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Das Jahr 3587 nach Christus ist eine Zeit vielfältiger Bedrohungen für die Menschheit. Aus der Dunkelwolke Provcon-Faust heraus greift der Mutant Boyt Margor nach der Macht. Ein fremder Einfluss leitet ihn - und schließlich entsteht der Margor-Schwall, ein gewaltiges psionisches Leuchtfeuer. Unterdessen droht allen menschlichen Bewohnern in der Milchstraße ein schlimmes Schicksal: Sie sollen vertrieben werden. Eine gewaltige Flotte besetzt strategische Positionen. Ihre Keilraumschiffe erscheinen auch über der Handelswelt Olymp - und der ehemalige Eroberer Hotrenor-Taak beginnt ein gewagtes Spiel zugunsten der Menschheit ...
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Nr. 111
Geburt einer Dunkelwolke
Das Jahr 3587 nach Christus ist eine Zeit vielfältiger Bedrohungen für die Menschheit. Aus der Dunkelwolke Provcon-Faust heraus greift der Mutant Boyt Margor nach der Macht. Ein fremder Einfluss leitet ihn – und schließlich entsteht der Margor-Schwall, ein gewaltiges psionisches Leuchtfeuer.
Im Morgenlicht warfen die grotesken Gebäude lange Schatten. Sie bestanden aus riesigen Knochen und waren mit billigem Plastikmaterial ausgegossen. Zwischen diesen Bauten erhoben sich Vergnügungsstätten, Bars und kleine Läden aus armiertem Beton.
Eine Wolke schaler Gerüche hing in der Luft. Der Wind trug Staub, Sand und Knochenmehl aus dem nahen Cañon heran. Zwei Reinigungsroboter kämpften mit kräftigen Saugstrahlen und rotierenden Bürsten gegen den Dreck an. Von irgendwoher dröhnte schrille Musik.
Einst waren die fossilen Knochentäler nahe der Stadt touristische Sensationen gewesen, heute kümmerte sich kaum jemand darum. Während der Lareninvasion waren die Metropole Krockock und der Raumhafen zerstört worden. Eine Schwarzmarkt-Siedlung fristete nun ihr Dasein auf den Trümmern einstiger Größe – darüber hinaus war nichts geblieben. Selbst die Archäologen mieden den Planeten Chloreon; niemand interessierte sich mehr für die gigantischen Knochenlager in den Cañons.
Dröhnend jagte eine alte Space-Jet über die Siedlung hinweg. Der Diskus landete in dem einigermaßen wiederhergestellten Bereich des Raumhafens.
Scrugg Tomas tastete nach der schweren Energiewaffe unter seiner Jacke und betrat vor seiner Begleiterin die Bar.
Schwer definierbare Gerüche, lautes Stimmengewirr, Gläserklirren und Gelächter schlugen ihnen entgegen. Da waren Springer und Neu-Arkoniden, ein Ara reckte interessiert den kahlen Schädel, mehrere Terraner saßen da, Ertruser und ein humanoides Wesen, dessen Gesichtsmaske eher einen exotischen Roboter vermuten ließ. Sekundenlang herrschte jähe Stille. Jeder taxierte die Eintretenden.
Tomas tippte einem rotbärtigen Springer, der vor einem übergroßen Bierglas saß, auf die Schulter. »Vater des schnellen Handels, sei so zuvorkommend und überlasse meiner jungen Begleiterin deinen Hocker«, sagte er gemütlich.
»Mach schon!«, dröhnte die wuchtige Gestalt hinter der Theke. »Mach Platz für die junge Frau!«
Wortlos rückte der Springer mit seinem Glas zur Seite. Dalaniekay Tomas schwang sich lächelnd auf den Hocker.
Etwa fünfzig Personen füllten den Raum, in dessen Mitte die Theke stand. Musik hing in der Luft, die geeignet war, erregte Gemüter zu beruhigen.
»Champagner für meine Begleiterin!«, bestellte Tomas bei dem massigen Barkeeper. »Für mich einen ertrusischen Zharc mit Eis. Wenig Eis. Übrigens ... wir sind die Tomas-Leute, falls das jemanden interessiert.«
»Wusste ich längst«, sagte der Riese. Seine Stimme war tief und rau. »Ich bin Pinky, der Gnom. Auf Krockock leben viele von schnellen Gerüchten.«
»Aus dem Grund sind wir hier.«
Die meisten Gäste gaben sich unbeteiligt. Scrugg Tomas kannte das zur Genüge. Er registrierte genau, dass seine Begleiterin und er ausgiebig fixiert wurden. Die Getränke kamen, und er wandte sich wieder an Pinky.
»Mit wem spreche ich am besten?«
»Geht es um Rauschmittel oder Drogen?«
»Rund eine Tonne Munarquon. Das ist kein Scherz – ich bin neu hier und kann mir denken, dass ich nicht gleich betrügen darf.«
Pinky lachte donnernd. »He, der Junge ist gut!«, rief er. »Zumindest sagt er so schöne Sachen!«
»Ich liefere auch schöne Sachen!«, ergänzte Tomas. »Wer ist Interessent?«
Die tausend Kilogramm waren in kleinen Dosierungen abgepackt, waren hochwirksam und vermutlich ein Vermögen wert. Scrugg wollte den bestmöglichen Preis und das Munarquon vor allem an einen bestimmten Käufer abgeben – oder an dessen Beauftragten.
»Interessiert kann fast jeder hier sein«, sagte Pinky. »Oder niemand.«
»Ich will nicht monatelang warten – vor allem nicht darauf, dass Sicherheitskräfte der LFT mein Schiff aufspüren.«
»Dieser Einwand sollte bedacht werden. He, Corbeddu!«
Ein Ertruser schob sich durch die Menge. Er blieb zwischen Dalaniekay und Scrugg stehen und warf einen nachdenklichen Blick auf den riesigen Wirt. Ruckartig wandte er sich an Scrugg: »Du hast das Zeug von den Loowern?«
»Richtig. Munarquon ist ein besonderer Stoff und viel mehr als nur ein Mittel zur Beeinflussung. Verteile es an Abhängige, und du wirst zum mühelos agierenden Diktator.«
»Können wir einen Test durchführen?«
»Wenn du mir einen Freiwilligen bringst, sofort. Der Proband wird in völlige Willenlosigkeit abgleiten und jedem Befehl gehorchen. Während der Beeinflussung wird er zudem ein unbeschreiblich intensives Glücksgefühl verspüren.«
Der Ertruser blieb argwöhnisch. »Man hört im Moment so manches«, brummte er. »Von einem gekaperten Versorgungsflug der Loower und einem harmlosen Gewürz. Die LFT sucht die Hintermänner in der halben Galaxis. Nicht wegen der Ware, sondern wegen des Angriffs auf die Loower. Tifflor fürchtet wohl neue politische Spannungen. Wie kommt man überhaupt mit einem Loowerschiff zurecht?«
Scrugg hob die Hände. »Miserabel«, antwortete er. »Wir sind froh, wenn wir das Ding nicht mehr anfassen müssen. Aber zu dem angeblichen Gewürz: Für Terraner und viele andere ist es ein hochwirksames Rauschmittel. Es schaltet den individuellen Willen aus, macht Menschen zu Marionetten.«
»Wie viel hast du davon?«
»Genug, um mehrere Planeten für Jahrzehnte zu beeinflussen. So etwas hat natürlich seinen Preis. Ich bin sicher, dass eine Einzelperson ihn nicht bezahlen kann. – Wo ist dein Freiwilliger? Der erste Versuch ist gratis und wird jeden überzeugen.«
Der Ertruser hob die Schultern und brüllte nach hinten: »Taddas, komm zu mir!«
Aus dem dämmerigen Hintergrund schob sich ein kleiner, alter Terraner. Seine Miene verriet jedoch Zähigkeit.
Dalaniekay presste die Lippen zusammen. Sie tastete nach dem Strahler unter ihrer linken Achsel.
Pinky beugte sich über die Theke nach vorn. »Lassen Sie das Ding stecken!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich sorge selbst für Ruhe und Ordnung. Sie brauchen keine Waffe, klar?«
Scrugg zog ein mehrfach gefaltetes Stück Plastikgewebe aus seiner Hemdtasche und schlug es auseinander. Winzige Kristalle schimmerten in fast allen Farben.
Taddas kniff ein Auge zu. »Was soll das sein, Partner?«, fragte er den Ertruser.
»Eine Probe. Du wirst zum willenlosen Sklaven. Freiwillig, versteht sich. Ich bin der erste Interessent. Wie viel verlangst du?«
»Wie lange und welche gesundheitlichen Folgen?«, fragte Taddas geschäftsmäßig.
»Ich bin kein Schurke«, erklärte Tomas. »Wenn Sie die Hälfte dieser Menge nehmen, werden Sie für etwa zehn Minuten willenlos sein.«
»Ich befehle dir sicher nicht, jemanden umzubringen«, beschwichtigte Corbeddu.
»Das würde ich ohnehin verhindern!«, rief der Wirt. »Fangt endlich an. Oder wollt ihr mein Geschäft ewig aufhalten?«
Derjenige, der Scrugg Tomas und Dalaniekay in Terrania über das Munarquon aufgeklärt hatte, hatte Einschränkungen machen müssen. Die Wirkung auf den menschlichen Organismus war bekannt und getestet. Bei nichtmenschlichen Völkern waren gefährliche Entwicklungen jedoch möglich. Ebenso war Scrugg davor gewarnt worden, Munarquon bei Mutanten anzuwenden.
Die Gespräche in der Bar verstummten fast völlig. Um die vier Personen bildete sich ein freier Raum.
Tomas ließ sich ein Glas mit Mineralwasser geben. Er zog ein Messer aus dem Stiefelschaft und teilte das Kristallhäufchen in zwei gleich große Mengen. Eine Hälfte schüttete er in die Flüssigkeit, die andere wickelte er wieder ein. Er reichte Taddas das Glas.
»Ihr seid Zeugen«, wandte er sich an die Zuschauer. »Taddas hat sich freiwillig gemeldet. Er wird rund zehn Minuten lang alles tun, was der Ertruser ihm befiehlt. Ich mache nur diesen einen Versuch, also seht aufmerksam zu.«
Taddas trank das Glas in einem Zug leer.
Scrugg Tomas blickte auf die Uhr. »Dreißig Sekunden Vorlauf«, kommentierte er.
Er beobachtete die Umstehenden. Trotz ihres Misstrauens schienen die meisten sicher zu sein, dass sich eines der Geschäfte anbahnte, die nur alle paar Jahre einmal vorkamen. Derjenige, der hier vermittelte oder selbst kaufte, wurde mit einer einzigen Transaktion reich.
»Fertig?«, fragte der Ertruser.
Mit Taddas war eine deutliche Veränderung vorgegangen. Offensichtlich wurde er wirklich von einem starken Glücksgefühl geprägt. Er stand ruhig da und lächelte.
»Versuchen Sie's, Corbeddu!«, knurrte Tomas.
»Spring auf die Theke und tanz!«, befahl der Ertruser.
Taddas warf das Glas einem der Umstehenden zu, packte den nächsten Barhocker und schwang sich auf die Theke. Er tanzte mit komplizierten Verrenkungen, die auf jeder Bühne Beifallsstürme hervorgerufen hätten.
»Spring herunter, greif mich an, versuch, mich zu töten!«
Wieder gehorchte der kleine, sehnige Mann mit bedingungsloser Schnelligkeit. Er sprang den Ertruser an, krallte seine Hände um den muskulösen Hals und stieß mit Knien und Füßen zu. Corbeddu geriet tatsächlich in Bedrängnis.
»Schluss damit, Taddas! Grabe dich durch den Boden!«
Der Kleine ließ sich fallen, noch immer mit verzücktem Ausdruck im faltenreichen Gesicht. Er zerrte an Bodenbrettern und Kunststoffplatten. Trotz der großen Anstrengung zeigte er keine Anzeichen von Ermüdung oder Anstrengung. Schon riss er die erste Platte heraus.
»Ist sein Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt?«, fragte der Ertruser. »Ich meine, sieht er beispielsweise Sand, wo sich Felsen befinden?«
»Keine Sinnesfunktion wird ausgeschaltet oder verwirrt«, antwortete Tomas. »Er handelt in den Grenzen seines Rauschs völlig vernünftig.«
»Hör auf damit!«, befahl Corbeddu. »Erwürge dich selbst!«
Der Mann fasste sich an den Hals und fing an, mit tödlicher Konsequenz zuzudrücken. Der Ertruser machte eine beschwichtigende Bewegung, denn das Entsetzen der Zuschauer wurde greifbar.
»Schluss damit! Singe uns ein Lied, bis du wieder normal bist!«
Taddas holte tief Luft. Mit schmeichelndem Bariton stimmte er ein unbekanntes Lied an. Doch die Wirkung der winzigen Menge Munarquon ließ bereits nach.
»Macht das Zeug süchtig?«, fragte Pinky, der Gnom, in die Stille zwischen zwei Strophen.
Scrugg Tomas zuckte die Achseln. »Nicht mehr als jedes Gewürz.« Er lachte.
Es gab einiges, was er über Munarquon niemals preisgegeben hätte. Weil diese Informationen ihn schnell in ernste Schwierigkeiten bringen konnten. Die Wirkung der von Boyt Margor eingesetzten Psychode sollte der des Rauschgifts gleichen – eine Erfahrung, die noch nachzuprüfen war.
Taddas verstummte mit einem hellen Akkord. Er lächelte begeistert in die Runde.
»Das war herrlich. So gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt«, stellte er fest.
»Überzeugt?« Tomas wandte sich an den Ertruser.
»Völlig«, bestätigte Corbeddu. »Aber ich kann höchstens einige Kilo von dem Zeug kaufen. Was verlangst du?«
Scrugg nannte einen exorbitant hohen Preis.
»Ich nehme zehn Kilo«, erklärte der Ertruser. »Hannar-Thrayn, der Springer dort rechts, will fünfzehn. Und ich bin sicher, dass in kurzer Zeit Interessenten auftauchen, die dir die Hauptmenge abnehmen.«
Vielleicht die Insassen jener Schiffe, die in die Provcon-Faust einfliegen, hoffte Tomas.
»Ich habe nur sehr wenig hier auf dem Planeten«, schränkte er ein.
»Wo sind die Pakete?«
»In der JUNKIE – dort, wo sie außer mir niemand findet. In Sicherheit nämlich.«
»Wann kannst du alles hier haben?«
»Überhaupt nicht. Die Übergabe erfolgt nur im Raum. Abgesehen von winzigen Mengen wie der eben ausgeteilten. Du würdest es an meiner Stelle nicht anders machen.«
»Kaum.«
Tomas hob beide Hände. »Morgen können wir über alle Modalitäten reden. Ich bin sehr daran interessiert, die tausend Kilo Munarquon möglichst schnell abzusetzen. Ihr kennt den Preis. Ich verkaufe am liebsten die gesamte Menge, aber auch eine Stückelung wäre möglich. Ein faires Angebot?«
»Ich denke, es ist fair«, bestätigte Corbeddu. »Du bist im Hotel zu erreichen?«
»Im Chorda dorsalis, bis morgen Vormittag. Nebenbei gesagt: Es wäre vergebliche Mühe, im Bordcomputer meines Beiboots nach dem Versteck der JUNKIE zu suchen. Ich bin nicht weniger Profi als ihr.«
»Du kannst sicher sein, von uns angesprochen zu werden«, murmelte Corbeddu.
Tomas zahlte seine Getränke. Der Wirt schlug eine beträchtliche Summe als Vermittlungshonorar auf.
Terra, Regierungssitz Imperium-Alpha
Der Erste Terraner Julian Tifflor versuchte, Beherrschtheit und Ruhe auszustrahlen. Allen Teilnehmern dieser Sitzung lagen die aktuellen Informationen vor.
»Wir wissen, dass Boyt Margor mit seiner neuen Waffe, den Psychoden, zur ernsthaften Bedrohung geworden ist«, sagte soeben der Geheimdienstchef. »Es liegen zuverlässige Informationen vor, dass Margor versucht, Krieger, Mitkämpfer oder auch willenlose Sklaven einzusammeln.«
»Das ist zutreffend«, bestätigte Tifflor. »Wir haben ausreichend Beweise dafür.«
»Raumschiffsbesatzungen rekrutieren Helfer. Die Angeworbenen werden zu Margors willenlosen Sklaven. Wir sind ziemlich sicher, dass Gäa und andere Welten in der Provcon-Faust als Margors Stützpunkte ausgebaut werden sollen.«
Tifflor schaute von seinen Unterlagen auf. Sein Blick überflog die Versammelten.
»Mittlerweile wurden Vorkehrungen getroffen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Ich will allerdings nicht verhehlen, dass wir mit Margor noch tödliche Probleme und Zwischenfälle erleben werden. Bei der Gelegenheit stellt sich die Frage, wie weit die Einschleusung unserer Staragenten gelungen ist.«
Der Geheimdienstchef gestattete sich ein blutleeres Lächeln. »Ich habe vor wenigen Minuten mit unserem Beobachter gesprochen. Die Mission zeigt den gewünschten Anfangserfolg.«
Gegen zehn Uhr morgens wurde Scrugg Tomas vom Interkom geweckt. Der weißhaarige Mann, einen Meter einundneunzig groß und rund zwei Zentner schwer, wickelte sich in den Bademantel und nahm das Gespräch an.
»Zwei Herren sind in der Halle«, meldete die Hotelsekretärin. »Sie haben ihre Namen nicht genannt, sind aber Interessenten für Ihre Ware.«
»Ich bin gleich unten. Besorgen Sie uns ein Frühstück? Dasselbe wie gestern.«
»Ich werde Ihnen die gleiche Auswahl an Speisen hinaufschicken. Reisen Sie mit den Herren ab?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber meinetwegen können Sie die Rechnung bereits ausstellen.«
Tomas kleidete sich an, steckte sein Geld und die Waffe ein und ging hinunter in die feuerrot ausgestattete Halle aus Knochen, gespritztem Kunststoff und Stahlbeton. In der Nähe des Empfangs warteten zwei hochgewachsene Männer, die er nicht kannte. Über einer Bordkombi trugen sie bodenlange Mäntel aus gefüttertem Kunststoff. Sie kamen sofort auf ihn zu.
»Scrugg Tomas? Wir wollen Ihnen die gesamte Ware abkaufen.«
Er nickte knapp. »Eine Tonne, abzüglich fünfundzwanzig Kilogramm, die ich Geschäftsfreunden hier in Krockock fest zugesagt habe. Sie kennen den Preis?«
»Er wird sich bei dieser Menge deutlich reduzieren«, meinte der ältere Raumfahrer.
Scrugg schüttelte energisch den Kopf. »Barzahlungsrabatt drei Prozent, nicht mehr. Zahlung an einen Treuhänder.«
»Einverstanden. Nennen Sie Ihre Vertrauensperson.«
»Pinky, der Gnom.«
»Wann können wir das loowersche Gewürz auf unsere ZOORTEN übernehmen?«
Tomas lachte laut. Dabei beobachtete er die Männer. Sie waren zweifellos Herr ihrer Sinne, dennoch wirkten sie auf ihn beeinflusst. Nicht gerade marionettenhaft, aber extrem auf die Erledigung des Auftrags fixiert. Auf gewisse Weise waren sie dem kleinen Taddas ähnlich.
»Sie legen eine bemerkenswerte Eile an den Tag«, stellte er fest. »Zuerst werde ich frühstücken, dann gehen wir zu Pinky. Schließlich starten wir zum Versteck der Ware. Dort können Sie übernehmen. – Ach ja. Mit dem Loowerschiff können wir uns nirgendwo blicken lassen, und unsere Space-Jet wird nicht mehr lange durchhalten. Eine Passage an Bord Ihrer ZOORTEN für meine Gefährtin und mich gehört demnach zum Kaufpreis.«
»Auch damit sind wir einverstanden.«
Tomas deutete zur Tür. »Gehen Sie zu Pinky. Jeder sagt Ihnen, wo die Bar ist. Nötigenfalls erreicht er mich in meiner Unterkunft. Hinterlegen Sie bei ihm den Kaufpreis und sagen Sie bitte, dass die Interessenten der fünfundzwanzig Kilo sich in Pinkys Bar einfinden sollen.«
»Wann fliegen wir?«
»In etwa zwei Stunden. Wer ist eigentlich Ihr Chef? An wen verkaufe ich?«
»An den Herrscher der Provcon-Faust. Er benötigt das Medikament für bestimmte Versuche gesellschaftsprägender Art.«
Das ist die schamloseste Untertreibung für organisiertes Verbrechen, die ich je gehört habe, dachte Tomas. Dagegen sind Dalaniekay und ich harmlose Taschendiebe!
Er lachte wieder und reichte den Männern die Hand. Sein erster Eindruck hatte nicht getrogen. Ihr Händedruck war schlaff. Also waren sie doch wohlerzogene Sklaven, die der Unbekannte im Hintergrund unbesorgt ausschicken konnte.
Scrugg Tomas zahlte seine Rechnung und gab der Hotelsekretärin ein Trinkgeld, dessen Höhe sie sichtlich überraschte. Erst danach frühstückte er mit seiner Komplizin.
Etwa eine Stunde später stellte er seinen angemieteten Gleiter vor Pinkys Bar ab. Er betrat die Kneipe allein, Dalaniekay wartete im Fahrzeug.
Pinky empfing ihn mit großer Herzlichkeit. »Sagten Sie, ein halbes Prozent Vermittlungsprovision?«, fragte der Riese fröhlich.
»Bestimmt nicht«, erwiderte Tomas mit einem Seitenblick auf die beiden anderen Käufer. »Ein viertel Prozent ist mehr als genug. Dafür müssen Sie allerdings mitfliegen, Pinky. Ist das Geld gezählt und echt?«
Der Wirt goss seine teuersten Getränke in große Gläser.
»Wir haben alles nachgezählt«, bestätigte er. »Der Bankfachmann von gegenüber hat außerdem Stichproben gezogen. Er sagt, der Zaster sei echt wie Howalgonium.«
»Mein Vertrauen in die Ehrlichkeit der Krockock-Leute ist schrankenlos.« Tomas seufzte. »Trinken wir aus, der Gleiter wartet. Es wird kein langer Flug sein. Ich überlasse euch dreien meine Space-Jet, wenn alles nach meinen Vorstellungen abgewickelt ist.«
»Bislang war nicht die Rede davon, dass wir das halb wracke Boot übernehmen sollen«, protestierte der Ertruser.
Tomas winkte großzügig ab. »Ihr könnt damit einen Ausflugsservice aufziehen oder das Ding verschrotten. Taugt ohnehin nicht mehr viel. Seid ihr bereit?«
»Brauchen wir Raumanzüge?«
»Unnötig. Ich wundere mich allerdings, dass die beiden Großeinkäufer das Geld so bedenkenlos hiergelassen haben.«
Pinky, der Ertruser und der Springer lachten dröhnend. »Wir konnten sie von unserer Ehrlichkeit überzeugen«, brachte der Gnom schließlich stoßweise hervor.
Sie tranken aus.
»War ein guter Tag, Tomas, als Sie kamen!«, rief der Wirt. »Also dann: auf einen ebenso guten Abschluss!«
Der Gleiter brachte sie zur Space-Jet. Nur wenige Landefelder entfernt stand ein 500-Meter-Kugelraumer. Es war die ZOORTEN.
Ein Scherzbold musste dem dritten Planeten des Pianathara-Systems den Namen gegeben haben. Die trostlose braungraue Welt hieß Morgenröte. Abgeschliffene Berge, riesige Geröllwüsten, Sand und dünne Eisschichten prägten den Planeten.
Die Space-Jet wurde langsamer, als Scrugg Tomas mehrere Vulkane überflog. Er ging auf Nordkurs und schwebte entlang einer tiefen Geländefurche. Die ZOORTEN folgte dem Diskus.
»Ein gutes Versteck für ein Loowerschiff«, lobte der Springer.
Tomas lächelte nur. Minuten später wurde in einem Felseinschnitt die Spitzhelmform des fremden Schiffes erkennbar. Es war optisch nur schwer von der Umgebung zu unterscheiden. Knapp siebzig Meter hoch, durchmaß es am Heck nicht mehr als fünfundzwanzig Meter.
»Ich gehe im Raumanzug hinüber«, sagte Tomas, nachdem er die Space-Jet aufgesetzt hatte. »Die ZOORTEN soll einen Gleiter schicken. Ich selbst bringe die fünfundzwanzig Kilo zu euch, Freunde ... Der Kaufpreis geht inzwischen an meine Gefährtin. Einverstanden?«
»Ein Fahrzeug und Arbeitsroboter werden sofort ausgeschleust!«, kam es über Funk vom Kugelraumer.
Nicht einmal eine Viertelstunde später stapfte Scrugg Tomas durch die geringe Schwerkraft zurück zur Jet. Er trug zwei Taschen in Händen. Währenddessen verluden die Roboter der ZOORTEN das Munarquon.
Wieder an Bord des Diskusbeiboots, wandte Tomas sich an Pinky: »Ihr alle seid nicht schlecht gefahren bei dem Handel. Tust du mir einen persönlichen Gefallen?«
»Hat es mit dem Geld zu tun?«
»Genau das. Hier sind eine Kontonummer und ein Kode. Dieser Bankfachmann ist vertrauenswürdig?«
»Jeder in Krockock, der mit solchen Geschäften zu tun hat, ist eine Vertrauensperson«, antwortete der Wirt würdevoll. »Wer diesen Anspruch nicht erfüllt wäre längst tot oder günstigstenfalls davongejagt.«
Sie packten das Geld in einen Raumkoffer um.
»Zahle die Summe sofort ein. Per Hyperfunküberweisung an eine Kontenstelle auf Olymp. Dafür gehört dir die Jet.«
Tomas schrieb auf die Rückseite seiner Hotelrechnung einige Sätze. Er spielte hoch, denn eine derart astronomische Summe verlockte bestimmt auch den ehrlichsten Mann zu absonderlichen Überlegungen. Rätselhafterweise vertraute er Pinky. Er hatte keine Möglichkeit, die Einzahlung zu kontrollieren, aber er war sicher, dass von der Summe nicht einmal Spesen fehlen würden.
Ein Gleiter holte Dalaniekay und Scrugg Tomas zur ZOORTEN.
Der Mann, der sie im Gleiterhangar der ZOORTEN erwartete, hielt die Hand an der Waffe.
»Bevor Sie Ihre Kabinen aufsuchen, erwartet Sie Kommandant Haldor Trunck in der Zentrale«, sagte er verhalten. »Folgen Sie mir!«
Scrugg Tomas nickte knapp. Das Schiff, das sich schnell vom dritten Planeten des unbedeutenden Systems entfernte, präsentierte sich weitgehend leblos. Weder im peripheren Antigravschacht noch auf dem Korridor zur Zentrale befanden sich Besatzungsmitglieder.
Tomas war auf nahezu alles gefasst, als das Hauptschott aufglitt. Er sah das gewohnte Bild einer Raumschiffszentrale.
Ein mittelgroßer, sehniger Mann drehte sich nur kurz zu den Neuankömmlingen um. Er betrachtete etwas, das im Mittelpunkt der Zentrale auf einer kantigen Säule stand. Dieses Etwas schimmerte hellblau, seine Form blieb seltsam nebulös.
Schweigend ging Tomas weiter. Erst allmählich erfasste er, dass das eigenartige Objekt auf der Säule ein Psychod sein musste. Er wollte seine Gefährtin zurückziehen, doch es war schon zu spät.
Auf ihn hatte das Psychod nur eine schwach hypnotisierende Wirkung, der er mit leichter Konzentration mühelos widerstand. Er wusste nicht, warum das so war. Aber er erkannte in derselben Sekunde erschrocken, dass seine Gefährtin schon dem Bann des Psychods erlag.
Du musst so tun, als würdest du ebenfalls beeinflusst. Denk an das Munarquon! Sein Verstand flüsterte ihm die Warnung zu.
Er blieb stehen und schaute den blau strahlenden Kristall an. Veränderliche Seelenkugel. Genau den Namen hätte er dem Psychod gegeben. So sah es aus.
Dalaniekay atmete schwer. »Ich habe das Gewürz nicht gestohlen«, gestand sie tonlos ein. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Und ich ...«
»Meine Gefährtin ist verwirrt, Kommandant«, sagte Tomas heftig. »Sie steht unter einer schweren Dosis Munarquon. Sie braucht geraume Zeit, um zu sich selbst zu finden.«
»Ich habe es wirklich nicht gestohlen ...!«, rief sie aus.
»Das ist richtig«, pflichtete Tomas bei. »Es war meine Aufgabe, das kleine Schiff der Loower zu kapern. Ich würde Dalaniekay jetzt gern ins Bett bringen. Sie ist momentan nicht fähig, die heilsame Wirkung des Psychods zu erkennen. Anschließend stehe ich zu Ihrer vollen Verfügung, Kommandant.«
Nach einer Weile sagte Haldor Trunck halblaut: »In Ordnung. Suchen Sie sich eine Kabine. Die meisten sind leer. Schlafen Sie beide aus, dann melden Sie sich wieder hier.«
Tomas schlug die Augen nieder. Er bemühte sich, wie die anderen Paratender zu wirken. Ab sofort musste er ein Sklave Boyt Margors sein, und das vierundzwanzig Stunden am Tag.
Es war der 22. April 3587. Die ZOORTEN konnte frühestens in zwei Tagen die Provcon-Faust erreichen.
Scrugg Tomas suchte sich eine Doppelkabine und ließ Dalaniekay auf die breite Liege sinken. Er zog sich und ihr die hinderlichen Raumanzüge aus. Sie ließ das alles schweigend und fast willenlos geschehen. Das Psychod hielt sie im Bann totalen Gehorsams.
Scrugg selbst war gegen die Wirkung des Psychods immun.
Aus einer Hemdtasche zog er ein halb fingergroßes Gerät und suchte damit die Kabine ab. Ihm war klar, dass er damit ein Risiko einging, denn kein Paratender würde sich so verhalten. Er beruhigte sich, als er feststellte, dass die Kabine nicht überwacht wurde.
Er ließ Trinkwasser in ein Glas, löste eine kleine Menge Munarquon darin auf und gab es Dalaniekay zu trinken. Das war für den Augenblick seine einzige Chance.
Er musterte die Frau schweigend.
»Hör zu!«, sagte er nach einer halben Minute eindringlich. »Du fühlst dich außerordentlich wohl. Du bist sicher, auf rosigen Wolken zu schweben. Ist es so?«
»Ronald, Liebster!«, flüsterte sie. »Was ist passiert?«
Er packte sie an den Schultern und war sicher, dass sein Griff ihr wehtat. »Du hast das Psychod angesehen und bist beeinflusst worden«, stellte er fest.
»Es ist herrlich. Ein Segen für uns alle.«
»Du bringst uns und unsere Mission in Gefahr. Du musst schweigen, Jennifer! Verstehst du?«
»Warum? Das Munarquon ist kein Rauschgift. Der Geheimdienst hat es uns gegeben. Eine Tonne und ein paar hundert Gramm.«
»Aber wir haben es als Rauschgift verkauft. Vergiss nicht, wir ... O verdammt! Du musst mir gehorchen. Also halte den Mund!«
Sie wusste zu viel. Auch dass die Loower eingewilligt hatten, eines ihrer ältesten und kleinsten Schiffe für diese Mission zu opfern. Weil der Einsatz Margor galt, dem Dieb des »Auges«.
»Du darfst mit niemandem über das Munarquon und über unsere Identität sprechen! Hast du verstanden?«
Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich hervorragend fühlte. Doch das war eine falsche Zufriedenheit.
»Warum darf ich nicht sagen, dass wir Ronald Tekener und Jennifer Thyron sind?«
»Weil uns die Wahrheit umbringen würde.«
»Aber Munarquon ist doch ein Medikament, das vor Jahrhunderten auf Tahun entwickelt wurde. Was sollte daran schädlich oder verboten sein? Ich fühle mich so himmlisch wohl!«
Die Schwarzhändler von Krockock waren perfekt getäuscht worden; ihr Vorrat würde niemals genügen, Menschen für längere Zeit zu versklaven. Die Agenten aus der Provcon-Faust waren darauf hereingefallen. Da die Wirkung von Munarquon dem Einfluss der Psychode glich, hatte Boyt Margor sehr schnell reagiert.
»Du musst schlafen und alles vergessen, das Psychod und die Wahrheit über Munarquon und unsere Namen!«, drängte Tekener seine Frau. »Versprichst mir, dass du alles vergisst, Jenny!«
»Ich bin müde und werde schlafen.«
Eigentlich hätte er Jennifer ausschalten müssen. In seiner Kleidung waren Medikamente verborgen, die Krankheiten so perfekt simulierten, dass der beste Arzt den Betrug nicht erkennen würde. Aber noch scheute Tek davor zurück.
»Ich bin todmüde. Ich werde lange und glücklich schlafen – und wenn ich aufwache, wird Boyt Margor mir sagen lassen, was zu tun ist.«
»Vergiss alles!«, drängte Tekener grimmig.
Ronald Tekener hatte geduscht, sich umgezogen und blickte nachdenklich in das Spiegelfeld der Sanitärzelle.
Das schwarzblaue Haar war weiß gefärbt. Ein lang haftendes kosmetisches Präparat hatte die Narben der Lashat-Pocken fast unsichtbar werden lassen, und seine Iris war umgefärbt. Nur der Zellschwingungsaktivator bedeutete ein gewisses Risiko.
Da sie beide einen Zellaktivator trugen, schied das eiförmige Gerät als Ursache seiner Immunität allerdings aus. Tek war während seiner ersten Jahre in der United Stars Organisation mentalstabilisiert worden. Das konnte der Grund sein. Oder einer der Gründe.
Die Lashat-Pocken?
Ihm fiel ein, dass zumindest Julian Tifflor ebenfalls Aktivatorträger und mentalstabilisiert war. Und Tifflor war der Wirkung des Psychods erlegen.
Also doch diese verdammten Pocken?
Er hatte die Infektion überlebt und trug bis heute ihre Spuren. Sie waren wie ein Markenzeichen. Die Antikörper, die er gegen die tödliche Krankheit gebildet hatte, schienen der eigentliche Grund seiner Immunität zu sein.
Oder alle drei Faktoren wirkten zusammen.
Wie dem auch sei, als Schauspieler werde ich wohl meine nächste Bewährungsprobe haben.
Boyt Margors Erfolge hielten an. In Gedanken versunken spielte er mit seinem Amulett. Myrta, die Tempesterin, die er als Gotas Nachfolgerin erkoren hatte, war bei ihm. Ebenso mehrere Paratender, deren Blicke auf dem Amulett ruhten.
»Es sind Schiffe mit Freiwilligen gelandet. Die Neuen werden eingewiesen und zeigen sich kooperationsbereit«, meldete ein junger Mann eifrig. Er war für die Verteilung aller zuständig, die von außerhalb der Provcon-Faust kamen. Noch war die Bevölkerung auf Gäa und den anderen Planeten zahlenmäßig gering.
Für kurze Zeit dachte Margor darüber nach, wie es wohl gewesen wäre, hätte er die Rücksiedlung der Menschen aus der Dunkelwolke ins Solsystem unterbinden können. Aber damals war er noch nicht stark genug gewesen.
»Es muss schneller gehen«, sagte er heftig. »Wir brauchen vor allem Spezialisten auf vielen Fachgebieten. Erst wenn wir den anderen auch technisch in jeder Hinsicht ebenbürtig sind ...«
Über Interkom wurde ihm gemeldet, dass Roctin-Par eingetroffen war.
Wenige Minuten später betrat der Lare den Raum. Margor machte eine einladende Bewegung und deutete auf einen freien Sessel. Der Lare setzte sich. Er wartete, bis er angesprochen wurde.
»Deine Mission war erfolgreich?«
»Nicht in jeder Hinsicht«, antwortete Roctin-Par vorsichtig. »Etwas scheint fehlgeschlagen zu sein.«
Margors Blick durchbohrte den Laren geradezu.
»Ich bin mit der Delegation wie angeordnet auf Terra gelandet.« Roctin-Par wirkte schuldbewusst. »Wir trafen Julian Tifflor und andere Führungskräfte in Imperium-Alpha. Der Erste Terraner informierte mich, dass auch Hotrenor-Taak unter deinen Einfluss geraten sei.«
»Du hast das Psychod übergeben?«
»Ich habe das Psychod als Geschenk aus der Provcon-Faust Tifflor persönlich übergeben. Als ich ihn verließ, war ich sicher, dass der Einfluss des herrlichen Psychods schon auf ihn wirkte.«
»Du konntest erkennen, dass Tifflor sich unterwirft?«
»Er hat sich nicht unterworfen, etwas muss ihn abgelenkt haben. Oder diese drei Mutanten, von denen du gelegentlich sprichst, haben ihn gewarnt.«
»Dich trifft keine Schuld«, bemerkte Margor in einem seltenen Anfall von Großmut. »Nicht jeder Versuch muss erfolgreich sein.«
»Du wirst Terra ohnehin besiegen!«, wandte Myrta ein.
Margor nickte zustimmend. »Ich habe den Weg zum Ziel betreten. Die ZOORTEN ist hierher unterwegs.«
»Eines der Schiffe, die Paratender auflesen sollen?«, erkundigte sich Roctin-Par.
»Meine Abgesandten haben Rauschgift an Bord genommen, dessen Wirkung den Psychoden gleichkommt. Es wird in Kürze nicht nur alle Vincraner und Tekheter zu meinen begeisterten Dienern machen, sondern vor allem Terraner. Allerdings wird die ZOORTEN nicht hier auf Gäa landen, sondern auf einem anderen Planeten der Dunkelwolke. Gäa ist ohnehin schon fest in meiner Hand.«
Boyt Margor erhob sich. »Ihr dürft gehen«, sagte er, und seine wedelnde Handbewegung scheuchte alle Paratender hinaus wie lästige Insekten. »Ich will allein sein, weil ich nachdenken muss.«
Er trat ans Panoramafenster und blickte über seine Stadt hinweg. Für wenige Sekunden schien es ihm, als sähe er vor sich alle Sonnen und Planeten der Milchstraße. Eines nicht mehr fernen Tages würde sein Wille überall Gesetz sein.
Mit wenig Hoffnung, brauchbare Informationen zu bekommen, hatte Tekener den Interkom eingeschaltet. Bislang schien kein Vakulotse an Bord gekommen zu sein; das Schiff befand sich demnach noch nicht im Einflug in die Dunkelwolke.
Endlich wachte seine Frau auf.
»Ronald, ich hatte eine Unmenge abstruser Träume«, raunte sie.
»Scrugg, ich bin Scrugg«, berichtigte er sofort. »Verstehst du, Dalaniekay? Ich denke, deine Träume waren die Wirklichkeit. – Erinnerst du dich, was ich dir gestern gesagt habe?«
Sie schaute ihn forschend und ein wenig verwirrt an. Nach einer Weile nickte sie zögernd. »Ich entsinne mich ... Du hast eindringlich mit mir gesprochen.« Mühsam formte sie jedes Wort. »Ich soll schweigen, das hast du gesagt.«
»Du sollst hierbleiben und schweigen. Weil du süchtig bist und unter Drogen stehst. Zu viel verlangt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Ich halte mich daran, so gut ich kann. Was ist ...?«
Tekener blickte an ihr vorbei auf den Monitor des Interkoms. »Der Vakulotse kommt an Bord«, antwortete er. »Demnach werden wir in Kürze auf Gäa landen. Ich gehe jetzt und versuche, den Kommandanten von unseren Problemen abzulenken.«
»Du bist immun gegen das Psychod, nicht wahr?«, flüsterte sie verwundert, fast erschreckt.
»So ist es.« Tekener hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich komme so schnell wie möglich zurück. – Hüte dich vor Unbesonnenheiten!«
Dalaniekay seufzte tief. »Ich pass auf«, versprach sie.
Tekener verließ die Kabine. Wahrscheinlich gab der Vakulotse bereits seine Kommandos, um die ZOORTEN ins Zentrum der Dunkelwolke zu bringen.
Ruhig ging er durch die Korridore zur Zentrale. Paratender verhielten sich völlig normal, sie verloren nichts von ihren Fähigkeiten, sie waren eben nur perfekte Befehlsempfänger. Genau das redete er sich immer wieder ein.
Er betrat die Zentrale und warf einen langen Blick auf das Psychod. Unbewegt registrierte er, dass er weder irisierende Linien, pulsierende Felder noch sonstige Vorgänge wahrnahm. Lediglich eine schwache Lichtaura umgab den Gegenstand, der eine eigenwillige Mischung aus Kugel, Blume und Dornenranke zu sein schien.
Der Kommandant wandte sich ihm zu.
»Ich habe mich im Schlaf erholt und bitte, mir eine Aufgabe zuzuweisen«, sagte Tekener alias Scrugg Tomas.
»Wo ist deine Gefährtin?«
»Dalaniekay musste in der Kabine bleiben. Sie ist munarquonsüchtig und leidet unter Entzugserscheinungen. Ich bin sicher, dass sie in diesem Zustand keine Hilfe sein kann.«
»Margor soll entscheiden, was mit ihr geschieht. Für dich habe ich noch keine Aufgabe. Erst nach der Landung. Du wirst uns helfen, die richtige Dosierung und die schnellste Anwendung des Mittels herauszufinden. Wir landen auf Tekheter, um dort Margors Herrschaft vorzubereiten.«
»Gewiss«, sagte Tekener.
Die ZOORTEN flog also nicht Gäa an. Das machte es schwerer, an den Mutanten heranzukommen. Tek schluckte seine Enttäuschung hinunter und warf einen langen Blick auf das Psychod. Er verließ die Zentrale, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Tekheter war ein planetengroßer Mond, nicht mehr als zwei Lichtjahre von Gäa entfernt. Seine Sonne Arwalal und ihre Planeten galten aufgrund ihrer Position an der Innenschale der Provcon-Faust als exponiert und dementsprechend gefährdet, eines Tages von den unberechenbaren Kräften der Dunkelwolke vernichtet zu werden. Dass Arwalal von drei Planeten umlaufen wurde, war an sich schon die große Ausnahme.
Der Mond war die Heimat der lemurischen Nachfahren, der Tekheter. Natürlich erkannte Ronald Tekener es als logisch, dass Margor versuchte, die Bevölkerung in der Dunkelwolke zuerst in seine Gewalt zu bringen.
Als Ronald Tekener und Jennifer Thyron den Raumhafen betraten, brannte die Mittagssonne vom Himmel. Im Westen türmte sich eine schwarze Wolkenfront auf.
Hinter den beiden quoll ein langer Zug Menschen aus dem Schiff.
»Dabei hätte ich geschworen, dass die ZOORTEN so gut wie leer sei«, raunte Tek. »Sie ist also eines der Schiffe, die Untertanen für Margor einsammeln.«
»Bleibt in der Reihe! Keine Verzögerungen!«, rief jemand. Wortlos gehorchten alle. Tekener schätzte, dass es nicht weniger als tausend Männer und Frauen waren. Sie gingen auf einen Pulk großer Gleiter zu.
Die schwarze Wolkenfront kam rasend schnell näher. Der Tag auf Tekheter dauerte elf Stunden und knapp vierzehn Minuten. Also würde es ohnehin schon in drei Stunden dunkel werden.
An die hundert Personen schoben sich mit Tekener und seiner Frau in den ersten offenen Gleiterbus, der sofort abhob. Schon nach wenigen Augenblicken machte sich Unruhe breit. Die meisten Passagiere starrten zu einer Säule hinüber, die das Licht der gnadenlos aus dem Nachmittag herunterbrennenden Sonne reflektierte. Um die Säule flackerte ein vielfarbiger Strahlenkranz.
So unauffällig wie möglich drehte Tekener seine Frau in die entgegengesetzte Richtung.
»Heftige Temperaturschwankungen sind die Regel«, flüsterte er. »Hier wird gleich ein Blizzard toben.«
Nur Augenblicke später wurde ein schlankes, um seine senkrechte Achse tanzendes Psychod sichtbar. Es befand sich an einer Position, wo nahezu jeder auf dem Raumhafen es unweigerlich sehen musste. Flammen schienen um die Spindel zu tanzen, deren Form sich ständig veränderte.
Der Anblick ließ Tek völlig unberührt. Aber Jennifer versteifte sich wie unter einem Schock. Nur langsam löste sich ihre Verkrampfung danach wieder. Desinteresse, Müdigkeit, starke Unsicherheit, die Abwesenheit von Widerstandskraft und Kritikfähigkeit ... diese Eindrücke mischten sich in ihrem Gesicht.
Margor, ich kriege dich!, dachte Tekener, siedend vor Zorn. Und falls ich versage, wird dich ein anderer zur Rechenschaft ziehen.
Der Gleiterbus schwebte an dem Psychod vorbei, wurde schneller und glitt auf eine breite Piste hinaus.
In der schwarzen Sturmfront zuckten die ersten Blitze. Eine jähe Bö wirbelte Laub und Abfälle auf.
Als der Gleiter auf eine ausgedehnte Siedlung zuschwebte, verschwand die Sonne in der Schwärze. Die Berge, hinter denen das Hochlandmeer lag, verschmolzen mit dem Horizont. Schleier aus Eiskristallen hingen plötzlich in der Luft, ein kreischendes Heulen erklang.
Der Gleiterpilot kümmerte sich nicht darum. Er hielt unbeirrbar auf die im Kreis stehenden Gebäude zu. Als der Bus endlich aufsetzte, tobte der Blizzard zwischen den Berghängen heran.
»Alle verlassen das Fahrzeug!«, tönte eine Lautsprecherstimme. »In der Halle wird jedem ein Wohnraum zugewiesen.«
Die Paratender sprangen in den Sturm hinaus, der Eiskristalle heranpeitschte. Auch die nächsten Fahrzeuge stoppten und entließen ihre Passagiere.
Ein junger Mann sah sich um und entfernte sich langsam von der Menge. Tekener, der Jennifer an der Hand hielt, verharrte im Windschatten des Gleiters und betrachtete die Szene mit scheinbarer Gleichgültigkeit.
Der Junge schien kein vollkommener Paratender zu sein. Er verschwand beinahe im dichten Eishagel. Einerseits versuchte er zu fliehen, andererseits gab er sich den Anschein, als gehorche er der Anordnung. Als er hinter einer Baumgruppe verschwand, reagierten mehrere Dutzend Paratender synchron. Sie folgten dem Flüchtenden. Ihre Gleichzeitigkeit wirkte wie eine robotgesteuerte Aktion.
Tekener zog seine Frau mit sich. Außer Atem, frierend und schneebedeckt kämpften sie sich in die Halle vor.
Sie warteten schweigend.
Nach einer Weile wurden sie namentlich aufgerufen, registriert und eingewiesen.
Einen Tekheter-Tag, also knapp zwölf Stunden Terra-Norm später.
In dem Labor, das er soeben betreten hatte, wurde das Munarquon untersucht, analysiert, aufgeschwemmt, getestet und zur Anwendung vorbereitet. Ronald Tekener hatte ein verdammt ungutes Gefühl, als er sich umsah.
»Die Experimente werden auf breiter Basis durchgeführt«, erklärte der Laborleiter. Der Tekheter trug einen pastellblauen Arztkittel. »Die abtrünnigen Lotsen müssen schon in wenigen Tagen begeisterte Anhänger Boyt Margors sein.«
»Was in meiner Kraft steht, werde ich tun«, sagte Tekener.
Über seine Reaktion war er verblüffter als über alles andere. Er wusste, dass binnen kurzer Zeit auffallen musste, dass sein Munarquon nur wenig mehr als ein Kurzzeit-Sedativum war. In dem Augenblick würde es dem Rauschgifthändler Scrugg Tomas schlecht ergehen.
»Natürlich brauchen wir deine Fähigkeiten«, erwiderte der Wissenschaftler trocken. »Dank der ersten Testpersonen haben wir schon festgestellt, dass Munarquon mit der Zuverlässigkeit eines stark aufgeladenen Psychods wirkt.«
Er deutete auf die Sichtscheibe, die das Labor von einem größeren Raum abtrennte. Auf der anderen Seite befanden sich mindestens hundert Tekheter. Zweifellos war für sie das Glas nicht durchsichtig, denn keiner interessierte sich für das Labor. Die Männer und Frauen unterhielten sich und tranken aus Kunststoffbechern.
Tekener hatte sofort erkannt, dass ihnen Munarquon verabreicht wurde. Die ersten Opfer lagen schon mit dem Ausdruck höchster Glückseligkeit in den Sesseln.
Die Wahrheit war nur mehr eine Frage der Zeit. Sobald Margor davon erfuhr, würde er entweder selbst im Labor erscheinen, oder er beorderte Scrugg Tomas zu sich oder befahl, den Betrüger zu töten. Tekener wollte keinesfalls darauf warten.
»Ich erinnere mich, im Solsystem Aussagen über die Wirkung von Munarquon gehört zu haben«, sagte er nachdenklich. »Sie variiert möglicherweise sehr stark bei unterschiedlichen Metabolismen.«
»Klartext bitte!«, drängte der Versuchsleiter.
»Ich bin nicht sicher, ob das Rauschgift auf Tekheter genauso stark wirkt wie auf Terraner.«
Der Mann im hellblauen Kittel blickte sinnend in den Nebenraum. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Dein Munarquon wirkt offensichtlich besser als beabsichtigt. Du bist nicht länger ein umherschweifender, auf eigene Rechnung arbeitender Schwarzhändler.«
Tekener hob die Schultern. »Ich diene mit meinen Kenntnissen und meiner Kraft Boyt Margors Idee«, sagte er eifrig.
»Deine Befürchtung ist falsch, Tomas. Jede der momentan hundertneun Versuchspersonen trägt einen Sender. Hier in der Hologalerie sehen wir das aufbereitete Resultat.«
Gehirnwellenmuster, erkannte Tek sofort. Sämtliche Anzeigen sind so gut wie identisch.
Die Wirkung des Munarquon auf die Tekheter schien weitaus stärker zu sein als bei dem alten Terraner in Pinkys Bar.
Jennifer Thyron stand in einer Warteschlange und schob ihr Kunststofftablett an den Fächern vorbei. Der Hunger hatte sie aus der Kabine getrieben.
Die Kantine war nicht sonderlich groß; für jedes Gebäude gab es einen solchen Raum. Menschen und Tekheter standen dicht an dicht. Jennifer fühlte sich wohl; sie befand sich unter Gleichgesinnten. Alle hier liebten Boyt Margor.
Sie hob einen Becher mit einem dampfenden Getränk auf das Tablett. Vorsichtig bewegte sie sich durch die Menge zu einem freien Platz. Sie hatte ihr endgültiges Ziel gefunden: Dienerin Margors in der Gemeinschaft anderer Diener und Helfer zu sein.
Lächelnd setzte sie sich zwischen zwei Tekheter. Die Planetarier gaben das Lächeln schweigend zurück. Sie aß mit Genuss.
»Hast du dich auch schon zu den Versuchen gemeldet und Munarquon probiert?« Etwas tief in ihrer Überzeugung zwang sie, ihren Nebenmann anzusprechen.
»Noch nicht«, lautete die freundliche Antwort. »Wie steht es mit dir?«
Das Essen schmeckte vorzüglich. Mit vollem Mund erwiderte Dalaniekay: »Ich kenne das Munarquon. Es ist gar kein loowerisches Gewürz.«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Tekheter unvermindert freundlich. »Die Freunde Margors sagten uns allen, dass wir durch Munarquon ungeahnte Fähigkeiten erlangen werden. Dass wir uns wohler fühlen werden als je zuvor.«
»Das ist absolut richtig«, flüsterte Jennifer eindringlich. »Meine Gedanken schweben, meine Träume tanzen, ich kenne weder Hunger noch Schmerz. Das Leben ist mit einem Mal so leicht. Und ich bin in der Lage, die Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit ist wichtig. Margor sagt, dass wir ihn nicht belügen dürfen.«
»Jede Lüge ist widerlich!«, stellte der gut aussehende Mann in Raumfahrerkleidung fest, der ihnen gegenübersaß. Dalaniekay schenkte ihm ein zögerndes Lächeln. Sie fühlte, dass sie im Begriff stand, etwas zu tun, was Ronald nicht gutheißen konnte, aber die Erinnerung verschwamm – sie entsann sich nicht mehr, worum es sich handelte.
»Deshalb lüge ich nicht mehr«, schränkte sie unaufgefordert ein. »Ich bin nicht Dalaniekay Tomas, ich heiße Jennifer Thyron. Und das Munarquon haben wir gar nicht gestohlen.«
»Dann hat auch dein Freund einen anderen Namen?«, erkundigte sich ihr Nebenmann voller Freundlichkeit.
»Er heißt Ronald Tekener.« Sie trank den Becher leer und stutzte für einen Moment. Schimmerte der Rest eines Munarquonkristalls auf dem Boden?
»Du fantasierst im Munarquon-Rausch«, vermutete ihr Nachbar.
»Munarquon zwingt zur Wahrheit und macht schon deshalb glücklich. Er ist wirklich Ronald Tekener von der LFT!« Jennifer fühlte sich beschwingt und losgelöst.
Der Mann ihr gegenüber erhob sich. »Sprich ruhig weiter«, ermunterte er sie. »Es scheint, als brächte Munarquon Wahrheiten ans Licht, die von großem Interesse für Margor sind.«
Er nahm sein leeres Tablett und ging langsam davon.
Wut und Resignation hatten Tekener übermannt. Als er zu seiner und Jennifers Unterkunft zurückging, führte er unhörbare Selbstgespräche. Es war tiefe Nacht. Rund zwanzig Stunden lang hatte er sich verstellen müssen und die Wirkung des Munarquon auf die Tekheter untersucht. Sie reagierten darauf wie Verrückte.
Er atmete auf, als die Zimmertür hinter ihm zufiel.
Jennifer sah ihn strahlend an. Es war wie eine Erlösung für sie, als sie heraussprudelte: »Ich habe heute viele Freunde getroffen und mit ihnen geredet. Sie erklärten mir so viel. Und sie kennen die Wahrheit.«
Schweigend starrte er sie an. Seine Wut wurde von neuer Furcht verdrängt.
»Die Wahrheit. Welche Wahrheit, Dalaniekay?«, fragte er beunruhigt.
»Wir brauchen diese scheußlichen Namen nicht mehr. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Jennifer Thyron bin. Und dass dein richtiger Name Ronald Tekener ist.«
Er nahm den Schlag wie erstarrt hin. Jemand würde dieses Geständnis verstanden und richtig reagiert haben.
»Wie schön«, sagte er bebend. »Wir müssen hier fort! Nimm alles mit, was wir brauchen können!«
Tekener bezweifelte nicht, dass Margor mittlerweile die Wahrheit erfahren hatte. Die Folgen daraus waren noch gar nicht absehbar.
Jennifer gehorchte, das war ein winziger Vorteil der Beeinflussung durch das Psychod. Ausgleichende Gerechtigkeit sozusagen. Tek selbst warf alles, was ihm unter die Finger kam, in seine Packtasche. Die einzige Fluchtmöglichkeit, von der er sich eine Chance versprach, bot die Ruinenstadt Lakikrath.
»Ich bin sicher, dass Margor schon auf dem Weg hierher ist oder seine besten Paratender alarmiert hat.« Er kontrollierte die Ladeanzeige seines Strahlers und schob die Waffe wieder unter seine Achsel.
»Wir müssen fliehen, Jennifer. Es ist sinnlos, darüber zu debattieren. Komm jetzt!«
Er warf sich die Tasche über die Schulter und packte seine Frau an der Hand. Gemeinsam verließen sie den kleinen Wohnraum und liefen über den nächtlich leeren Korridor.
Tekener entdeckte keine Wachen. Er zog seine Frau in Richtung mehrerer kleiner Gleiter.
»Ich habe etwas getan, was falsch war?«, murmelte Jennifer.
»Vergiss es«, brummte er.
Sie erreichten den ersten Gleiter. Tekener registrierte, dass der Kodegeber steckte. Er zerrte Jennifer auf den Nebensitz und aktivierte den Magnetgurt. Sie lächelte.
Sekunden später ließ er den Gleiter auf dem Prallfeld abheben. Er kannte die örtlichen Gegebenheiten wenigstens aus den Schulungsprogrammen. Sie mochten in Details überholt sein, doch die hauptsächlichen Gegebenheiten stimmten.
Der Schwebegleiter jagte der Tempelstadt entgegen.
Jennifer hing apathisch im Sitz und starrte in die Nacht hinaus.
Irgendwann ging die Piste in einen unbefestigten Weg über. Ein zerfallenes Zaunsystem tauchte auf und fiel wieder in die Dunkelheit zurück. Noch gab es keine Anzeichen, dass jemand die Fliehenden verfolgte.
Tekener raste mit annähernd Höchstgeschwindigkeit über das Land. Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit wuchs der erste Ruinenkomplex aus der Düsternis auf. Am Horizont dämmerte schon der neue Morgen.
Sie waren in Lakikrath, den steinernen Zeugnissen einer uralten Kultur. Die Tempelbauten der Prä-Zwotter befanden sich teilweise noch in verblüffend gutem Zustand. Über mehr Informationen verfügte Tekener allerdings nicht.
Er drosselte die Geschwindigkeit und dirigierte das Fahrzeug zwischen dschungelartigem Pflanzendickicht und immer neuen Ruinen tiefer in die Verbotene Zone hinein.
Augenpaare tauchten riesengroß und phosphoreszierend auf und verschwanden wieder. Jennifer bekam davon nichts mit, sie schlief. Tekener war froh darüber. Er hoffte, dass der Zwang der Psychode bald abklingen würde.
Das Rauschen des nahen Wasserfalls übertönte bald alle Geräusche. Nässe hing in der Luft. Immer neue Ruinen tauchten auf. Tekener steuerte den Gleiter schließlich unter einen überwucherten Torbogen, schaltete alle Systeme aus und lehnte sich aufatmend zurück.
Er spürte die Erschütterung, als er wenig später mit Jennifer den Gleiter verließ. Der Boden sackte ein. Offenbar lag unter dem Tor eine uralte Kammer, die der Belastung nicht standhielt.
Die Maschine schien langsam im Untergrund zu versinken.
Ein unheilvolles Knacken und Krachen hallte unter dem Torbogen wider. Dreck und Pflanzenteile fielen aus der Höhe auf das Fahrzeug herab.
Der Boden sackte vollends weg. Für einen Moment hatte Tekener den Eindruck, dass sich Lianen und Pflanzenwurzeln zur Seite zogen, aber er war sich dessen nicht sicher. Der Gleiter sank in die Tiefe. Betäubender Modergeruch breitete sich aus. Eine moosbewachsene Steinmauer stürzte dröhnend um. Nachdem sich der aufgewirbelte Staub und abgerissene Pflanzenteile gesetzt hatten, bildeten die Mauerbrocken einen kleinen Hügel – genau dort, wo der Gleiter versunken war.
Lakikrath zählte zu den bedeutendsten ungelösten Rätseln der Provcon-Faust. Die uralte Tempelstadt lag nahe dem größten Wasserfall, den Menschen bislang in der Milchstraße gesehen hatten.
Für Tekheter waren die Relikte tabu. Ein Tekheter starb eher, als dass er es wagte, die Grenze der zerfallenen Zäune zu überschreiten.
Geborstene Türme aus mächtigen Quadern, verwitterte Torbögen und lange Säulenreihen, ausgedehnte Flächen, die einst prächtige Mosaikböden gewesen waren, grasüberwucherte Treppen und Rampen ... Überall mächtige Bäume, viele umgestürzt und vermodert, Dünger bildend für die Schösslinge. Tempel voller düsterer Höhlungen. Im Untergrund verlaufende Gänge und eingebrochene Stollen. Ab und zu kondensierender Wassernebel des Hochmeerfalls, der den Riesenbezirk durchnässte und in Schlamm verwandelte, triefend dann die gewaltigen Anlagen aus Stufentempeln, Mauern, Viadukten und Aquädukten.
Und über allem schwebten scheinbar die Geister der Ahnen. Niemand vermochte sich Lakikraths zwingender Ausstrahlung zu entziehen.
Auch Ronald Tekener und Jennifer Thyron nicht.
Im Zentrum der Tempelruinenstadt fanden sie eine Zuflucht, einen halb verwitterten, von Pflanzen überwucherten Turm.
Zwei Tage lang herrschte absolute Ruhe.
Boyt Margor hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt. Schweigend, von Wut beherrscht stand er in der Zentrale des Raumschiffs. Seine kleine Flotte hatte Tekheter fast erreicht.
Nahezu ununterbrochen bestand Funkkontakt. Margor war informiert, wie intensiv Tekheter und Vincraner nach den flüchtigen terranischen Agenten suchten.
»In der Maske von Schwarzhändlern! Eine Tonne Rauschgift ... und wir haben sogar dafür gezahlt ...« Nervös spielte Margor mit seinem Amulett. Er musste schnell reagieren und zielsicher zuschlagen.
Sie sahen die Kugelraumer über den Himmel ziehen und dabei tiefer sinken. Ronald Tekener wusste sofort, dass Margor kam.
»Alle werden uns suchen, Tek«, sagte Jennifer. »Auf Dauer haben wir nicht die geringste Chance.«
»So schlecht sehe ich die Situation nicht«, widersprach er. »Wichtig ist, dass der Einfluss der Psychode schon weitgehend von dir abgefallen ist. Das Weitere wird sich finden.«
Die Frau lächelte bedrückt. »Wir können nicht mit Steinen werfen, sobald Zehntausende Tekheter nach uns suchen.«
»Aber wir können uns hier notfalls jahrelang verbergen!«
Sie verließen ihren Aussichtspunkt und stiegen die zerbröckelnden Stufen der Treppe hinunter. Schlingpflanzen sprengten die Steine. Trotzdem hatte es den Anschein, als wichen die Ranken vor den beiden Eindringlingen zurück. Jennifer blieb stehen und deutete auf dicke Äste, die sich zitternd zurückbogen. Auf dem hellen Untergrund der Treppe war der Effekt deutlich zu erkennen.
Die Pflanzen wichen den beiden Menschen aus. Tek hatte diesen Eindruck schon gewonnen, als er mit dem Gleiter in die Wildnis eingedrungen war.
»Hier ist vieles merkwürdig«, stellte er fest. »Zum Beispiel die Früchte, die ich gesammelt habe, während du schliefst. Manche hoben sich förmlich aus dem Dickicht hervor, andere schienen mir auszuweichen.«
»Kannst du zwischen genießbaren und ungenießbaren Früchten unterscheiden?«, fragte Jennifer zögernd. »Wohl kaum. Also hat jemand dir die Wahl abgenommen.«
Tekener lachte heiser. Er war Realist, an mystische Vorfälle glaubte er nicht. Es gab sicherlich eine bessere Erklärung.
Er verstummte. Lauschte angespannt. Dröhnende, pfeifende Geräusche überlagerten das allgegenwärtige Rauschen des Wasserfalls.
»Weg hier!«, stieß Tek hervor und sprang die letzten Stufen abwärts.
Bäume und Büsche schüttelten sich wie im Sturm – in der Vegetation öffnete sich ein Durchschlupf.
Spürte Lakikrath, dass eine Gefahr näher kam? Zu sehen war nichts. Aber das Summen mehrerer Gleitertriebwerke zog langsam über die beiden Flüchtigen hinweg. Gleiter kreisten über den Ruinen.
»Sie suchen uns wirklich!«, raunte Jennifer.
Vermutlich hatte der Zellaktivator ihre rasche Erholung bewirkt. Tekener nickte konzentriert. Die Gleiter entfernten sich nur unwesentlich. Zudem klangen andere Geräusche auf.
Ein greller Lichtreflex zuckte durch das üppige Grün. Ein kleines Kugelraumschiff schwebte in geringer Höhe über Lakikrath hinweg. Eine Sekunde lang sah Tekener die Korvette.
Die Zweige und Blätterbüschel schlossen sich enger zusammen. Sie schienen die beiden Menschen streicheln zu wollen.
Ächzende, knarrende Laute erklangen.
Tekener wandte sich um, seine Hand glitt zum Strahler. Ungläubig sah er, dass sich die Wurzeln eines Baumriesen aus dem weichen Boden hoben. Eine kleine Höhle entstand – und darunter schien es weiterzugehen.
»Was geschieht hier eigentlich?«, fragte er kaum hörbar.
Eine Steinplatte schob sich zur Seite und gab eine von moderndem Holz und Moosen bedeckte schmale Treppe frei. An den Rändern des Loches zuckten Wurzelteile wie lebende Organismen.
»Zufall oder nicht ... hinunter!«, drängte Jennifer. »Sie werden uns finden, wenn wir zögern.«
Tekener folgte ihr mit einem Sprung. Am unteren Ende der Treppe schaute er zurück.
Die Wurzeln bewegten sich, griffen ineinander, und fast geräuschlos schob sich die Steinplatte zurück. Es wurde finster.
Teks Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Ohnehin sorgten Leuchtmoose dafür, dass wenigstens schemenhafte Umrisse erkennbar blieben. Er schob Jennifer vor sich her, tiefer in den noch leicht abwärts führenden Stollen.
»Vielleicht erscheint demnächst ein Zwottergespenst und erläutert uns das alles«, raunte er. »Aber sicherlich finden wir bei einigem Überlegen eine Erklärung für diese verrückten Vorfälle. Das kann doch nur mit den Prä-Zwottern zu tun haben.«
Langsam schoben sie sich weiter. Stellenweise war der Stollen schon halb verschüttet. Sie stießen auf kleine Skelette.
»Das hier war schon in früheren Zeiten ein Fluchtweg«, vermutete Tek. »Ich bin gespannt, wohin ...«
Er brauchte die Frage nicht mehr zu stellen. Der Stollen mündete in eine größere Kammer. Fahler Lichtschein fiel aus fingerdicken Deckenrissen herab. Hier lag ihr Fluchtgleiter, zwar ein wenig schräg und sichtlich mitgenommen, aber wohl nach wie vor fahrtüchtig. Sehr schwach erklangen aus der Höhe Stimmen und das Geräusch splitternden Holzes. Die Suchtrupps bahnten sich ihren Weg.
»Wir warten hier, wenn es sein muss, tagelang.« Tekener ließ sich, wo er gerade stand, auf den Boden sinken. »Mittlerweile können wir wohl darauf vertrauen, dass uns die Prä-Zwotter-Ahnen von Lakikrath helfen. Sie scheinen einiges gegen Margor zu haben.« Er lachte leise. »Vielleicht ist ihnen sein Niveau zu billig.«
»Ich glaube, ich werde mich niemals an deine sarkastische Art gewöhnen«, erwiderte Jennifer.
Den gesamten Tag über durchkämmten Suchkommandos das Gebiet der Tempelruinen. Gleiter kamen und entließen immer neue Leute.
Bis zum Abend gab es keine Erfolgsmeldung.
Boyt Margor wartete in seinem Gleiter hoch über dem Ruinenfeld. Hin und wieder schweifte sein Blick zu dem gewaltigen Wasserfall hinüber, der sich in Dunst hüllte. Als wäre die Welt eine Scheibe und der Ozean ergösse sich über ihren Rand hinweg ins Nichts – so wirkte dieses gigantische Naturschauspiel. Mehr als dreihundert Meter stürzten die Wassermassen von dem Hochplateau in die Tiefe, auf einer Länge von gut vierzig Kilometern. Es gab kaum ein geeignetes Wort, das zu beschreiben.
Margors Macht würde bald ähnlich unbeschreiblich sein.
Er wandte sich wieder dem Dschungel zu, der sich ebenfalls von Horizont zu Horizont spannte.
Ein Aufblitzen in der Tiefe weckte seine Aufmerksamkeit.
Da war es wieder!
Zugleich sprach der Funkempfang an.
»... ein großer Mann – er muss es sein!«
Margor ließ seinen Gleiter absinken und beschleunigte zugleich. Wieder zuckten Strahlschüsse auf.
Er fluchte lautlos. Hunderttausende Tekheter hätten in Lakikrath suchen können, doch sie weigerten sich. Er hatte seine Wut an einigen von ihnen ausgelassen. Sie wollten die Ruinenlandschaft nicht betreten. Lieber starben sie.
Doch nun hatten Kommandos seiner von Gäa stammenden Paratender die Flüchtenden gestellt.
Tekener und Thyron hatten sich inmitten eines weitläufigen Ruinenfelds verborgen. Mittlerweile tobte da unten ein heftiges Feuergefecht.
Die Konsequenz, falls ihm die beiden LFT-Agenten entkamen, war für Margor mehr als erschreckend. Bislang war es Tekener und seiner Frau wohl unmöglich gewesen, aber sie würden Mittel und Wege finden, ihre Erkenntnisse weiterzugeben. Schlimm war zudem, dass sie den Psychoden trotzten.
Margor flog schon tief genug. Er sah, dass seine Tempester von allen Seiten aus dem Dschungel hervorbrachen und die Mauern stürmten. Tekener und Thyron schienen sich mittlerweile getrennt zu haben, doch das half ihnen nicht mehr.
Margor umrundete einen von Schlingpflanzen überwucherten Torbogen in einigem Abstand. Als er zwischen herumliegenden Quadern zur Landung ansetzte, zuckten schon keine Strahlschüsse mehr.
Augenblicke später sah er, dass seine Tempester-Kommandos zwei Körper heranschleppten. Er schwang sich aus dem Gleiter.
»Bringt sie hierher!«, rief er.
Minuten später lagen die gut aussehende Frau und der weißhaarige Mann neben dem Gleiter. Ohne jede Regung betrachtete der Gäa-Mutant ihre Wunden und Verbrennungen.
Kein Zweifel, das waren die beiden, deren Konterfeis ihm von Chloreon und aus der ZOORTEN übermittelt worden waren. Ronald Tekener und Jennifer Thyron lebten nicht mehr, ihre Waffen lagen irgendwo zwischen den Ruinen.
Schweigend umstanden die Paratender die Leichen und den Gleiter. Immer mehr Tempester kamen heran.
»Ihr hattet Befehl, wenigstens den Mann lebend zu fangen!« Boyt Margor fuhr den ihm am nächsten stehenden Paratender an. »Ihr habt versagt!«
Schuldbewusst neigte der Angesprochene den Kopf. »Es war nicht möglich, sie zu betäuben. Beide wehrten sich verbissen und haben einige von uns verletzt.«
»Bringt sie zum Raumhafen! Wir fliegen zurück nach Gäa.«
Als der Mutant sich abwandte und wieder in den Gleiter steigen wollte, sagte ihm sein stets waches Misstrauen, dass etwas nicht stimmte. Er wandte sich ruckartig um. Die Toten wurden so nahe an ihm vorbeigetragen, dass er beide noch einmal ausgiebig betrachten konnte. Es waren die Gesuchten, zweifellos. Aber dennoch: Er sah die Wahrheit und konnte sie trotzdem nicht glauben.
Ich werde Tifflor und der Liga die Bilder der Toten zukommen lassen, sagte er sich. Es wird ihnen hoffentlich eine deutliche Warnung sein!
An einer Seitenwand führten Stufen hoch. Offenbar mündeten sie in einen Pfeiler des Torbogens. Durch Risse im Gestein sahen Tekener und seine Frau, dass in unmittelbarer Nähe gekämpft wurde.
Ein Gleiter landete.
Jennifers Finger krallten sich in Teks Arm. »Das bist du!«, keuchte sie entsetzt. »Und ...«
Er hielt ihr den Mund zu. Nicht weniger entgeistert als seine Frau sah er, dass Paratender zwei teilweise verbrannte Leichen vorbeischleppten. Die Körper trugen seine und Jennys Kleidung, er erkannte auch beide Gesichter.
»Duplikate? Das ist noch erschreckender als alles andere!«, sagte er in höchster Erregung. »Die Prä-Zwotter müssen dahinterstecken, eigentlich hinter allem, was hier geschieht ...«
Im Krönungssaal herrschte atemlose Spannung. Das Gewölbe war gegen äußere Einflüsse abgesichert. Dennoch war nicht ausgeschlossen, dass wieder Störfaktoren auftraten, die das Experiment negativ beeinflussten. Die Probanden waren sich ihrer Verantwortung bewusst, sie waren konzentriert und gingen in ihrer Aufgabe auf. Viel hing vom Gelingen dieses Experiments ab, die Existenz des Volkes im buchstäblichen Sinn.
»Ein Missgeschick wie vor Kurzem darf nicht vorkommen.« Ahrzaba wandte sich den Probanden zu, denen die Abschirmung des Krönungssaals oblag. »Es liegt an euch, die störenden Elemente auf Distanz zu halten.«
Ahrzaba tat den für die Sicherheit verantwortlichen Probanden unrecht. Es war nicht ihre Schuld, dass beim ersten Versuch nur totes Paraplasma zustande gekommen war. Niemand hatte ahnen können, wie dominant die Ausstrahlung der Eindringlinge sein würde. Als sie die beiden vor ihren Verfolgern beschützten, hatten sie dies weniger aus Mitleid getan, sondern ganz im Sinn ihrer Sache. Die Probanden hatten im Glauben gehandelt, dass die Verfolger abziehen würden, wenn sie ihrer Opfer nicht habhaft werden konnten. Nur deshalb hatten sie sich der beiden Flüchtlinge angenommen. Nicht einmal Ahrzaba hätte geglaubt, dass ausgerechnet diese Individuen durch ihr Id das Experiment nachteilig beeinflussen könnten. Der Beweis, dass sie die Störfaktoren waren, war eindeutig erbracht, weil das tote Paraplasma ihre Form angenommen hatte.
Wenn man dem Fehlschlag eine gute Seite abgewinnen wollte, dann war es die Tatsache, dass die Verfolger sich nach Auffinden des toten Paraplasmas zurückgezogen hatten.
Inzwischen wussten die Probanden, woran sie waren, und konnten sich den Flüchtlingen in angebrachter Weise widmen. Jene, die sie erst beschützt hatten, mussten nun aus dem Experimentalbereich verjagt werden.
Ein leises Brummen hing in der Luft. Ronald Tekener versteifte sich jäh. Er lauschte angespannt.
»Margors Paratender kommen zurück!«, stellte er fest. »Zwei Wochen Ruhe waren leider nicht lang genug ... nun haben sie die Suche wieder aufgenommen.«
»Aber – Margor hält uns für tot.« Jennifer schaute suchend in die Richtung, aus der die Triebwerksgeräusche kamen. »Wir haben doch gesehen, dass sie unsere Leichen abtransportiert haben und ...«
»Die sind nicht hinter uns her, sondern hinter unseren Zellaktivatoren«, unterbrach Tekener. »Margor zweifelt nicht an der Identität der Leichen. Aber er weiß von unseren Zellaktivatoren und will die Unsterblichkeit.«
Ein dumpfes Knirschen erklang hinter ihnen.
Tekener fuhr herum. Suchend huschte sein Blick über die Ruinen, zwischen denen Jennifer und er im Kampf gegen Margors Paratender den Tod gefunden hatten. Unter dem massigen Torbogen wogte Staub auf. Das ganze wuchtige Bauwerk schien sich weiter zu verschieben.
Die Steinplatte, die das Gewölbe mit dem Gleiter abdeckte, war ins Rutschen geraten. Die ersten der oben liegenden Mauerbrocken polterten bereits die Schräge hinab. Und noch während Tek nach einer Ursache für die Veränderung suchte, kippte die ganze Platte in die Tiefe. Donnernd bohrte sie sich in den Gleiter und zermalmte ihn förmlich.
»Zum Glück waren wir jetzt nicht da unten«, sagte Tekener tonlos. »Mir ist unerklärlich, wie sich die Platte lösen konnte.«
»Vielleicht sind uns die Geister der Tempelruinen nicht mehr wohlgesinnt«, argwöhnte Jennifer.
Die Gleiter zogen in wenigen hundert Metern Höhe über die Ruinen hinweg. Aber ihr Summen verklang nicht im Rauschen des Wasserfalls, es kam zurück.
»Wir verschwinden besser!«, entschied Tekener. »Falls sie wirklich nach den Zellaktivatoren suchen, werden sie jeden Stein umdrehen.«
Der Dschungel war lauter als sonst. Dem Lärmen der Tiere hing etwas Bedrohliches an, das Tekener bislang nicht so wahrgenommen hatte. Instinktiv griff er nach der Waffe, als ein Raubtier in geringer Entfernung brüllte.
Kreischend flatterten Vögel aus den Bäumen auf. Dann war Stille, unheimlich geradezu.
Tekener sah sich um. Dass einiges nicht stimmte, glaubte er deutlich zu spüren.
Ringsum im Unterholz ragten Hunderte Steinsäulen auf. Manche konkurrierten mit den Bäumen, andere waren beinahe bis zur Unkenntlichkeit überwuchert.
»Weg da, Tek!«
Er warf sich einfach vorwärts, als er Jennifers Warnung vernahm. Aus dem Augenwinkel sah er noch eine der Säulen kippen, im nächsten Moment schlug das mehrfach mannshohe Steingebilde auf und platzte in einem wahren Splitterregen auseinander.
Die nächste Säule sackte wie bei einem Erdbeben in sich zusammen. Zugleich neigten sich zwei weitere. Dumpf dröhnend schlugen sie auf. Jennifer stand da bereits im trügerischen Schutz eines der mächtigen Urwaldriesen. Gehetzt blickte sie um sich.
Tek folgte ihr einen Augenblick später. Minutenlang war die Luft vom Krachen der in sich zusammenstürzenden Steinmonumente erfüllt, dann kam das Brüllen wilder Tiere schon wieder näher.
»Wir müssen zurück!«, drängte Jennifer.
»Sie sind überall.« Tekener machte eine ausschweifende Geste. »Falls sie angreifen, haben wir einen schweren Stand.«
Er deutete auf eine der umgestürzten Säulen. Die Trümmer hatten nicht nur das Unterholz zerfetzt, sondern große Mosaikplatten zertrümmert, deren Überreste schräg in die Höhe standen. Ein dunkles Nichts gähnte darunter.
»Ein System von Gängen und Höhlen unter der Oberfläche.« Tekener lächelte. »Worauf warten wir eigentlich noch? Du zuerst – ich halte uns den Rücken frei!«
Seine Frau ließ sich in das ungewisse Dunkel hinabgleiten. Sie fand mit den Beinen Halt und löste ihren Griff. Im nächsten Moment rutschte sie ab. Ihr halb erstickter Aufschrei wurde zur Verwünschung.
»Alles in Ordnung?«, rief Tek.
Unten leuchtete ein schwaches Licht auf. Jennifer orientierte sich mithilfe der kleinen Handlampe, die sie im Gleiter gefunden hatte. »Da führt ein Weg weiter«, stellte sie fest.
Tekener folgte ihr. »Es würde mich nicht wundern, wenn wir in diesem Labyrinth ein schönes Stück weiterkämen. Hier unten sind wir momentan jedenfalls sicherer als an der Oberfläche.«
»Warum musst du unbedingt mit dem Kopf durch die Wand? Wir könnten uns den Ärger ersparen, wenn wir uns aus dem Ruinenfeld zurückziehen. Merkst du denn nicht, dass wir mit einem Mal unwillkommen sind?«
Er lachte dumpf. »Die Geister, die uns halfen, wenden sich nun gegen uns. Ist es das, Jenny? Und wenn dem so wäre, fragst du nicht nach dem Warum? Wir können nur dann herausfinden, was hier vor sich geht, wenn wir uns der unbekannten Macht widersetzen.«
»Du glaubst also doch an Gespenster?«, fragte seine Frau anzüglich.
»Ich weiß selbst nicht. Aber wir werden es herausfinden.«
Boyt Margor saß zwischen sechs im Kreis aufgestellten Psychoden und lauschte ihren parusischen Impulsen. Es bedurfte intensiver Beschäftigung mit den paraplasmatischen Schöpfungen der Prä-Zwotter, um das Wesentliche ihrer Botschaften zu erfassen.
Margor stand mit ihnen in starker Wechselbeziehung. Es fiel ihm wesentlich leichter, seine Informationen auf die Psychode zu übertragen, als ihre Parusie zu verarbeiten. Je mehr er sich mit ihnen beschäftigte, desto faszinierender wurden sie für ihn. Sobald er glaubte, sie erforscht zu haben und ihre Bestimmung zu kennen, drang er in neue, ihm bislang unbekannte Bereiche vor.
Er wusste, dass er bald die Bestimmung der Psychode erfahren würde. An diesem Tag würde er zugleich die ultimate Macht erlangen.