türkische Parlament den Frauen zunächst das kommunale Wahlrecht. Vier Jahre später wurde das aktive und passive Wahlrecht für Frauen auf nationaler Ebene eingeführt – in westlichen Demokratien wie Frankreich, Italien, Belgien oder der Schweiz war das erst später der Fall. Obwohl es in der Türkei zu der Zeit kein Mehrparteiensystem gab, wurde das Wahlrecht für Frauen als eine bemerkenswerte Errungenschaft wahrgenommen (vgl. ESI 2007; White 2003). Bei den Parlamentswahlen von 1935 wurden 18 Frauen ins Parlament gewählt (4,6 Prozent), eine Zahl die bis zur Wahl von 1999 nicht überschritten wurde.

Diese geschlechterpolitischen Reformen schwächten einerseits die religiösen Strukturen und Institutionen in Gesellschaft und Politik, andererseits stärkten sie die neue türkisch-nationalistische und säkulare Gemeinschaft. Das kemalistische Regime betrachtete somit die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter »als gelöst«. Die Staatselite verbot demnach die unabhängigen Frauenvereine, andere Frauenvereine wandelten sich zu Wohltätigkeitsorganisationen, die Frauen und Mädchen in fernen Teilen des Landes zur Bildung und Teilhabe am Berufsleben ermunterten und an den offiziellen Feiertagen die kemalistischen Reformen bejubelten (ESI 2007: 6). Die junge Türkische Republik war stolz darauf, die Gleichstellung der Geschlechter rechtlich durchgesetzt zu haben, wollte aber die Kontrolle über die Emanzipation der Frauen monopolisieren (Arat 2000: 111). Diese paternalistische Haltung gegenüber Frauen reproduzierte immer wieder tradierte Geschlechterrollen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens.

Diese »von oben« geleitete Frauenpolitik wurde von Wissenschaftlerinnen als kemalistischer Staatsfeminismus bezeichnet (Arat 2000; Kandiyoti 1991; Tekeli 1995; White 2003). Der kemalistische Staatsfeminismus propagierte ein ›modernes‹ Frauenbild: Die ideale türkische Frau sollte die jungen Generationen der Republik erziehen – als »Erzieherin der Nation« – und die Frauen sollten weiterhin als »gute Mütter und Ehefrauen« ihre Aufgaben erfüllen (vgl. Durakbaşa 1998; Kadıoğlu 2001). Somit konnte die türkische Frau als »verantwortliche Bürgerin« für den Erfolg des Nationbuildungs stehen (vgl. Arat 2000; White 2003; Yuval-Davis 1991). Das Tragen des islamischen Schleiers wurde zwar nicht gesetzlich verboten, aber von der Staatselite propagandistisch bekämpft. Die zugewiesene – oder selbst auferlegte – Zugehörigkeit zu dem homogen imaginierten nationalistischen Kollektiv ebnete den Weg dafür, dass weibliche Körper und Sexualität im Namen von Modernisierung und Fortschritt kontrolliert und beherrscht werden können (vgl. Scheiterbauer 2014: 184f.). Ayşe Kadıoğlu argumentiert, »[…] die neue türkische Frau sollte einerseits die Erfordernisse der republikanischen Modernität entsprechen und andererseits einige traditionelle Werte wie z. B. Geschlechtslosigkeit und Keuschheit wahren« (2001: 34).

Dennoch blieb die Reichweite der geschlechterpolitischen Reformen insgesamt begrenzt (Aksoy 2014a). Der kemalistische Staatsfeminismus kreierte zahlreiche Ärztinnen, Professorinnen, Richterinnen, Anwältinnen und sogar Pilotinnen (ESI 2007: 6), aber der größte Teil der weiblichen Bevölkerung konnte immer noch nicht schreiben und lesen. Frauen lebten in Armut, litten unter gesellschaftlicher Diskriminierung, die ihren Zugang zu Bildungseinrichtungen und somit ihre Teilhabe am Nationbuilding einschränkte (Ertürk 2006: 86). Frauen aus einfacheren Verhältnissen waren weiterhin durch die patriarchalen Normen und religiösen Traditionen beeinträchtigt. Die Gleichstellung der Geschlechter in der Türkei gestaltete sich – im Gegensatz zu Behauptungen der kemalistischen Staatselite – als schwierig. Trotz der autoritären Bestimmung der Geschlechterverhältnisse seitens der kemalistischen Elite, behauptet Jenny White: »The state feminist model, however, despite its authoritarian rigidity about what constitutes a modern woman, was groundbreaking and successful in allowing Turkish women to participate in society at all levels to an extent unheard of in Europe or the United States at the time« (2003: 158). Demzufolge behaupten Wissenschaftler_innen, dass die staatliche Machtausübung auf die Geschlechterpolitik die Entwicklung eines feministischen Bewusstseins in der Türkei bis in die 1980er Jahre verhinderte (Diner/Toktaş 2010; Kadıoğlu 2001).

Grenzen des Staatsfeminismus: Feministische Herausforderungen

Die zweite Welle der Frauenbewegung im Westen, die die patriarchalen Normen und die Geschlechterordnung in Politik und Gesellschaft infrage stellte, eröffnete die Diskussion über die Gleichberechtigung der Geschlechter auf einer globalen Ebene. 1975 riefen die Vereinten Nationen (United Nations, UN) in Mexiko-Stadt das »Internationale Jahr der Frau« aus und widmeten sich der Frauenfrage mit dem Slogan »Frauenrechte sind Menschenrechte«. Im Jahr 1979 verabschiedete UN Women ein »Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau« (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW), das als »Magna Carta« für Frauenrechte bezeichnet wird. Die internationale Aufmerksamkeit durch die UN gab Frauenbewegungen weltweit Auftrieb, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen und Männer in Politik und Gesellschaft einsetzten (Aksoy 2014b: 52). Darüber hinaus verpflichtete das CEDAW-Abkommen die Regierungen, Menschenrechte für Frauen in ihren Gesetzen zu verankern.

Die Türkei befand sich in den 1970er Jahren jedoch in einer politischen und ökonomischen Krise, das Parlament konnte weder die Wirtschaftskrise noch die sozialen Unruhen bewältigen (Pawelka 2008: 251). Infolgedessen intervenierte das Militär 1980 in die Politik, reorganisierte das politische System und schwächte die demokratische Teilhabe (ebd.). Die bis 1983 dauernde Militärherrschaft führte eine neue Verfassung (1982) ein, die Bürgerrechte und Freiheiten stark einschränkte und bis heute das gegenwärtige politische Leben weitgehend prägt. Trotz des Verbots jeglicher zivilgesellschaftlichen Gruppen und politischer Parteien eröffnete der Militärputsch von 1980 überraschenderweise den politischen Raum für die Entfaltung einer autonomen Frauenbewegung (Diner/Toktaş 2010: 45). Frauen aus der urbanen und akademischen Mittelschicht, die sich in den 1970er Jahren in der linken Bewegung engagierten, sich jedoch nicht exklusiv mit der Gleichberechtigung von Geschlechter beschäftigten, trafen sich in Leserunden und diskutierten gemeinsam feministische Literatur (Arat 2000; Diner/Toktaş 2010; Ertürk 2006; Tekeli 1995). In den Großstädten (hauptsächlich in Istanbul und Ankara) diskutierten sie in sogenannten bewusstseinsfördernden Gruppen Themen wie Gewalt gegen Frauen, weibliche Sexualität, Reproduktionsrechte, sexuelle Belästigung und Diskriminierung von Frauen (Arat 2008; Diner/Toktaş 2010; Tekeli 1990). Diese Frauen beschrieben sich als »Feministinnen«.

Zunächst stellten diese Feministinnen den kemalistischen Geschlechterdiskurs infrage. Im Gegensatz zum kemalistischen Staatsfeminismus konzentrierten sie sich nicht nur auf die Gleichstellung der Frauen im öffentlichen Leben, sondern auch auf ihre Rolle im Privatleben. Feministinnen kritisierten demnach die patriarchalische Konstellation der türkischen Familie und die damit verbundenen Geschlechterrollen, die sich auch in den Gesetzen widerspiegelten (vgl. Arat 2000; Somersan 2011; Tekeli 1995). Für die Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von Frauen forderten sie die Ratifizierung des CEDAW-Abkommens. Während der schrittweisen politischen Liberalisierung der 1980er Jahre ratifizierte die türkische Regierung 1985 das CEDAW-Abkommen, obgleich mit Vorbehalt gegenüber der Gleichstellungsklausel (Artikel 15 und 16). Dadurch wurden die genderspezifischen Defizite in den türkischen Gesetzen noch deutlicher (ESI 2007: 8). Obwohl die Türkei sich als säkular und modern bezeichnete, lagen zugleich gravierende Probleme in Bezug auf Geschlechtergleichheit vor. Beispielsweise konnten Frauen gemäß Artikel 159 des Zivilgesetzbuchs nur mit der Zustimmung ihres Ehemannes arbeiten und der Mann galt als das Oberhaupt der Familie (Artikel 152). Darüber hinaus wandte das Strafgesetzbuch das Konzept der »Familienehre« bei der Beurteilung sexueller Delikte gegen Frauen an, anstatt das der individuellen Rechte von Frauen. Frauenrechtlerinnen behaupteten, dass der kemalistische Staatsfeminismus Frauen vielleicht »emanzipierte«, aber diese von ihrer sekundären Rolle nicht »befreite« (Kandiyoti 1987: 324).

Im Jahr 1987 protestierten Feministinnen in Istanbul gegen häusliche Gewalt (Arat 2008: 398). Eine direkte Folge dieses Engagements war ein Gesetz, das das Parlament 1988 erließ und das häusliche Gewalt unter Strafe stellte (Aksoy 2014b: 125). Feministinnen verlangten zudem die Annulierung von Artikel 438 des türkischen Strafgesetzbuchs. Laut Artikel 438 konnte die Strafe für Vergewaltigung auf bis zu zwei Drittel herabgesetzt werden, wenn das Opfer eine Prostituierte war (Anıl et al. 2002; Ertürk 2006). Nach starker öffentlicher Kritik und einer feministischen Kampagne hob das türkische Parlament 1990 Artikel 438 wieder auf. Im selben Jahr unternahm die türkische Regierung einen großen Schritt gemäß den Regeln des CEDAW-Abkommens und gründete das dem Ministerpräsidenten unterstellte »Generaldirektorat für den Status und Probleme der Frau« (Kadının Statüsü ve Sorunları Genel Müdürlüğü, KSSGM) mit dem Ziel, Gleichstellungspolitiken zu etablieren (Arat 2008; Diner/Toktaş 2010; Ertürk 2006). Die Einrichtung des Frauendirektorats zeigte, dass der türkische Staat die Frauenfrage anerkannte und nicht mehr als »gelöst« präsentieren konnte. KSSGM wurde mit der Zeit zur wichtigsten staatlichen Institution, die sich ausschließlich um die Frauenfrage kümmerte. Die vom Staatsfeminismus geprägten kemalistischen Frauen übernahmen wichtige Rollen in der Verwaltung von KSSGM und passten ihren Blickwinkel auf die Frauenfrage schrittweise der feministischen Sichtweise an.

Dank des feministischen Engagements und der Forderungen des internationalen Geschlechterregimes gelangten die geschlechterspezifische Ungleichheit und die defizitäre Gesetzeslage in den 1990er Jahren auf die öffentliche und politische Agenda (Aksoy 2014b; Arat 2008). Frauengruppen organisierten Petitionsaktionen und Demonstrationen (für die Aufhebung der diskriminierenden Gesetze). Im Jahr 1992 hob das türkische Parlament Artikel 159 des Zivilgesetzbuchs auf, der bestimmt hatte, dass Frauen die Zustimmung ihres Ehemannes benötigten, um arbeiten zu dürfen (Anıl et al. 2002: 6). Nach den rechtlichen Erfolgen erkannten Frauenrechtlerinnen, dass sie mit konzertierten Aktionen geschlechterpolitische Änderungen besser erreichen konnten. Die Dynamik des feministischen Aktivismus motivierte Frauen in anderen politischen Bewegungen wie in der kurdischen und der islamistischen Bewegung, aber auch die regimetreuen Kemalistinnen, die sich bis dahin eher der Wohltätigkeitsarbeit gewidmet hatten. Frauen dieser ideologisch konkurrienden Bewegungen gründeten ihre eigenen Organisationen und diskutierten die Geschlechterfrage aus ihrer jeweiligen politischen Perspektive.

Während der 1990er Jahre gründeten einige Frauenrechtlerinnen und Parlamentsmitglieder Arbeitsgruppen, die Gesetzentwürfe für die Revision des Zivilgesetzbuchs vorbereiteten. Darüber hinaus argumentierten sie, dass auch das Strafrechtssystem reformbedürftig sei. Im Strafgesetzbuch wurde beispielsweise der Ehebruch unterschiedlich bewertet. 1996 hob der türkische Verfassungsgerichtshof die Straftat des Ehebruches seitens des Mannes (Artikel 441), und 1998 seitens der Frau (Artikel 440) auf. 1999 wurde auch der Jungfräulichkeitstest, der von Universitäten, Schulen oder Familien für die Prüfung der »Unberührtheit« der Frauen angewendet wurde, abgeschafft.

Die größte Errungenschaft der Frauenrechtlerinnen war das Gesetz zur Gewalt gegen Frauen. Im Januar 1998 verabschiedete das türkische Parlament das »Gesetz über den Schutz der Familie«. Gesetz 4320 institutionalisierte die Verantwortung des Staates, in Fällen der häuslichen Gewalt zu intervenieren und diese zu unterbinden (Coşar/Onbaşi 2008: 330). Jedes Familienmitglied, das häuslicher Gewalt ausgesetzt war, konnte eine »Schutzanordnung« gegen den Täter des Gewaltaktes beantragen (Anıl et al. 2002: 26). Der Täter konnte aus dem Haushalt entfernt werden und eine Haftstrafe von drei bis zu sechs Monaten konnte verhängt werden. Desweiteren war es dem Staatsanwalt möglich, einige Vorsorgemaßnahmen gegen den Täter zu veranlassen, um das Gewaltopfer zu schützen. Der Täter konnte verpflichtet werden, den Wohnsitz von Ehepartner_in und Kindern zu verlassen, die Wohnung der Ehepartner nicht zu beschädigen, seine/ihre Waffe abzugeben, dem/der Ehepartner_in und Kindern kein Leid anzutun, oder sich dem Haus nicht unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln zu nähern (ebd.).

Zusätzlich zu Gesetz 4320 führte der türkische Staat weitere Maßnahmen und Mechanismen ein. Die »Agentur für für Soziale Dienste und Kinderschutz« (Sosyal Hizmetler ve Çocuk Esirgeme Kurumu, SHÇEK) begann staatliche Programme zu entwickeln, um Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Die ersten »Gasthäuser« und »Beratungszentren« für unter Gewalt leidende Frauen und Kinder wurden gegründet. Frauenorganisationen begrüßten diese Entwicklungen im Bereich der Gewaltprävention und begannen zusammen mit den Bezirksgemeinden, Frauenhäuser zu gründen. 1995 errichteten zwei renommierte feministische Vereine Frauenhäuser in Ankara (Kadın Dayanışma Derneği) und in Istanbul (Mor Çatı Kadın Sığınma Vakfı). Beide Vereine gelten bis heute als Pioniere im Bereich der Gewaltprävention.

Politisch gesehen führte die dynamische und stets fordernde Frauenbewegung mithilfe des internationalen Geschlechterregimes zu einem tief greifenden Perspektivenwechsel in der staatlichen Geschlechterpolitik (siehe Kreiles und Somersans Beiträge). Die Institutionalisierung der Frauenbewegungen in den 1990er Jahre half die Frauenrechtlerinnen ihre geschlechterpolitischen Ziele besser zu realisieren und systematisch mit den staatlichen Institutionen zu arbeiten.

Vom Staatsfeminismus zur Frauenpolitik: Neugestaltung des Geschlechterregimes

Im Jahr 1999 erkannte die Europäische Union (EU) die Türkei als offizielle Kandidaten für eine Vollmitgliedschaft an. Die Türkei musste zunächst die politischen und wirtschaftlichen Kriterien für die Mitgliedschaft der EU erfüllen, die sogenannten Kopenhagener Kriterien. Im Zuge des EU-Anpassungsprozesses erließ die Türkei eine Reihe von Gesetzesänderungen und politischen Reformen (Aydın/Keyman 2004; Keyman 2010; Müftüler-Baç 2012). Diese demokratisierenden Reformen bauten stufenweise die autoritären Elemente der vom Militär verabschiedeten Verfassung aus dem Jahr 1982 ab und öffneten das politische System für zivilgesellschaftliche Akteure. Dank des EU-Anpassungsprozesses konnten die Frauenorganisationen, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzten, ihre frauenpolitischen Themen verstärkt auf die politische Agenda bringen. Der erste wichtige Schritt in der Neugestaltung der Geschlechterpolitik war das Aufheben der Vorbehalte gegenüber Artikel 15 und 16 des CEDAW-Abkommens aus dem Jahr 1999. Das nächste Ziel der Frauenrechtlerinnen bestand in der Reform des Zivilrechts (vgl. Aksoy 2014b; Marshall 2009).

Das neue Zivilgesetzbuch (2002)

Seit Mitte der 1980er Jahre forderten Frauenrechtlerinnen Änderungen im Zivilgesetzbuch. Sie behaupteten, das türkische Zivilgesetzbuch von 1926 schreibe den Frauen eine untergeordnete Rolle in der Ehe zu (Arat 2008: 402). Sie wiesen mehrfach auf die CEDAW-Anforderungen hin, die alle Formen der Diskriminierung gegen Frauen verbieten und die Gleichstellung im nationalen Rechtssystem fordern. Die türkischen Gesetzgeber stellten sich jedoch jahrelang taub. Erst nach der EU-Kandidatur fühlte sich der türkische Staat stärker unter Druck gesetzt, »das Zivilrecht mit den CEDAW-Anforderungen in Einklang zu bringen« (ESI 2007: 10). Im April 2000 begann die zuständige Justizkommission des türkischen Parlaments an einem Gesetzentwurf für das Zivilgesetzbuch zu arbeiten. Die staatliche Frauenbehörde KSSGM leitete die Forderungen von Frauenorganisationen an die Justizkommission weiter und lieferte ihre Inputs für den Gesetzentwurf (Kardam 2006: 15).

Frauenrechtlerinnen schlugen vor, dass Frauen und Männer den gleichen Status in der Ehe haben sollten. Die konservativen Mitglieder der Justizkommission aus den nationalistischen und religiösen Parteien begegneten diesem Entwurf mit Widerstand (ESI 2007; Marshall 2009). Sie behaupteten, die Gleichstellung der Ehegatten bedrohe die Grundlage der traditionellen türkischen Familie (Anıl et al. 2002: 7). Am stärksten wurde in der Justizkommission die Aufteilung der Vermögen nach einer Scheidung diskutiert (Aksoy 2014b: 105). Die die Justizkommission beratenden Frauenrechtlerinnen sprachen sich dafür aus, das während der Ehe zugewonnene Vermögen gleich aufzuteilen, die konservativen Abgeordneten lehnten diesen Vorschlag hingegen ab. Frauenrechtlerinnen argumentierten, dass die Aufteilung des Vermögens am Ende einer Ehe oft ungerecht für die Frauen aufgehe, wenn sie etwa während der Ehe nicht gearbeitet haben.

Viele Frauenorganisationen betrieben intensive Lobbyarbeit für die Durchsetzung ihrer Forderungen. Sie nutzten ihre Kontakte zu internationalen Organisationen und den türkischen Medien, um mehr Druck auf die Regierung auszuüben. Auch von EU-Institutionen bekamen sie Unterstützung. Nach monatelangen Diskussionen ließ die Justizkommission den Gesetzentwurf fürs neue Zivilgesetzbuch dem Parlament zukommen, einschließlich der Artikel über die gleichberechtigte Aufteilung des in der Ehe angehäuften Vermögens. Das neue türkische Zivilgesetzbuch trat am 1. Januar 2002 in Kraft, nachdem es vom Parlament im November 2001 genehmigt wurde. Das neue Zivilgesetzbuch enthielt folgende Neuerungen:

Der Mann wurde nicht mehr als »Oberhaupt« der Familie definiert (Artikel 152 wurde gestrichen).

Die Gleichheit zwischen den Ehegatten in der Ehe wurde festgelegt (Artikel 180).

Das legale Heiratsalter für Männer und Frauen wurde auf 18 Jahre angehoben (Artikel 124).

Ehegatten treffen zusammen Entscheidungen darüber, wo die Familie lebt und welche Schule die Kinder besuchen sollen (Artikel 185 und 186).

Ehegatten erhalten die gleichen Rechte und Pflichten in Familienangelegenheiten (Artikel 188).

Der Artikel über die gleiche Aufteilung des Vermögens (Artikel 202) gilt jedoch nur für Ehen, die nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes (1. Januar 2002) geschlossen wurden (Anıl et al. 2002; WWHR 2005). Frauenorganisationen kritisieren diese Einschränkung, weil sie insbesondere nicht-berufstätige Frauen und Hausfrauen benachteiligt, die vor diesem Zeitpunkt geheiratet haben und kein eigenes Vermögen besitzen. Nach der Einführung des neuen Zivilgesetzbuchs wurde dem Artikel 41 der türkischen Verfassung ein Absatz über die Gleichheit der Ehegatten in der Familie hinzugefügt.

Zusammengefasst hat das neue Zivilgesetzbuch die Geschlechtergleichheit in der Ehe festgelegt und wesentliche Veränderungen im Status der Frauen veranlasst. Nach diesem erfolgreichen Reformprozess setzten Frauenorganisationen sich für die Änderungen im Strafrecht ein. Dennoch geriet der politische Reformprozess ins Stocken, als die Parteien der Koalitionsregierung sich wegen interner Konflikte nicht auf einen Kompromiss verständigen konnten. Im Sommer 2002 kündigte das türkische Parlament Wahlen für November 2002 an.

Nach den Wahlen übernahm die neugegründete islamisch-konservative AKP allein die Macht des »laizistisch« geprägten Staates. Entgegen des Anfangsverdachts der säkularen Kräfte im Land und der internationalen Beobachter setzte die AKP den EU-Reformprozess fort. Zwischen 2002 und 2005 wurden erhebliche Gesetzesänderungen an der Verfassung von 1982 vorgenommen. Bürgerliche und politische Rechte wurden breiter ausgelegt und die türkische Zivilgesellschaft erlangte mehr Einfluss- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in den Entscheidungsprozessen. Unter diesen politischen Umständen verlangten Frauenorganisationen die Fortsetzung der geschlechterpolitischen Reformen, insbesondere substantielle Änderungen im Strafrechtsbuch. Die AKP begann jedoch mit der Reform des Arbeitsrechts, ohne die Forderungen der Frauenorganisationen zu berücksichtigen.

Revision des Arbeitsrechts (2003)

Im Mai 2003 führte die AKP-Regierung das neue Arbeitsrecht (Gesetz Nr. 4857) ein. Dieses besagt: »[D]ie Diskriminierung aufgrund der Sprache, der Rasse, des Geschlechts, der politischen Meinung, der philosophischen Überzeugung, der Religion und Sekte oder ähnlicher Faktoren am Arbeitsplatz ist verboten« (Artikel 5, Paragraph 1). Das neue Arbeitsrecht verpflichtet Arbeitgeber dazu, die Entgeltungsgleichheit zwischen Frauen und Männern für die gleiche Arbeit sicherzustellen und sechs Wochen bezahlten »Mutterschaftsurlaub« vor und nach der Geburt sowie sechs Monate unbezahlte Elternzeit zu gewährleisten (Kardam 2006; Müftüler-Baç 2012). Nach dieser Gesetzesänderung widmete die AKP-Regierung sich der Revision des Strafrechts und inkludierte die Frauenorganisationen in den Reformprozess.

Revision des Strafrechts (2004)

Das Strafrecht von 1926, eine an die türkischen Traditionen und Werten der Zeit Atatürks angepasste Version des italienischen Strafrechts (1899), beinhaltete zahlreiche diskriminierende Artikel gegen Frauen (ESI 2007: 15). Beispielsweise schrieb das Strafrecht vor, die Unversehrtheit des Frauenkörpers sei untrennbar mit der Ehre des Mannes verknüpft. Das Sexualverbechen (Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch) gegen Frauen wurde als Verbrechen gegen die »Familienehre« angesehen, anstatt als ein Verbrechen gegen das Individuum (Aksoy 2014b: 107). Das in der Türkei weit verbreitete Konzept der Familienehre verlangte nach traditionellem Verständnis die Tugendhaftigkeit und sexuelle Reinheit der weiblichen Familienmitglieder. Zudem gewährte Artikel 462 des Strafgesetzbuchs den Mördern eine Abmilderung der Strafe, wenn sie ihre Opfer im Namen von »Ehre«, »Tradition« oder »sittlicher Moral« ermordert hätten. Das Strafrecht machte deshalb keine Referenzen zu »Ehren- oder Sittenmorden«. Darüber hinaus ermöglichte Artikel 434 einem Vergewaltiger der Strafverfolgung zu entgehen, wenn er anbot, sein Opfer zu heiraten. Dieser Artikel behauptete, dass die vergewaltigte Frau so ihre Ehre wiederherstellen könne (Arat 2008; ESI 2007). Und sexuelle Belästigung in der Ehe wurde, selbst wenn sie gewaltsam war, nicht als eine Verletzung der körperlichen Rechte der Frau angesehen. Die Richter und Staatsanwälte spiegelten diese patriarchalen Werte in ihren Gerichtsentscheidungen wider, die Ehrenmorde oder häusliche Gewalt betrafen (ESI 2007: 16). Deshalb wollten Frauenorganisationen unbedingt mit der Reform des Strafrechts fortfahren.

2002 kamen Wissenschaftlerinnen, Frauenorganisationen und Anwältinnen auf der »Frauenplattform des Türkischen Strafrechts« (Türk Ceza Kanunu Kadın Platformu) zusammen, um Empfehlungen für das neue Strafrecht zu erarbeiten (Alemdar 2013; ESI 2007; Eslen-Ziya 2012). Diese Plattform brachte Frauen von konservativ-religiösen, säkular kemalistischen und feministischen Frauengruppen zusammen (Alemdar 2013: 144). Sie argumentierte, dass die Reform im Strafrecht nicht nur für die Stärkung der Frauenrechte nötig, sondern auch für den EU-Beitritt erforderlich sei. Die AKP-Regierung übernahm den Gesetzentwurf von der vorherigen Regierung und begann mit der Revision des Strafrechts. Die Frauenorganisationen dieser Plattform setzten eine intensive Lobbyarbeit und Medienkampagne in Gang, um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken (Marshall 2009; Uçar 2009). Sie nahmen an Ausschusssitzungen teil oder reichten Berichte ein. Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan intervenierte während des Reformprozesses, um den Ehebruch wieder strafbar zu machen. Sowohl die Frauenorganisationen als auch die EU kritisierten Erdoğans Vorschlag stark, sodass er letzlich zurückgenommen wurde. Nach einem langen Reformprozess bewilligte das türkische Parlament die Gesetzesänderungen und das reformierte Strafrecht trat im Juni 2005 in Kraft.

Es erhöhte die Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern und sexuelle Delikte gegen Frauen. Infolge der konzertierten Anstrengungen der Frauenorganisationen wurden viele Bestimmungen, die geschlechtsspezifische Diskriminierung beinhalteten, aus dem neuen Strafgesetzsbuch gestrichen oder geändert. Die wichtigsten Änderungen im Strafgesetzbuch werden in Tabelle 1 mit dem alten Strafgesetzbuch gegenübergestellt.

Tabelle 1: Geschlechterpolitische Änderungen im Strafgesetzbuch

Das Strafgesetzbuch (1926)

Das Strafgesetzbuch nach den Reformen (2004)

Die Sexualdelikte sind als Delikte gegen »die Gesellschaft« und gegen »die guten Sitten« erfasst.

Die Sexualdelikte sind als Verbrechen gegen »die Person« und gegen ihre »körperliche Unverletzlichkeit« erfasst (Artikel 102ff.).

Bei Ehren- und Sittenmorden, die sich aus einer »Provokation«ergaben, wurde diese als Schuld verringernder Grund gesehen (Artikel 29).

Das Ehrenmotiv ebenso wie bisher schon die Blutrache wurden in den Katalog der erschwerten Strafgründe aufgenommen, die einen Totschlag zum Mord heraufstufen (Artikel 82).

Die Vergewaltigung und sonstige sexuelle Handlungen an Kindern und Kindesmissbrauch können auch »mit Einverständnis des Opfers« stattfinden (Artikel103).

Streichung des Begriffs »Einverständnis« in der Sexualstraftat gegen Kinder;

Sexualstraftaten gegen Kinder gelten als schwere Straftaten.

Die Strafe gegen einen verurteilten Vergewaltiger kann ausgesetzt oder aufgehoben werden, wenn er einwilligte, das Opfer zu heiraten. (Artikel 434).

Der Artikel wurde gestrichen.

Kein Straftatbestand für die Vergewaltigung in der Ehe

Die Vergewaltigung in der Ehe ist als Verbrechen anerkannt (Artikel102).

Referenzen zu patriarchalen Begriffen in der Gesetzgebung wie »Keuschheit«, »Ehre«, »öffentliches Moral«, »Volkstradition«, »Scham und Schande« oder »Anstand«

Die Referenzen wurden gestrichen.

Im Fall, dass die Mutter ihr nichteheliches Neugeborene tötet, wurde sie wegen Mordes an ihrem Kind mit einer reduzierten Haftstrafe verurteilt, weil dieses Verbrechen als »Reinigung der Ehre der Frau« betrachtet wurde.

Der Artikel wurde gestrichen.

Vergewaltigung und sonstige sexuelle Handlungen sind als »erzwungene«, als »Festnahme mit Einwilligung« oder als »Angriff auf Keuschheit« erfasst (Artikel102/1).

Modernere Definitionen von Sexualstraftaten;

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz wurde kriminalisiert.

Differenzierung zwischen Jungfrau und Nicht-Jungfrau; verheirateter und unverheirateter Frau in den Gesetzen

Diese Diskriminierung wurde aufgehoben.

»Unanständiges Benehmen und Handlungen«, die »das traditionelle Verständnis des Anstands«, »Schamgefühle der Gesellschaft« und »die moralische Reinheit« verletzten, sind strafbar.

Dieser Artikel wurde umgestaltet, nur »exhibitionistische Handlungen« und »sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit« sind strafbar.

Quelle: vgl. Tellenbach 2006; Ünver 2007; WWHR 2005.

Einführung von geschlechtersensiblen Policies und Mechanismen

Im Zuge des Strafrecht-Reformsprozesses führte die AKP-Regierung auch neue gesetzliche und institutionelle Mechanismen für den Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt ein. 2004 wurden Familiengerichte zur Bearbeitung der Verfahren und Angelegenheiten eingerichtet, die sich aus dem Familienrecht und Zivilrecht ergeben (Gesetz Nr. 4787). Die Einrichtung dieser Gerichte in jeder Stadt und jedem Bezirk mit mehr als 100.000 Einwohnern vereinfachte das Verfahren in Familienstreitigkeiten wie häuslicher Gewalt oder Missbrauch. Im selben Jahr erlangte auch das Frauendirektorat einen permanenten Status in der Regierung und wurde zum »Geneldirektorat für den Status der Frau« (Kadının Statüsü Genel Müdürlüğü, KSGM) umbenannt. Somit wurde die Verantwortung des Staates für die Verbesserung der Frauenrechte und die Umsetzung von Gender Mainstreaming institutionalisiert. Zudem änderte das türkische Parlament 2005 Artikel 14 des Kommunalgesetzes (Gesetz Nr. 5393). Es besagt: »Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern werden mit dem neuen Kommunalgesetz verpflichtet, Frauenhäuser einzurichten«. Bei der Implementierung des Gesetzes gab es jedoch Probleme. Müftüler-Baç konstatierte in ihrem Bericht über die »Geschlechtergleichheit in der Türkei« für das Europäische Parlament:

»[…], there are also reports from the victims of violence that the personnel at the [women’s] shelters try to reconcile them with their abusers and sometimes even let them in. This particularly sheds light onto the inability of the state to protect victims of domestic violence as police and social workers sometimes are reported to convince victims of domestic violence to reconcile with their abusers. This also indicates that legal changes need to be accompanied with normative changes and social transformation in order to be effective« (Müftüler-Baç 2012: 10).

2005 wurde auch die Geschlechtergleichheit in der Verfassung festgeschrieben. In Artikel 10 der türkischen Verfassung heißt es: »Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung zu verwirklichen«. Im selben Jahr wurde auch ein Absatz dem Artikel 90 über die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen beigefügt, der die Bestimmungen des CEDAW-Abkommens bezüglich der geschlechterpolitischen Verfahren im Rechtssystem den Vorrang einräumt. Artikel 90 schreibt vor: »Soweit Grundrechte und -freiheiten regelnde Vorschriften verfahrensmäßig in Kraft gesetzter völkerrechtlicher Verträge mit nationalen Bestimmungen mit gleichem Regelungsgehalt nicht übereinstimmen, finden die Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge vorrangig Anwendung.«

2008 hat die AKP-Regierung versucht, die ewige Debatte über das Kopftuch zu lösen. Im Februar 2008 verabschiedete die AKP mithilfe der oppositionellen Nationalistischen Bewegungspartei (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) die Änderung zweier Verfassungsartikel, die das Tragen des Kopftuches an den Hochschulen erlauben sollte (vgl. Aksoy 2015; Arat 2010; Turam 2008). Das Argument war, dass alle Bürger_innen vor dem Gesetz gleichbehandelt werden sollen (Artikel 10) und ein Recht auf Bildung (Artikel 42) hätten (Arat 2010: 872). Angesichts gesellschaftlicher Proteste seitens der säkularen Kräfte wurde dieses Gesetz vom Verfassungsgericht annuliert.

Ein wichtiger institutioneller Schritt hinsichtlich der Geschlechtergleichheit war die Einrichtung der parlamentarischen »Kommission für die Chancengleichheit von Frauen und Männern« (Kadın – Erkek Fırsat Eşitliği Komisyonu, KEFEK) im März 2009. Laut Gesetz Nr. 5840 ist die Kommission, die aus Mitgliedern von im Parlament vertretenen Parteien besteht, zuständig für die Untersuchung der Gesetzentwürfe und -vorschläge der Regierung oder Justizkommission aus einer Geschlechterperspektive. Zudem veröffentlicht die Kommission regelmäßig Berichte und Studien über Zwangsheirat, Gewalt gegen Frauen, Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.

Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen

Neben den gesetzlichen Änderungen führte die AKP-Regierung durch das Frauendirektorat KSGM mehrere Programme zur Verhütung und Bekämpfung häuslicher Gewalt ein. Im September 2006 startete KSGM das zweijährige Projekt »Bekämpfung der häuslichen Gewalt«, das von der EU gefördert und von United Nations Population Fund (UNFPA) logistisch unterstützt wurde (Uçar 2009; UNDP 2013). Im Einklang mit den UN-Maßnahmen für den Schutz von Frauen vor Gewalt bereitete KSGM 2006 einen »nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt gegen Frauen (2007–2010)« und 2010 den zweiten Plan für die Jahre 2012 bis 2015 vor. Diese Pläne schreiben die staatlichen Aufgaben in der Bekämpfung von häuslicher Gewalt gegen Frauen vor und bestimmen die Leitlinien, wie die staatlichen Institutionen mit den möglichen Partnerinstitutionen wie Frauen-NGOs, Kommunen, der Anwaltskammer und den Universitäten kooperieren sollen. Von 2006 bis 2009 erließ das Frauendirektorat in Zusammenarbeit mit Innen-, Justiz und Gesundheitsministerium sogenannte Trainingsprotokolle und bildete Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte für die Präventionsarbeit gegen häusliche Gewalt aus (KSGM 2012: 13).

2005 gründete die AKP-Regierung darüber hinaus eine parlamentarische Kommission, um die Ursachen der Gewalt gegen Frauen und Kinder zu erforschen und notwendige politische Maßnahmen für die Bewältigung von häuslicher Gewalt zu entwickeln. Im Juli 2006 publizierte die Kommission einen Bericht über »Gewalttätige Akte gegen Frauen und Kinder und die Maßnahmen zur Prävention von Ehren- und Traditionsmorden« im Rundbrief des Ministerpräsidenten (Nr. 2006/17): »This decree specified all state’s institutions responsible for taking measures to prevent customary and honor killings and protecting women and children from violence. It identified KSGM as the main coordinator.« (KSGM 2012: 12).

Während des türkischen Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates arbeitete die AKP-Regierung aktiv an der Vorbereitung der »Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, die vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedet wurde (Müftüler-Baç 2012: 11). Am 11. Mai 2011 wurde die Konvention vom türkischen Parlament ratifiziert. Die Istanbuler Konvention zur Prävention von Gewalt gegen Frauen trat am 1. August 2014 in Kraft. Sie verfolgt das Ziel, Frauen vor Gewalt zu schützen und der Straflosigkeit von Täter_innen ein Ende zu setzen. Die teilnehmenden Staaten verpflichten sich dazu, nötige Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Betreuung und Rechtsschutz zu etablieren, außerdem soll die Unterstützung der Opfer bei zivil- und strafrechtlichen Verfahren sichergestellt werden.

Frauenrecthlerinnen begrüßten die gesetzlichen Entwicklungen und Verbesserungen in der Geschlechterpolitik, wiesen aber auf die Lücken im Gesetz über den Schutz der Familie (Nr. 4320) hin. Insbesondere alleinstehende, geschiedene Frauen oder Frauen, die nicht standesamtlich, sondern in einer religiösen Zeremonie geheiratet haben, waren durch das Gesetz 4320 nicht geschützt. Deshalb behaupteten Frauenorgansationen, Frauen und Mädchen seien wegen des lückenhaften Gesetzes häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert. Es war nötig, Gesetz 4320 zu revidieren.

Das neue Gesetz (Nr.6284) zum Schutz vor häuslicher Gewalt (2012)

Unter der Führung der Ministerin für Familie und Sozialpolitik Fatma Şahin begann das Frauendirektorat KSGM das Gesetz (Nr. 4320) zum Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt zu überarbeiten. Dabei kooperierte die Ministerin mit Vertreterinnen von Frauenorganisationen und mit der Anwaltskammer und diskutierte ihre Anliegen und Forderungen ausführlich mit ihnen (Aksoy 2014b: 110). Nach langen Auseinandersetzungen zwischen den Frauenorganisationen und dem Ministerium wurde am 8. März 2012 das »Gesetz über den Schutz der Familie« (Nr. 4320) durch das »Gesetz zum Schutz der Familie und zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen« (Nr. 6284) ersetzt. Das neue Gesetz verpflichtet den Staat, effektive Rechtsbehelfe und Schutzmechanismen sowie eine strenge und unverzügliche Umsetzung des Rechtsrahmens anzuwenden, um die Gewalt gegen Frauen mit strengen Strafen für die Täter zu bekämpfen (Tahaoğlu 2012). Im Fall gewalttätiger Ehegatten oder Partner sollen erforderliche Bestimmungen für ein Wohnungsverbot erlassen werden. Im Gegensatz zu dem alten Gesetz (Nr.4320) schützt das Gesetz Nr. 6284 nicht nur verheiratete Frauen, sondern auch unverheiratete Frauen und Frauen, die in einer religiösen Zeremonie geheiratet haben, vor Gewalt. Zudem wurde in allen Städten eine Frauennotrufnummer (Alo 183) eingeführt und »Zentren für die Prävention und Beobachtung von Gewalt« (Şiddet Önleme ve İzleme Merkezleri, ŞÖNIM) eingerichtet, in denen Gewaltopfer medizinisch versorgt und während der Dauer ihres Verfahrens psychologisch betreut werden, um eine wiederholte Drangsalierung zu vermeiden.

Durch die bereits erwähnten gesetzlichen Reformen und institutionellen Maßnahmen kann man feststellen, dass in der ersten und zweiten Amtszeit der AKP-Regierung (2002–2007 und 2007–2011) wesentliche Veränderungen für die Verbesserung des Status der Frauen eingeführt und Strategien für die Bekämpfung der häuslichen Gewalt in die Geschlechterpolitik integriert wurden. Die geschlechtersensiblen Änderungen im Bereich der Frauenrechte reichen jedoch nicht für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Kluft zwischen der De-jure-Situation und der De-facto-Situation hinsichtlich der Geschlechtergleichheit in der Türkei ist bemerkenswert (Aydemir 2013: 79).

Defizite und Probleme des Geschlechterregimes

Die Zahlen weisen darauf hin, dass Frauen in der Türkei im Vergleich zu Männern geringeren Zugang zu politischen, ökonomischen und sozialen Resourcen haben, das gilt zum Beispiel für Bildungsmöglichkeiten, Qualifikations- und Erwerbsbeteiligungschancen. In der letzten Global Gender Gap Report 2016 des Weltwirtschaftsforums, der die Kluft zwischen den Geschlechtern in 144 Ländern untersucht hat, belegte die Türkei den 130. Rang. Die Studie erforscht seit 2006 die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in vier Bereichen: wirtschaftliche Beteiligung und Chancengleichheit, Bildungsabschluss, politische Teilhabe, Gesundheit und Lebenserwartung (Global Gender Gap Report 2016). Die moderne, säkulare Türkei lag somit hinter streng-konservativen muslimischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (124. Platz), Katar (119. Platz) oder Kuwait (128. Platz).

Die niedrige Frauenerwerbsquote ist ein wesentliches Problem in der Türkei. Sie liegt bei etwa 33 Prozent (2016). Oft arbeiten Frauen in der Schattenwirtschaft oder als unbezahlte Familienkräfte in der Landwirtschaft und verdienen weniger als Männer. Frauen sind meist in schlechter bezahlten Wirtschaftssektoren beschäftigt oder arbeiten teilzeit. Um die Erwerbsquote von Frauen zu erhöhen, hat die Regierung Maßnahmen unternommen:

»In 2010, the Prime Ministerial Circular 2010/14, on ›Increasing Women’s Employment and Achieving Equality of Opportunity‹ was adopted specifying the measures to be taken to increase women’s employment. Accordingly, the Turkish government adopted a measure that would discriminate positively in favor of female workers over the age of 18 by granting the employers who hire them exceptions in social security payments« (Müftüler-Baç 2012: 14).

Aber das Fortbestehen diskriminierender Institutionen und patriarchaler Gendernormen schränkt die wirtschaftlichen und sozialen Chancen von Mädchen und Frauen ein. Besonders wichtig wäre es, die Kinderbetreuungsangebote auszubauen. Staatlich organisierte Kinderbetreuung ist mangelhaft, privatisierte Betreuung hingegen ist für viele Familien unbezahlbar. Frauen sind deshalb immer noch auf die Großeltern oder andere Familienmitglieder angewiesen (siehe Ünlütürks Beitrag).

Eine wichtige Voraussetzung für eine höhere Frauenerwerbsquote sind gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen. Obwohl der Zugang zur Grundschulbildung für Jungen und Mädchen vollständig gesichert ist, erreichen weniger Mädchen als Jungen den sekundären und tertiären Bildungssektor. Ein wichtiger Schritt hinsichtlich der Chancengleichheit in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt war die Aufhebung des Kopftuchverbots. Seit 2010 können kopftuchtragende Frauen ihr Studium an den Hochschulen fortsetzen, seit 2013 in staatlichen Institutionen arbeiten. 2014 wurde das Tragen von Kopftüchern auch an Gymnasien erlaubt. Auch einige Parlamentarierinnen tragen seit 2013 Kopftuch.

Während die ungleiche Gesundheitsversorgung mittlerweile der Vergangenheit angehört, sind Frauen im politischen Bereich weiterhin unterrepresäntiert. Der Anteil von Frauen im Parlament ist in den vergangenen drei Legislaturperioden (2002–2007; 2007–2011 und 2011–2015) graduell gestiegen. Nach den letzten Parlamentswahlen im November 2015 sind 81 von 550 Abgeordneten (14,4 Prozent) Frauen.

Nichstdestotrotz ist Gewalt gegen Frauen und Mädchen eines der größten Probleme in der Türkei. Nach den Angaben des unabhängigen Nachrichtenportals Bianet wurden 2016 238 Frauen von Männern ermordet – mehr noch als im Jahr davor. Zahlreiche empirische Studien belegen, dass mehr als ein Drittel der Frauen in der Türkei im Laufe ihres Lebens zu Opfern ihrer Ehemänner, Partner oder Familien wurden, die sie körperlich verletzt oder sexueller misshandelt haben (Altınay/Arat 2009). »Das ist ein ›Genderzid‹, wie ein Genozid, und nichts anderes«, sagt die Anwältin und Frauenrechtlerin Hülya Gülbahar in einem Interview (Conrad 2012). Es gibt ernsthafte Probleme bei der Implementierung des Gesetzes 6284. Viele Frauenrechtlerinnen behaupten, dass es der Regierung am politischen Willen für weitere Gesetzesänderungen mangele. Hülya Gülbahar stellt fest: »Die türkischen Behörden enthalten von häuslicher Gewalt Betroffenen grundlegenden Schutz vor. Auf dem Papier sind wichtige Reformen eingeführt, aber bei der Implementierung erleben Frauen immer noch Probleme. Polizei, Staatsanwälte, Richter und Sozialarbeiter müssen sich gesetzeskonform verhalten und die Regelungen umsetzen« (Pelek 2010).

Frauenorganisationen kritisieren Gesetzesmängel und zeigen die Probleme bei deren Anwendung auf. In den letzten Jahren kämpfen sie sowohl gegen die frauenspezifischen Probleme in der Gesellschaft als auch gegen das von der AKP-Regierung propagierte konservative Frauenbild. 2011 wurde beispielsweise der Name des »Ministeriums für Frauen und Familie« zum »Ministerium für Familie und Sozialpolitiken« umbenannt, was zahlreiche Frauenrechtlerinnen zum Protest bewegte (Cinmen 2011). Zudem machten die wichtigen politischen Figuren der AKP, insbesondere Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den Körper und die Sexualität von Frauen sowie das private Leben zu politischen Metaphern. Sie versuchen damit konservative Normen in der Geschlechterpolitik durchzusetzen. Trotz solcher Angriffe und Rückschläge kämpfen zahlreiche Frauenorganisationen und Gruppen gegen den konservativen Geschlechterdiskurs der AKP und versuchen die Rechte zu bewahren.

Fazit

Dieser Aufsatz hat die Anfangsjahre der Türkischen Republik untersucht, um die Dynamiken der Geschlechterverhältnisse und des Geschlechterregimes in der modernen Türkei verständlich zu machen. Das kemalistische Regime schuf einen gesetzlichen Bezugsrahmen für die Emanzipation der Frau und führte die Geschlechterpolitik als Teil des Nationbuildings durch. Der »von oben« geleitete Staatsfeminismus prägte einerseits eine relativ geschlechtersensible Gesetzgebung, andererseits verhinderte er die Entfaltung einer »von unten« bestimmten Geschlechterpolitik. Die zu Beginn der 1980er Jahren entstandene feministische Frauenbewegung wies jedoch auf das Fehlen der kemalistischen Geschlechterpolitik hin und machte die Diskriminierung der Frauen in allen Bereichen des Lebens sichtbar. Der türkische Staat erkannte die Notwendigkeit, die Frauenpolitik geschlechtersensibler zu gestalten und setzte Reformen zur Gleichstellung in Zusammenarbeit mit den Frauenorganisationen durch.

Das neue Zivilrecht, das reformierte Straf- und Arbeitsrecht, das Gesetz Nr. 6284 zum Schutz der Frauen vor häuslicher Gewalt, die Verankerung des Gleichstellungsprinzips in die Verfassung und die neu eingeführten geschlechtersensiblen Policies