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Georg Ebers' Per aspera ist ein fesselnder historischer Roman, der im antiken Ägypten spielt. Mit einer präzisen Darstellung der historischen Ereignisse und einem detaillierten Blick auf das alltägliche Leben der Menschen dieser Zeit, entführt Ebers die Leser in eine Welt voller Intrigen, Macht und Leidenschaft. Sein literarischer Stil ist reich an historischen Details, die das Leben im alten Ägypten lebendig werden lassen. Ebers' Werk steht in der Tradition großer historischer Romane und bietet dem Leser sowohl Unterhaltung als auch Bildung.
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Der grüne Vorhang hob sich allmälich und bedeckte den untern Teil des breiten Fensters in der Werkstätte des Steinschneiders Heron.
Melissa, die Tochter des Künstlers, war es, die ihn mit gebogenen Knieen und hochgestreckten Armen tief atmend hinaufzog.
»Genug so!« rief die tiefe Stimme des Vaters ihr ungeduldig zu. Dann warf er einen kurzen Blick auf die Lichtflut, welche die blendend helle Sonne Alexandrias heute wie an jedem Herbstnachmittag in die Werkstätte ergoß. Sobald aber der Vorhang den Arbeitstisch beschattete, fuhr der Alte fort, ohne der Tochter weiter zu achten, die fleißigen Finger zu rühren.
Nach einer Stunde zog Melissa wie das erstemal die starke Leinwand, die für ihre Kraft sicher zu schwer war, unaufgefordert und mit solcher Anstrengung höher, daß ihr das Blut in das schöne, stille Antlitz stieg, und wiederum ließ sich vom Arbeitstische her das tiefe und barsche »Genug so!« vernehmen.
Dann wurde wieder alles still. Nur das leise Pfeifen des arbeitenden Künstlers und das Hinundher oder ein helleres Aufzwitschern der Vögel in den Bauern zur Seite des Fensters unterbrach die Ruhe in dem weiten Raume, bis im Vorsaal die Stimme und die Schritte eines Mannes laut wurden.
Nun legte Heron den Stichel, Melissa die Goldstickerei aus der Hand, und die Blicke des Vaters und der Tochter, die sich lange nicht gefunden, begegneten einander. Auch die Vögel regten sich, und ein Starmatz, der sich still verhalten, seitdem der Vorhang sein Bauer beschattete, ließ den Ruf »Olympias« vernehmen.
Melissa war aufgestanden, und nachdem sie die Werkstätte mit einem schnellen Blicke gemustert, schritt sie der Thür zu.
Mochte kommen, wer wollte!
Ja, wenn auch die Brüder, die sie erwartete, einen Gefährten oder Kunstfreund, der die Arbeit des Vaters zu sehen wünschte, mitbrachten, dieser Raum brauchte kein prüfendes Auge zu scheuen. Auch der tadellos säuberlichen Ordnung des eigenen Aeußern war sie sich so sicher bewußt, daß sie nur einmal flüchtig über das braune Haar fuhr und mit einer unwillkürlichen Handbewegung das schlichte weiße Gewand durch den Gürtel tiefer herabzog.
Sauber und schmucklos wie die Tochter war auch die Werkstätte des Heron, doch schien sie übergroß für den Zweck, dem sie diente; denn der Arbeitstisch samt dem Steinschneider, der wie gebannt hinter ihm saß, und was zu ihm gehörte: die kleinen Instrumente im Werkzeugkasten, das Regal mit den Muscheln, den Onyx- und anderen Halbedelsteinstücken, den gelblichen Kugeln von kyrenäischem Modellwachs, den Bimssteinbrocken, Flaschen, Büchsen und Näpfchen nahm nur einen verschwindend kleinen Teil des weiten Raumes in Anspruch.
Sobald Melissa die Schwelle übertreten hatte, richtete der Künstler den breitschulterigen, kräftig entwickelten Oberkörper in die Höhe und erhob die Hand, um den zierlichen Stichel, den er eben benützt hatte, beiseite zu schleudern; doch er besann sich beizeiten und legte ihn behutsam zu dem anderen Werkzeug.
Aber diese Selbstbeschränkung mußte dem heißblütigen, starken Manne schwer gefallen sein; denn er warf einen grimmigen Blick auf das gerettete Instrument und gab ihm nachträglich einen verächtlichen Stoß mit dem Rücken der Hand.
Dann wandte er das gebräunte, von wirrem grauem Haupt- und Barthaar umrahmte mürrische Gesicht mit einem bedrohlichen Ausdruck der Thüre zu, und während er den Besuch, den Melissa draußen begrüßte, erwartete, dehnte sich der Künstler, warf den großen Kopf zurück und drängte, als stünde ihm ein Ringkampf bevor, die gewaltige Wölbung der Brust weit heraus.
Jetzt betrat Melissa wieder die Werkstatt, und der Jüngling, der sie an der Hand hielt, konnte – jeder seiner Züge verriet es – kein anderer sein als der Sohn des Heron.
Schwarzäugig, wohl und in großem Stil geformt waren die Häupter beider, und auch an Leibesgröße gab der eine dem andern nichts nach; während aber das Antlitz des Sohnes in froher Daseinslust strahlte und bei seiner besonderen jugendlichen Anmut gemacht und gepflegt zu sein schien, um bei Mann und Weib Wohlgefallen zu erwecken, trug das des Vaters das Ansehen des Ueberdrusses und der Verwilderung. Es schien auch, als habe der Eintretende seinen Unwillen erregt; denn Heron erwiderte den fröhlichen Gruß des Sohnes nur mit einem verweisenden »Endlich!« und achtete nicht der Hand, die er ihm darbot.
Doch Alexander mußte an solchen Empfang gewöhnt sein; denn er kümmerte sich nicht um die üble Laune des Alten, sondern schlug ihm mit derber Freundlichkeit auf die Schulter, trat frisch und unbefangen auf den Arbeitstisch zu, griff nach dem Schraubstock mit der beinahe vollendeten Gemme und rief, nachdem er sie an das Licht gehalten und aufmerksam betrachtet hatte: »Recht gemacht, Alter! Etwas Feineres ist Dir lang nicht gelungen.«
»Bettelzeug!« lautete die Antwort des Vaters; der Sohn aber lachte: »Meinetwegen! Doch eins meiner Augen für jeden in Alexandria, der es Dir nachmacht!«
Da rief der Alte aufbrausend und mit hoch erhobener Faust: »Weil, wer etwas Rechtes kann hier zu Lande, sich wohl hütet, die göttliche Kunst mit solchen Nichtigkeiten zum Kinderspotte zu machen. Beim Hunde! Am liebsten würf' ich die Brocken dort: den Onyx, die Muscheln, den Jaspis und wie sie sonst heißen, ins Feuer und zerhiebe das erbärmliche Werkzeug mit diesen Fäusten, die zu anderen Dingen bestimmt sind.«
Da schlug der Sohn den Arm um den gewaltigen Nacken des Alten und unterbrach ihn munter: »Ja, Vater Heron, daß sie zum Dreinschlagen taugen, das haben der Philipp und ich oft genug zu fühlen bekommen.«
»Viel zu selten,« brummte der Künstler, und der Jüngling fuhr fort: »Das laß ich gelten, obgleich von Deinen Streichen jeder einzelne so viel wert war wie ein Dutzend von der Hand anderer alexandrinischer Väter. Aber daß diese Fäuste, diese Gigantenhände an menschlichen Armen, dem Psychebilde dort den holden Liebreiz ums Mäulchen zaubern konnten, das, Alter, wenn das kein Wunder der Kunst ist . . .«
»Die Entwürdigung der Kunst,« unterbrach ihn der Alte; doch der Jüngling entgegnete schnell: »Der Sieg des Feinsten über das Grobe.«
»Ein Sieg!« wiederholte der Steinschneider und schwang dabei höhnisch die schwere Hand. »Ich weiß ja, weshalb ihr mir das drückende Joch mit eitler Schmeichelrede wie mit Blumen umwickelt. Wenn der graue Griesgram hinter dem Schraubstocke sitzt, so pfeift er sich höchstens ein Lied und verschont euch mit Klagen. Und dazu das Gold, das sein Schaffen ins Haus bringt!«
Dabei lachte er höhnisch auf, und während Melissa bekümmert zu ihm in die Höhe schaute, trat ihr Bruder ihm näher und rief: »Wenn ich nicht wüßte, wie es gemeint ist, alter Meister, und wär' es nicht schade um die herrliche Psyche, ich gäbe sie dem Strauß im Hofe des Skopas zu fressen; denn, beim Herkules, der verdaut Deine Steine leichter, als wir solchen kränkenden Vorwurf. Freilich danken wir den Musen, daß das Schaffen Dir die finsteren Gedanken zerstreut; – was aber das andere angeht – es widersteht mir, das Wort nur über die Lippen zu bringen, – das Gold, – so brauchen wir es so wenig wie Du, der es, wenn die Truhe voll ist, zu dem andern vergräbt oder versteckt. Apollodor hat mir für das Ausmalen seines Männersaales drei ganze Talente von dem gelben Unsegen aufgedrungen. Die alte Schiffermütze, in die ich es zu dem andern warf, wird platzen, wenn Seleukus erst die Bildnisse seiner Tochter bezahlt; und stiehlt ein Dieb das Deine und Meine zusammen, uns braucht's nicht zu grämen. Im Handumdrehen erwirbt mein Pinsel und Dein Stichel uns neues. Und was brauchen wir denn? Auf Kampfwachteln wetten wir nicht, Rosse lassen wir nicht rennen, erkaufte Liebe ist mir von Anfang an widrig gewesen, mehrere Gewänder, für die wir in den Beutel greifen, weil sie uns gefallen, tragen wir nicht über einander; eins ist schon zu heiß unter dieser Sonne. Dies Haus ist Dein eigen. Was wir selbst, die Vögel und unsere Sklaven verzehren, deckt schon die Miete zur Hälfte, die Glaukias für die Werkstätte zahlt, die Du mit dem Garten vom Großvater erbtest. Der Philipp lebt von Lust und Weisheit und wird noch dazu aus dem großen Futterkorbe des Museums gespeist.«
Hier unterbrach der Starmatz die lebhafte Rede des Jünglings mit dem Ruf: »Meine Kraft, meine Kraft!« Die Geschwister aber schauten einander verständnisvoll in die Augen, und Alexander fuhr mit warmer Herzlichkeit fort. »Aber es liegt Dir ja selbst fern, uns solcher Schändlichkeit fähig zu halten. Weihe doch das nächste fertige Kunstwerk der Isis oder dem Serapis. Laß den Kopfschmuck der Göttin oder den Mantel des Gottes mit Deinen Meisterwerken schmücken. Uns soll es recht sein, und die Himmlischen geben Dir vielleicht zum Dank dafür die verlorene Lebenslust wieder.«
Da wiederholte der Vogel den klagenden Ruf: »Meine Kraft,« und der Jüngling fuhr mit wachsender Lebhaftigkeit fort: »Das Beste wäre freilich, Du würfest den Schraubstock, die Radirnadel, den Polirstahl, und wie das zierliche Werkzeug sonst heißt, wirklich ins Wasser und machtest Dich an den Atlas, von dem wir Dich sprechen hören, seit wir griechisch verstehen. Beginne doch endlich mit dem Koloß! Ein Wort, und morgen steht hier oder in der Werkstatt des Glaukias, die ja Dein eigen, und auf seinem Modellirtisch der fügsamste Thon. Ich weiß, wo der beste zu haben, und besorge ihn in Massen. Der Nachbar Skopas borgt mir sein Fuhrwerk. Da sehe ich den Thon schon vor Augen und Dich selbst, wie Du ihn rüstig auftürmst, bis Dir die gewaltigen Arme erlahmen. Dabei wird nicht gepfiffen und gesummt, sondern frisch heraus gesungen aus der breiten Brust wie früher, als die Mutter noch lebte, wenn Du Dich bei den Dionysien mit Deinen Jungen dem trunkenen Zuge geselltest. Dann glättet sich die Stirn Dir auch wieder, und wenn das Modell Dir glückt, und es gilt, Marmor zu kaufen oder den Erzgießer zu zahlen, heraus dann mit dem Gold aus der Truhe und den Verstecken! Die ganze, volle Kraft kannst Du dann brauchen, und Dein Traum, einen Atlas zu bilden, wie ihn die Welt noch nicht sah, Dein schöner Traum wird zur Wahrheit.«
Bis dahin hatte Heron dem Sohne tief atmend zugehört; jetzt aber warf er einen scheuen Blick auf das Tischlein mit dem Wachs und Gerät, strich das wirre Haar aus der Stirn und fiel dem Maler mit einem bitteren Lächeln ins Wort: »Der Traum, sagst Du, der Traum! Als ob ich nicht selber wüßte, daß ich nicht mehr der Mann bin, den Atlas zu stande zu bringen, als ob ich nicht auch ohne euch fühlte, daß die Kraft dazu mir erlahmte.«
»Aber, Vater,« unterbrach ihn der Maler, »ist es recht, vor dem Kampf das Schwert fortzuwerfen? Und wenn der Versuch auch nicht gelänge . . .«
»Euch wär' es freilich das Liebste,« unterbrach der Steinschneider den Sohn. »Welch besseres Mittel gäb' es wohl, dem alten Einfaltspinsel ein für allemal zu zeigen, daß die Zeit des Schaffens im Großen für ihn vorbei ist?«
»Das ist ungerecht, ist Deiner nicht würdig, Vater,« fiel ihm hier der Jüngling neu erregt ins Wort; der Alte aber unterbrach ihn mit erhobener Stimme: »Du schweigst, Bube! Eins wenigstens ist – daß ihr's wißt – mir immer noch verblieben: die Schärfe der Augen, und sie thaten das Ihre, wie ihr euch anblinzeltet, als der Starmatz sein ›meine Kraft‹ rief. Ja, der Vogel hat recht, wenn er beklagt, was einst groß war und jetzt zum Kinderspott wurde. Aber Du, der Du dem Manne Ehrfurcht schuldest, dem Du das Leben verdankst und was Du erlerntest, Du erlaubst Dir, seit das erste Gemälde Dir leidlich gelang, über die kleinere Kunst des eigenen Vaters die Achseln zu zucken. Wie sich das bläht, seit er durch meine opferwillige Sorge ein Maler wurde! Wie das auf den Beklagenswerten herabschaut, den des Lebens Not zwang, aus einem Bildhauer, der das Höchste versprach, ein Steinschneider zu werden. Im tiefsten Innern – ich fühle es – nennst Du meine mühevolle Kunst nur ein halbes Handwerk. Vielleicht gebührt ihr auch kein besserer Name; daß Du aber, daß ihr mit dem Vogel gemeinsame Sache macht und den heiligen Drang verspottet, der den Alten immer noch antreibt, der wahren und echten Kunst zu dienen und etwas Großes, einen Atlas, wie ihn die Welt noch nicht er schaute, in gewaltiger Größe zu bilden, das . . .«
Hier schlug er die Hände vor das Antlitz und schluchzte laut auf, und seinen Kindern schnitt auch diesmal das klägliche Weinen des riesenstarken Mannes ins Herz, obgleich sie seit dem Tode der Mutter den Zorn und Mißmut des Vaters schon unzähligemale in kindischen Jammer hatten umschlagen sehen.
Heute mußte der Alte ja weicher gestimmt sein als sonst; denn man feierte die Nekysia, das Totenfest, das sich in jedem Herbst wiederholte, und er hatte schon in der Frühe das Grab der verstorbenen Gattin mit der Tochter besucht und den Leichenstein gesalbt und mit Blumen geschmückt.
So sprachen ihm denn seine Kinder ermutigend zu, und wie er sich endlich gefaßt und die Thränen getrocknet hatte, bat er so wehmütig und weich, daß man die Stimme des grimmigen Polterers kaum wieder erkannte: »Laßt nur; es geht schon vorüber. Ich vollende morgen die Gemme, und dann kommt der Serapis an die Reihe, den ich dem Oberpriester Theophilus versprach. Mit dem Atlas kann es nichts werden. Du hast es vielleicht doch redlich gemeint, Alexander; aber seitdem die Mutter dahinging, sehet Kinder, seitdem . . . Die Arme sind ja nicht schwächer geworden, doch hier drinnen, – was da zusammenschrumpfte, zerbrach, zerfloß – ich weiß es nicht zu benennen. Meint ihr es gut – und ihr thut es – so dürft ihr mir nicht grollen, wenn die Galle einmal überläuft; es hat sich hier drin zu viel davon gesammelt. Wozu ich bestimmt war und was ich erstrebte, erreichte ich nicht, was ich liebte, ging mir verloren, und wo fände ich wohl Trost und Ersatz?«
Da versicherten die Kinder ihn bewegt ihrer Liebe, und er ließ sich den Kuß Melissas gefallen und strich dem Alexander über die Locken. Endlich fragte er nach dem ältesten Sohne Philipp, seinem Liebling, und als er erfuhr, daß dieser, der einzige, von dem er verstanden zu werden meinte, ihn auch heute, am Totenfeste, nicht aufsuchen werde, brauste er wiederum auf und schalt auf die Verderbnis der Zeit und die Undankbarkeit der Kinder.
»Ist es wieder ein Besuch, der den Philipp zurückhält?« fragte er unwirsch, und wie Alexander dies verneinte, rief er höhnisch: »Dann ist es ein Wortgefecht im Museum. Und über diesen Nichtigkeiten wird der Vater und die Pflicht des Sohnes gegen die Mutter vergessen.«
»Du hattest doch sonst Deine Lust an solchem Ringspiel der Geister,« bemerkte die Tochter bescheiden; der Alte aber fiel ihr abweisend ins Wort: »Weil man diese elende Welt darüber vergißt, den Jammer des Daseins und die marternde Gewißheit, geboren zu sein, um dem grausen Tod zu verfallen. Doch was wißt ihr von den. allen?«
»Am Sterbebette der Mutter,« versetzte das Mädchen, »haben auch wir einen Blick in das gräßliche Mysterium gethan.« Und Alexander fügte ernst hinzu: »Und seit wir uns zum letztenmal sahen, Vater, darf ich mich gewiß zu den Eingeweihten zählen.«
»Weil Du eine Leiche gemalt hast?« fragte der Alte.
»Ja, Vater!« entgegnete der Jüngling und schöpfte tief Atem.
»Ich warnte Dich,« bemerkte Heron im Ton überlegener Erfahrung. Dann erklärte er, während Melissa ihm die Falten des blauen Umwurfs zurechtzog, daß er ins Freie zu gehen gedenke.
Dabei seufzte er tief auf, und seine Kinder wußten, wohin es ihn zog. Er wollte das Grab, zu dem ihn Melissa am Morgen begleitet hatte, noch einmal aufsuchen, und zwar allein, um dort der verlorenen Gefährtin ungestört zu gedenken.
Die Geschwister waren allein.
Melissa seufzte tief auf; der Bruder aber trat ihr näher, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte: »Schwer hast Du's gewiß, armes Ding! Achtzehn Jahre alt und bei so großer Anmut eingesperrt zu sein wie im Gefängnis. – Es wird Dich keiner darum beneiden, wenn auch Dein Kerkergenoß und Meister jünger und anders geartet wäre wie unser Alter! Aber wir kennen ihn ja. Es nagt ihm so viel an der Seele, und das Poltern und Toben thut ihm gut wie unsereinem das Lachen.«
»Wüßten die anderen nur auch,« versetzte das Mädchen, »wie gut und weich doch im Grunde sein Herz ist.«
»Den Freunden zeigt er sich anders als uns,« versicherte der Jüngling; doch Melissa schüttelte das Haupt und rief traurig: »Gestern noch fuhr er den Kunsthändler Apion an, es war schrecklich. Er hatte euch beide nun schon das siebentemal vergeblich zur Mahlzeit erwartet, und in der Dämmerstunde, als er die Arbeit beendet, faßte ihn wieder der Jammer, und ihn weinen zu sehen, o, wie das weh thut! Der Syrer fand ihn mit nassen Wangen, und wie er sich herausnahm, in seiner witzelnden Weise darüber zu scherzen . . .«
»Da hat's ihm der Alte gegeben!« unterbrach sie der Bruder und lachte hell auf. »Der wagt sich gewiß so bald nicht wieder an den verwundeten Löwen!«
»Das ist das rechte Wort,« erwiderte Melissa, und ihre großen Augen leuchteten heller. »Schon bei der Hetze im Zirkus mußte ich an den Vater denken, wie der große Wüstenkönig mit dem abgebrochenen Speer im Rücken dalag und laut winselnd das mähnige Haupt in den Pranken verbarg. Die Götter sind grausam.«
»Das sind sie,« entgegnete der Jüngling im Tone fester Ueberzeugung; seine Schwester aber blickte erschrocken zu ihm auf und rief: »Das sagst Du, Alexander? Ja, ja . . . Du sahst schon vorhin nicht wie sonst aus. Auch Dich hat ein Unglück betroffen.«
»Ein Unglück?« fragte der andere, und seine Hand glitt ihr besänftigend über die Locken. »Das eben nicht, und, Du weißt ja, dergleichen geht bei mir schnell genug vorüber. Die da oben haben mir freilich recht deutlich gezeigt, daß es ihnen bisweilen gefällt, das Gastmahl des Lebens mit recht bitterem Trank zu verderben. Aber wie der Mond, so wechselt zum Glück alles, was er bescheint. Manches hier unten ist allerdings sonderbar bestellt. Wie Augen und Ohren, Hände und Füße, schaffen die Himmlischen so vielerlei doppelt, und das Unglück, sagt man, kommt wie die Ochsen gewöhnlich paarweis.«
»So hat es auch Dich zwiefach getroffen?« fragte Melissa und faltete die Hände über der angstvoll wogenden Brust.
»Mich, Kind, nein! Den jüngeren Sohn Deines Vaters eigentlich gar nicht, und wär' ich ein Philosoph wie unser Bruder Philipp, dann grübelte ich jetzt nach, woher es komme, daß man nur naß werden kann, wenn die Feuchtigkeit uns selbst berührt, und doch recht jämmerlich elend, wenn das Unglück einen andern durchnäßt. Aber sieh mich nicht so ängstlich an mit den großen Augen! Einen Eid kann ich leisten, daß ich als Mensch und Künstler mich niemals wohler fühlte, und ich sollte darum eigentlich auch heute noch meine alte Meinung verteidigen. Aber es ward mir die Larva beim Festschmaus des Lebens gezeigt. – Was das für ein Ding ist? Eine Puppe, das Abbild eines verstorbenen Menschen, das die Aegypter und jetzt auch die Römer bei den Gastmählern die Runde machen lassen, um die Fröhlichen zu ermahnen, jede Stunde mit Genuß zu erfüllen, weil es mit der Freude nur allzu bald aus sei. Solche Larva nun, Mädchen – –«
»Du denkst an die verstorbene Tochter des Seleukus, deren Bildnis Du maltest?« fragte Melissa.
Da nickte der Jüngling ihr zu, warf sich auf den Arbeitsstuhl der Schwester und rief mit ihrer Stickerei in den Händen: »Schaffe Licht, Mädchen! Ich will Dein hübsches Gesicht sehen. Es gilt zu prüfen, ob Diodor keinen Meineid leistete als er neulich im ›Kranich‹ schwur, in ganz Alexandria geb' es kein gleiches. Außerdem ist mir das Dunkel zuwider.«
Wie Melissa mit der brennenden Lampe zurückkam, fand sie den Bruder, der sonst nie lange stillsaß, immer noch in sich selbst versunken an der nämlichen Stelle; doch sprang er bei ihrem Eintritt in die Höhe und schnitt ihre besorgten Fragen mit dem Rufe ab: »Geduld, nur Geduld. Du sollst alles erfahren. Eigentlich wollt' ich Dir heute am Totenfest die Ruhe nicht stören. Und dann . . . Morgen steht es vielleicht schon wieder besser mit ihm, und übermorgen . . .«
Da fiel Melissa ihm dringlich ins Wort. »So ist Philippus erkrankt . . .«
»Nicht eigentlich, Kind,« lautete die Antwort. »Kein Fieber, kein Schüttelfrost, kein Ziehen und Reißen. Er liegt auch nicht im Bett und trinkt keine bitteren Mixturen. Aber gesund ist er auch nicht, so wenig wie ich, der ich doch vorhin in die Speisen des Elefantenwirtes eingehauen habe wie ein hungriger Wolf und sofort mit gleichen Füßen über diesen Tisch fortspringen könnte. Befiehlst Du die Probe?«
»Nein, nein,« bat Melissa mit wachsender Besorgnis. »Wenn Du mich lieb hast, so gib mir kurz und bündig zu hören . . .«
»Kurz und bündig,« seufzte der Maler. »Das wird in diesem Falle nicht leicht sein; aber ich will mein Bestes versuchen. Hast Du Korinna gekannt?«
»Die Tochter des Seleukus?«
»Ganz rechte die verstorbene Jungfrau, deren Leiche ich malte.«
»Nein, doch Du wolltest . . .«
»Ich wollte kurz sein, aber es liegt mir mehr daran, verstanden zu werden, und wenn Du sie nicht mit Augen gesehen, wenn Du nicht weißt, welches Wunder der Schönheit die Götter bei der Schöpfung dieser Jungfrau verrichtet, dann bist Du berechtigt, mich für einen Narren und den Philipp für wahnsinnig zu halten, was er doch, dank den Göttern, einstweilen noch keineswegs ist.«
»So hat auch er die Verstorbene gesehen?«
»Nein, nein . . . Und vielleicht dennoch! Das ist alles noch dunkel. Ich weiß ja kaum, was mit mir selber geschah. Vor dem Vater glückte es mir, mich zusammenzunehmen, aber jetzt, wo das alles in mir aufsteigt, wo ich es vor Augen habe, so deutlich, so körperlich, so mit Händen zu greifen, jetzt . . . Beim Hunde, Melissa, wenn Du mich noch einmal unterbrichst . . .«
»So fang doch an; ich will schweigen,« fiel ihm die Schwester ins Wort. »Deine Korinna kann ich mir leicht als ein göttlich schönes Frauenbild denken.«
Da hob der Jüngling die Hände mit leidenschaftlichem Ungestüm und rief: »O, wie wollt' ich sie, die dies wundervollste Kunstwerk gebildet, rühmen und preisen, wie wäre mein Mund übergeflossen von ihrer Huld und Güte, wenn sie es der Welt vergönnt hätten, sich an dem Zauber dieses herrlichen Wesens weiter das Herz zu erwärmen und in ihr das Abbild ihrer eigenen, ewigen Schönheit mit frommer Andacht zu ehren. Aber sie haben ihr eigenes Meisterwerk frevlerisch vernichtet, die kaum erschlossene Blume zertreten, den Stern schon beim Aufgang verlöscht! Wenn das ein Mensch gethan hätte, Melissa, ein Mensch, was wäre sein Schicksal! Wenn das . . .«
Hier schlug Alexander in leidenschaftlicher Erregung die Hände vor das Antlitz; doch als er den Arm der Schwester auf seiner Schulter fühlte, gewann er die Fassung zurück und fuhr ruhiger fort: »Du hast ja gehört, daß sie tot ist. In Deinem Alter stand sie; achtzehn Jahre alt ist sie gestorben, und ihr Vater gab mir den Auftrag, das Bild ihrer Leiche zu malen. Füll mir den Becher. Ich will so gelassen fortfahren wie ein Ausrufer, der den Leuten einen ausgebrochenen Sklaven beschreibt.«
Nun trank er in langen Zügen und wandelte ruhelos vor der Schwester auf und nieder, während er berichtete, was ihm in den letzten Tagen begegnet.
Vorgestern mittag war er von dem Wirtshause aus, wo er mit Freunden munter und sorglos gezecht hatte, dem Rufe des Seleukus gefolgt. Noch kurz bevor er den Thürklopfer hob, hatte ihm ein lustiges Lied auf den Lippen geschwebt. Daseinsfreudiger war ihm, dem Frohesten der Frohen, nie zu Sinne gewesen. Einer der ersten Männer der Stadt, ein Kenner, hatte ihn mit einer schönen Bestellung beehrt, und die Aussicht, etwas Totes zu malen, gefiel ihm. Sein alter Meister hatte oftmals den reizvoll feinen Ton der Fleischfarben an frischen Leichen gerühmt. Wie sein Blick auf das Gerät gefallen war, das der Sklave ihm nachtrug, hatte er sich höher aufgerichtet im stolzen Gefühl, vor einer schönen Aufgabe zu stehen, der er gewachsen. Dann hatte der Thürhüter ihm das Haus geöffnet, ein graubärtiger Gallier, und wie er ihm in das verhärmte Antlitz geschaut und von ihm durch eine stumme Bewegung die Weisung erhalten, vorwärts zu schreiten, war er schon ernster geworden.
Er hatte Wunderdinge von der Pracht des Hauses vernommen, das er nun betrat, und der hohe Säulensaal, der ihn aufnahm, der Mosaikboden, über den er schritt, die Marmorbilder und Hautreliefs an dem oberen Teil der Wände wären wohl wert gewesen, sie aufmerksam zu bewundern, doch er, dessen Auge sich sonst alles, was er einmal gesehen, so fest einprägte, daß er es nachzeichnen konnte, hatte nichts einzelnes von dem vielen, das es dort zu bewundern gab, näher betrachtet; denn schon im Vorsaal war es ihm ganz seltsam zu Mute geworden. Grabesstille hatte in den hohen Hallen geherrscht, die ein beklemmender Duft von Ambra und Weihrauch erfüllte. Es war ihm auch gewesen, als sei die Sonne, die doch eben noch mit vollem Glanz am azurblauen Himmel strahlte, hinter Wolken verschwunden; denn ein befremdliches Dämmerlicht, wie es noch keinem begegnet war, hatte ihn umgeben. Jetzt wußte er, daß es durch die schwarzen Velarien gedrungen war, womit man die offenen Decken der Räume verschlossen hielt, durch die man ihn führte.
Ein junger Freigelassener hatte sich schon im Vorsaal an ihm vorbeigedrängt und war lautlos wie ein Schatten durch dämmerige Räume geeilt. Seine Aufgabe war wohl gewesen, der Mutter der Verstorbenen die Ankunft des Malers zu melden; denn bevor Alexander noch Zeit gefunden hatte, das Auge an den üppig blühenden Pflanzenmassen zu weiden, die den Springbrunnen in der Mitte des Impluviums umgaben, war ihm eine hohe Matrone in lang wallenden Trauergewändern entgegengetreten: die Mutter Korinnas.
Ohne den schwarzen Schleier zu lüften, der ihr vom Scheitel bis auf die Füße herabfloß, hatte sie ihm stumm gewinkt, ihr zu folgen.
Bis dahin war in diesem von Tod und Kummer heimgesuchten Hause noch kein Laut aus dem Mund eines Menschen an sein Ohr gedrungen, und diese Stille hatte den lebensfrohen Künstler so schwer bedrückt, daß er, um nur den Ton der eigenen Stimme zu vernehmen, der Matrone mitgeteilt hatte, wer er sei und wozu er komme.
Doch die Antwort war wieder nur eine stumme, zustimmende Neigung des Hauptes gewesen.
Die Wanderung mit seiner hohen Führerin hatte übrigens nicht lange gedauert und in einem weiten Gemache ein Ende genommen. Durch hundert und aberhundert der herrlichsten Pflanzen, vor denen eine Menge von Kränzen ruhte, war es in einen Blumengarten verwandelt worden, und in seiner Mitte hatte das Lager der Verstorbenen gestanden. Auch diese Halle war von dem schwärzlichen Dämmerlicht erfüllt gewesen, das ihn schon im Vorsaale befremdet.
Der dunkle und verhüllte regungslose Körper dort auf dem Lager, das ein dichter Kranz von Lotusblumen und weißen Rosen umrahmte, war sein Modell. Hier sollte er malen, und er konnte kaum eine Pflanze von der andern unterscheiden, kaum die Form der Vasen erkennen, die das Totenbett umstanden. Nur die weißen Blütenblätter schimmerten wie eine Reihe von Lichtern durch das unheimliche Halbdunkel und außer ihnen in ähnlichem Glanz mitten auf dem Lager ein sanft gerundetes Etwas, der unverhüllte Arm der Verstorbenen.
Da hatte das Herz ihm höher zu schlagen begonnen, die Schaffenslust des Künstlers war wieder in ihm erwacht, und er hatte sich zusammengerafft und der Matrone eröffnet, daß es unmöglich sei, in solchem Lichte zu malen.
Wiederum war nur eine Neigung des Hauptes die Antwort gewesen, – doch die wortkarge Frau hatte nach dem Lager hingewinkt, und zwei dienende Jungfrauen, die hinter ihm am Boden gekauert, waren plötzlich, als entstiegen sie der Erde, aus dem Dunkel emporgetaucht, und ihrer Gebieterin näher getreten.
Da hatte ein neuer Schauer das Blut des Malers durchrieselt, aber gleich darauf war die Stimme der Matrone beinah männlich tief, doch wohllautend ihm ans Ohr geklungen, und sie hatte den Mädchen geboten, den Vorhang zurückzuziehen, so weit es der Maler begehre.
Nun meinte er, sei der Zauber gebrochen, und statt der frommen Todesschauer werde Neugier und Schaffenslust seine Seele beherrschen. Gelassen hatte er die nötigen Anordnungen getroffen, den Dienerinnen thatkräftig geholfen, sein Gerät geordnet und dann die Matrone gebeten, die Verstorbene zu entschleiern, damit er sehe, von welcher Seite her er am besten ans Werk gehen könne.
Doch nun war die Fassung ihm wieder ins Wanken geraten; denn die hohe Frau hatte die Hand auf den Schleier gelegt und ihn mit einem Blicke gemessen, als habe er etwas Unerhörtes, Empörendes gefordert.
So mächtige Augen waren ihm noch unter der Stirn keines andern Weibes begegnet, und doch waren sie vom Weinen gerötet und schwammen in Thränen. Bitteres Weh sprach auch aus jedem Auge ihres wohlerhaltenen Antlitzes, dessen strenge, majestätische Schönheit wohl zu dem tiefen Klang der Stimme paßte. Wem es vergönnt gewesen war, dies Weib in der Blütezeit jungfräulicher Schönheit zu schauen!
Aber sie hatte seiner staunenden Bewunderung nicht geachtet, und bevor sie seiner Forderung nachkam, war ihre fürstliche Gestalt erzittert, und laut aufschluchzend hatte sie die Hand erhoben, um die Hülle von dem Haupt der Tochter zu heben. Dann war sie stöhnend neben dem Lager zusammengesunken, um die Wange an das Antlitz der Verstorbenen zu schmiegen. Endlich war sie aufgestanden und hatte dem Maler zugeraunt, daß, wenn das Werk ihm gelinge, ihr Dank keine Grenzen kennen werde.
»Was sie weiter sagte,« fuhr Alexander fort, »verstand ich nur halb; denn sie weinte dabei, und ich konnte die Gedanken nicht sammeln. Später erst hörte ich von ihrer Zofe – es war eine Christin – sie habe mir eröffnet, daß am nächsten Morgen die Verwandten und die Klagefrauen kommen würden. Bis in die Nacht hinein dürfe ich hier den Pinsel führen, nicht länger. Man habe gerade mir diesen Auftrag erteilt, weil Seleukus von meinem alten Meister Bion vernommen, es gelinge mir schneller als anderen, die Züge des Vorbildes treu wiederzugeben. Vielleicht sagte sie auch noch ganz anderes; ich aber, ich hörte nichts; denn ich sah nur. Es war mir, wie der Schleier dies Antlitz nicht länger den Blicken entzog, als hätten mir die Götter ein Geheimnis offenbart, das sie sonst nur den Himmlischen zu teilen gestatten. So andächtig war mir die Seele nie vorher und nachher gestimmt, in so feierlicher Glückseligkeit wie in jenen Augenblicken hat mir das Herz nimmer geschlagen.
»Was ich da schauen und nachbilden durfte, das war kein menschliches und auch kein göttliches Wesen, das war die Schönheit selbst, von der ich schon manchmal im seligsten Rausche geträumt.
»Und – versteh' mich aber nicht falsch – es kam mir nicht in den Sinn, um diese Verstorbene zu trauern und ihren frühen Tod zu beklagen. Sie schlummerte ja nur. – Es war mir, als belausche ich den Schlaf der Geliebten. Wie schlug mir das Herz! O Kind, Kind, und das Schaffen, das nun folgte, das waren Wonnen, wie sie sonst wohl nur die Olympischen an ihren goldenen Tafeln empfinden. Jeder Zug, jede Farbe das vollendet Schönste, was des Künstlers Seele nicht auszudenken, nein, nur zu ahnen vermag. Die köstliche Freudigkeit blieb, doch die Unruhe wich einem unbeschreiblichen, stillen Genügen. Und während ich den Rotstift gebrauchte und die Farben mit dem Cestrum verschmolz, blieb mir nach wie vor die traurige Empfindung weltenfern, eine Leiche zu malen. Schlummerte sie, so war sie unter glückseligen Erinnerungen entschlafen. Oft war es mir auch, als regten sich die Lippen des wundervoll geschnittenen Mundes und als spiele ein leiser Hauch mit dem wie das Deine verschwenderisch reich gewellten, braunen, glänzenden Haar. Die Muse half mir, und das Bildnis – Meister Bion und andere, denk' ich, werden es loben, wenn es auch dem unerreichbaren Vorbild nur gleicht wie die Lampe dort dem glänzenden Abendstern drüben.«
»Und bekommen wir es zu sehen?« fiel Melissa dem Bruder, dem sie mit angehaltenem Atem gelauscht hatte, eifrig ins Wort.
Da war es dem Künstler, als werde er aus dem Traume gerissen, und er mußte sich besinnen, wo er war und zu wem er sprach. Mit einer raschen Handbewegung strich er sich das Lockenhaar von der perlenden Stirn und frug hastig: »Ich verstand Dich nicht recht, was begehrst Du?«
»Ich fragte nur, ob wir das Bildnis zu sehen bekämen,« versetzte sie schüchtern. »Es war nicht recht, Dich zu stören. Und doch! Wie das Haupt Dir glüht. Trinke noch einmal, bevor Du fortfährst. Bist Du wirklich vor Sonnenuntergang fertig geworden?«
Da schüttelte Alexander verneinend das Haupt, leerte den Becher und fuhr dann ruhiger fort: »Nein, nein. Schade, daß Du mich unterbrachst. Ich war im Geiste mitten im Malen. Da ist der Mond ja schon! Ich muß mich beeilen; denn nicht um meinet-, um Philipps willen erzähl' ich das alles.«
»Ich störe Dich gewiß nicht wieder,« versicherte Melissa.
»Gut, gut,« entgegnen der Maler. »Es gibt übrigens auch nicht viel Freundliches mehr zu berichten. Wo bin ich nur stehen geblieben?«
»Beim Malen, so lang es noch Tag war.«
»Ganz recht; ich erinnere mich! Es begann also zu dunkeln. Dann brachte man Lampen, helle, prächtige, und so viel ich begehrte. Kurz vor Sonnenuntergang kam auch Seleukus, der Vater Korinnas, um die verstorbene Tochter noch einmal zu sehen. Der stattliche Mann trug sein Leid mit maßvoller Ruhe; vor der Leiche seines Kindes faßte es ihn aber dennoch hart genug an. Aber das kannst Du Dir denken . . . Er lud mich auch zu einem Imbisse, und was man da auftrug, hätte einen Satten zum Zugreifen gereizt; ich aber konnte nur wenige Bissen genießen. Berenike, so heißt die Mutter, netzte nicht einmal die Lippen, doch Seleukus griff zu für uns beide, und das verdroß – man sah es ihr an – seine Gattin. Während der Mahlzeit fragte der Kaufherr mancherlei nach mir und dem Vater. Den Philipp hatte er von seinem Bruder Theophilus, dem Oberpriester, rühmen hören. Von ihm erfuhr ich auch, Korinna sei von den kranken Sklavinnen, die sie gepflegt, angesteckt worden und schon am dritten Tage an einem hitzigen Fieber gestorben. Während ich aber dem redenden und schmausenden Lebemanne zuhörte, mußte ich sein Weib, das mir stumm und regungslos gegenüber lag, fortwährend betrachten; denn die Götter hatten in Korinna ihr verjüngtes Ebenbild geschaffen. Frau Berenikes Augen glühten freilich in einem düsteren, ich möchte sagen Furcht erregenden Glanz, – und doch waren sie wie die Korinnas geschnitten. Das sprach ich aus und fragte, ob sie von der gleichen Farbe gewesen; wegen des Bildnisses liege mir daran, es zu wissen. Da verwies mich Seleukus auf das Gemälde, das der alte Sosibius malte, der neulich nach Rom ging zur Arbeit in den neuen Bädern des Kaisers. Im vorigen Jahr bemalte er die Wand eines Saales im Landhause des Kaufherrn zu Kanopus. Eine Galatea bildet den Mittelpunkt des Werkes, und sie ist – jetzt weiß ich's – ein gutes, recht ähnliches Bildnis.
»Was ich in dieser Nacht vollende, erklärte Seleukus weiter, solle an dem Hauptende des Sarges der Tochter angebracht werden; doch dürfe ich es noch zwei Tage behalten, um in meiner Werkstatt bei größerer Ruhe und mit Hilfe der Galatea zu Kanopus ein zweites Bildnis der Verstorbenen für das Stadthaus zu malen.
»Darauf ließ er mich wieder mit der Gattin allein.
»Welch ein herrlicher neuer Auftrag! Und mit wachsender Lust und ruhiger als vorher bin ich auch wieder an die Arbeit gegangen. Es galt ja nicht mehr zu eilen; denn das erste Bild kam in die Gruft, und auf das Zweite konnte ich alle Sorgfalt verwenden. Uebrigens standen mir auch schon damals Korinnas Züge unauslöschlich deutlich vor Augen.
»Bei Lampenlicht malen ist sonst nicht meine Sache; doch diesmal sagte es mir zu, und bald überkam mich wieder die glückselig feierliche Stimmung, die mich vor der Leiche beherrschte. Nur bisweilen ward sie durch einen Seufzer oder den leisen Ruf der Mutter getrübt: ›Dahin, dahin, kein Trost, auch nicht der ärmste.‹
»Und was gab es darauf zu erwidern? Wem gäbe der Tod wohl zurück, was er raubte?
»›Und ich kann mir nichts Abwesendes vorstellen,‹ murmelte sie einmal dumpf vor sich hin. Aber gegen diesen Mangel konnte meine Kunst Abhilfe schaffen, und so malte ich mit feurigem Eifer weiter und weiter, und zuletzt störte sie mich auch nicht mehr mit Klagen; denn der Schlaf übermannte sie, und das schöne Haupt sank ihr auf die Brust. Auch die Dienerinnen hinter dem Lager waren entschlummert, und nur ihre tiefen Atemzüge unterbrachen die Stille.
»Da überkam mich plötzlich der Gedanke, daß ich mit Korinna allein sei, und er wurde immer mächtiger in mir, und dabei war es mir, als bewegten sich ihre lieblichen Lippen und als umschwebe sie ein Lächeln, und sie lade mich ein, sie zu küssen. Und so oft ich entzückt nach ihr hinsah, immer sah und empfand ich das Gleiche, und zuletzt zog mich alles, was in mir ist, zu ihr hin, und ich konnte nicht mehr widerstehen, und meine Lippen vereinten sich in einem Kuß mit den ihren.«
Da seufzte Melissa leise auf; der Künstler aber hörte es nicht und fuhr wie außer sich fort: »Und mit diesem Kusse ward ich ihr eigen, mit ihm nahm sie mir Herz und Sinn gefangen. Ich kann nicht mehr von ihr lassen; denn im Wachen und Schlaf steht mir ihr Bild vor Augen und hält mir Geist und Seele gefangen.«
Dabei ergriff er wieder den Becher, leerte ihn mit einem raschen Zuge und rief dann. »Sei es drum! Wer einen Gott geschaut hat, sagen sie, der müsse sterben, und es ist recht so; denn ihm ist etwas Herrlicheres widerfahren als den anderen allen. Auch unserem Bruder Philipp hat die Einzige das Herz in Banden geschlagen, wenn ihm nicht ein Dämon in ihrer Gestalt die Sinne verwirrte. Ich ängstige mich um ihn, und Du mußt mir helfen.«
Nun sprang er auf, um das Zimmer wieder mit langen Schritten zu durchmessen, die Schwester aber hing sich ihm an den Arm und flehte ihn an, von dem bestrickenden Wahnbilde zu lassen.
Wie warm klang diese Bitte, wie zärtliche Besorgnis aus jedem Worte Melissas, da sie zu wissen verlangte, wo und wie auch ihr älterer Bruder Philipp mit der Tochter des Seleukus zusammen gekommen.
Dem Künstler wurde das leicht bewegte Herz weich, und während er dem geliebten, sonst immer hilfreichen und jetzt so ratlosen Wesen an seiner Seite das Haar streichelte, suchte er Melissa zu beruhigen, indem er den leichten Ton wieder zu finden strebte, der ihm sonst eigen, und lächelnd zu wiederholen, daß der alte frohe Mut bald wieder bei ihm einkehren werde. Sie wisse ja, rief er heiter, daß jede seiner lebenden Geliebten schnell eine Nachfolgerin gefunden, und es müsse doch seltsam zugehen, wenn eine Verstorbene ihn länger zu fesseln verstehe. Mit dem Kuß nehme übrigens seine Geschichte, so weit sie im Hause des Seleukus spiele, ein Ende; denn Frau Berenike sei bald darauf erwacht und in ihn gedrungen, das Bildnis daheim zu vollenden. Am nächsten Morgen habe er die Arbeit mit Hilfe der Galatea in der Villa zu Kanopus weiter ausgeführt, und dort sei ihm auch mancherlei über die Verstorbene zu Ohren gekommen. Ein junges Weibchen habe die Villa gehütet und ihm zur Verfügung gestellt, was er brauchte. Ihr hübsches Gesicht sei geschwollen gewesen vom Weinen, und sie habe unter Thränen gerufen, ihr Mann, der als Centurio unter den Prätorianern des Kaisers diene, werde morgen oder übermorgen mit dem Cäsar nach Alexandria kommen. Sie habe ihn lang nicht gesehen und ihm ein Kindchen zu zeigen, das er noch gar nicht kenne, und doch könne sie sich nicht freuen; denn mit der jungen Herrin sei alle Fröhlichkeit in ihr wie erloschen.
»Die Liebe, die mir aus jedem Wort der Centurionenfrau entgegenklang,« schloß er, »half mir übrigens beim Malen, und ich konnte mit meinem Werk zufrieden sein. Das Bild war so gut geraten, daß ich es für den Seleukus in aller Ruhe vollenden, für den Sarg aber, so gut oder schlecht die vergönnte Zeit es gestattete, eine neue Kopie herstellen wollte. Solche Leichenbilder verschwinden ja in der halbdunklen Gruft, und wie wenige bekommen sie zu sehen! Es gehört auch ein Seleukus dazu, den – Dank der Muse – recht teuren Pinsel Deines Bruders für dergleichen in Bewegung zu setzen. Aber auf das zweite Bildnis kommt etwas an; denn dem kann es begegnen, neben einer Tafel von der Hand des Apelles aufgestellt zu werden, und es sollte auch den Eltern so viel von ihrem verlorenen Kinde wieder geben, wie nur immer in meiner Macht stand. Unterwegs nahm ich mir vor, gleich nach der Heimkehr bei Licht mit der Kopie zu beginnen; denn spätestens am nächsten Abend mußte sie abgeliefert werden.
»So betrete ich denn eifrig die Werkstatt, und der Sklave stellt das verhängte Bild auf die Staffelei, während ich meinen Besucher, den Philipp, begrüße, der die Lampe angesteckt und sich natürlich ein Buch mitgebracht hat. Er war so vertieft in die Stelle, daß er mein Kommen erst merkte, wie ich ihn anrief. Da erzähle ich ihm denn, woher ich komme und was mir begegnet ist, und er findet das sehr eigentümlich und fesselnd.
»Etwas hastig und suchend war er wie immer, sonst aber klar und verständig. Dann begann er mir zu erzählen, was er von einem neu aufgetauchten Philosophen, einem früheren Sackträger, Wundersames vernommen, und erst als mein Syrus Austern brachte – denn für Kräftigeres fehlte mir noch immer die Eßlust – verlangte er das Bild der Verstorbenen zu sehen.
»Da weise ich ihn auf die Staffelei und schaue ihm nach; denn je schwerer er zu befriedigen ist, desto höher schätz' ich sein Urteil. Diesmal glaubte ich sicher auf unbedingtes Lob, ja auf einige Bewunderung zählen zu dürfen; schon um des Vorbildes willen.
»Mit einer etwas hastigen Bewegung wirft er denn auch das Tuch von dem Bilde; aber statt wie sonst erst ruhig zu schauen und dann seine scharfen Bemerkungen hervorzuschnellen, prallt er vor dem Bildnisse zurück, als habe die blendende Mittagssonne ihm ins Auge geschienen. Dann starrt er, weit vorgebeugt, auf mein Werk, und dabei fliegt ihm der Atem wie nach einem stürmischen Wettlaus. Lautlos und als schaue er der Meduse ins Antlitz, bleibt er, ich weiß nicht wie lange, stehen, und als er endlich gar die Faust erhebt und sie an die Stirn preßt, rufe ich ihn an. Doch er erwidert nichts als ein ungeduldiges ›Laß mich!‹ und dann, – dann fuhr er fort, das Bildnis stumm mit dem Blick zu verschlingen.
»Ich störte ihn nicht; denn auch ihn, dachte ich, habe die unsagbare Schönheit dieses Jungfrauenantlitzes bezaubert. So blieben wir beide still, bis er endlich mit heiserer Stimme fragte: ›Das hast Du gemacht? Das, sagst Du, sei des Seleukus verstorbene Tochter?‹
»Ich bejahte dies natürlich, und nicht ganz ohne Stolz; er aber brauste plötzlich unwillig auf und warf mir in bitteren Worten vor, daß ich ihm nachgehe, ihn belauere und mit Dingen Scherz treibe, die ihm heilig seien, wenn ich es auch vorziehe, damit zu spielen.
»Ich versicherte dagegen, daß meine Antwort so ernst wie zutreffend gewesen und meine Erzählung von vorhin in jedem Worte der Wahrheit entspreche.
»Da fuhr er noch heftiger auf mich los. Auch ich begann ärgerlich zu werden, und wie er, bis ins Innerste erregt, hartnäckig auf seiner Meinung beharrte, das Vorbild meines Gemäldes könne die verstorbene Korinna nicht sein, schwur ich ihm mit der feierlichsten Würde, die ich aufbringen konnte, einen großen Eid, daß es sich doch so verhalte.
»Da stellte er mir in so weichen, rührenden Worten, wie ich sie nie aus seinem Munde vernahm, dringend vor, daß wenn ich ihn hinters Licht führe, es um seine Ruhe geschehen sei, ja daß er fürchte, den Verstand zu verlieren, – und wie ich nun zum andernmale und beim Andenken an unsere verstorbene Mutter beteuere, es sei mir nicht eingefallen, Spaß mit ihm zu treiben, schüttelt er mehrmals das Haupt, greift sich an die Stirn und schickt sich an, die Werkstätte ohne Gruß zu verlassen.«
»Und Du ließest ihn gehen?« fragte Melissa in angstvoller Spannung.
»Gewiß nicht,« versetzte der Maler. »Ich vertrat ihm vielmehr den Weg und verlangte zu wissen, ob er Korinna gekannt, und was das alles bedeute; er aber verweigerte mir die Antwort und machte den Versuch, sich an mir vorbei über die Schwelle zu drängen. Da mag es denn ein sonderbares Schauspiel gegeben haben, wie wir großen, ausgewachsenen Menschen uns miteinander balgten, als wären wir noch auf dem Spielplatz. Aber ich zwänge ihn ja mit einer Hand in die Kniee, und so mußte er bleiben, und nachdem ich ihm gelobt, ihn dann ungehindert gehen zu lassen, bekannte er, daß er Korinna im Hause ihres Oheims, des Oberpriesters, gesehen habe, ohne zu wissen, wer sie sei, und ohne auch nur ein Wort mit ihr zu reden. Aber er, der sonst allem aus dem Wege geht, was ein langes Gewand trägt, hatte diese Jungfrau und ihre herrliche Schönheit nicht vergessen und – er sprach es nicht aus, doch aus jedem seiner Worte ging es hervor – war wie von Sinnen vor Liebe. Ihre Augen hatten ihn überall hin verfolgt, und das war ihm wie ein großes Unglück erschienen, weil es ihm beim Denken die Ruhe störte. Vor vier Wochen war er über den mareotischen See zum Polybius gefahren, um den Andreas zu sprechen, und wie er bei der Heimkehr am Ufer stand, hatte er sie zum andernmale an der Seite eines älteren Mannes in weißen Gewändern getroffen. Das letzte Zusammentreffen soll aber am Morgen des Tages, an dem dies alles vorging, stattgefunden haben, und darf man ihm glauben, so sah er sie nicht nur, sondern berührte sogar ihre Hand. Es war wieder an unserem See gewesen, und sie hatte sich angeschickt, aus dem Fährboot zu steigen. Der Obolus, womit sie den Schiffsherrn bezahlen wollte, war zu Boden gefallen, und er hatte ihn aufgehoben und ihr zurückgegeben. Dabei waren seine Finger mit den ihren in Berührung gekommen. Das, sagte er, fühle er noch, und doch sollte sie nicht mehr unter den Lebenden wandeln.
»Nun war die Reihe an mir, seinen Bericht zu bezweifeln, er aber bestand auf jedem seiner Worte, wollte von Aehnlichkeiten und dergleichen nichts wissen und sprach von Dämonen, die ihm Trugbilder zeigten, um ihn zu verwirren und ihn zu verhindern, die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge zu einem glücklichen Ende zu führen. Das steht ja im geraden Gegensatz zu seiner Anschauung von den Dämonen, und wie er endlich ins Freie stürzte, sah er aus wie von bösen Geistern besessen.
»Ich eilte ihm nach, doch in einer dunklen Gasse verschwand er. Dann hatt' ich mit der Kopie alle Hände voll zu thun, und gestern übergab ich sie dem Seleukus.
»Nun ging es ans Suchen; doch weder in seiner Wohnung, noch im Museum konnte man mir Auskunft erteilen. Heute nun war ich von früh an hinter ihm her. Selbst wie sonst bei den Nekysien1 Blumen aufs Grab der Mutter zu bringen, hab' ich um seinetwillen vergessen. Aber gerade in der Totenstadt wird er sein; denn als ich, bevor ich hieher kam, auf dem Blumenmarkt einen Kranz bestellte, zeigte mir die hübsche Doxion zwei ganz wunderschöne, die sie für ihn gewunden und die er später abholen wollte. Er ist also jetzt in der Nekropole, und ich weiß auch, was er mit dem zweiten Kranze vorhat; denn der Thorhüter des Seleukus sagte mir, ein Mann, der sich mein Bruder genannt, sei zweimal bei ihm gewesen und habe sich lebhaft erkundigt, ob mein Bildnis schon an die Leichenhülle Korinnas befestigt. Das hatte der Alte verneint, weil die Balsamirung natürlich nicht fertig sein könne; das Gemälde werde aber heute, als am Totenfeste, in der Halle der Taricheuten ausgestellt sein. So ward es auch wirklich bestimmt. Nun aber, Kind, nimm Du Deinen klugen Mädchenkopf recht fest zusammen und ersinne etwas, wodurch man ihn wieder zu sich selbst bringt und ihn von seinem thörichten Wahne befreit.«
Da rief Melissa eifrig: »Erst gilt es, ihm nachgehen und mit ihm reden. Warte einen Augenblick. Ich muß noch schnell mit den Sklaven sprechen. Der Nachttrunk des Vaters ist rasch gemischt. Vielleicht kehrt er vor uns heim, und da muß ich ihm jetzt schon das Lager . . . Im Augenblick bin ich zurück.«
Die Geschwister hatten einen weiten Weg zurückzulegen. Die Straßen waren voller Menschen, und je näher sie der Totenstadt kamen, desto dichter war das Gedränge.
Während sie der Stadtmauer folgten, hielten sie Rat.
Nachdem sie übereingekommen waren, das Mädchen, dessen Hand Philipp ja berührt hatte, könne kein Dämon sein, der die Gestalt Korinnas angenommen habe, neigten sie sich der Annahme zu, eine Aehnlichkeit täusche den Bruder. Alexander, beschlossen sie endlich, solle diejenige suchen, welche der schönen Verstorbenen so wunderbar gleiche. Und der Künstler übernahm dies gerne; denn er brauchte zum Schaffen ein freies Herz, und das seine war noch nie so schwer belastet gewesen. Die Hoffnung, ein lebendes Wesen zu finden, das der entschlafenen Jungfrau gleiche, vereinte sich jetzt in ihm mit dem Wunsch, den hochbegabten Bruder vor der Verwirrung zu retten, in die er zu geraten drohte, und Melissa sah mit frohem Erstaunen, wie schnell dies neue Lebensziel dem Jüngling die getrübte Daseinsfreude zurückgab.
Diesmal führte sie das Wort, und Alexander, dem nichts Schönes entging, weidete das Ohr an dem reinem Wohllaut ihrer Stimme. So, dachte er, während sie durch das Dunkel hinschritten, ist auch ihr Antlitz, und die Charitinnen, die sie mit all dem Zauber schmückten, mögen es dem Vater vergeben, daß er sie vergräbt wie sein Gold.
In Gesellschaft eines andern etwas, was ihn bewegte, still für sich auszudenken, lag nicht in seiner Weise, und so raunte er der Schwester zu: »'s ist auch gut, daß die makedonische Jugend dieser Stadt einmal zu sehen bekommt, welches Kleinod das Haus unseres Alten verbirgt. Sieh nur, wie hell Selene scheint und wie prächtig die Sterne über uns funkeln. In leuchtenderen Farben blaut der Himmel wohl nirgends! Sind wir nur erst aus dem Schatten heraus, den die Stadtmauer auf den Weg wirft, so kommen wir ins Helle. Da taucht das Serapeum aus dem Dunkel hervor. Sie versuchen wohl schon die Beleuchtung, mit der dem Kaiser, wenn er kommt, die Augen geblendet werden sollen. Aber sie müssen auch zeigen, daß in dieser Nacht die Götter der Unterwelt und des Todes allesamt wach sind. Zu so später Stunde bist Du wohl noch nie in die Nekropole gekommen.«
»Wie sollt' ich?« versetzte das Mädchen; er aber gab der Freude Ausdruck, ihr zum erstenmal das wunderbare nächtliche Treiben an diesem Feste zu zeigen, und als er das laute »Ah!« vernahm, das sich ihrer Brust beim Anblick des größten aller Tempel entrang, der, mit Pechpfannen, Fackeln und zahllosen Lampen erhellt, aus dem Dunkel vor ihnen aufstieg, rief er ihr so stolz und froh bewegt ein fragendes »Nun?« zu, als schulde sie ihm diesen Anblick.
Von dem gewaltigen steinernen Unterbau, der sie trug, ragte die Kuppel des Serapeums hoch auf und schien mit der Spitze das Firmament zu berühren.
So edel waren die Formen dieses Riesenbaues dem Mädchen, das ihn immer nur bei Tage geschaut, noch nie erschienen; denn durch die von Künstlerhand angeordnete Beleuchtung trat jede seiner Linien heller und deutlicher hervor als im Lichte der Sonne, und Melissas empfängliches junges Herz vergaß bei diesem wunderbaren Anblick den Kummer, der es eben noch bedrückte, und begann schneller zu schlagen.
Das einsame Leben mit dem Vater war ihr bis dahin nach dem Sinne gewesen, und auch jetzt noch hätte sie sich für die Zukunft nichts Besseres gewünscht, als still und zurückgezogen für ihn und die Brüder zu sorgen; doch nun empfand sie dankbar die Lust, auch einmal etwas Großes und Herrliches zu schauen, und freute sich, dem Einerlei der Tage und Stunden auf kurze Zeit zu entrinnen.
Einmal hatte sie mit den Brüdern und dem Diodor, dem liebsten Freund des Alexander, einer Tierhetze, die einem Gladiatorenkampf gefolgt war, zugeschaut; doch sie war beängstigt und traurig nach Hause gekommen; denn was sie gesehen, hatte sie mehr entsetzt als erfreut. Einige der Erschlagenen und Zerrissenen kamen ihr nicht aus dem Sinn, und da sie auf den Plätzen des reichen Vaters des Diodor, auf dem untersten vornehmsten Range, gesessen, war sie von dem jungen, leichtfertigen Herrn ihr gegenüber, sobald sie nur die Augen aufschlug, so frech und herausfordernd angeschaut worden, daß es sie verletzt und beleidigt, ja mit dem Wunsche erfüllt hatte, bald nach Hause zu kommen. Und doch war sie dem Diodor gut von Kind an, und sie hatte sich mehr darauf gefreut, so lange ganz still in seiner Nähe weilen, als der Vorstellung zuschauen zu dürfen.
Diesmal ward ihre Neugier befriedigt, und dazu erfüllte sie der Wunsch, einem teuren Menschen zu helfen, mit stiller Freude. Es that ihr auch wohl, mit Alexander, der ihr besonders lieb war, nach langer Zeit einmal wieder am Grabe der Mutter beisammen zu sein. Das konnte sie nicht oft genug besuchen, und der Segen, der – davon war sie fest überzeugt – von ihm ausging, würde gewiß auch dem Bruder zu gut kommen und von ihm abwälzen, was ihn bedrückte.
Während sie zwischen dem alles hoch überragenden Serapeum und dem lang hingestreckten Stadium dahinschritten, verdichtete sich die Menge, und auf der Brücke, die sie über den Drakokanal führte, ward das Fortkommen schwer.
Jetzt, wo der Vollmond höher stand, begannen die den unterirdischen Göttern geweihten Opfer und Schauspiele, jetzt erst hatten sich die Fabriken und Werkstätten in der auch an den Nekysien rastlos thätigen Stadt entleert, und so füllte der Weg sich immer dichter mit Menschen.
Ihrer zurückgezogenen Natur war sonst jedes Gedränge zuwider, jetzt aber kam sie sich vor wie ein Tropfen in einem kräftig fließenden Strom, in dem alles das Verlangen teilte, das sie selbst ihrem Ziel entgegentrieb.
Der Wunsch, den Verstorbenen zu zeigen, daß man ihrer gedenke und bestrebt sei, sich ihrer Gunst zu vergewissern, beseelte Mann und Weib, Alt und Jung.
Da waren wenige, die nicht ein Kränzlein oder einen Strauß selbst in der Hand gehalten, oder ihn sich von den Sklaven hätten nachtragen lassen. Vor den Geschwistern her ging eine große, kinderreiche Familie. Die schwarze Wärterin hatte sich das Jüngste auf die Schulter gesetzt, und ein Esel trug zwei Körbe, aus denen Blumen für das Grab, ein Weinkrug und Eßwaren hervorlugten. Man wollte am Grabe der Großeltern ein Gedächtnismahl halten, und die Kleine, deren hübscher blonder Lockenkopf das Wollhaupt der Negerin hoch überragte, antwortete mit fröhlichem Nicken den Winken der Geschwister. Die Kinder freuten sich auf den Schmaus zu so ungewohnter Zeit, und die Eltern an ihnen und auf das Heitere und Erhebende, das ihnen bevorstand.
Viele begehrten in dieser Nacht am Grabe der Lieben nur der guten Stunden zu gedenken, in denen sie mit ihnen glücklich gewesen, andere hofften Leid und Sorge in der Totenstadt zurückzulassen und dort frischen Lebensmut und neues Wohlsein zu finden; denn die Unterwelt stand heute weit offen, und wenn irgendwo, so nahmen in dieser Nacht die »Unterirdischen« die Opfer der Frommen an und erhörten ihre Gebete.
Die hageren Aegypter, die sich dort stummen und gesenkten Hauptes an den Geschwistern vorbeidrängten, waren sicherlich willens, dem Osiris und dem Anubis – denn mit den Nekysien fiel das Fest aller Götter der Toten und der Auferstehung zusammen – Spenden darzubringen und sie durch magische Sprüche und Mittel zur Willfährigkeit zu zwingen.
Alles ringsum ließ sich deutlich erkennen; denn das wüste Gebiet der Totenstadt, wo sonst zu dieser Stunde tiefes Dunkel und lautlose Stille herrschten, war heute erleuchtet, und doch vermochte das Licht die Schauer, welche diese Stätte sonst bei Nacht umschwebten, nicht völlig zu bannen; denn die ungewohnte Helligkeit blendete und verwirrte die Fledermäuse und andere Nachtvögel, und sie flatterten jetzt in dunklen, gespenstischen Scharen über den Wanderern hin. Manche hielten sie für die ruhelosen Seelen verdammter Sünder und schauten beängstigt zu ihnen in die Höhe.
Melissa zog das Kopftuch zusammen und schmiegte sich fester an den Bruder; denn auch der Gesang und das wüste Geschrei, das sie längst hinter sich vernahm, kamen ihnen nahe.
Sie schritten nicht mehr auf einer gepflasterten Straße, sondern auf hartem Wüstenboden hin. Das Gedränge hatte aufgehört, weil es sich hier in die Breite entfalten konnte, und doch eilte die unbändige Schar, nach der sie sich nicht umzuschauen wagte, ganz dicht an ihr vorüber.
Es waren Griechen von jedem Alter und beiden Geschlechtern. Die Männer schwangen Fackeln und sangen sich in zügellosem Ungestüm heiser, die Weiber stürmten bekränzt neben ihnen her. Was sie in Körben auf dem Haupte trugen, war nicht zu erkennen, und auch Alexander wußte es nicht; gab es hier doch so viele religiöse Genossenschaften und Mysterienkreise, daß er nicht einmal sagen konnte, welchem diese laute Schar angehöre.
Kaum hatten die Geschwister dann einen Zug weißgekleideter Männer, der sich gemessenen Schrittes fortbewegte und in dem der Künstler die philosophisch-religiöse Brüderschaft der Neupythagoräer erkannte, überholt, als ein kleinerer Menschenhaufen in leidenschaftlicher Erregung, ja wie von Sinnen dahergerast kam. Die Männer trugen die roten, sackartigen Mützen ihrer phrygischen Heimat, die Weiber mit Früchten gefüllte Schüsseln. Etliche schlugen die Handpauke, andere die Cymbel, und mit sinnverwirrendem Geheul drängte der eine den andern zu immer schnellerem Vorwärtsjagen, bis der Staub sie den Blicken und neues wildes Getöse dem Gehöre entzog. Dann stürmten die Mysten des Dionysos heran und wetteiferten in tollem Ungestüm selbst mit den Phrygern.
Doch dieser rasende Zug blieb hinter den Geschwistern zurück; denn einer der schön ausgeputzten hellfarbigen Stiere, welche Männer und Jünglinge dem Zuge nachgetrieben hatten, um sie zu opfern, hatte sich, außer sich gebracht durch Geschrei und Fackellicht, losgerissen, und es galt, ihn von neuem zu fesseln.
Endlich erreichten die Geschwister den Friedhof.
Zu den lang hingestreckten Häusern der Totenbestatter konnten sie sich den Weg noch nicht bahnen. Eine undurchdringliche Menschenschar hatte sich vor ihnen gestaut, und Melissa bat aufatmend den Bruder, sie einen Augenblick ausruhen zu lassen.
Was sie auf dem Wege hierher gesehen und gehört, hatte sie aufs tiefste erregt, und doch war ihr nur selten aus dem Gedächtnis geschwunden, was sie in die Nacht hinausführte, wen sie hier suchte, und daß sie alles aufbieten müsse, ihn von dem Wahn zu befreien, der ihn bethörte.
In diesem Menschengedränge, diesem tobenden Gewühl war kaum an jene ruhige Sammlung zu denken, die sie heute morgen beim Grabe der Mutter mit dem Vater gefunden. Daran war nicht zu zweifeln, und das schöne Freiheitsgefühl, das vorhin so hell in ihr aufgeleuchtet war, trat tief vor einer wachsenden Beängstigung und der Sehnsucht nach der gewohnten Ruhe in den Schatten.
Wenn der Vater sie hier fände!
Als sie eine hohe Gestalt, die der seinen glich, durch das vom Staub gedämpfte Fackellicht schreiten sah, zog sie den Bruder hinter den Stand eines Krämers, der Fruchtwasser und andere Erfrischungen feilbot. Der Vater wenigstens sollte noch verschont bleiben von der Unruhe, die sie um den Philipp, seinen Liebling, empfanden. Außerdem wußte sie, daß der Alte sie, wenn er sie hier fände, ungesäumt nach Hause führen würde.
Es galt jetzt, zu überlegen, wo sie dem Philipp begegnen könnten.
Hart neben ihnen standen die Buden der Händler, die Speisen und Getränke jeder Art, Blumen und Kränze, Amulette und Papyrusblätter mit seltsamen Beschwörungen für die Gesundheit des Körpers und das Heil der Seele verstorbener Menschen feilboten. Ein Sternseher, der aus dem Stand der Planeten den Lauf des künftigen Lebens voraussagte, hatte auf einer erhöhten Estrade große Tafeln und das Instrument aufgestellt, womit er wie mit einem Bogen nach den Gestirnen zielte, und sein syrischer Sklave schrie, begleitet vom Wirbel einer buntbemalten Trommel, laut aus, was er vermöge. In verschlossenen Zelten gab es allerlei magische Mittel zu kaufen, welche die Obrigkeit feilzubieten verbot: vom Liebestrank bis zu der Flüssigkeit, welche, recht angewandt, Blei, Silber und Kupfer in Gold verwandeln sollte. Hier luden alte Weiber ein, thrakische und andere Zauber zu versuchen, dort schritten Wunderthäter mit spitzen Mützen und in langen bunten Talaren, von denen die meisten sich Priester einer unterirdischen Gottheit nannten, gravitätisch auf und nieder.
Menschen aller Stämme und Zungen, welche die Ufer des Mittelmeers und das nördliche Afrika bewohnten, drängten sich lärmend durcheinander.