Paul. - Eligius Lohstein - E-Book

Paul. E-Book

Eligius Lohstein

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Beschreibung

Obwohl Paul den Wehrdienst verweigert hat, muss er Soldat werden. An seinem Dienstort wird er unvermittelt mit der Geschichte seines Großvaters konfrontiert. Es dämmert ihm, warum seine Eltern so nachhaltig verstört sind und warum seine Kindheit und die seiner Geschwister so traurig verlaufen ist. Trotzdem muss er sein Leben leben, seinen Weg finden. Es scheint ihm zu gelingen - oder doch nicht? Paul ist in seinem Jahrhundert nichts Besonderes. In vielen Familien wirken die Sünden der Großväter fort.

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Inhaltsverzeichnis

VI Roth/Landsberg

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

VII Bamberg

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

VIII Würzburg

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

VI Roth/Landsberg

1

Ein trüber Sonnenaufgang erhellt notdürftig das still daliegende Farmhaus. Zwei Männer mit Cowboyhüten und Jeans besteigen einen Pickup. Die staubige Landstraße haben sie für sich allein, fahren Meile um Meile. Endlich halten sie an und steigen aus. Dieser Ort unterscheidet sich durch nichts von der restlichen Prairie. Der Jüngere trägt eine Sporttasche. Er ist mit einer Jacke bekleidet und hat einen Schlips umgebunden, der andere trägt ein kariertes Flanellhemd. Sie reden nicht viel. Ein Bus nähert sich. Der ältere Mann mit Schnauzbart zählt ein paar Geldscheine ab und drückt sie dem jüngeren in die Hand. Der Bus öffnet sich, niemand steigt aus. An der Haltestelle gibt es außer den beiden Männern niemanden. Sie geben sich die Hand. Nach kurzem Zögern umarmt der Jüngere linkisch den Älteren und steigt in den Bus.

So beginnt die Verfilmung des Musicals „Hair“ von Milos Forman.

Ungefähr so hätte am ersten Juli Pauls Abschied vom Elternhaus aussehen können. Naja, vielleicht ohne die Umarmung und das Geld. Er wusste, dass sein Vater für das eine nichts übrig und von dem anderen zu wenig hatte. Außerdem musste er nur zur Bundeswehr, nicht nach Vietnam.

Tatsächlich hatte sich sein Vater überhaupt nicht von ihm verabschiedet. Morgens war er schon außer Haus gewesen, als Paul sich anschickte, dem Ruf zu den Waffen zu folgen. Am Abend vorher hatte er vermutlich einfach nicht daran gedacht. Zuerst war er in seinem Sessel vor dem Fernseher eingeschlafen und erst aufgewacht und ins Bett gegangen, als Paul selbst schon im Bett lag. Er hatte ihn noch gehört, wie er nebenan hochrumpelte, und sich und sein Schicksal bedauert. Er konnte nicht schlafen, hatte aber nicht die geringste Lust auf Gesellschaft.

Nur seine Mutter traf er beim Frühstück. In der Regel war es ihm lieber, er konnte allein frühstücken. Seine Mutter brachte oft eine bedrückende, misslaunige Stimmung mit. Heute aber ließ sie es sich nicht nehmen, mit ihm im Nachthemd ein letztes Frühstück zu teilen. Sogar Spiegeleier mit Schinken machte sie für sie beide.

Zwischen ihnen hatte sich in den letzten beiden Jahren eine Fremdheit eingeschlichen. Es schien, als verzeihe sie ihm seinen Verrat nicht. In ihren Augen hatte er sie wohl im Stich gelassen, als er ins Internat zog. Dass sich das im Nachhinein

für Paul wie eine sehr gute Entscheidung anfühlte, war ihr wohl erst recht ein Grund, sich verletzt zu fühlen.

„Wie war deine letzte Nacht in Freiheit?“, eröffnete sie die Unterhaltung.

Bei dem Wort „Freiheit“ zog sich Paul alles zusammen. Musste sie immer gleich den Finger dahin legen, wo es am meisten weh tat?

„Ganz normal“, erwiderte er und erwähnte mit keinem Wort, dass er praktisch nicht geschlafen hatte.

„Kaum bist du da, gehst du schon wieder weg. Wozu habe ich Kinder, wenn sie mich ständig allein lassen?“

„Das war ja wohl nicht meine Entscheidung.“ Sollte so ihr letztes Gespräch werden?

„Ja, aber danach willst du studieren. In Bamberg. Da ist es doch wurscht, ob du jetzt wegen dem Studium oder der Bundeswehr weg bist. Die letzten zwei Jahre hast du ja auch nicht bei uns leben wollen. Genau wie deine Schwester.“ Ihr Gesicht zeigte Enttäuschung. „Geht´s nur alle weg.“ Paul fühlte sich schuldig, obwohl er sich nicht schuldig fühlen wollte. Er spürte, dass der Vorwurf der Mutter ungerecht war und konnte trotzdem seine Schuldgefühlle nicht verhindern.

Resignierend sagte er:

„In Jakobsburg kann ich das nicht studieren, was ich studieren will.“

„Ja, aber in München. Du könntest mit dem Zug nach München fahren. Wir könnten das Dach ausbauen, du hättest dein eigenes Stockwerk.“ Paul glaubte schon lange nicht mehr, dass das Dachgeschoss ausgebaut werden würde. Seit fast zehn Jahren redete seine Mutter davon, sein Vater übrigens nie.

Stattdessen war der Dachboden vollgestopft mit Ware aus dem Laden oder für den Flohmarkt, Sachen, die man vielleicht irgendwann brauchen oder verkaufen könnte. Abgesehen davon war die Vorstellung für Paul inzwischen ein Gräuel, dass er mit seinen Eltern in Zukunft unter einem Dach leben sollte.

„Mama, darum geht es doch jetzt gar nicht. Heute muss ich zur Bundeswehr.“ Er sagte das fast ein wenig heftig. Wie schwer ihm dieser Gang fiel, sagte er jedoch nicht. Trotzdem hatte seine Mutter bemerkt, in welcher Verfassung er war.

„Den Kopf werden sie dir schon nicht herunterreißen. Dem Werner hat´s auch nicht geschadet. Und wenn ich daran denke, was du dir mit der Abiturzeitung geleistet hast, dann wird dir ein bisschen Zucht schon nicht schaden. Vielleicht können die dir etwas Mores lehren.“ Paul sagte nichts mehr. Seine Mutter hatte keine Ahnung von seiner Innenwelt und wenn doch verwendete sie diese gegen ihn.

Er musste sich erst um sechzehn Uhr in der Kaserne in Roth einfinden und konnte sich dementsprechend Zeit mit seinem Aufbruch lassen. Als er das Haus bei klarem Himmel verließ, ermahnte ihn seine Mutter mit müden Worten, er solle sich nicht mit seinen Vorgesetzten anlegen, ihnen nicht widersprechen und brav sein.

In einem Schreiben war ihm mitgeteilt worden, was er an Gepäck mitbringen durfte. Für das Wenige brauchte er nicht einmal einen Koffer: Waschzeug, Schlafanzug für die erste Nacht, Schuhputzzeug hatte er in einer kleinen Plastiktasche untergebracht. Rasierzeug hatte er nicht mitgenommen. Seinen Bart durfte er behalten, wenigstens etwas Individuelles, wenn er sich schon die schulterlangen Haare mit den herausgewachsenen Dauerwellen hatte abschneiden lassen müssen. Er sollte „gepflegt“ sein. Bei ihm würde es reichen, wenn er ab und zu mit der Schere seine Fransen zurückstutzte.

Wie auf dem Weg zu einer Hinrichtung trottete er den Berg hinunter.

Ob er sich eine Zigarette anzünden sollte, überlegte er. In den letzten drei Wochen war es ihm gelungen, täglich nur noch eine Zigarette zu rauchen. Lange schon wollte er sich das Rauchen abgewöhnen. Aber beim Bund würde es ihm sicher nicht gelingen, das ahnte er schon. Da konnte er auch gleich wieder richtig anfangen.

Ein Päckchen Camel steckte in seiner linken Brusttasche. Mit der freien Hand konnte er sich einen Glimmstängel herausfischen. Er hatte schon gewusst, warum er sie dort deponiert hatte und nicht in seiner Reisetasche. Er zündete sich eine an und tat einen tiefen Zug. Mit Zigarette war doch alles ein bisschen besser. Er musste über sich selbst grinsen. Als sei er Humphrey Bogart auf dem Weg zu seinem letzten Einsatz.

Mit seiner Verabschiedung haderte er. Werner war freiwillig zum Militär gegangen. Dessen Abschied hatte er auch nicht mitbekommen. Vermutlich war er von freudiger Erwartung geprägt, seine Mutter hatte ihm wahrscheinlich die gleichen Worte gesagt. Aber er war nicht Werner. Hatte sie vergessen, wie er sich gegen den Wehrdienst gesträubt hatte? Seine Welt, or allem erst in den letzten beiden Jahren entstanden, war zu Ende. Interessierte keinen. Ganz offensichtlich.

Er sah die Straße hinunter, alles war wie sonst. Aus manchen Fenstern quoll Rauch oder Dampf. Die Hausfrauen verrichteten ihr Werk an der Familie. In seiner Jacke schwitzte er. Gebraucht hätte er sie nicht. Aber wer wusste schon, wann er wieder heim käme und wie dann das Wetter sein würde. Und besser, er hatte sie an, als dass er sie in der Tasche tragen müsste.

Klar, als erstes werden die Rekruten eingekleidet werden, dann hätte er für jedes Wetter die richtige Kleidung. Selbst wenn es mitten im Juli einen Wintereinbruch gäbe. Aber es kam überhaupt nicht in Frage, dass er mit Bundeswehrklamotten heimfuhr.

Werner tat das übrigens auch nicht. Zwar brachte er gelegentlich seine Sachen zum Waschen, auch die dienstlichen. Aber wenn er heimkam, eh nicht oft, trug er immer zivil. Machte er das vielleicht Paul zuliebe? Der Gedanke kam ihm zum ersten Mal und überflutete ihn mit Rührung.

Also schwitzte er. Er würde die nächste Zeit noch mehr schwitzen. Er schwitzte mannhaft.

Apropos mannhaft. Aus seinem Trainingsprogramm war doch nichts geworden.

Eigentlich hatte er sich vorgenommen, jeden Tag einen Dauerlauf zu absolvieren, um seine Kondition zu verbessern. Aber abgesehen davon, dass er nicht einmal richtige Sportsachen besaß, hätte ihn seine Mutter nur ständig gelöchert, warum er jetzt plötzlich sportlich werden wolle. Sie hätte natürlich richtig vermutet, dass er sich nicht zu sehr blamieren wollte. Dann hätte sie ihn tagelang damit aufgezogen. Er hatte keine Lust, sich ständig zu erklären, am Ende war ihm jeden Tag etwas dazwischen gekommen. Hätte wohl eh nicht viel gebracht.

Seiner Mutter schien es inzwischen ja besser zu gehen. Zwar trug sie immer noch ihre Calcium-Ampullen mit sich herum, aber anscheinend kam sie jetzt ohne Tavor und Valium aus. Teufelszeug! Aber abhängig war sie schon noch. Nicht mehr von den Medikamenten, aber von seinem Vater, auf den sie zwar schimpfte, aber ohne ihn kam sie nicht aus dem Haus. Allein ging sie nicht zum Einkaufen, nicht zum Arzt, nicht einmal zum Frisör. Und emotional war sie offensichtlich auch abhängig. Am meisten von ihren Kindern. Je mehr von ihnen das Haus verließen - nur Dieter wohnte noch daheim - desto mehr klebte sie an ihnen. Ständig wollte sie besucht oder angerufen werden. Wenn man es dann tat, drehte sich das Gespräch hauptsächlich um sie selbst, wie schlecht es ihr ging und wie schlecht sie von allen behandelt werde. Vor allem von ihren eigenen Schwestern, die überhaupt kein Verständnis für sie hätten. Nur gut, dass sie ihre beiden alten Tanten noch habe, Tante Nane und Tante Julia, die in Hessen wohnte.

Dabei hatte ein Telefongespräch mit ihr nie weniger als eine Stunde gedauert.

Paul glaubte nicht, dass er sie von der Kaserne aus überhaupt würde anrufen können. In seiner Vorstellung hatte diese Einrichtung große Ähnlichkeit mit einem Gefängnis.

Sheriff, ein ehemaliger Mitschüler, war beim FKG gelandet - Flugkörpergeschwader. Dort bewachte er Raketen, die Deutschland eigentlich gar nicht besaß. Er hatte immer sieben Tage am Stück Dienst, dann sieben Tage frei. An Tagen mit Dienst musste er vier Stunden Wache schieben, hatte anschließend vier Stunden frei, dann wieder vier Stunden Wache und so weiter, eine ganze Woche lang im Vierstundenrhythmus. Paul stellte sich das furchtbar einsam und öde vor.

Sheriff hatte ihm erzählt, dass er in den Wachestunden Balladen reizitiere, die er einmal gelernt hatte. Wozu Balladen doch gut waren! Wenn er Lehrer sein würde, musste er diese Anekdote unbedingt seinen Schülern erzählen. „Lernt Balladen, dann habt ihr etwas auf der Wache zum Wachhalten.“ Wie oft war er diese Strecke schon gegangen! Jeden Schultag! Anfangs war er noch mit dem Rad gefahren. Das schlummerte auch schon eine ganze Weile als Stütze in der Betonwand im Garten.

Ihm kam der Gedanke, dass er zum letzten Mal diesen Weg in seinem alten Lebensabschnitt ging, ein Abschied. Wieder einmal. Richtig daheim hatte er sich in Theissingen nie gefühlt, obwohl er hier aufgewachsen war. Die Zeit im Kirchenchor lag auch schon zwei Jahre zurück. Seitdem war er nur an den Wochenenden und in den Ferien hier gewesen. Im Grunde ungern. Ungern in Theissingen und ungern in der Familie. Sein Leben hatte woanders stattgefunden, die Zeiten hier waren Zwangspausen gewesen. In Zukunft war er hier noch weniger daheim. Es gab nur ein paar Wochen Urlaub in den fünfzehn Monaten Wehrdienst.

Seine Wochenenden würde er natürlich hier verbringen, wo sonst? Aber nur weil es keinen anderen Ort für ihn gegeben hätte. Werner war oft in der Kaserne geblieben, aber Pinneberg war ja auch weit weg.

Linker Hand sah Paul das Haus auftauchen, in der Gelis Familie wohnte beziehungsweise der Teil davon, der noch da geblieben war, die beiden jüngsten Kinder und die Mutter, die ihrem Mann beim Dahinvegetieren zusah. Nein, das war falsch ausgedrückt. Er war ja neben den Kindern ihr Lebensinhalt. Andere Interessen hatte sie nicht. Und sie brauchte ihn. Solange er lebte, hatten sie seine Pension. Wenn er starb, und das konnte jederzeit sein, mussten sie von der Hinterbliebenenpension leben, sechzig Prozent seiner Bezüge.

Von Geli hatte er sich noch nicht verabschiedet, wozu auch? Sie sagte, sie wolle Freundschaft, er erlebte sich als Bettler. Nein, dann verschwand er eben geräuschlos aus ihrem Leben. In Jakobsburg blieb ihm noch etwas Zeit, vielleicht schaute er bei ihr vorbei.

Mit einem Seufzer nahm er die letzten Meter zum Bahnhof. Er fühlte sich hilflos.

Seit Jahren war er gegen dieses Ereignis angerannt, sogar beim Psychologen war er gewesen. Alles vergeblich, als wäre er mit Anlauf immer wieder gegen dieselbe Mauer gerannt.

Er bestieg den Bummelzug nach Jakobsburg. Als der Schaffner sah, dass sein Fahrschein von der Bundeswehr ausgestellt war, musste er Paul unbedingt mitteilen, dass auch sein Sohn in Roth gewesen sei. Das Essen dort sei fürchterlich und auch sonst habe es ihm überhaupt nicht gefallen. Paul lächelte ihn an, als ob er sich für seine Geschichte interessiere, aber er war froh, als der Mann weiterging. Ob das Essen gut oder schlecht war, war ihm doch egal und bei der Bundeswehr würde es ihm nirgends gefallen, schon aus Prinzip nicht.

Bei den Gedanken, was ihn erwartete, bekam er feuchte Hände und Herzklopfen. Er war noch nie gut in Sport gewesen, im Zeugnis hatte er nur den einen obligatorischen Punkt. Andererseits glaubte er, dass der Sport noch das Geringste sein würde, was er zu fürchten hatte.

Von den alten Schulfreunden, die im letzten Jahr Abitur gemacht hatten, hatte er Geschichten gehört: von Unteroffizieren, die saubere Wände noch sauberer putzen ließen, von Spießen, die stundenlang stramm stehen ließen, von Stubendurchgängen, die reine Schikane waren, vom unterirdischen Umgangston, der nicht gesprochen, sondern gebrüllt wurde.

Paul suhlte sich in Selbstmitleid. Aus dem Fenster sah er Bauern bei der Arbeit, Kinder winkten. Er wollte sie nicht sehen. Die dort draußen genossen ihre Freiheit, während er dazu verpflichtet wurde, sie zu verteidigen. Ausgerechnet er! Ein Witz! Nach zwanzig Minuten erreichten sie Jakobsburg. Seine Tasche stellte er nicht in ein Schließfach, dafür wollte er kein Geld ausgeben.

Er musste noch eine Geburtstagskarte für Sanne kaufen, unbedingt. Am Samstag hatte sie Geburtstag. Nach dem Ereignis auf dem OBST, er dachte mit Wehmut daran zurück, auch an Sannes Busen, war sie zunächst recht kratzbürstig zu ihm gewesen. Erst als er ihr überzeugend hatte vermitteln können, dass er keinerlei Ansprüche aus dem Ereignis ableite, war sie wieder zugänglicher geworden. Dabei hatte er mitbekommen, dass sie in Gefahr war, von den Scientologen vereinnahmt zu werden. Wieviele Gespräche hatte er mit ihr geführt! Sie war auf der Suche, das verstand er. Aber die Scientologen waren kein gutes Ziel. Er spürte bei ihr etwas, was ihm selbst gut bekannt war, das Bedürfnis gesehen zu werden, dazuzugehören. Er hoffte, dass seine Gespräche geholfen hatten, sie vor der Sekte zu bewahren. Er wollte ihr unbedingt auch von der Bundeswehr aus ein Zeichen senden, dass er an sie denke.

In der Stadt drehte er noch einmal eine Runde auf alten Pfaden. Geli war nicht daheim, aber viel Zeit für sie hätte er sowieso nicht gehabt, so gab es eben kein Lebewohl. Auf dem Rathausplatz trank er eine Cola. Kurz hatte er überlegt, ob er sich nicht zum Abschied ein Bier gönnen sollte. Aber wer wusste, was ihn heute noch erwartete. Besser war es, nüchtern zu bleiben. In der Fußgängerzone traf er Fritschie und ihre Freundin. Beide waren in Pauls Partnergruppe. Gewesen - musste man jetzt dazu sagen, denn nach Pauls Abitur existierte seine Gruppe nicht mehr weiter. Sich noch einmal einen neuen Gruppenleiter suchen wollten sie nicht.

Den Mädchen erklärte er, warum er mit einer Reisetasche unterwegs war und wohin. Ihr Bedauern tat ihm gut. Wehmütig verabschiedete er sich.

Der Bahnsteig lag in stiller Mittagshitze, Lautsprecheransagen verwehten unverstanden, wenige Passagiere warteten auf die Ankunft des Schnellzuges nach Nürnberg. An einem Wochentag waren um diese Zeit nur Rentner und ein paar Geschäftsreisende unterwegs - und junge Männer, die ihrer Einberufung folgten.

Paul erkannte sie an ihrem Haarschnitt und den Reisetaschen. Manche schienen freudig erregt, aber den meisten stand ihre Bedrückung ins Gesicht geschrieben.

Man hätte sich verbrüdern können, zukünftige Schicksalsgenossen, Paul fehlte der Antrieb.

Während er wartete, kamen vier seiner Mitschüler die Treppe herauf. Paul wusste, dass auch sie nach Roth einberufen waren. Zwei von ihnen hatten sich für zwei Jahre verpflichtet, Juri und Gilbert. Er kannte sie nur vom Sehen, fand dass sie zuviele Muskeln hatten, was für ihn im Umkehrschluss bedeuten musste, dass es ihnen an Hirn mangelte. Die beiden anderen waren Wendelin und Gerald. Diese beiden waren ihm sympathisch. Während der dickliche Wendelin genau wie Paul damit haderte, dass ausgerechnet er auf das Vaterland aufpassen musste, nahm Gerald es von der optimistischen Seite. Er munterte seine Leidensgenossen auf.

Zu Fünft besetzten sie ein Abteil. Unerbittlich setzte sich der Schnellzug um dreizehn Uhr elf in Bewegung. Die Reise hatte endgültig begonnen, und wenn nicht etwas Unverhergesehenes passierte, würde sie in einer Kaserne enden.

Juri nahm das zum Anlass, eine Flasche Apfelkorn kreisen zu lassen. Gerald und Paul verzichteten, ihnen war sowieso schon nicht gut.

2

Seit wenigen Jahren galt die Sommerzeit, man wollte Energie sparen. Deshalb war es praktisch heißer Mittag, als Pauls Zug am Bahnhof Roth um vierzehn Uhr fünfundzwanzig ankam. Er hatte sich kein Bild davon gemacht, wie es dort aussehen würde. Aber die Realität enttäuschte ihn trotzdem.

Der in der flirrenden Luft tanzende Bahnhof ähnelte stark demjenigen in Theissingen. Es gab ein altes kleines Bahnhofsgebäude, vor dem genau zwei Gleise in der Mittagshitze vor sich hin glühten. Die Drähte der Signalleitungen summten ein melancholisches Lied, während ungefähr ein Dutzend zukünftiger Vaterlandsverteidiger hastig vom Eilzug ausgespuckt wurde. Niemand wartete am Bahnsteig darauf zusteigen zu dürfen, was Paul wunderte. Für ihn wäre näher gelegen, dass dies ein Banhof zum Wegfahren und nicht zum Ankommen war.

Der erste Eindruck von Roth war der eines Kaffs. Bei diesem Eindruck würde es bleiben, denn etwas anderes sollte er nie von der Stadt zu sehen bekommen.

Am Vorplatz wartete ein olivgrüner Bus. Paul erinnerte die Farbe an etwas, das auf dem Klo stattfand. Ein Fahrtziel war nicht angegeben. Das war auch nicht nötig, alle jungen Männer mit Reisetasche strebten ohne irritierten Verzug zu diesem Bus, als wären sie von einem geheimen Ort aus ferngesteuert.

Auf dem Fahrersitz saß ein untersetzter Mann mit Halbglatze und kariertem Sommerhemd, der sie freundlich musterte. Paul hatte mit einem schreienden Uniformierten gerechnet, der schon auf dem Vorplatz einen Eindruck des mitlitärischen Umgangs geliefert hätte. Stattdessen erinnerte lediglich die Busfarbe daran, dass er sich nicht in einem Linienbus nach Theissingen befand.

Die Abfahrtszeit war offenbar noch nicht gekommen, denn der Fahrer machte keine Anstalten, den Motor anzulassen. Eines Feldwebels oder dergleichen hatte es nicht bedurft, wie Paul halbwegs entgeistert feststellte. Auch so unterhielten sich die Fahrgäste entweder gar nicht oder nur leise flüsternd. Ohne dass irgendjemand sie dazu aufgefordert hätte, wurden ansonsten gern laute und von ihrer Übergröße überzeugte Jungs zu Duckmäusern.

„Servus Kolleeche. Iis des da Bus zua Kaserrn?“ Die fränkische Färbung der Frage erinnerte Paul schlagartig und schmerzhaft an Geli. Die laute, leicht ins Schrille kippende Stimme, mit der diese überflüssige Frage gestellt worden war, gehörte einem jungen Mann, der vor Eifer fast in den Bus gestolpert wäre. An ihm schien manches zu groß geraten zu sein: Seine Arme erinnerten an einen Weberknecht und fuhrwerkten im Luftraum herum, als würden sie unablässig Fliegen fangen. Das blasse Gesicht hätte Werner als Romikagesicht bezeichnet. Unter einer breiten Stirn entsprang eine schmale lange Nase. Die hellblauen Augen irrten suchend herum und hielten sich nirgends fest.

Die Jochbeine ragten stark hervor, was den Wangen einen eingefallenen Ausdruck verlieh. Am auffälligsten aber war sein Mund, der unnatürlich rot in diesem blassen Gesicht wirkte und darüber hinaus die Breite eines Froschmaules vorwies. Paul hätte sich nicht gewundert, wenn daraus eine lange Zunge hervorgeschnellt wäre. Die Lippen schienen in sich ein Eigenleben zu besitzen, denn sie konnten sich unabhängig voneinander falten und kräuseln, als handelte es sich um zwei Tierchen, die nicht unbedingt Sympathien für einander empfanden.

Hätte Paul nicht schon bei der dämlichen und störend lauten Frage seinen Widerwillen gegen diesen Neuankömmling gespürt, wäre spätestens bei der Bekanntschaft mit dessen Gesicht die Abneigung in ihm gewachsen. Aber er tadelte sich selbst. Schließlich waren sie doch alle mehr oder weniger verunsichert.

Man soll Menschen nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen! Durch die Sitzreihen hindurch arbeitete sich der Ruhestörer nach hinten. Sein Koffer folgte ihm wie ein störrischer Hund.

„Ihr sads woll olle Rekruuddn? Na, da werrn ma seng, was dia miid uns anschdelln dun. Ich bin da Köönich, Frans.“

Da ihm keiner eine Antwort gönnte, musste er in seiner Rede fortfahren:

„Na sou a trauricher Hauffn. Miid euch möchad i na need aufd Stubn.“ Selbst diejenigen, die ihn zuvor zumindest freundlich angelächelt hatten, drehten ihre Köpfe zu den Fenstern. Vielleicht wäre die Stimmung in einem anderen Bus aufgeschlossener, freudiger, erregter gewesen. Dieser Bus jedenfalls beförderte, außer dem einen, nur Passagiere, die ergeben ihrem Schicksal entgegen sahen. Selbst die beiden Zettler aus Pauls Schule hatten ihre flüsternde Unterhaltung eingestellt. Da sie die Flasche Apfelkorn fast allein geleert hatten, war das nachvollziehbar.

„Köönich, Frans“ setzte sich auf eine freie Bank, der Busfahrer ließ den Motor an und die letzte Etappe auf dem Weg ins Militär hatte begonnen.

Bereits nach zehn Minuten war sie auch schon zu Ende. Im Schritttempo passierten sie ein Tor in einem drei Meter hohen Zaun. Die Wache grüßte, hielt aber den Bus nicht an.

Na toll, dachte sich Paul, da hätte ja jeder rein können. Beim Einsteigen in den Bus waren sie nicht kontrolliert worden, bei der Einfahrt in die Kaserne auch nicht. Wenn Terroristen unter ihnen gewesen wären, hätten sie leichtes Spiel gehabt.

Doch Paul irrte sich. Der Bus hielt, kaum dass er das Tor passiert hatte, auf einem geteerten Platz vor einem massiven Haus. An beiden des Seiten des Hauses schlossen sich Zäune an, die zum Kasernenzaun hin abknickten, so dass ein abgetrennter Bereich entstand, der dem restlichen Gelände vorgelagert war und den man wohl nur durch das Haus oder das Kasernentor verlassen konnte.

Zu langen Betrachtungen hatte Paul keine Zeit.

„So, dann kommt mal schnell heraus aus dem Bus, zack zack, und stellt euch in Zweierreihen auf,“ rief eine laute, aber nicht besonders kräftige Stimme in den Bus. Franz war als erster draußen, trotz seines unhandlichen Koffers, den er zwischen seinen Beinen bändigte.

„Na los, Leute, macht schon, wir haben heute noch etwas vor“, drängelte die Stimme. Sie gehörte einem olivgrün gekleidetem Mann in Pauls Alter. Genau so hatte er sich das vorgestellt. Irgendwelche unreifen Möchtegernbosse hetzten sie in der Gegend herum.

„Hier aufstellen! Das ist doch keine Zweierreihe! Habt ihr kein Rechnen in der Schule gelernt?“ Paul reichte es schon wieder. Aber umkehren war nicht möglich. Brav stellte er sich in die zweite Reihe und ärgerte sich, dass manche so unpraktisch waren, dass sie nicht einmal eine Zweierreihe auf Anhieb fertig brachten.

„Ich rufe euere Namen auf und sage euch, wo ihr hinmüsst“, verkündete die Stimme, „ich bin übrigens OG Jaser.“ Der Kommandoton wich einer geschäftsmäßigen Stimme, die die einzelnen Rekruten anwies, Haufen zu bilden. Jeder Haufen gehörte zu einer anderen Kompanie. Juri und Gilbert, die beiden Zettler wurden als erstes weggerufen. Die Grundausbildung der Zeitsoldaten fand in einer eigenen Kompanie statt. Auch Wendelin wurde weggeschickt. Gerald aber kam mit Paul zusammen in die erste Kompanie W15. Dass W15 für die Wehrpflicht stand, brauchte Paul nicht erklärt zu werden, das hatte er sofort begriffen.

Während der Schulzeit hatte er nicht viel mit Gerald zu tun gehabt, aber jetzt war er erleichtert, dass sie in dieselbe Kompanie kamen. Auch Franz König kam zu ihnen in die Kompanie. Dieser wurde sofort leutselig, als er begriffen hatte, wer dazu gehörte.

„Hast a wengla Schiss, oder?“, fragte er Paul flüsternd. Der brauchte keine Antwort zu geben, denn im gleichen Augenblick, als Franz als Letzter zur Gruppe gestoßen war, gab Jaser den Befehl, in Zweierreihen in das Gebäude einzurücken.

Da sie in ihrer Gruppe nur zu Viert waren, fand Paul die Sache mit der Zweierreihe albern, aber er fügte sich.

Das Gebäude entpuppte sich als Turnhalle. Gleich hinter dem Eingang standen einfache Schreibtische, nicht unähnlich den Tischen in Pauls Klasse, die er jetzt schon schmerzlich vermisste. Noch vor wenigen Wochen war er an so einem gesessen und hatte gedacht, jetzt musste er nur noch gehorchen.

Die Tische standen paarweise nebeneinander, jeweils zwei für jede Kompanie.

Dahinter saßen junge Männer in blauen Uniformen mit kurzärmeligen Hemden.

Als Paul an der Reihe war, sprach ihn einer der beiden an:

„Herr Flieger, nennen Sie mir Ihren Namen, Ihr Geburtsdatum und geben Sie mir Ihren Einberufungsbescheid.“ Paul brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass mit „Herr Flieger“ nicht sein Name gemeint war. Er war bei der Luftwaffe gelandet, was ihn etwas tröstete. Denn in der Luftwaffe ging es angeblich nicht so derb zu wie im Heer. Auch Werner war bei der Luftwaffe. Die Uniformen der Luftwaffe sahen in Pauls Augen auch besser aus als die der Erdferkel, wie Werner die Kameraden vom Heer bezeichnete.

Er war also jetzt Flieger, obwohl er noch nie geflogen war. Der vor ihm sitzende Altersgenosse hatte genau wie Jaser zwei Balken auf der Schulter. Bei Jaser waren sie weiß auf Grün, bei dem Jungen vor ihm silber auf Blau. Er sollte lernen, dass es sich dabei um Obergefreite handelte. Sie gehörten zum Stab und waren Zettler, also freiwillig dienende Zeitsoldaten mit einer Verpflichtung von zwei oder vier Jahren. Auch wenn sie ein Mehrfaches an Sold bekamen, wäre es für Paul ausgeschlossen gewesen, auch nur einen Tag länger zu dienen, als er musste. Genau an diesem ersten Juli wurde von der Bundesregierung der Wehrsold erhöht, das wusste er. Demnach bekam er sieben Mark fünfzig am Tag. Die Zettler bekamen das wahrscheinlich in der Stunde. Aber das war Paul egal.

Der Obergefreite schickte ihn zur nächsten Station. Dort empfing er einen Trainingsanzug, den er sofort anziehen sollte. Paul fragte erst gar nicht nach einer Umkleidekabine, er konnte sehen, dass das Umziehen unmittelbar am Ort zu erfolgen hatte. Der Trainingsanzug konnte nicht als schick bezeichnet werden. Am Auffälligsten war der Bundesadler, der Paul wie ein Brandzeichen daran erinnerte, wem er jetzt gehörte.

Nachdem er seine Zivilkleider in seine Reisetasche gestopft und diese auf Anweisung am Rand deponiert hatte, sollte er sich zur nächsten Station begeben. Paul machte sich Sorgen, ob sein Gepäck auch sicher war. Zwar hatte er nur wenig Geld bei sich, aber das Wenige war ihm teuer. Eine echte Alternative aber blieb ihm nicht. Er ließ sein Gepäck im Stich und stellte sich an der zugewiesenen Station an.

Das Gerät kannte er aus dem Sportunterricht, ein Reck. Daneben stand wieder ein Tisch von der schon bekannten Sorte. Zwei Personen machten sich daran zu schaffen. Beide waren in weiße Kittel gekleidet. Bei der einen schauten darunter blaue Uniformhosen heraus. Bei der anderen blickdichte Seidenstrümpfe.?? Echt? Tatsächlich! Eine Frau oder ein Mädchen, eine junge Frau! Paul tat sich schwer bei den Benennungen. In der Schulzeit waren alle weiblichen Wesen in seinem Alter Mädchen gewesen. Aber konnte man das noch sagen? Dieses Fräulein hier war vermutlich genauso alt wie er, vielleicht wenig älter, dazu berufstätig. Aber egal, ob Mädchen, Fräulein oder Frau. Sie war weiblich! Paul hatte nicht damit gerechnet, in dieser Welt weibliche Wesen anzutreffen, dazu noch so erfreuliche. Sie allerdings würdigte ihn keines Blickes, sondern hantierte mit Akten und Kurvenblättern.

Der Mann trug am Ärmel ein Abzeichen mit Äskulapstab. Es handelte sich also um einen Arzt. Wurden jetzt Menschenversuche mit ihm angestellt? Wozu das Reck? Musste er sich womöglich vor dem Mädchen entblößen wie bei der Musterung? Bei dem Gedanken lief eine heiße Welle über sein Gesicht.

Paul wurde wieder nach seinem Namen gefragt.

„So, wollen wir mal sehen, wie fit Sie sind. Machen´se mal ein paar Klimmzüge.

Soviel Sie können“, polterte es aus dem Arzt heraus. Das war auch ein Junger.

Aber offensichtlich hatte er vor, sein Leben hier zu verbringen, jedenfalls dem Ton nach zu urteilen.

Paul umfasste die Stange über seinem Kopf von hinten und wollte sich gerade hochziehen. Im Sportunterricht hatte er sogar mal den Felgaufschwung geschafft und einmal auch den Felgumschwung. Ein paar Mal würde er sich schon hochiehen können.

„Nene, nich so“, platzte es aus dem anderen, „von vorne umgreifen!“

Zu seiner Assistentin gewendet meinte er: „Das wär ja woll zu einfach.“ Sie schenkte ihm dafür ein bezauberndes Lächeln, wofür ihn Paul hasste.

Er fasste die Stange von vorne und versuchte sich hochzuziehen. Dass der Griff von vorne soviel mehr Kraft brauchte, kam für Paul überraschend. Mit viel Mühe zog er sich ein Stückchen höher. Der Haaransatz lugte so gerade über die Stange, mehr war nicht drin. Ein zweiter Versuch lohnte nicht.

„Naja, sang´wer ein Mal, ok.“ Seine gönnerhafte Miene brachte ihm gleich noch einmal Abneigungspunkte bei Paul ein.

„So, Ärmel hoch! Jetzt wird geimpft.“ Der Mensch holte ein Gerät unter dem Tisch hervor, das Ähnlichkeit mit einer Lackierpistole hatte. Auf einer Mündung saß ein zylinderförmiger Plastikbehälter, in dem eine Flüssigkeit schwappte.

„Wofür ist das?“, fragte Paul.

„Das ist gegen Wundstarrkrampf“, belehrte ihn der Arzt. Er presste die Mündung gegen Pauls Oberarm. Ein kurzes Zischen ertönte, wie wenn ein LKW seine Bremse löste, und Paul spürte einen kleinen Stich.

„Mit dieser Impfpistole sparen wir uns Massen an Spritzen.“ Er gab Pauls Arm wieder frei.

Paul wusste, dass man bei jeder Verletzung zunächst gegen Wundstarrkrampf geimpft wurde. Als er als Indianerhäuptling sein Kinn auf dem Fußrost aufgeschlagen hatte, war er auch geimpft worden. Der logische Schluss, der auf der Hand lag, war, dass ihm hier Verletzungen drohten, für die er vorsorglich geimpft wurde.

„Fräulein Mechthild, Ihr Patient.“ Zwischen den beiden schien ungetrübtes Einverständnis zu herrschen. Jeder Kontakt wurde von Lächeln, Anflügen von Humor und Augenkontakt begleitet.

Denen machte ihre Zusammenarbeit offensichtlich Spaß. Pauls Spaß hielt sich in Grenzen. Bis jetzt war er nur herumgeschickt worden, musste sich umziehen und impfen lassen. Aber noch niemand hatte ihm Orientierung gegeben, wie es weitergehen sollte. Überhaupt, wann gab es denn mal etwas zu essen? Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gehabt.

„Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab. Nehmen Sie Blutverdünner, haben Sie Alkohol getrunken, irgendwelche Medikamente?“ Auf ihre Fragen schüttelte er den Kopf und streckte seinen Arm hin.

„Wir bestimmen die Blutgruppe für Ihre Erkennungsmarke.“ Paul wusste, was das war. Er hatte „Die Brücke“ gesehen. Er war ungefähr elf Jahre alt gewesen. Die Patres hatten den Film an einem Sonntagnachmittag im Winter gezeigt. Er hatte sich Paul tief eingeprägt, besonders die eine Szene, wo einer der Jungen eine Panzerfaust abschießt. Dass dabei ein Rückstrahl entsteht, hatte der vergessen. Sein Kamerad hinter ihm bekommt den Feuerstoß ins Gesicht. Dunkel erinnerte er sich, dass die Erkennungsmarke eine Rolle gespielt hatte. Oder war es ein anderer Film? Jedenfalls war klar, welche Überlegungen dahinter standen, dass seine Blutgruppe auf eine Erkennungsmarke gestanzt werden sollte. Jedenfalls keine angenehmen.

Aber eigentlich war das doch alles zu erwarten gewesen.

Paul durfte sein Gepäck wieder aufnehmen und sollte die Turnhalle auf der Rückseite verlassen. Dort würde er die Essensausgabe finden, daran zu erkennen, dass davor eine lange Schlange stand. Er sollte Essen fassen und sich um Achtzehn Null Null im Lggb1 einfinden.

„Na, was soll das schon heißen? Lehrgangsgebäude, Raum 1, Erdgeschoss; ist angeschrieben.“

„Und wo finde ich das?“

„Wenn Sie aus der Halle treten, sehen Sie in gerader Richtung das Mannschaftsheim, links davon das Lehrgangsgebäude, achtzehnnullnull, nicht vergessen.“

„Ok.“

„Das heißt: Jawoll, Herr Obergefreiter.“

„Ok.“ Paul klaubte seine Uhr aus dem Gepäck und sah nach der Zeit. Auwau, es war schon kurz nach fünf und die Schlange war endlos. Wie groß war da seine Chance, noch etwas zu essen zu bekommen? Die Schlange rückte aber beständig weiter. Während Paul noch darauf wartete, in die Kantine hineinzugelangen, kam ein Trupp Sanitäter an ihm vorbei. Auf einer Trage sah er „Köönich Frans“ liegen. Sein Gesicht war noch blasser als im Bus und zeigte eine jämmerliche Grimasse.

„Was ist denn mit dem passiert?“, fragte einer aus der Schlange, „schon ausgemustert?“ Die umstehenden lachten ein freudloses Lachen.

„Nein, der ist beim Blutabnehmen umgekippt. Wird gleich wieder vorbei sein.“ Paul spürte einen Anflug von Schadenfreude, aber er schämte sich auch gleich dafür, jedenfalls ein bisschen.

Alle trugen die gleichen Trainingsanzüge. So war es schwer für Paul, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Aber er fand Gerald, der ihn an seinen Tisch winkte.

„Und wieviele Klimmzüge hast du geschafft?“, fragte ihn Gerald.

Paul winkte ab.

„Das hätte uns der Jäger aber schon sagen können, dass wir die Klimmzüge eigentlich falsch machen“, monierte Gerald.

Paul lachte.

„Das hätte bei mir wahrscheinlich auch nichts geholfen“, sagte er, „so selten, wie ich beim Sport war.“

„Was meinst du, kommt jetzt noch? Unsere Ausrüstung werden wir ja heute wohl nicht mehr empfangen.“

„Ich hoffe nicht, mir reicht´s jetzt schon. Mir hängt der Magen zu den Kniekehlen, das gibt wieder Verdauungsbeschwerden. Ich brauch heute nichts mehr.“

„Naja, die Schlafplätze werden sie ja schon noch verteilen.“

„Wir werden´s gleich wissen. Wir müssen los.“ Sie räumten ihr Geschirr ab, nahmen ihr Gepäck und begaben sich zu Lggb1.

Das Gebäude bildete mit dem gegenüberliegenden einen nach zwei Seiten offenen Platz. Das Haus, in dem sie erwartet wurden, hatte drei Stockwerke und wirkte in den Proportionen wie eine Schuhschachtel. Der Eingang befand sich in der Mitte der Breitseite, war von einer Ziegelfassade umgeben und mit der Deutschlandfahne geschmückt. Den Eingang bedrohte ein riesiges Wappen aus Stein, das in den ersten Stock reichte.

Die beiden Flügel der Glastür standen offen.

Das Gebäude gegenüber hatte ungefähr die gleichen Abemessungen, mutete aber wie eine Baracke an. Es schien aus Holz oder dünnen Plastik- oder Metallwänden zu bestehen.

Der planierte Platz zwischen den Gebäuden war groß genug für einen Appell oder Übungen. Dort würde Paul in den nächsten Wochen viele Stunden verbringen, meistens regungslos.

Der Raum, in dem sich die Rekruten nach und nach einfanden, erinnerte Paul an den Studiersaal, in dem er die beiden ersten Jahre auf dem Internat verbracht hatte. Zwar hatte es dort einen Linoleumboden gegeben, während dieser Saal knarzendes Parkett aufwies. Eigentlich ein Tanzboden, überlegte Paul. Aber auch dort standen Pulte in langen Reihen hintereinander, so dass vielleicht sechzig oder siebzig Zöglinge Platz gehabt hatten.

Hier waren es vermutlich mehr. Die Zöglinge, mit denen er es jetzt zu tun hatte, unterschieden sich wahrscheinlich im Grunde nicht viel von denen aus der Schule, versuchte er sich einzureden. Der Einberufungstermin im Juli betraf hauptsächlich Abiturienten, und diese wiederum wurden überproportional zur Luftwaffe einberufen. Also hatte Paul es wohl in erster Linie mit Abiturienten zu tun.

Der Gedanke beruhigte ihn etwas.

„Nehmen Sie die Zigarette aus dem Mund, ich glaub´s ja nicht“, herrschte gerade ein grün Gewandeter einen seiner neuen Kameraden an.

Paul überlegte, ob sie bewusst erst einmal in Trainingsanzüge gesteckt worden waren. So ein Trainingsanzug machte überhaupt nichts her und verlieh einem kein bisschen Würde. Vielleicht sollten sie sich schon in den ersten Stunden klein fühlen.

Die Tische standen so weit auseinander, dass es zum Nachbarn keine Tuchfühlung gab. Nicht, dass Paul das vermisst hätte, aber möglicherweise beruhte das auch auf einem System. Schwätzen, Konspiration wurde so schwieriger.

„Achtung“, schrie jemand.

Alle drehten die Köpfe und suchten nach der brüllenden Quelle.

„Das heißt jetzt und in Zukunft, dass sie unverzüglich aufstehen und Haltung annehmen. Haltung haben Sie noch keine, die kriegen Sie später, aber aufstehen sollten Sie jetzt“, brüllte die Stimme weiter.

Die jungen Männer standen auf, manche wie „Köönich Frans“ spritzten geradezu hoch. Andere stützten sich umständlich erst auf, bevor sie langsam in die Höhe kamen.

„Das machen wir gleich noch einmal. Bei dem Kommando ´Achtung` stellen Sie sich in Sekundenschnelle kerzengerade hin, oder eben so gerade es Ihnen möglich ist. Unverzüglich. Die Füße berühren sich an den Fersen, die Zehen bilden einen Winkel von sechzig Grad. Ihre Arme legen Sie an den Körper an, die Hände als lockere Faust an die Hosennaht, den Kopf halten Sie aufrecht, Sie schauen geradeaus! Also noch einmal. Hinsetzen!“ Mit der Grammatik nahm man es wohl nicht so genau wie mit der Haltung.

Alle setzten sich wieder hin.

Jemand flüsterte: „Kann mir jemand ein Geodreieck leihen?“ Gekicher.

„Ruhe!“ Paul erspähte an der Tür eine Gruppe von Soldaten. Einer stand etwas vor den anderen und schaute streng, während die hinter ihm stehenden feixten.

„Achtung!“ Alles erhob sich, Pauls Eindruck nach schlagartig. Er hatte keine Lust auf diesen Zirkus. Er war müde und musste endlich die Erlebnisse des Tages verarbeiten. Er brauchte ein stilles Fleckchen.

„Na, also!“ Der Mann, der vor der Gruppe an der Tür gestanden hatte, bewegte sich jetzt an die Stirnseite des Raumes, wo er sich neben einer Schultafel aufstellte.

Er sprach zur Rückseite des Raumes, wo sich anscheinend derjenige befand, der die Kommandos gegeben hatte. Paul wagte nicht, sich nach ihm umzudrehen.

Stur schaute er geradeaus, nur am Rande fiel ihm ein, dass er das Atmen nicht vergessen sollte.

„Vielen Dank, Herr Unteroffizier Schürmann, für die erste Lektion.“

Er drehte sich zur Tür und fuhr fort: „Auch Unteroffiziere könnten gelegentlich eine Auffrischung in Formalausbildung nötig haben.“ Das galt offenbar den feixenden Soldaten, die in seinem Rücken gestanden hatten und jetzt verlegen stramm standen. Es war ihm also nicht entgangen und Paul spürte eine Welle von Genugtuung.

„Setzen Sie sich!“ Nachdem alle wieder saßen und inzwischen vollkommen von der Führungskompetenz dieses Mannes überzeugt waren, jedenfalls Paul, fuhr er fort:

„Mein Name ist Hauptmann Kalbfleisch, ich bin Ihr Kompaniechef....“ Paul dachte an Asterix und Obelix, wo Legionäre in so einem Fall sich die Hand vor den Mund halten mussten, um nicht laut lachend herauszuplatzen, oder an die Szene in „Leben des Brian“, wo das Volk die Begnadigung eines Verbechers fordert und nur Männer mit dem Anfangsbuchstaben „B“ vorschlägt, weil Pontius Pilatus einen Sprachfehler bei diesem Laut hat. Aber soweit Paul sehen konnte, war keinem zum Lachen zumute. Nur Gerald schickte ihm einen bedeutungsvollen Blick, so dass Paul einmal tief durchatmete.

Paul schob es auf seine Überreiztheit, dass es ihm schwer fiel, ernst zu bleiben.

Von seinem Hinterkopf aus kündigte sich Kopfschmerz an.

“... Sie werden roundabout drei Monate in dieser Ausbildungskompanie bleiben.

In dieser Zeit werden Sie Ihre Grundausbildung absolvieren, außerdem zum Flakkanonier ausgebildet. In unserer Einheit haben wir als Besonderheit, dass Sie noch eine zweite Ausbildung durchlaufen, nämlich die zum Luftraumbeobachter.

Deshalb dauert die Grundausbildung bei uns auch nicht nur sechs Wochen wie üblich, sondern drei Monate.“

„Roundabout“ sprach er wie raundebaud aus.

Während der Hauptmann weitersprach - “Über uns steht das Bataillon, das dritte Bataillon des dritten Luftwaffenausbildungsregiments. Dessen Chef ist Oberstleutnant Krischke. Hoffen Sie darauf, dass Sie ihn nie kennenlernen, denn dann haben Sie etwas Schlimmes angestellt.“ - schweiften Pauls Gedanken ab.

Bei der Gewissensprüfung hatten sie ihn gefragt, ob er sein Dorf nicht vor feindlichen Bombern retten würde, wenn er zufällig eine Flak, eine Flugabwehrkanone, zur Verfügung hätte. Paul hatte gesagt, er könne keine bedienen. Das hätte er wohl lieber sein lassen sollen. Jetzt wollten sie ihm genau das beibringen, um seine Fertigkeitslücke zu schließen und in Zukunft sein Dorf zu retten.

Da soll noch einer sagen, die Bundeswehr hätte keinen Sinn für Ironie! Oder war es eher Sarkasmus?

“... Also straight ahead, der Abend ist noch jung! Heute Morgen waren Sie noch Zivilisten, jetzt sind Sie Soldaten. Sie werden feststellen, dass es dazwischen erhebliche Unterschiede gibt. Einer der wichtigsten ist die Hierarchie. An der Spitze des Regiments steht General Reinart. Den Herrn Oberstleutnant als Bataillonsführer habe ich schon erwähnt und mich als Chef der Kompanie. Damit haben Sie schon die Gliederung unserer Einheit. Es geht aber noch weiter. Die Kompanie ist in drei Züge aufgeteilt. Jeder Zug belegt ein Stockwerk der Unterkunft. Zu jedem Zug gehört ein Zugführer und ein stellvertretender Zugführer.

Sie werden anschließend in die Züge eingeteilt. Insgesamt umfasst unsere Kompanie raundebaut einhundertdreißig Mann, da braucht es einen Führungsstab.

Seit sechs Jahren bin ich hier der Kompaniechef, vorher war ich in einem Unterstützungskommando einer Fliegerstaffel in Texas tätig....“ Aha, daher die amerikanischen Floskeln, dachte Paul. Was für ein Angeber! Der Hauptmann war nicht besonders groß, sicher einen Kopf kleiner als Paul, dafür bemühte er sich anscheinend um besonders schneidiges Auftreten.

“... übergebe ich nun das Wort an Hauptfeldwebel Moder.“ Der Hauptmann verließ den Raum. Bevor er draußen war, brüllte wieder jemand

„Achtung“ und alle schossen hoch.

„Das ist gut für den Kreislauf“, bemerkte ein untersetzter Mann in Uniform, der

für Paul bisher vollkommen unbemerkt in einer Ecke auf seinen Auftritt gelauert haben musste.

„Hauptfeldwebel ist der Dienstgrad, meine Aufgabe ist Kompaniefeldwebel. Vielleicht haben Sie schon einmal die Bezeichnung ´Spieß` gehört, das ist dasselbe, auch Mutter der Kompanie genannt.“ Bei den letzten Worten kicherte er.

Etwas Mütterliches fand Paul tatsächlich an ihm. Bisher war er der Meinung gewesen, dass alle Soldaten durchtrainiert und sportlich waren. Der Spieß schien das nicht zu sein. Er war eher klein, dicklich und hatte ein teigiges Gesicht mit Hängebacken. Tatsächlich besaß er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Huhn und als Glucke konnte ihn sich Paul wirklich gut vorstellen.

„Sie werden jetzt einen Lebenslauf schreiben.“ Ein Raunen ging durch die Reihen.

„Frisch auf, nur Mut! Die meisten von Ihnen sind ja Abiturienten, da wird Ihnen das nicht schwer fallen. Obwohl - die arbeitende Bevölkerung hat vermutlich schon mehr Lebensläufe geschrieben als Sie. Seien Sie so ausführlich wie möglich. Wir möchten, dass Sie nach Ihrer Grundausblidung möglichst in die Funktion eingewiesen werden, die Ihnen am meisten liegt. Das hilft auch uns, der Bundeswehr, am meisten. Jeder soll seinen Fähigkeiten und Neigungen nach bestmöglich eingesetzt werden. Also geben Sie sich Mühe, das ist in Ihrem eigenen Interesse. Und schreiben Sie leserlich! Unter Ihnen ist ja wohl keiner, der Arzt werden möchte. Und wenn doch, bemühen Sie sich ausnahmsweise um eine ordentliche Handschrift. Auch die Schrift sagt etwas über den Charakter!“

Na, wenn es um die Handschrift ging, würde Paul wegen mangelnder charakterlicher Eignung durchfallen, dachte er sich. Seine Handschrift war schon immer ein Rätselwerk gewesen. Sogar er selbst hatte oft Mühe, zu entziffern, was er vor einiger Zeit geschrieben hatte. Während einige Rekruten dazu verpflichtet worden waren, Schreibpapier auszuteilen - Stifte hatten sie selbst mitzubringen gehabt, so stand es in den Einberufungsunterlagen - ging Paul mit sich zu Rate, ob er sich nun besonders Mühe geben sollte beim Schreiben oder gezielt nicht.

Wenn er mit seiner üblichen Sauklaue schreibe, würde er womöglich mit einem besonders ekligen Posten bestraft werden. Das wäre ein Argument dafür, sich anzustrengen. Andererseits war ihm die Aufgabe zuwider. Er wollte es ihnen eigentlich nicht leicht machen. Wenn er nur nicht solche Kopfschmerzen hätte! Schließlich begann er zwar seinen Text mit sorgfältiger Handschrift, aber je mehr er schrieb, desto schneller und nachlässiger schrieb er. Es war kein tabellarischer Lebenslauf verlangt, sondern ein Aufsatz. Paul schrieb von seinen Geschwistern, von seiner Schule, von seiner Arbeit als Jugendleiter. Er sollte auch seine Fremdsprachenkenntnisse aufführen. Da er nicht annahm, dass Griechisch und Latein von Belang waren und da er darüber hinaus diese Fächer nicht besonders erfolgreich abgeschlossen hatte, erwähnte er nur Englisch. Den Beruf seines Vaters gab er mit Bahnbeamter an, den der Mutter mit Hausfrau. Was ging es denn die Bundeswehr an, mit wievielen Berufen seine Eltern über die Runden zu kommen und ein großes Haus zu finanzieren versuchten? Aber er erwähnte alle Ferien- und Nebenjobs, die er schon gemacht hatte. Vielleicht hatte die Bundeswehr ja etwas Vergleichbares? Sogar den Tag in der Küche des Badeseekiosks erwähnte er. Lieber würde er in einer Küche arbeiten als mit einem Gewehr im Dreck zu liegen.

„Sie sollen ja nun keine Romane schreiben, kommen Sie zum Ende“, fuhr eine Stimme in Pauls Überlegungen, „zehn Minuten bis zur Abgabe!“ Eineinhalb Stunden schrieben die Rekruten schon an ihren Lebensläufen. Manche waren allerdings bereits nach einer halben Stunde fertig gewesen und sahen gelangweilt in der Gegend herum.

Zwischenzeitlich war der Spieß verschwunden gewesen, jetzt betrat er wieder den Raum.

„Achtung!“

Alle schossen hoch.

„Setzen!“

Der Abend war noch nicht vorbei. Der Kompaniefeldwebel hatte noch ein wichtiges Anliegen. Es betraf das Zusammenleben so vieler Männer auf so engem Raum. Er dozierte über Toleranz, Körperpflege, Kameradschaft, gegenseitige Unterstützung, Befehl und Gehorsam und etwas, das er Hügenie nannte. Damit meinte er den Besuch bei bestimmten Damen eines bestimmten Gewerbes.

Wer nicht wollte, dass er ein Souvenir sich und seiner Liebsten daheim mitbringe, solle sich eine Lümmeltüte überziehen.

Paul brauchte eine Weile, bis er verstand, was der Spieß meinte. Dass er das Wort zu Hügenie verballhornte, kostete ihn in Pauls Augen den Respekt, den er der Uniform eigentlich schuldig war. Von einem erwachsenen Mann hatte er mehr Souveränität erwartet, zumal in dieser Funktion. Im Grunde bestätigte das aber nur Pauls Vorurteil, nämlich, dass viele die Uniform benutzten, um ihr kleines Ego aufzublasen.

Darüber hinaus hielt er den Vortrag für gänzlich unnötig. Er erwartete, dass an den Abenden keiner mehr Lust hatte, etwas zu unternehmen, zumal die Rekruten um zehn Uhr im Bett liegen mussten. Außerdem befand sich die gesamte Kaserne in einem Wald. Wollte man in die Stadt, brauchte man eine Fahrgelegenheit. Paul ging von sich aus, der kein Auto hatte. Aber so schlecht waren ja nicht alle dran. Das Wichtigste aber war, dass in Pauls Augen Prostituierte nur etwas

für einsame alte Männer waren. Männer in ihrem Alter, zumal wenn sie eine Freundin daheim hatten, wie der Spieß angemerkt hatte, würden doch nicht zu gewerblichen Damen gehen. Paul hatte zwar noch nie wirklich Sex gehabt, ein bisschen Petting vielleicht, aber trotzdem hielt er es für völlig abwegig, dass er

für Sex bezahlen könnte. Und überhaupt wovon denn? Von den sieben Mark fünfzig am Tag? Nach dem Vortrag zur Körperhygiene stellte der Hauptfeldwebel die Stammmannschaft vor. Dabei handelte es sich um Unteroffiziere mit und ohne Portepee, wie er erklärte.

„Feldwebel hatten früher das Recht auf ein Portepee, einfache Unteroffiziere nicht. Deshalb heißen Unteroffiziere und Stabsunteroffiziere Unteroffiziere ohne Portepee, Feldwebel, Ober- und Hauptfeldwebel sind Unteroffiziere mit Portepee. Es gibt dann auch noch Stabsfeldwebel und sogar Oberstabsfeldwebel, aber das ist für Sie erstmal nicht von Belang. So etwas haben wir hier nicht.“ Was ein Portepee ist, hätte er aber auch erklären können, dachte Paul.

Zur Stammmannschaft gehörten auch einige Gefreite und Obergefreite, die in der Schreibstube Dienst taten.

Nach der Vorstellung wurden die Rekruten in Züge aufgeteilt. Zu jedem Zug gehörte ein Unteroffizier als Zugführer und ein Obergefreiter als stellvertetender Zugführer. Jeder Zug bestand aus dreiundreißig Rekruten. Paul war im zweiten Zug.

„Achtung!“ Alle nahmen Haltung an, was in ihren Trainingsanzügen etwas skurril aussah.

„Gepäck aufnehmen! Erster Zug abrücken! Ohne Tritt marsch!“ Die Männer des ersten Zuges verließen den Raum. Pauls Kopf machte Anstalten zu platzen.

„Zweiter Zug. Gepäck aufnehmen. Abrücken marsch. Folgen Sie dem Gefreiten.“ Das Kommando ihres Zugführers kam nicht so zackig wie das seines Kameraden.

Paul schloss daraus, dass ihr Unteroffizier womöglich angenehmer im Umgang sein würde. Paul würde noch Gelegenheit bekommen, seinen Irrtum festzustellen.

Zugweise wurden auch die Stuben zugeteilt. Pauls Stube befand sich, wie der gesamte zweite Zug, im zweiten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes, der

„Baracke“.

Seine neuen Zimmergenossen waren „Köönich Frans“, auf den Paul gut hätte verzichten können, dazu kamen Günter, Hans, Harald und Andi.

Außer den Namen erzählten sie sich nicht mehr viel, da schon Ihr Zugführer im Raum stand, begleitet vom Obergefreiten Jaser. Dieser balancierte einen Stapel von Decken und Bettbezügen auf den Armen, die er auf dem Tisch ablegte.

„Jeder nimmt sich eine Garnitur, sucht sich ein Bett und bezieht es. Ausführung!“ Die Stube war gerade groß genug für sechs Betten, die jeweils zu zweit übereinander gestapelt waren, dazu kamen sechs Spinde und ein Tisch mit sechs Stühlen. Alle Möbel waren grün. Aus dem Fenster sah man Koniferen und Waldboden. Wenn sich Paul anstrengte, konnte er sich einbilden, er sei im Bienenhaus seines Opas, auch weil der Boden aus Holz bestand, genau wie im Bienenhaus.

Wer die Stube betrat, sah als erstes ein Stockbett an der gegenüberliegenden Wand. Auf dem oberen hatte sich Franz niedergelassen, das untere bezog Harald. Paul hatte gleich erkannt, dass dieses Bett am gefährdetsten war, weil es jedem Vorgesetztem, der hereinkam als erstes ins Auge fiel. Die vier anderen Betten befanden sich hinter der Tür, was einem gegebenenfalls etwas Zeit verschaffte. Dort legten sich die anderen vier nieder. Paul hatte am Fenster das obere Bett ergattert. Von dort konnte er ein Stück Himmel sehen und wenn er sich aufsetzte, auch einige Büsche.

Auf Anweisung ihres Zugführers, Stabsunteroffizier Köhnert, musste noch der Stubenälteste bestimmt werden, zum Glück war das nicht Paul, sondern Andi, der darüber nicht besonders glücklich zu sein schien, sein Schicksal aber klaglos hinnahm.

Was die Aufgabe des Stubenältesten war, erläuterte StUffz Köhnert mit knappen Worten den vor ihren Betten stehenden Rekruten:

„Sie rufen Achtung, wenn ein Vorgesetzter den Raum betritt. Vorgesetzte sind alle, die so ein Hufeisen auf der Schulter haben“, dabei deutete er auf das Zeichen auf seiner Schulter, ein geschlossenes U, „oder Punkte. Kommt einer rein mit Strichen auf der Schulter, ist er ein Mannschaftsdienstgrad. Dann dürfen Sie weitermachen. Was tun die anderen, wenn Ihr Stubenältester `Achtung` ausgibt?“

„Wir stehen stramm, Herr Unteroffizier!“, plärrte Franz lautstark wie der brave Soldat Schwejk.

„Sehr gut“, quittierte der Zugführer, „aber das heißt Stabsunteroffizier. Wenn das U durch einen Querbalken geschlossen ist“, dabei zeigte er auf seine Schulterklappen, „haben Sie es mit einem Stabsunteroffizier zu tun, das ist eine Stufe über dem Unteroffizier. Aber das lernen wir noch. - Und wir stehen nicht stramm, sondern in Grundstellung.“

An Andi gewandt fuhr er fort: „Wenn alle in der Grundstellung stehen, machen Sie Meldung. Sie melden, mit wieviel Mann die Stube belegt ist, wieviel davon anwesend sind und was Sie gerade tun. Vorneweg nennen Sie Ihren Namen. Probieren Sie das gleich mal!“

„Andreas Fleischer, die Stube ist mit sechs Leuten belegt und sechs sind anwesend...“

„Halt! Wie ist Ihr Name?“

„Andreas Fleischer.“

„Falsch, nochmal!“

„Herr Andreas Fleischer.“ Alle sahen Andi an, dass er sich ehrlich Mühe gab. Er war nicht aufsässig, sondern hatte nur nicht gleich verstanden. Paul wusste sofort, worauf der Zugführer hinaus wollte. Schließlich waren sie jetzt keine Individuen mehr.

Der Stabsunteroffizier simulierte einen Herzanfall.

„Sie sind kein Herr, und Ihr Vorname interessiert mich schon gar nicht, also nochmal!“

„Fleischer, aah“, über Andis Gesicht huschte ein Leuchten der Erkenntnis, „Flieger Fleischer meldet die Stube mit sechs Leuten belegt, alle anwesend.“

„Sechs Mann! Nochmal!“

„Flieger Fleischer meldet die Stube mit sechs Mann belegt, alle anwesend.“

„Na also, wird schon. Die Haltung beim Melden lernen wir dann morgen. Gute Nacht!“ Er drehte sich um und ging durch die Tür. Abrupt blieb er in der Tür stehen, als hätte er etwas vergessen. Er stand eine Sekunde, eine zweite.

„Achtung!“, schrie Franz aus Leibeskräften. Da sich keiner gerührt hatte, musste auch keiner erneut Haltung annehmen. Befriedigt setzte der Stabsunteroffizier seinen Weg fort.

„Wenn iiich dea Schduumäldesde wär, ich däd euch so rumlossn, des glaabts ihr ned“, plärrte Franz in einem Anfall von Selbstherrlichkeit. In diesem Augenblick erschien der Kopf von StUffz Köhnert wieder in der Tür. Er fixierte Franz. Der brauchte eine Weile, bevor er sein `Achtung` herausbrachte. Als Andi seine Meldung machen wollte, war der Zugführer schon wieder verschwunden.

Die letzten Minuten hatten Paul seine restliche Energie gekostet. Er wollte nur noch in seinen Schlafanzug, die erste Nacht war es noch der private, und in sein Bett. Am nächsten Tag sollten sie wie jeden weiteren Tag in dieser verdammten Einrichtung um halb sechs geweckt werden. Paul fand das eine unmenschliche Zeit, die überhaupt nicht zu seinem Schlafrhythmus passte.

Zwischen Harald und Franz hatte sich ein kleiner Disput entsponnen.

Harald fragte Franz ganz direkt: „Sag mal, tickst du eigentlich noch ganz richtig?

Du führst dich ganz schön auf. Das macht dir wohl auch noch Spaß hier?“

„Freilich mechd des Schbaas, dir vielleicht need? I wolld imma scho mol a bissl Kriech schbilln. Des ist doch wia Kauboi un Indiana. Olso mia mechd des schon an Schbaas.“

„Na, du wirst den Unterschied schon noch merken. Freu dich nur nicht zu früh!“ Harald zeigte ihm den Vogel.

Der andere ließ sich aber nicht provozieren, zu sehr schwelgte er in seinen Vorstellungen von Barras.

Franz war der Jüngste auf der Stube. Er wurde erst in drei Wochen achtzehn. Damit er gleich nach dem Abitur seinen Wehrdienst ableisten konnte, hatte er einen Antrag stellen müssen. Er kam aus einem behüteten Elternhaus, der Vater war Richter, er war Einzelkind und hatte die Schule mit Bravour gemeistert.

Vom Leben hatte er offensichtlich noch nicht viel gesehen. Für ihn war die Bundeswehr so etwas wie ein großer Abenteuerspielplatz.

Damit befand er sich in Opposition zu Paul, der nicht nur verbittert darüber war, dass ihm fünfzehn Monate seines Lebens praktisch gestohlen wurden, sondern der diese Einrichtung schon aus Prinzip ablehnte. Er und Franz würden sicher keine Freunde werden. Aber die anderen schienen ganz vernünftig zu sein und sich auf Pauls Linie zu befinden.

Trotz seiner Müdigkeit lag Paul die ganze Nacht wach. In seinem schmerzenden Kopf tanzten Bilder vom Tag. Am Morgen war er als frisch gebackener Abiturient aus dem Haus gegangen und nun fand er sich in einer ganz anderen Welt wieder. An die Welt davor hatte er bereits kaum noch Erinnerungen. Paul fühlte sich, als hätte jemand sein Leben in einen Schrank gesperrt und er müsste jetzt mit dem zurechkommen, was er vorfand. Nichts war dabei, was ihn lebendig hielt, nichts, was ihm etwas bedeutete. Aber auf sein altes Leben hatte er keinen Zugriff mehr.

3

Ein Höllenlärm hallte durch die Baracke. Auch die geschlossene Tür schien den Schallwellen nichts entgegensetzen zu können. Stimmen brüllten unverständliche Laute. Kräftige, männliche Stimmen. Dazu pfiff eine Trillerpfeife und etwas wurde auf Metall geschlagen.

Paul war zwar schon wach gewesen, aber der schlagartig einsetzende Lärm fuhr in ihn wie eine Beleidigung. Während er noch der Welle an Wut und Hass in seinem Körper nachspürte, wurde die Tür aufgerissen, so dass sie mit lautem Krach gegen die Wand schlug.

„Aufstehen! Faule Bande! Raus aus den Federn! In zehn Minuten gewaschen, rasiert und angezogen vor den Betten aufstellen.“ StUffz Köhnert brüllte von der

Tür aus in den Raum. Niemand schrie `Achtung`. Franz purzelte aus dem Bett.

Der StUffz musterte ihn mit nach vorne hängendem Kopf. Seine braunen Augen mühten sich um Halt. Der Mund stand halb offen. Das Hemd seines grünen Anzugs war verknittert, ein Knopf über seinem Bauch stand offen. Die Erscheinung dauerte nur einen Augenblick, dann war er brüllend weiter gezogen.

Mit ungläubigen Lachen wandte sich Franz zu den anderen um:

„Habbds des gseeng? Dea iis ja dodaal besoffn!“ Paul wollte das nicht glauben. Außerdem war es unerheblich. Denn am Befehl gab es keinen Zweifel. Zehn Minuten zum Anziehen! Zum Glück musste er sich nicht rasieren. Er schnappte sich sein Waschzeug und schlurfte in den Waschraum. Dort herrschte schon dichtes Gedränge und hektische Unruhe. Manche liefen ohne Schlafanzug herum, sie wollten noch unter die Dusche. Paul bezweifelte, dass dafür genügend Zeit blieb. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, fuhr sich zweimal mit Seife unter jede Achsel, Zähne putzen, fertig. Um seine Haare kümmerte er sich nicht weiter. Er hatte sie unter das Wasser gehalten. Trocknen würden sie von alleine, kämmen war nicht nötig. Rasieren entfiel auch. Seine Morgentoilette hatte fünf Minuten beansprucht.

Problematischer war seine Entleerung. Auf dem Klo brauchte er normalerweise mindestens eine Viertelstunde. Dazu war keine Zeit. Er konnte nur die Blase entlasten, alles andere musste warten. Außerdem brauchte er Ruhe auf dem Klo. In dieser Hektik, dem Durcheinanderplärren, dem Rütteln an der Tür konnte er nichts produzieren. Dazu kam noch, dass er seine neuen Kameraden nicht mit seinem Gestank belästigen wollte. Vielleicht gab es ja nach dem Frühstück Gelegenheit.

Er eilte zurück ins Zimmer, um seinen Trainingsanzug anzuziehen. Dabei traf er Harald, der gerade seine Jeans überzog.

„Äh, Harald, ich glaube mit `Anziehen` hat er nicht die Zivilklamotten gemeint“, versuchte Paul seinen Kameraden auf den rechten Weg zu holen.

„Ja, du ziehst deinen neuen Trainingsanzug an und ich meine Jeans“, beschied ihn Harald mit einem Grinsen.

Paul witterte Revolte und hätte dafür auch Sympathie gehabt, wenn ihm nicht gleichzeitig klar gewesen wäre, dass die nur mit blauen Flecken für die Revoltierenden enden würde.

„Harald komm, du kriegst doch bloß Ärger.“

„Nein nein, das hat schon seine Richtigkeit. Ich gehe.“ Harald schien Freude an dem Disput zu haben. Seine Rede begleitete ein leises Glucksen.

„Harald Rehner?“ An der Tür war ein Gefreiter aufgetaucht, so weit hatte Paul die Rangabzeichen schon verinnerlicht.

Harald bejahte.

„Ich bringe Sie zum Bahnhof“, erläuterte der Gefreite.

Harald streckte Paul die Hand hin. „Sie haben gestern bei der Untersuchung festgestellt, dass ich einen Leistenbruch habe. Der muss erst operiert werden, dann bekomme ich eine neue Einberufung. Ich wünsche dir eine gute Zeit. Mit dir wäre ich sicher gut ausgekommen, schade.“ Paul nahm verdattert die dargebotene Hand und brachte gerade noch ein `Servus` heraus, als die anderen Stubenbewohner hereinkamen. Harald beeilte sich, dem davoneilenden Gefreiten zu folgen und winkte den anderen nur kurz zu. Sie schickten Harald fragende Blicke hinterher. Paul erklärte ihnen, was sie gerade gesehen hatten.

Hans seufzte: „Der hat´s gut.“ Dann haute er Günter auf die Schulter und meinte: „Zum Glück ha´mse bei dir nichts gefunden.“ Aha, dachte sich Paul, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Schon stand ihr Zugführer in der Tür. Franz schrie „Achtung“, Andi machte Meldung. Der Zugführer fragte, warum sie einer weniger waren. Offenbar hatte ihn niemand informiert. Entweder diese Tatsache oder das, was er in der Nacht zuvor gegessen und getrunken hatte, stieß dem Zugführer sauer auf und suchte seinen Weg in die Freiheit. Die bewegungslosen Männer konnten sich nicht ihre Nasen zuhalten.

Franz hatte anscheinend recht gehabt. Der Stabsunteroffizier hatte die Nacht in Gesellschaft scharfer Getränke verbracht. Wie sie mit der Zeit lernen sollten, war das eine der Lieblingsbeschäftigungen ihres Zugführers. Mindestens einmal in der Woche, vorwiegend montags, aber auch freitags oder mittwochs und donnerstags kam ihr Vorgesetzter nicht nüchtern zum Dienst. Dass er ihn trotzdem anscheinend umsichtig und nicht mehr oder weniger gereizt als an nüchternen Tagen versah, nötigte Franz Respekt ab, Paul Verachtung. Ohne viel Phantasie war absehbar, welche seiner Männer StUffz Köhnert bevorzugen würde und welche nicht.

An diesem Tag stand als erste Lektion Bettenbauen auf dem Dienstplan.

Da die Bettdecke entgegen des morgendlichen Weckrufs nicht aus Federn bestand, sondern eine einfache Wolldecke war, war auch das Bettenbauen keine Hexerei. Paul hatte sich auch schon früher sein Bett gemacht. Natürlich, so pingelig wie sein Ausbilder war sonst nie jemand gewesen. Aber er brauchte nur Minuten, um ein ordentliches Bett gebaut zu haben.

Andi tat sich wesentlich schwerer. Bisher hatte ihm die Mutter sein Bett gemacht. Andi war schwergewichtig und bewegte sich dementsprechend träge und mühsam. Außerdem hatte er im Stockbett neben Pauls das untere gewählt.

Um sein Bett glattzuziehen und unter die Matratze zu stopfen, musste er sich bücken und in die Ecken kriechen, was ihm sichtbar schwer fiel.

Bei der Wahl seines Bettes hatte er vielleicht den Vorzug im Sinn gehabt, dass er nicht hinauf klettern musste. Aber ein Bett in Augenhöhe war viel einfacher zu bauen als eines zu dem man sich bücken musste.

Wenn Paul sein Bett machte, zog er es automatisch glatt. Das war eine Handbewegung, die schon reflexartig zu dieser Tätigkeit dazugehörte. Jedes Wäschestück, das er faltete, jede Tischdecke, die er auflegte, jede Decke, die er zusammenlegte, zog er automatisch glatt. Schon als er als kleiner Bub seiner Großmutter auf dem Wäscheboden geholfen hatte, war ihm das in Fleisch und Blut übergegangen.