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Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden. Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition in ein fernes Sternenreich – zum Compariat. Ein katastrophaler Unfall und die zeitweilige Kaperung durch die Shafakk, die Soldaten des Compariats, hinterlassen schwere Schäden auf der FANTASY. Damit die Expedition fortgesetzt werden kann, muss das Raumschiff repariert werden. Die benötigten Rohstoffe und Ersatzteile will Perry Rhodan am Ort einer kosmischen Katastrophe beschaffen. Die terranischen Einsatzkräfte dringen vor auf DIE ZERBORSTENE WELT ...
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Seitenzahl: 225
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Band 217
Die zerborstene Welt
Ruben Wickenhäuser
Cover
Vorspann
Prolog: Die Augen der Ewigkeit
1. Die Seuche
2. Der Fund
3. Im Sonnenschatten
4. Der brodelnde Kessel
5. Kurz zuvor auf der FANTASY
6. Sabotage!
7. Die Seele der Maschine
8. Rhodans Abstieg
9. Drei im Streite
10. Entdeckt!
11. Im Kern
12. Unerwünschter Besuch
13. Gucky, der Shafakk
14. Schattenspiel
15. Kurs Lashat!
Impressum
Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.
Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition in ein fernes Sternenreich – zum Compariat.
Ein katastrophaler Unfall und die zeitweilige Kaperung durch die Shafakk, die Soldaten des Compariats, hinterlassen schwere Schäden auf der FANTASY. Damit die Expedition fortgesetzt werden kann, muss das Raumschiff repariert werden.
Die benötigten Rohstoffe und Ersatzteile will Perry Rhodan am Ort einer kosmischen Katastrophe beschaffen. Die terranischen Einsatzkräfte dringen vor auf DIE ZERBORSTENE WELT ...
Prolog
Die Augen der Ewigkeit
Viele Millionen Jahre dauerte es, bis das Planetesimal zu einer unförmigen Ansammlung aus verschiedensten Mineralien angewachsen war. Das Gebilde, eine Art stellare Kartoffel, zog Meteoroiden und Staub an und behauptete sich bei den gelegentlichen Kollisionen mit Asteroiden. Es bahnte sich seinen Weg durch den Orkan aus Mikromaterial und Gesteinsbrocken, dessen Auge das Zentralgestirn war. Die Akkretion nahm ihren Lauf. Das Planetesimal riss kleinere Passanten aus ihren Bahnen, um sie zu vereinnahmen. Nicht allein Masse gewann es, sondern auch Wärme, insbesondere wenn Brocken von geringerem Durchmesser, aber mit enormer Geschwindigkeit mit ihm zusammenprallten.
Die Energie der Einschläge erschuf einen planetaren Hochofen, der Mineralien schmolz und verflüssigte, Staub und Kies vereinigte, legierte und veränderte. Die schwereren Elemente sanken tiefer ins Innere ab. Mit den Jahren gewann die Kartoffel an Gewicht und rundete unter Einwirkung ihrer eigenen Gravitation zu einer Sphäre. Aus dem Friedhof astralen Gesteins schufen Zeit und Energie einen rotierenden Protoplaneten. Ein Beobachter hätte ihn mit einer kalten Sonne verwechseln können: Auf dem glosenden Lavaball blitzten unablässig Einschläge weiterer Gesteinsbrocken auf. Er glich einem gierigen Kugelwesen, das sich durch einen zirkulären Strom aus Materie fraß und inmitten einer Scheibe aus interstellaren Gasen und präsolaren Mineralien ein Schleppnetz aus Schwerkraft auswarf.
Aber der Planet war keine Sonne. Keine Fusionsreaktionen lieferten in seinem Zentrum neue Energie. Nicht mal einfache Kernreaktionen liefen in größerem Umfang in seinem Innern ab, wie es bei Planeten sonst üblich war. Er trug nur die Hitze in sich, die ihm von außen gegeben worden war. Je mehr davon wieder ins All abstrahlte, umso mehr kühlte er sich selbst ab. Flüssige Lavaströme wurden viskos, hellgelbe Glutseen verdämmerten zu einem tiefen Blutrot, um schließlich zu schwarz verbranntem Gestein zu erstarren.
Der Mantel war zunächst nur dünn und vermochte kaum, Kruste und Magma voneinander zu trennen. Nahe Sterne blickten auf die zerklüftete Oberfläche herab, auf der für weitere Millionen Jahre ein Bombardement aus Asteroiden niederging, außerdem Schauer von galaktischem Staub, alles gebadet in der harten Strahlung des jungen Universums, beleuchtet vom flackernden Widerschein hoch aufschießender vulkanischer Eruptionen. Das Zentralgestirn hielt den Planeten fest im Griff der Schwerkraft und röstete seine Oberfläche jedes Mal, wenn sein Orbit ihn zu nah an die Sonne heranführte.
Weitere Planeten wurden geboren, bevölkerten das System und zerrten an ihrem Bruder. Seine Bahn passte sich an – unmerklich, aber stetig lenkte sie ihn aus der unmittelbaren Hitzezone der Sonne heraus. Bald hörte die Oberfläche auf, im planetaren Maßstab zu knacken, wenn die Lava sich nach dem Strahlungsbad der Sonne wieder verfestigte. Vulkane, die den Planeten wie Asthma geschüttelt hatten, kamen zur Ruhe. Die Reste der lokalstellaren Nebelwolke wurden vom Druck der Sonnenwinde aus dem System geblasen. Der Himmel klärte sich.
Und der Planet erkaltete. Doch die Ruhe war trügerisch: Unter der braungrauen Kruste gloste der Erdkern noch immer heiß. Erst langsam formte sich ein starker Mantel.
Dann kamen andere Augen. Nicht so gewaltig wie die Sterne, die über das Werden der toten Welt von Beginn an gewacht hatten, aber weitaus neugieriger und wählerisch. Sie erkannten das Wesen des Planeten, maßen seine Zusammensetzung, beurteilten seine Lebensdauer und die des ganzen Sternsystems, das Millionen Jahre später Kollk getauft werden sollte.
Und sie trafen eine Entscheidung.
Sehr viel später, nachdem eine künstliche Transformation vollendet war, die Augen verschwunden waren und fremdartige Materie sich hatte locken lassen, geschah etwas, das eigentlich unmöglich sein sollte: Ein Ding erschien im Zentrum des Planeten. Es kam nicht von außen, bohrte sich nicht durch Kruste, Mantel und Kern, sondern war einfach plötzlich da.
Der Planet reagierte wie ein glühender Steinbrocken in Zeitlupe, der in Eiswasser gebadet wird.
Er zersprang.
Noch immer hängen die Bruchstücke in ihrem Zentrum zusammen, Milchzähnen gleich, die durch Stränge aus Zahnfleisch mit dem Kiefer verbunden sind. Sie driften nicht mehr auseinander, werden nicht zu Monden eines Nachbarplaneten, denn etwas hält sie zusammen: Ein Gespinst aus schwarz glänzenden Röhren und grotesk anmutenden Brücken wuchert zwischen den Bruchkanten. Verstrebungen verkrallen sich in Splitter, die groß wie Kontinente sind.
Da erscheint ein Raumschiff am Rand des Kollksystems und setzt Kurs auf diese zerborstene Welt, die den Namen Gorrawaan trägt.
Das Raumschiff ist fast so fremd wie jenes Ding, dessen Manifestation vor Tausenden von Jahren Gorrawaan zerriss.
Der Heimathafen des fremden Raumschiffs lag fernab in einem anderen Teil der Galaxis. Es trug den Namen FANTASY und war ein terranischer Prototyp im Erprobungsstadium. Als Perry Rhodan den Beiboothangar der FANTASY betrat, verharrte sie nach wie vor in einem Sonnensystem, das nur einen kurzen Hypersprung vom Sukkelmsystem entfernt lag.
Einzig die Torkade leistete Rhodan in dem weiten Heckraum Gesellschaft. Die eigenartige Dreiheit aus Opronern schenkte ihm aber keine Beachtung. Nur die seltsamen Symbole, die träge über die Haut der durchscheinenden Wesen wanderten, verrieten überhaupt, dass sie wach waren.
Es war einer jener kostbaren Momente im Leben eines Verantwortungsträgers, in denen es nichts für ihn zu tun gab, oder zumindest nichts, was nicht warten konnte. Ein bisschen hatte Rhodan deswegen ein schlechtes Gewissen: Die Multi-Ingenieure und -Techniker in den restlichen Schiffsektionen hatten alle Hände voll zu tun, das Sirren von Plasmabrennern und Scheppern von Blechen drang durch die Wände. Die FANTASY war schwer beschädigt.
Eigentlich war das Raumfahrzeug noch lange nicht für interstellare Reisen bereit gewesen, denn die Linearantrieb-Technologie steckte noch im Teststadium. Dieser Umstand war der Besatzung beinahe zum Verhängnis geworden. Ein katastrophaler Unfall hatte das Quintadim-Parallelspurtriebwerk unbrauchbar gemacht, und die rund hundertzwanzig Menschen Bord waren im Omnitischen Compariat gestrandet, einer Sternenregion Zehntausende Lichtjahre von der Erde entfernt. Dort waren sie sogar in die Gefangenschaft von Soldaten des Compariats geraten.
Sie waren den Shafakk zwar wieder entkommen, diesen an schwarze Mausbiber erinnernden Fellwesen mit ebenso martialischem wie aggressivem Auftreten. Aber die Shafakk hatten die FANTASY demontieren wollen und waren dabei wenig rücksichtsvoll vorgegangen. Ohnehin schon von der Havarie gebeutelt, hatte die FANTASY dadurch weiteren Schaden genommen. Schwer angeschlagen, hatte sich das Raumschiff im Ortungsschutz einer nahen Sonne verbergen müssen.
Ich kann es den Shafakk nicht mal verdenken, dass sie wütend auf uns sind, ging es Rhodan durch den Kopf. Immerhin konnten wir ihnen nicht nur entwischen, wir haben auch noch kostbare Fracht mitgehen lassen. Denn das ist dieser Kreellblock für sie zweifellos gewesen ...
Der blaue Schein des schwach erhellten Blocks spielte über Rhodans Wangen. Ihn überkam ein Schaudern, während er die vier Schemen darin betrachtete. Das Leyden-Team war samt Kater im Innern des Kreells gefangen, wie in der Bewegung eingefroren.
Ob die Eingeschlossenen wirklich noch leben? Wir haben keine Möglichkeit, das herauszufinden ...
Bei dem Gedanken meldete sich ein schwaches Ziehen in Rhodans Brust. Selbst er, dem die Unsterblichkeit in Gestalt eines Zellaktivators geschenkt worden war, hatte erkennen müssen, dass sie nur ein trügerisches Versprechen darstellte. Der mystische Zellaktivator drohte zu versagen wie ein gewöhnliches Stück Technik, und wenn das endgültig geschah, war Rhodans Leben in kürzester Zeit vorbei.
Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn das Leyden-Team ihn ausgerechnet dank der Gefangenschaft im Kreell überlebte. Dennoch gönnte Perry Rhodan dem eigenwilligen Wissenschaftler und seinem Team ihre Chance von ganzem Herzen, sofern sie irgendwann aus dem Kreell befreit werden konnten.
Bevor die Menschen an Bord sich um den Kreellblock kümmern konnten, mussten sie allerdings erst einmal die FANTASY wieder flottmachen, und das war allein mit Bordmitteln nicht möglich.
1.
Die Seuche
Monate, bevor das fremde Raumschiff ins Kollksystem einflog, machte sich Reviersteiger Kersh Brabun zur Abfahrt ins Bergwerk bereit. Seine Konduktormontur war eine der wenigen, die reibungslos funktionierten. Das Compariat war der Ansicht, dass Garrm eigentlich keine Schutzanzüge benötigten, schließlich lebten sie von Natur aus vor allem unter Tage. Brabun zirpte verächtlich.
Im Grunde, mutmaßte er, ist es dem Compariat nur recht, wenn Garrm beim Bergbau auf Gorrawaan zu Schaden kommen. Wer hier arbeitet, ist diesen Heißhäutern sowieso ein Dorn im Auge. Was wir tun, ist ein Himmelfahrtskommando, und es wird fortgesetzt, bis der letzte Rest Edelmetalle aus Gorrawaan herausgeschürft ist. Und da die Vorkommen geradezu unermesslich sind, wird das lange dauern ...
Brabun versiegelte die Kombination und prüfte im schwarzen Temperaturspiegel, ob seine Körperzeichnung gut sichtbar wiedergegeben wurde. In einem gewöhnlichen Spiegel hätte er ein Wesen mit einem zykloidförmigen Körper gesehen: wie eine Kuppel, aus deren flacher Unterseite vier lange Beine ragten. Der Kopf mit den zwei Augen und der zur Decke gerichteten Ozelle saß auf einem kurzen, kräftigen Hals und ließ sich bei Bedarf in die Halsmulde zurückziehen. Von den vier Armen waren die zwei kürzeren mit filigranen Tarsen ausgestattet, die Brabun feinste Manipulationen ermöglichten. Das längere Armpaar trug kräftige Scheren – genauer: Nur noch ein Arm tat dies. Der andere endete in einem Stumpf, auf den sich Brabun ein mechanisches Kombiwerkzeug gesteckt hatte. Diese Verstümmelung war das Andenken an einen Unfall, wie er in dieser Umgebung nur allzu schnell passieren konnte. Er klackerte prüfend mit den verschiedenen Instrumenten und war zufrieden.
Der Boden erbebte. Brabun hielt kurz inne. Die Erschütterungen durchliefen seine vier dünnen, teleskopartigen Beine. Garrm waren in der Lage, selbst feinste Vibrationen zu spüren. Auch mit weniger empfindlichen Sinnen hätte Brabun bemerkt, dass die Erdstöße stärker geworden waren. Wenn er sie sogar auf der Planetenoberfläche fühlen konnte, stürzten in der Tiefe fraglos bereits Gänge ein, und Garrm gerieten in Lebensgefahr.
Schon wieder!, schoss es Brabun durch den Kopf. Die Beben nehmen zu.
Sein Kommunikator meldete sich mit einer pulsenden Erwärmung. Ein Notruf.
»Zwei Ihrer Knappen sind verschüttet worden«, zirpte ein ihm unbekannter Sprecher. Brabun hörte zwar seine Individualmelodie, aber er konnte sie niemandem zuordnen.
»Ich mache mich sofort auf den Weg«, kündigte Brabun an. »Allerdings befinde ich mich in der Kaue auf der Oberfläche! Ankunft also in ...«
»Oberfläche ist gut«, unterbrach ihn der Unbekannte. »Verzeihung, ich habe mich nicht vorgestellt. Leitender Ingenieur Nashtrag-Ruhe spricht. Brabun-Kompetenz, der Unfall ereignete sich im Transportschacht bei der Konverterkammer auf Niveau Plus Viertausendzweihundert, Sektion Karrk. Also ganz in Ihrer Nähe.«
Plus 4200 lag in der Lithosphäre, der Planetenkruste. Brabun sparte sich die Rückfrage, was seine Knappen oben in der Planetenkruste taten, für später auf und bestätigte rasch. Seine Leute brauchten ihn. Es gab keine Zeit zu verlieren.
Er eilte aus der Kaue, in der neue Mitglieder der Knappschaft dieses Sektors auf ihren Einsatz vorbereitet wurden. Matten aus verstärktem Polymergewebe bedeckten den Boden und sollten Sicherheit vor Erdbeben bieten. Über sich sah Brabun die Sterne: Aus Sicherheitsgründen befanden sich die Quartiere der Belegschaften, die in der planetaren Kruste arbeiteten, sowie der Neuankömmlinge auf der Oberfläche der zerborstenen Welt. Eine beinahe unzerreißbare, transparente Folie schirmte die Gebäude vom Weltraum ab.
Mit einem Schnarren, das er durch das Aneinanderreiben seiner Beine erzeugte, rief er einen Wagen herbei. Das Gefährt war diskusförmig und schwebte zwischen vier Schienen. Es bot nur minimale Bewegungsfreiheit, schützte den Fahrgast aber von allen Seiten.
Brabun hielt seinen Kommunikator hoch, der an der Breitseite seiner Schere befestigt war. Das Gerät verfügte über ein ausklappbares, schwarzes Thermofeld.
»Lagebericht!«, verlangte er, während der Wagen Fahrt aufnahm und in eine Tunnelröhre abtauchte, die steil nach unten führte.
Aus dem Kommunikator drang das Zirpen seines unsichtbaren Gesprächspartners. »Wir sind dabei, Ihre zwei Knappen zu bergen. Die anderen konnten sich an Fliehorten oder in ausreichender Entfernung zum Epizentrum in Sicherheit bringen.«
Brabun brauchte sich den Aufbau des Reviers nicht erst ins Gedächtnis zu rufen. Er kannte es wie seine eigenen Tarsen – zumindest die tiefer gelegenen Bergbaubereiche. Der Industriekomplex, in dem sich das Unglück ereignet hatte, war nahe einer Bruchkante erbaut. Die Gründe waren simpel: Es war einfacher, die Röhren für den Transport der Roherze außen an den Klippen anzubringen, statt sie quer durchs Gestein zu führen. Außerdem waren sie dort zugänglicher und etwas besser geschützt vor den Beben. Aber was für die Röhren galt, galt nicht für die Bauten dahinter.
»Dieser Abschnitt war schon immer unser Sorgenkind«, bemerkte Brabun, während der Fahrschacht den Diskus aus dem Erdreich hinausführte und senkrecht an der Bruchkante entlang in die Tiefe stürzen ließ.
Zwar befand sich der Komplex in der Kruste, der höchsten Schicht des Planeten, lag aber dennoch rund eine halbe Stunde Fahrt unter der Kaue. Brabun erhöhte die Geschwindigkeit des Wagens. In den Verbindungsröhren herrschte Vakuum, um die Reibung so gering wie möglich zu halten. Von den vorbeirasenden netzartigen Strukturen der Röhrenwand trennte Brabun nur eine Tarsuslänge – und die transparente Kuppel, welche die Atmosphäre in dem einfachen Gefährt hielt. Er hielt den Kopf in den Halskragen eingezogen und wartete.
Dann beschrieb der Fahrschacht einen scharfen Bogen, in dem Fliehkräfte mit Brabuns Innereien Fußball spielten, und führte ihn wieder ins Dunkel der Lithosphäre. Lichterreihen rasten über Brabuns Kopf hinweg, während er immer weiter vordrang. Obwohl diese Fahrt zu den kürzeren gehörte, die er regelmäßig unternahm, war Brabun froh, als der Wagen erst rapide, dann sanft abbremste und schließlich am Ziel zum Stehen kam. Er klappte die Kuppel auf, streckte die Beine und stakste hinaus. Die Individualmelodie des Leitenden Ingenieurs Nashtrag war bereits gut zu hören, ehe Brabun ihn sah. Nashtrag wartete in einem flachen Werkzeugmobil.
»Der Rettungsarzt ist bereits vor Ort«, berichtete der Ingenieur, verlor keine Zeit und ließ den Wagen losrollen.
Formfelder dirigierten weiß glühende Ströme Seltener Erden über ihren Köpfen in unterschiedliche Richtungen: Promethium, Neodym und Lanthan waren gemeinsam mit anderen Edelmetallen das Blut in den Adern des Reviers, Ursache und Motor für die Abbauarbeiten an einer ganzen Welt, die sich im Zustand des Auseinanderfallens befand. Brabun war als Reviersteiger eigentlich nur für die Abbaustollen und die Förderung an sich zuständig, mit der Weiterverarbeitung der Erze hatte er nichts zu tun. Auf diesem unterplanetaren Industriegelände war er somit nur ein gewöhnlicher Garrm wie jeder andere. Außer es betraf seine eigenen Leute.
»Wenn es nicht zwei Knappen wären, könnte ich in aller Ruhe meinen Abstieg vorbereiten«, murrte er.
Nashtrag zeigte Anteilnahme. »Das kann ich gut nachfühlen.« Er schnarrte einen Befehl, und ihr Gefährt änderte die Richtung. »Der Unfall an sich wäre auch kein Grund gewesen, Sie herbeizurufen. Aber einer unserer Rettungsärzte hat eine Entdeckung gemacht, die gerade für Sie sehr wichtig ist. Behauptet er zumindest.«
Brabun beschlich ein ungutes Gefühl. Nashtrag lieferte keine weiteren Informationen, aber die Betonung seiner Worte und sein Verhalten ließen keinen Zweifel daran, dass der Leitende Ingenieur sehr beunruhigt war. Dass das Schicksal zweier Knappen ihn derart berührte, verriet Brabun, dass es sich mitnichten um einen gewöhnlichen Unfall handelte.
Sie gelangten in eine Halle, deren gegenüberliegendes Ende sich in der Ferne verlor. Teiltransparente Rohre und offene Rinnen voller glutflüssigem Cer, Neodym, Gold und anderen Edelmetallen tauchten die sich weit über ihnen wölbende Decke in ein flackerndes, orangerotes Licht. Die Erzflüsse schienen von überall her zu kommen und sich gelegentlich in chaotisch anmutenden Knoten umeinanderzuwinden. Es roch nach Ozon und viel zu hohen Temperaturen, obwohl Sperrfelder die Hitze vom Boden der Halle fernhielten. Ein vielstimmiges Zischen, Fauchen und Glucksen erfüllte die Luft. Nur gelegentlich schwirrte da und dort ein Roboter vorbei; Garrm waren nicht zu sehen. Alle Prozesse verliefen in diesem Stadium vollautomatisch und wartungsarm.
Der Wagen mit Nashtrag und Brabun jagte an einer Reihe haushoch aufragender Konverter vorbei, die die gesamte Längsseite der Halle flankierte. Nach einer ganzen Weile – Brabun fragte sich schon, wie viele Kilometer sie in dieser Halle zurücklegen mussten – entdeckte er eine Tunnelöffnung vor ihnen, über der gezackte Stahlplatten in tiefem Rot glühten und jedem, der sie sah, akute Lebensgefahr signalisierten. Das hohe Sirren einer Alarmsäge verlieh der Warnung Nachdruck.
Pulsendes Grün von Fluchtwegbändern begleitete sie, während sie durch den Tunnel rasten. Nach der Weite der Halle weckte die Enge vorübergehend geradezu klaustrophobische Gefühle in Brabun. Nashtrag war sichtlich amüsiert darüber. Aber schon während sie eine Gabelung passierten und die Fliehkräfte an ihm zerrten, spürte Brabun, wie das bedrückende Gefühl jener angenehmen Heimeligkeit wich, die er in engen Gängen stets empfunden hatte. Das war sein wahres Element.
Der Tunnel ähnelte eigentlich mehr einem Schlauch. Während die Produktionshallen massive, verkapselte Konstruktionen waren, waren die Verbindungsgänge so gebaut, dass sie selbst schweren seismischen Beben standzuhalten vermochten – sie dehnten und verwanden sich nach Bedarf.
»Hier ist es passiert«, sagte Nashtrag.
Der Stollen mündete in einem weiträumigen Kanal, durch den sich auf mehreren Etagen Transportbänder voller Seltener Erden und anderer Metalle schlängelten. Sie standen alle still. An der Verbindungsstelle von Kanal und Gang befand sich ein einfacher Fliehort, kaum mehr als eine gepanzerte Mulde. Mehrere Sanitäter standen dort um zwei mobile Medoliegen, auf denen Brabun seine Knappen erspähte. Ihre acht Gliedmaßen lagen kraftlos da, und die zwei Garrm hatten die spitz zulaufenden Köpfe in die Halsmulden versenkt. Ihre individuellen Infraschallmelodien waren kaum noch hörbar. Noch etwas bemerkte Brabun: Über beiden Liegen waren die Abschirmungen aktiviert.
Als Brabun näher kam, trat ihm der Rettungsarzt entgegen. Er war von Erschöpfung und Ratlosigkeit gezeichnet.
»Sie leben zumindest noch. Wir mussten sie aus einer Verschüttung befreien«, nahm der Mediker Brabuns erste Frage vorweg. Mit einem Blick auf Brabuns Armprothese fuhr er fort: »Allerdings wird einer von ihnen möglicherweise zwei Beine verlieren.«
»Ist der Kanal eingebrochen? Das sollte doch kaum möglich sein?«, erkundigte sich Brabun, während sie zu den beiden Verletzten eilten.
»Nein. Sie waren bei der Arbeit an einem der Förderbänder, um einen Defekt zu beheben, und hatten sich aus der Tiefe herauf bis zu diesem Punkt durchgearbeitet. Dabei wurden sie von einem schweren Beben überrascht und sind abgerutscht. Sie stürzten auf eins der Mahlgutbänder und in ein Rüttelreservoir.«
»Sie wurden überrascht? Beide?« Brabun war erstaunt. »Das kann doch nicht sein! Sie müssen das Beben lange vorher gespürt haben.«
Sie gelangten bei den zwei Bergleuten an. Brabun hatte sie gewiss schon mal gesehen, aber die Belegschaft war zu groß, um jeden Einzelnen persönlich zu kennen. Es waren einfache Knappen. Der eine war gerade dem Lehrlingsalter entwachsen. Sie zeigten keinerlei Regung.
»Das hat uns zunächst auch gewundert«, pflichtete der Rettungsarzt dem Reviersteiger bei. »Etwas muss sie abgelenkt haben ... oder behindert. Und tatsächlich haben wir etwas gefunden.«
Brabun fuhr mit den Tarsen über das Isolierfeld des nächstgelegenen Unfallopfers. »Ah. Ich ahne, was Sie sagen möchten. Schattenwehe?«
Der Rettungsarzt gab ein bejahendes Schnarren von sich. »Schattenwehe. Bei beiden. Sie kam wohl gerade zum Ausbruch kurz bevor das Beben einsetzte ... Daher die Verringerung der Wahrnehmungsfähigkeit. Sie haben die seismischen Vorboten des Bebens schlicht nicht spüren können.«
Über der Liege formte sich ein Hologramm. Es zeigte Kolonien schwarzer, sich windender Würmer, die sich an den Innenseiten des Chritongexoskeletts und sogar an den grätenartigen Versteifungen im Zentralkörper festgesaugt hatten. Ihre Schwänze wehten im Fluss des umgebenden Plasmas.
»Das ... Das ist ein starker Befall«, stellte Brabun fest.
»Verlässlich kann der Zustand der Patienten erst nach einer eingehenden Untersuchung beurteilt werden.« Der Rettungsarzt wirkte niedergeschlagen. »Es hat jedoch den Anschein, als hätte die Schattenwehe sich ohne jede Symptomatik im Innern der beiden entwickelt und ist jetzt mit einem Schlag zum Ausbruch gekommen. Deswegen sagte ich, dass die beiden noch leben. Bei einem so starken Befall übersteigt es schlicht meine Kenntnisse, ob sie geheilt werden können.«
»Sie haben ihnen Medikamente verabreicht?«
»Selbstverständlich. Aber wie Sie wissen, gibt es kein Heilmittel gegen Schattenwehe. Alles, was ich für die beiden tun kann, ist, ihnen stabilisierende Arzneien zu geben und sie von der Außenwelt isoliert zu halten. Soweit ich weiß, können die Kliniken auch nicht mehr tun.«
Brabun wiegte den Kopf. Schattenwehe war ein Problem gewesen, solange er zurückdenken konnte. Die Ansteckung erfolgte auf unbekanntem Wege. Die Infektionsgefahr schien widersinnigerweise mit größerer Tiefe zuzunehmen – also dort, wo Leben am unwahrscheinlichsten wäre. Zumal Gorrawaan generell so lebensfeindlich und trostlos war wie ein Gesteinsbrocken nach dem Bad im Jet eines Pulsars.
»Das sind schlimme Nachrichten«, murmelte er. »Es war richtig und wichtig, dass Sie mich gerufen haben, Leitender Ingenieur Nashtrag.«
»Aha?« Nashtrag war neugierig.
»Wir beobachten in den vergangenen Wochen eine sprunghafte Zunahme von Infektionen, und zwar bei den Knappen in den Kernsohlen. Ich werde überprüfen, ob diese beiden auch dort gearbeitet haben. Da die Gaden unsere Eingaben und Beschwerden nicht ernst nehmen, ist diese Krankheit praktisch noch unerforscht ... Ich muss wissen, wie ich meine Leute davor schützen kann.«
»Individualschirme«, schlug der Rettungsarzt vor.
Brabun klapperte verneinend mit seiner einzelnen Schere. »Individualschirme sind kostbar. Außerdem versagt da unten nichtmechanische Technik ständig. Als würde die Arbeit in der Tiefe nicht schon genügen, um uns das Leben schwer zu machen ...«
Nashtrag raspelte entrüstet mit den Vorderbeinen. »Dann ziehen Sie Ihre Leute doch von dort ab, Reviersteiger Brabun-Kompetenz. Die Gaden werden schon aufhorchen, wenn ausgerechnet das Herz der Edelmetallförderung brachliegt. Und wenn nicht, kann es Ihnen auch recht sein, denn Sie haben Ihre Leute geschützt und brauchen nicht mehr in der Gefahrenzone zu arbeiten.«
Brabun bemerkte sehr wohl, dass Nashtrag ihn mit seinem vollen Titel und Namen ansprach. Im Bereich des Industriekomplexes war er kein Reviersteiger, und wenn der Leitende Ingenieur diesen Titel dennoch benutzte, dann um seine Hochachtung gegenüber Brabuns Arbeit zu demonstrieren – und nachdrücklich an sein Verantwortungsgefühl zu appellieren.
»Wie sollen wir nun weiter verfahren?«, fragte der Rettungsarzt.
»Verlegen Sie die beiden ins Bergmannskrankenhaus auf der Oberfläche«, antwortete Brabun. »Und schicken Sie mir einen ausführlichen Bericht und Ihre medizinische Einschätzung über die Ursachen des Unfalls. Ich werde das den anderen Steigern senden, damit sie gewarnt sind.« Bei seinen nächsten Worten verspürte er ein tiefes Unwohlsein. »Auch dem Shafakk-Zuul Lukkmor Wollk werde ich eine Kopie übermitteln. Wenn sich danach noch immer nichts tut, ziehe ich meine Leute von den Kernstollen ab.«
»Dem Shafakk-Zuul wollen Sie das schicken? Das wird ihn aber freuen.« Nashtrags Worte troffen vor Sarkasmus. »Ich bin sicher, er wird vollstes Verständnis haben.«
»Sollte er besser.« Brabun war entschlossen. »Sonst kann er den Gaden erklären, wieso der Nachschub aus ihrem Schatzkästchen stockt.«
»Dann ...« Nashtrag brach ab, als Brabuns Kommunikator aufglühte und das schrille Schnarren eines Prioritätsrufs erschallen ließ.
Brabun überflog hastig die Textnachricht. »Das kommt aus der Kernsohle.«
Ton gab es nicht; die Verbindung ins Zentrum von Gorrawaan konnte nur über ein ausgeklügeltes Netz aus teilweise mechanischen Relaisstationen hergestellt werden. Er war froh, dass überhaupt eine Information von dort heraufgelangte.
»Noch ein Unfall?«, fragte der Leitende Ingenieur.
Brabun verneinte. »Etwas völlig anderes ...«
Sie fuhren im Eiltempo zu einem Transportknoten unterhalb der Konverterhallen. Dort fielen die Sturzkabinen Tausende von Kilometern in die Tiefe Richtung Kern.
»Viel Glück«, verabschiedete sich der Leitende Ingenieur, während Brabun in eine per Dringlichkeitsanforderung herbeizitierte Kapsel kletterte.
Brabun zog den Kopf in die Halsmulde zurück, legte Arme und Beine eng unter den Körper und gab das Startsignal für den Notsturz. Sofort schnürten ihn mehrere Netze ein, Fesselfelder aktivierten sich zusammen mit dem Andruckabsorber, es knackte und rasselte, und dann stürzte die Kabine in die Tiefe der Vakuumröhre.
Es würde eine äußerst unangenehme Fahrt werden, reglos am Boden gefesselt mehrere Tausend Kilometer bis zum Planetenkern zurückzulegen – und das Ganze bei mehrfacher Schallgeschwindigkeit.
Aber die Nachricht rechtfertigte den Aufwand. Sie besagte, dass etwas Unerwartetes von großem Wert im Kern entdeckt worden war.
Sie haben keine Elemente genannt. Kersh Brabun verspürte eine ganz untypische Euphorie, die ihn für einen Augenblick seine unangenehme Lage vergessen ließ.
2.
Der Fund
Er fühlte sich mehr tot als lebendig, während die Kabine erst ihren langen Weg der Entschleunigung antrat und dann endgültig zum Stillstand kam. Notanfahrten gehörten definitiv zu den Dingen, an die sich Kersh Brabun niemals gewöhnen würde. Nicht zuletzt, weil beim Schlussabschnitt der Reise die meisten technischen Kabineneinrichtungen vorsorglich abgeschaltet wurden und man sich nie sicher sein konnte, ob nicht auch die mehrfach redundanten essenziellen Systeme stotterten. Er hatte einmal erlebt, dass die Andruckabsorber versagt hatten. Die Wirkung der mechanischen Bremse hatte ihn eine gefühlte Ewigkeit lang derart heftig zusammengepresst, dass er danach eine geraume Weile gebraucht hatte, um wieder Oben und Unten unterscheiden zu können.
Diesmal blieb ihm das erspart. Und der Gedanke an den Fund half ihm, sich dazu zu überwinden, ohne Erholungspause aus der Kabine zu springen. Er taumelte auf dem Weg zur Zugangsschleuse des Stollens zwar mehr, als dass er ging, aber sobald das Sperrtor sich knirschend beiseiteschob, hatte er sich bereits wieder halbwegs gefangen. Immerhin versahen die einfachen Motoren störungsfrei ihren Dienst – auch das war in dieser Tiefe keine Selbstverständlichkeit.
Nachdem er die Schleuse passiert hatte, verharrte er für einen Augenblick und konzentrierte sich auf den Untergrund. Überall seismische Spannungen, als balanciere er auf einer Bogensehne. Aber keine Vibrationen. Keine Anzeichen für ein neuerliches Beben. Gut.
Sein Kommunikator verlangte nach Aufmerksamkeit. Brabun hob die schwarze Projektionsfläche vor die Augen und las das Muster aus winzigen Temperaturveränderungen ab.
»Sollen wir dem Shafakk-Zuul Bescheid geben?«, lautete die Textbotschaft.
Verdammt!, dachte Brabun. Die Nachricht war mindestens eine Stunde alt. In der Sturzkabine hatte er ihren Empfang nicht bemerkt – so unbeweglich, wie er dort gesichert gewesen war, hätte er sie ohnehin nicht aufrufen können.
»Dringende Mitteilung: Den Shafakk-Zuul nicht benachrichtigen!«, antwortete er hastig, ebenfalls als Text. »Ich nehme den Fund erst persönlich in Augenschein!«
Er würde sich später notfalls damit rechtfertigen können, dass er den Kommandanten der Shafakktruppe nicht wegen etwas auf stundenlange Anfahrt hatte schicken wollen, das sich am Ende nur als ähnlich wenig nutzbringend wie ungewöhnlich verfärbtes Geröll herausgestellt haben mochte. Dass Brabun in Wahrheit aus irgendeinem Grund von der Bedeutung des Funds überzeugt, ja geradezu elektrisiert war, musste er ja nicht offenbaren. Da der Shafakk-Zuul sich trotz seines Dienstorts nie für den Bergbau begeistert hatte, konnte er die Bedeutung eines ungewöhnlichen Funds im Planetenkern ohnehin nicht abschätzen.
Der Kommunikator flackerte.
Verdammte Störungen!