Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern 2 -  - E-Book

Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern 2 E-Book

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Die Fachwelt ist sich einig: Für die Persönlichkeitsentwicklung sind Reflexionsprozesse von zentraler Bedeutung. Für Studierende wie auch Lehrpersonen, Coachs und Supervisor*innen stellen sie jedoch häufig eine Blackbox dar. Im zweiten Band geben die Herausgeberinnen erste Antworten. Die theoretischen und praktischen Beiträge zeigen, wie Reflexionsprozesse im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung verstanden, angestossen und begleitet werden können.

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Seitenzahl: 329

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Judith Studer / Shirin Sotoudeh / Esther Abplanalp (Hrsg.)

Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern

Reflexionsprozesse verstehen und begleiten

 

ISBN Print: 978-3-0355-2342-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-2343-0

 

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort vom Hochschulnetzwerk Persönlichkeitsbildung «HOPE»

Einleitende Worte der Herausgeberinnen

Reflexionsprozesse verstehen

Praxen, Tugenden und Phronesis – ein Ansatz zur normativ orientierten Reflexion im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung

(Berufs-)Biografische Selbstreflexion als transformatorischer Bildungsprozess in der akademischen Ausbildung pädagogischer Fachpersonen

Professionelle Fachkraft werden – zur Bedeutung und Gestaltung von Reflexionsprozessen im Studium der Sozialen Arbeit

Reflexionsprozesse auslösen und begleiten

Biografiearbeit in der Hochschullehre – Didaktische Überlegungen zum Entwickeln professionellen Handelns und zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung aus biografischer Perspektive

Leib- und bewegungsorientierte Reflexionsmethoden: Motologische Ansätze zur Förderung von Nachhaltigkeitsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft

Reflexion als Ziel und Didaktik der Persönlichkeitsentwicklung – das Wechselspiel von Selbst- und Fremdperspektive bei der Ausbildung von professioneller Beratungskompetenz

Reflexionsprozesse in einem stärkenorientierten Mentoring-Programm im Studium des Sozial- und Gesundheitswesens

This is me! Persönliche Entwicklung im Bachelorlehrgang Sozialpädagogik

Beim Eintauchen wird man nass! Ein Reflexionsmodell zur Unterstützung der persönlichen Entwicklung einer professionellen Identität

Blended Coaching – ein Konzept zur Begleitung der Selbststudienzeit im MBA im Sozial- und Gesundheitswesen

Studieren und Persönlichkeitsentwicklung: Unterstützende Faktoren in Lernsettings des dualen Studiums der Sozialen Arbeit

Multiperspektivisches Irritationspotenzial für die Persönlichkeitsbildung künftiger Fachkräfte: Die Arbeit mit dem Online-Forum Praxis reflektiert

Abschliessende Worte der Herausgeberinnen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort vom Hochschulnetzwerk Persönlichkeitsbildung «HOPE»

In einer Zeit zunehmender Digitalisierung, nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in Ausbildung, Studium und Freizeit, gewinnen grundlegende Fragen wie «Was bedeutet es, Mensch zu sein?» immer mehr an Bedeutung. Zwar können heute mittels künstlicher Intelligenz Handlungspläne, Checklisten oder Empfehlungsschreiben vorformuliert werden, doch befreit dies nicht von der Verantwortung, das eigene professionelle Handeln vor dem Hintergrund bewusster Wertesysteme und Grundhaltungen zu reflektieren. Doch wie können die Entwicklung zentraler Kompetenzen wie beispielsweise Selbstreflexionsfähigkeit oder ein berufliches Selbstverständnis bei stetig zunehmender Online-Lehre und Credit-Points-Orientierung ausreichend Zeit und Raum in meist schon überladenen Curricula finden?

Es sind genau diese konkreten Fragen, welche 2019 zeitgleich mit der Veröffentlichung des ersten Bandes «Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern. Aktuelles aus Forschung und Praxis» zur Gründung des internationalen Hochschulnetzwerks HOPE geführt haben. Die Abkürzung steht für Hochschulnetzwerk Persönlichkeitsbildung, ein überfachliches Netzwerk bestehend aus Lehrenden, Forschenden und Freiberuflichen, welche sich für das Themenfeld der Persönlichkeitsentwicklung im Hochschulkontext interessieren und engagieren. Ziel dieses offenen Netzwerks ist, die Bedeutung von Persönlichkeitsentwicklung als relevantes Kompetenzset im Wahrnehmungsraum wichtiger Stakeholder zu stärken sowie Hochschulen bei der Integration von Modulen, Methoden und Inhalten zur Persönlichkeitsentfaltung in ihren Curricula zu unterstützen. Durch regelmässige Netzwerk-Treffen, Arbeitsgruppen und Jahrestagungen wurde eine solide Plattform für Austausch, Diskussion und Vernetzung geschaffen.

Auch jetzt mit dem zweiten Band, welcher einen besonderen Fokus auf das Verstehen und Begleiten von Reflexionsprozessen im Kontext hochschulischer Persönlichkeitsentwicklung wirft, wird wieder ein zentrales Thema des HOPE-Netzwerks aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Somit verwundert es auch nicht, dass diverse Beiträge von aktiven Netzwerkmitgliedern selbst verfasst wurden.

Im Namen des Netzwerks HOPE bedanken wir uns bei den Herausgeberinnen sowie allen Autorinnen und Autoren und wünschen Ihnen als Leserinnen und Lesern viel Spass bei dieser spannenden Sammlung von Beiträgen zur Förderung von selbstreflektierten, verantwortungsbereiten und damit zukunftskompetenten Hochschulabsolventinnen und -absolventen.

 

Sandra Haas und J. Lemmer Schmid

hochschulnetzwerk-persönlichkeitsbildung.eu

Einleitende Worte der Herausgeberinnen

Im Oktober 2018 fand die erste internationale Tagung zum Thema «Förderung der Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen» statt mit dem Ziel, erprobte oder beforschte didaktische Konzepte und Modelle zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklungen im Rahmen der Hochschulausbildungen bekannt zu machen, Erfahrungen theoretisch zu verorten, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Die vielfältigen Referate sind in unserem ersten Sammelband «Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern. Aktuelles aus Forschung und Praxis» (Studer, Abplanalp & Disler, 2019) zusammengetragen und geben einen interessanten Einblick in unterschiedlichste mikro- und makrodidaktische Ansätze und Umsetzungen. Die verschiedenen didaktischen Ansätze und Lernsettings schaffen im Idealfall eine günstige Voraussetzung für die individuelle Selbstreflexion und das gemeinsame Nachdenken über das Gelingende. Diese Reflexionsprozesse scheinen für die eigentliche Persönlichkeitsentwicklung besonders bedeutsam zu sein. Sie werden jedoch von Studierenden wie auch von Lehrpersonen, Coachs und Supervisorinnen und -visoren häufig als Blackbox wahrgenommen. Der vorliegende zweite Band wirft einen Blick in diese Box. Die theoretischen Überlegungen und konkreten praktischen Beispiele geben erste Antworten auf die Frage, wie Reflexionsprozesse im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung verstanden, angestossen und begleitet werden können.

 

Der erste Teil widmet sich dem Verstehen von Reflexionsprozessen. Einführend wirft André Zdunek einen Blick auf die Frage nach dem Ziel dieser Reflexionsprozesse. Er hebt die anthropologische Bedeutung von Reflexion heraus und begründet im Anschluss an die aristotelische Tugendethik gesellschaftlich etablierte, in der Praxis geprüfte Güter und Werte als eine Orientierung für die Reflexion zur Persönlichkeitsentwicklung.

Noëlle Behringer, Robert Langnickel und Pierre-Carl Link nehmen sich des eigentlichen Verstehens hochschulischer Reflexionsprozesse an. In Anlehnung an Kollers Verständnis von transformatorischen Bildungsprozessen legen sie aus einer psychodynamischen Perspektive heraus berufsbiografische Selbstreflexion als Strategie zur Persönlichkeitsentwicklung in der Hochschulausbildung dar.

Ebenfalls einen Beitrag zum Verständnis von Reflexionsprozessen im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung liefert der Beitrag von Tim Middendorf. Am Beispiel studienintegrierter Supervision zeigt er auf, wie Reflexionsprozesse im Studium der Sozialen Arbeit gestaltet und welche Sozialisationseffekte dabei identifiziert werden können.

Im zweiten Teil der Publikation wird der Frage nachgegangen, wie Reflexionsprozesse im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung angestossen und begleitet werden können.

André Epp zeigt in seinem Beitrag am Beispiel der Lehrkräfte(fort)bildung auf, wie Biografiearbeit genutzt werden kann, um bei Studierenden die Auseinandersetzung mit dem eigenen biografischen Gewordensein und dem professionellen Handeln anzuregen.

Eine weitere konkrete Möglichkeit der Persönlichkeitsentfaltung sieht Jörg Lemmer Schmid in motologischen Ansätzen. Auf Basis eines Forschungsprojekts an der Hochschule Emden/Leer beschreibt er Gelingensbedingungen und Grenzen dieser Ansätze und präsentiert konkrete Anregungen und Praxisbeispiele.

Das Beratungstraining des Studiengangs Ernährung und Diätetik der Berner Fachhochschule bildet Ausgangspunkt des Beitrags von Ninetta Scura. Sie zeigt auf, wie mittels schauspielbasierten Trainings und dessen mehrperspektivischer Analyse und Reflexion Persönlichkeitsaspekte und ihr Einfluss auf das Beratungshandeln bewusst gemacht und entsprechende Bildungsprozesse angestossen werden können.

Im Fokus des Beitrags von Jessica Duda, Julia Adam, Lena Ketterkat, Corinna Ehlers und Juliane Leinweber steht ein stärkeorientiertes Mentoring-Programm als einer der hybriden Handlungsräume zur Stärkung sozial-emotionaler Lernprozesse in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften der HAKW. Das Programm verfolgt die Stärkung und Nutzung von Re­flexions­fähig­keiten zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung.

 

Drei weitere Beiträge stellen Konzepte vor, die zum Ziel haben, Re­flexions­pro­zesse zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung über den ganzen Studienverlauf anzustossen und zu begleiten:

Im Bachelorlehrgang Sozialpädagogik der FH St. Pölten werden Re­flexions­pro­zesse auf individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Ebene (Mikro-, Meso- und Makroebene) adressiert. Christina Engel-Unterberger und Christine Schmid geben Einblick in diese studienpfadbegleitende Modulreihe «Professionelle Entwicklung».

Den Studierenden des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit (BFH) steht ein eigens entwickeltes Reflexionsmodell zur Verfügung. Shirin Sotoudeh, Judith Studer und Esther Abplanalp geben Einblick, wie das Modell in verschiedenen Gefässen, die sich durch den Studienverlauf ziehen, konkret zur Anwendung kommt und die Studierenden bei ihrer Entwicklung einer professionellen Identität unterstützt.

Ute Belz und Martina Hinssen stellen mit dem Blended Coaching ein umfassendes Handlungskonzept vor, welches die Studierenden der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf im dualen Studium bei der Entwicklung der eigenen Führungspersönlichkeit unterstützt, und diskutieren dessen Chancen und Herausforderungen.

 

Der anschliessende Beitrag von Christiane Nakao und Jeanette Pohl nimmt am Beispiel des dualen Studiengangs Soziale Arbeit der IU Internationale Hochschule das Zusammenwirken der Lernorte Hochschule und Praxis beim Anstossen und Begleiten der Reflexionsprozesse der Studierenden in den Blick. Im Dreiecksverhältnis zwischen Studierenden, Hochschule und Praxisstelle fragen sie nach den Erfahrungen der involvierten Personen.

 

Mit dem Online-Forum Praxis reflektiert stellen Claudia Dreke, Carolin Lucke-Schurk und Frauke Mingerzahn abschliessend ein Angebot vor, welches das Ziel verfolgt, Reflexionsprozesse anzuregen, in denen sich Studierende, Hochschullehrende und Fachpersonen zunehmend zu autonomen und urteilsfähigen Subjekten entwickeln. Ausgangspunkt der Reflexionen bilden Praktikumssituationen, die Studierende als herausfordernd erlebt haben.

 

Wir wünschen anregende Lektüre.

 

Bern, im April 2023

Die Herausgeberinnen

Judith Studer, Shirin Sotoudeh und Esther Abplanalp

Reflexionsprozesse verstehen

Praxen, Tugenden und Phronesis – ein Ansatz zur normativ orientierten Reflexion im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung

André Zdunek

Abstract

Persönlichkeitsentwicklung beruht wesentlich auf Reflexion. Deshalb ist solche Reflexion, die geeignet ist, die Persönlichkeit zu entwickeln, Reflexion zur Persönlichkeitsentwicklung. Die gebräuchlichen Formen der Reflexion zur Persönlichkeitsentwicklung setzen keine normative Orientierung für die Persönlichkeitsentwicklung voraus, sondern übertragen diese in die Auseinandersetzung mit Normen und Werten mit offenem Ausgang, wohl aus einem vermuteten Konflikt mit der persönlichen Autonomie, wenn man eine normative Orientierung voraussetzen würde. Damit fehlt aber der Persönlichkeitsentwicklung letztlich die normative Orientierung, die für jede Entwicklung wesentlich ist. Der Beitrag hebt die anthropologische Bedeutung von Reflexion hervor und begründet im Anschluss an die aristotelische Tugendethik eine Orientierung für die Reflexion zur Persönlichkeitsentwicklung an menschlichen Praxen. Praxen enthalten gesellschaftlich etablierte, in der Praxis geprüfte und an Herausforderungen der Praxis sich entwickelnde Güter und Werte, die als Orientierung für die Persönlichkeitsentwicklung dienen können. Der vermutete Konflikt mit der persönlichen Autonomie erweist sich als konzeptueller Fehler, denn die kritische Beurteilung von Orientierungen ist nur im Rahmen bestehender Orientierungen möglich. Praxen erfordern die Ausbildung und Übung von Tugenden, welche eine zweite normative Orientierung für die Persönlichkeitsentwicklung bieten. Schliesslich ermöglicht das aristotelische Konzept der Phronesis oder praktischen Weisheit als Strukturelement von Praxis die Förderung der Reflexion von Handlungskompetenzen. Es werden Praxen identifiziert, deren Reflexion der Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen der Hochschulbildung dienen können.

 

Die Förderung überfachlicher Kompetenzen ist seit jüngerer Zeit ein zentraler Anspruch an das Hochschulstudium und die Hochschulbildung (vgl. Schubarth & Speck, 2014). Überfachliche Kompetenzen sollen einerseits dem Umstand einer sich in ständiger Veränderung befindlichen Berufswelt mit nicht antizipierbaren künftigen Anforderungen Rechnung tragen; die im Studium erworbenen fachlichen Kompetenzen sind nicht hinreichend für die langfristige Beschäftigungsfähigkeit (Employability). Anderseits hat sich die Berufswelt zu Teamarbeit und autonomerer Arbeitsgestaltung hin gewandelt, was mit höheren Anforderungen an die sozialen Kompetenzen und die Selbstkompetenzen einhergeht. Weiter wird die Hochschulbildung mit dem Anspruch verbunden, dass die Studienabgänger und -abgängerinnen im beruflichen, aber auch gesellschaftlichen Kontext Verantwortung übernehmen, um persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen zu stiften oder persönliche oder gesellschaftliche Werte zu realisieren.

Als überfachliche Kompetenzen werden Kompetenzen bezeichnet, «die […] bei der Bewältigung von Herausforderungen im ‹wahren Leben› von Nutzen sein sollten und es […] ermöglichen sollten, ein individuell lebenswertes und sozial wertvolles Leben zu führen […] bzw. eine konstruktive soziale Rolle [zu] übernehmen» (Grob & Maag Merki, 2001, S. 12). Der Zusammenhang zwischen überfachlichen Kompetenzen und Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung wird in der Literatur kaum explizit gemacht. Wenn wir mit Person den Menschen als Individuum bezeichnen, kann die Persönlichkeit als die Person mit ihren charakteristischen kognitiven, emotionalen und verhältnismässigen Eigenschaften, die gestaltbar und veränderbar sind, bestimmt werden.[1] Charakteristisch für die Person sind ihre Persönlichkeitseigenschaften zum einen, weil sie die Person in dem Sinne charakterisieren, dass sie sich durch diese von den anderen Personen unterscheidet; zum anderen charakterisieren Persönlichkeitseigenschaften die Person als ihre typischen Dispositionen zum Denken, Fühlen und Handeln in unterschiedlichen Situationen. Die Persönlichkeitseigenschaften sind in dem Sinne typisch, dass sie sich wiederholt äussern und damit zeitlich stabil sind. Der klassische Begriff für die Summe dieser charakteristischen Eigenschaften einer Person ist Charakter. Gleichzeitig sind Persönlichkeitseigenschaften gestaltbar und veränderbar, wodurch die Entwicklung der Persönlichkeit erst möglich ist.[2] Der Rückgriff auf den Begriff der Persönlichkeit kann daher als allgemeinste Orientierung im Aspekt der stabilen und über Situationen konstanten, aber dennoch gestalt- und veränderbaren allgemeinen Dispositionen des Denkens, Fühlens und Handelns einer Person verstanden werden. Persönlichkeit kann damit als der allgemeine Begriff dafür gefasst werden, worin individuelle Veränderung durch Lern- und Bildungsprozesse erfolgt.

Ein substanzieller Begriff der Persönlichkeit bietet die Chance, die überfachlichen Kompetenzen, die in den Hochschulausbildungen angesprochen sind, genauer zu bestimmen. Hierfür besteht Bedarf, weil die überfachlichen Kompetenzen, die in der Hochschulausbildung gefördert werden sollen, die Offenheit bezüglich zukünftiger Entwicklungen kennzeichnet. Was Beschäftigungsfähigkeit, soziale und Selbstkompetenzen sowie die Verantwortung für sich und die Gesellschaft beinhalten, darüber geben diese Begriffe selbst keine Auskunft. Während die vorangehende Bestimmung des Persönlichkeitsbegriffs eine formale Bestimmung ist, identifiziert eine substanzielle Bestimmung der Persönlichkeit, welche Persönlichkeitseigenschaften für den Menschen wesentlich sind und damit entwickelt werden sollen.

Die psychologische Persönlichkeitstheorie erachte ich hierfür als wenig hilfreich, weil sie sich in ihrem Selbstverständnis als objektive Wissenschaft bewusst normativer Orientierungen enthält. So fällt die vielleicht bekannteste Persönlichkeitstheorie, das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (Big Five), kein Urteil darüber, wie die Ausprägungen von Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus zu beurteilen sind. Es interessieren vielmehr die Erklärungen der Entwicklung und Veränderung der Persönlichkeit in diesen fünf Faktoren (vgl. z.B. McCrae & Costa, 2003). Eine Ausnahme bildet die sogenannte positive Psychologie. In ihrem Grundlagenwerk Character Strengths and Virtues bestimmen Peterson und Seligman (2004) den Grundbegriff der Charakterstärke als Persönlichkeitseigenschaft normativ: «A strength contributes to various fulfillments that constitute the good life, for oneself and for others» (S. 17). Die positive Psychologie kann man als einen tugendethischen Ansatz verstehen, den ich hier für das Verständnis und die Präzisierung der Persönlichkeitsentwicklung zur Förderung der in der Hochschulbildung in Frage stehenden überfachlichen Kompetenzen vorschlage. Ich entwickle im Folgenden einen alternativen Ansatz in der philosophischen Tradition der Tugendethik, der sich nicht wie die positive Psychologie am psychisch guten Leben (psychological good life, Peterson & Seligman, 2004, S. 4) orientiert, sondern am guten Leben, das sich in Praxen konstituiert, auch wenn ich mich im Folgenden auch auf die hilfreiche Kategorisierung von Tugenden durch diese Autoren stützen werde. Der Ansatz der philosophischen Tugendethik erlaubt eine Antwort auf die Frage, welche Persönlichkeitseigenschaften sich wie fördern lassen, und er löst das Problem der fehlenden normativen Orientierung, das ich als Problem für die bestehenden Formen der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen erkenne.

Betrachtet man aktuelle Konzepte der Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen, fällt auf, dass sie keine normative Orientierung für die Persönlichkeitsentwicklung voraussetzen, sondern diese der ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit Normen und Werten übertragen. Gegenstand der Reflexion sind etwa Rollen, Kompetenzen, die Biografie, eigene Werte und Werteorientierungen oder Erkenntnisse und Herausforderungen in Entwicklungs- oder Bildungsprozessen. In der Beurteilung, wie spezifische Rollen, Kompetenzen, Lebensführungen und Lebensentwürfe, Werte und Werteorientierungen, Entwicklungs- und Bildungsprozesse zu beurteilen und welches hierin Herausforderungen sind, wird keine Orientierung gegeben und – abgesehen vom Diskurs, etwa für Hochschulausbildungen der Diskurs unter Studierenden oder zwischen Studierenden und Hochschullehrenden –, auch keine Orientierung, wie hier Orientierung zu gewinnen wäre. Selbstreflexion verbleibt in der Reflexion auf das Selbst, so wie es ist, und in einem Diskurs, der nur formale Bedingungen enthält und keine Werte oder Orientierungen inhaltlich auszeichnet.[3] In der notwendigen Wahl von Orientierungen ist die einzelne Person alleingelassen oder dem Austausch überlassen, für den es aber auch keine inhaltliche Orientierung gibt. Ich bestreite nicht, dass in solchen Settings normative Orientierungen tatsächlich thematisiert werden, dass Werte hinterfragt oder revidiert werden oder dass eine Verständigung auf zentrale Werte wie Demokratie, Würde oder Gerechtigkeit stattfindet. Und ich will hier auch keine grundsätzliche Kritik an diesen wertvollen und hilfreichen Formen von Reflexion üben, sondern auf deren Grenzen hinweisen und den Grund dieser Grenze erklären, um zu prüfen, ob die festgestellte normative Orientierungslosigkeit sich nicht begründet überschreiten lässt.

Der Grund für die Aussparung einer normativen Orientierung ist nachvollziehbar. Der Respekt vor der Autonomie der Person als das Recht auf Selbstbestimmung verbietet es, normative Orientierungen als Wertehaltungen von Personen zu bestimmen. In einer liberalen Gesellschaftsordnung gibt es keine verbindlichen Normen ausser den Normen zum Schutz der notwendigen Voraussetzungen für eine freiheitliche Ordnung. Diese betreffen ausdrücklich nicht die Werte, Haltungen, Gedanken und Überzeugungen der Person, sofern sie sich nicht in Verhalten und Handlungen äussern. Deswegen sind wir zurückhaltend, wenn es darum geht, zu bestimmen, welche Werte eine Person haben oder welchen Orientierungen sie folgen soll, solange sie nicht als gelebte Werte oder Orientierungen mit der gesellschaftlichen Ordnung in Konflikt geraten. Erst wenn wir uns einer Profession oder einer anderen Form von Gemeinschaft verpflichten, verpflichten wir uns auch auf deren Werte oder Normen, etwa in Form eines Berufskodex oder eines religiösen oder säkularen Gelübdes; im Rahmen einer freiheitlichen Ordnung aber immer unter der Bedingung der Freiwilligkeit der Unterwerfung unter solche Werte oder Normen. Diese Autonomie als Recht auf Selbstbestimmung ist indes selbst eine normative Setzung einer freiheitlichen Gesellschaft.

Nun kommen wir als aus Gründen handelnde Wesen nicht umhin, uns Orientierung zu geben. Der Kerngedanke der Selbstbestimmung, wofür die Autonomie als das Recht auf Selbstbestimmung die Voraussetzung ist, besteht nicht darin, dass wir keine Orientierung erhalten, sondern dass wir uns für Orientierungen im Rahmen einer kritischen Beurteilung selbst entscheiden müssen. Und Selbstbestimmung ist nur auf dem Hintergrund von begründeten Normen, Werten und Orientierungen möglich. Die Skepsis, dass solche nicht existieren, ist eine weitere Signatur unserer Zeit, die sich in relativistischen Thesen und Haltungen und in der Klage über einen Wertewandel oder gar einen Werteverlust äussert. Ich kann in diesem Rahmen diese Debatten nicht aufnehmen. Im folgenden tugendethischen Ansatz werde ich punktuell aufzeigen, wie begründete Orientierung ohne die Absage an eine freiheitliche Gesellschaft oder die Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung möglich ist.

Ich gehe vom Begriff der Persönlichkeit aus als dem allgemeinen Begriff dafür, worin individuelle Veränderung durch Lern- und Bildungsprozesse erfolgt, um überfachliche Kompetenzen für Hochschulausbildungen zu bestimmen, und schlage den tugendethischen Ansatz als Ansatz für eine normativ gehaltvolle Orientierung für die Persönlichkeitsentwicklung vor, woraus sich überfachliche Kompetenzen ableiten lassen. Denn Tugenden sind Persönlichkeitseigenschaften. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich am gelingenden Leben in Gemeinschaft orientieren und dieses realisieren. Das ist auch die Orientierung von überfachlichen Kompetenzen, wenn sie «bei der Bewältigung von Herausforderungen im ‹wahren Leben› von Nutzen sein sollten und es […] ermöglichen sollten, ein individuell lebenswertes und sozial wertvolles Leben zu führen […] bzw. eine konstruktive soziale Rolle [zu] übernehmen» (Grob & Maag Merki, 2001, S. 12).

Um einen konkreten Begriff der in Frage stehenden Tugenden zu geben, führe ich die Tugenden an, die in einer jüngeren Analyse gewonnen wurden. Peterson und Seligman (2004) leiten die folgenden sechs Tugenden als universell gut bewertete Persönlichkeitseigenschaften ab: Weisheit, Mut, Menschlichkeit oder Humanität, Gerechtigkeit, Mässigung und Transzendenz[4]. Diese Tugenden erfassen in abstrakter Form, was wir in unserem Alltag erkennen und beurteilen können, dass zum Beispiel eine Person Mut beweist, wenn sie sich wenige Jahre vor der Pension beruflich selbstständig macht, oder weise ist, wenn sie unterschiedliche Perspektiven in die Beurteilung einer Entscheidung einbringt und dann unter Beizug geeigneter Gesichtspunkte gut entscheidet oder gut berät. Es ist auch intuitiv einsichtig, dass Tugenden einen Beitrag zu einem gelingenden Leben leisten: Mässigung in Bezug auf Genussmittel ist der Gesundheit zuträglich und Gesundheit ist Voraussetzung und Aspekt eines gelingenden Lebens.

Lässt sich intuitiv ein Zusammenhang zwischen Tugenden und den überfachlichen Kompetenzen herstellen, wie sie in Hochschulausbildungen als Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden sollen? Ein Ausdruck von Weisheit ist die Freude am Lernen (Peterson & Seligman, 2004, Kap. 7). Wer Freude am Lernen hat und diese Stärke auch umgesetzt hat, besitzt eine gute motivationale Voraussetzung und die geeignete überfachliche Kompetenz, um sich neue Fachkompetenzen anzueignen. Für die Employability hält Teichler (2012) folgende Kompetenzen fest: allgemeine kognitive Kompetenzen, Arbeitsstile, generelle berufsrelevante Werthaltungen, spezifische berufliche Stile und Werthaltungen, Transferqualifikationen, soziokommunikative Kompetenzen, (Zusatz-)Qualifikationen, Fähigkeit zur Selbstorganisation, Fähigkeit zum Umgang mit dem Arbeitsmarkt und internationale Kompetenzen. Auch wenn sich nicht alle diese Kompetenzen als Charakterstärken verstehen lassen, ist wiederum intuitiv zu vermuten, dass die Tugend der Weisheit allgemeine kognitive Kompetenzen, die Tugend der Mässigung die Fähigkeit zur Selbstorganisation und die Tugend der Menschlichkeit soziokommunikative Kompetenzen beinhalten oder fördern. Schliesslich wird oft Citizenship als «Befähigung zur Teilhabe an Politik, Gesellschaft und Kultur» (Schubarth & Speck, 2014, S. 56f.) als Kompetenzziel der Hochschulbildung genannt. Citizenship in diesem Sinne ist nachvollziehbar und in der Klassifikation von Peterson & Seligman (2004, Kap. 16) ein Aspekt der Tugend der Gerechtigkeit.

Aristoteles unterscheidet eine weitere Tugend, die in der Klassifikation von Peterson und Seligman nicht vorkommt, die Phronesis. Phronesis kann annäherungsweise als praktische Klugheit übersetzt werden. Aristoteles bestimmt Phronesis als die Fähigkeit, das eigene Gute und das einem selbst Dienliche gut beurteilen und entsprechend Entscheidungen treffen zu können, und zwar nicht nur mit Bezug auf die jeweilige Entscheidungssituation, sondern in Bezug auf das gute Leben insgesamt (Aristoteles, Nikomachische Ethik, NE 1140a26–29). Die gute Entscheidung besteht in der richtigen Beurteilung, was wie und wann zu tun ist (NE 1142b28–29), damit Handeln gemäss der Tugend zum richtigen Zeitpunkt, gegenüber den richtigen Personen, zum geeigneten Zweck und in der richtigen Form erfolgt (NE 1106b21–23). Die Phronesis ist damit die Fähigkeit, den Einzelfall hinsichtlich der richtigen Handlung oder des richtigen Verhaltens zu beurteilen.

Damit sind Tugenden mit der Metatugend der Phronesis, die die Handlungsorientierung im Einzelfall leistet, zumindest prima facie ein geeigneter Kompetenzen-Passepartout für die in Frage stehenden überfachlichen Kompetenzen, die durch Hochschulbildung gefördert werden sollen. Und da Tugenden Charaktereigenschaften sind, handelt es sich bei der Entwicklung von überfachlichen Kompetenzen um Persönlichkeitsentwicklung. Der Ansatz der Tugendethik erweist sich damit als geeigneter Ansatz zur Entwicklung von überfachlichen Kompetenzen als Persönlichkeitsentwicklung.

Wie geschieht aber Persönlichkeitsentwicklung? Aristoteles erklärt Persönlichkeitsentwicklung als die Entwicklung von Tugenden durch Gewöhnung und Nachahmung von Beispielen tugendhaften Handelns (NE 1003b21–25). Ausserdem erkennt er die menschliche Fähigkeit der Reflexion als die Fähigkeit, unser Denken, Handeln und Fühlen wahrzunehmen: «Es gibt etwas, das wahrnimmt, was wir tun, denken oder fühlen» (Aristoteles, NE 1170a30–33). Die Reflexion in diesem präzisierten Sinn der bewussten Rückwendung auf die Äusserung der eigenen menschlichen Fähigkeiten ermöglicht die Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften, wie ich im Anschluss an den britisch-amerikanischen Philosophen Max Black (1909–1988) ausführen will. Black (1983, S. 104) arbeitet den Begriff der kritischen Selbstreflexion und deren ausgezeichnete anthropologische Bedeutung wie folgt heraus:

Well, what is distinctively and uniquely characteristic of a human being? I would reply (to start with the obvious): not merely consciousness, which is no doubt also present in lower animals, but critical self-consciousness – the capacity to know what we are doing, thinking, or feeling and to reflect critically about what we have done and propose to do.

Among the familiar aspects of such reflective consciousness, as it might be called, is the capacity, intermittently exercised, to understand and misunderstand what we are doing and to pass judgment on ourselves and others. Such critical and evaluative self-consciousness allows us some freedom to mold ourselves in our own images – to help ourselves become what we wish to be.

Reflexion als kritisches Selbstbewusstsein ist eine wesentliche Fähigkeit, über die wir Menschen verfügen. Und dieses reflexive Selbstbewusstsein hat als Gegenstand das, was wir tun, denken und fühlen. Kritische Selbstreflexion ist Entscheidungsfindung für eine Handlung oder die Beurteilung der getätigten Handlung. Kritische Selbstreflexion dient dem Treffen von guten Entscheidungen. Entscheidungsfindung ist vor allem dann angezeigt, wenn es sich um schwierige oder dilemmatische Entscheidungssituationen handelt. Die Beurteilung der getätigten Handlung kann der Vergewisserung über die Güte der getroffenen Entscheidung oder dem Lernen für künftige Entscheidungen dienen.

Black (ebd.) schreibt der kritischen Selbstreflexion wie selbstverständlich das Potenzial zu, die Persönlichkeit zu verändern: «Such critical and evaluative self-consciousness allows us some freedom to mold ourselves in our own images – to help ourselves become what we wish to be» (S. 104; Hervorhebungen hinzugefügt). Black behauptet die Möglichkeit der willentlichen Einflussnahme auf Persönlichkeitseigenschaften. Wie lässt sich dies genauer vorstellen? Der Wille ist in Anlehnung an Kant das Vermögen, sein Handeln nach seinen Vorstellungen zu bestimmen.[5] Diese Fähigkeit kann nicht bestritten werden; das würde ein Bestreiten des Handelns bedeuten. Wenn es Persönlichkeitsentwicklung gibt, die nicht auf Gewöhnung und Nachahmung beruht, dann kann sie nur in der kritischen Selbstreflexion als die Beurteilung, was wir tun, denken und fühlen sollen, bestehen. Ich behaupte also einen konzeptuellen und damit notwendigen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung als der willentlichen Einflussnahme auf die eigene Persönlichkeit und kritischer Selbstreflexion. Damit bestreite ich andere Einflussfaktoren auf die Persönlichkeit nicht; insbesondere in der Kindheit und Jugend ist die willentliche Entwicklung der Persönlichkeit noch wenig ausgeprägt. Aber hier steht nicht die Persönlichkeitsentwicklung als dasjenige, was einer Person passiert, in Frage, sondern wie sie diese beeinflussen und gestalten kann. Persönlichkeitsentwicklung in jungen Jahren erfolgt vornehmlich über Erziehung und Nachahmung. Auf dieser Grundlage kann die kritische Reflexion des Handelns, Denkens und Fühlens ansetzen.

In einem tugendethischen Ansatz zur Persönlichkeit, wie er hier entwickelt wurde, besteht Persönlichkeitsentwicklung in der kritischen Selbstreflexion des Handelns, Fühlens und Denkens in Orientierung an den Tugenden. Kritische Selbstreflexion bezieht sich idealtypisch auf Tugenden, weil es sich bei diesen um Dispositionen handelt, die sich typisch und nicht idiosynkratisch zufällig äussern, sodass sie sich durch Reflexion beurteilen und entwickeln lassen. Aristoteles hat diese Umsetzungsfähigkeit in unterschiedlichen Kontexten als die Tugend der Phronesis gefasst und theoretisiert, der Fähigkeit, das eigene Gute und das einem Dienliche in Bezug auf das gute Leben insgesamt zu beurteilen und entsprechend Entscheidungen zu treffen, was wie und wann und gegenüber wem zu tun ist.

Persönlichkeitsentwicklung als die Entwicklung von Tugenden und Phronesis zu vertreten, bedingt die Wirklichkeit von Tugenden und Phronesis. Die Wirklichkeit von Tugenden kann kaum bestritten werden.[6] Tugendbegriffe verwenden wir, um eigenes und fremdes Handeln und Verhalten zu verstehen und zu erklären; der Erfolg solchen Verstehens und Erklärens ist Evidenz für die Wirklichkeit der Tugenden als Charaktereigenschaften. Weiter bestehen valide Tests zur Messung von Tugenden wie zum Beispiel das Values in Action Inventory of Strengths (Peterson & Seligman, 2004, Kap. 28). Die Phronesis dagegen erscheint auf den ersten Blick als die These einer Leistung, die man sich von Tugenden gerne wünschte. Doch auch zu deren Messung wurden in jüngerer Zeit Instrumente entwickelt (Kristjánsson, Darnell, Flowers, Moller & Pollard, 2020; Kristjánsson & Pollard, 2021; Kristjánsson, 2021). Und ebenfalls ist die Reflexion unseres Handelns und Verhaltens Evidenz für die Existenz der Phronesis, insofern erstens Personen partikuläre Entscheidungen unter Abwägung geeigneter Gesichtspunkte treffen können und manche Personen dies besser können als andere, und insofern zweitens insbesondere Erfahrung zur Entwicklung dieser Fähigkeit beiträgt. Und schliesslich kann man das Konzept des professionellen Habitus als ein Konstrukt verstehen, das Phronesis in dem Sinne beinhaltet, dass der Habitus eine Disposition zur nicht regelgeleiteten Umsetzung von in Ausbildung und Praxis erworbenen Kompetenzen in partikulären Handlungssituationen ist (Becker-Lenz & Müller, 2009b, 2009a).

Ich möchte nun den Vorschlag, die Reflexion der Persönlichkeitsentwicklung an Tugenden zu orientieren, verstärken. Denn Tugenden allein enthalten keine Güter, wie sie für die Realisierung zum Beispiel von wertbegründeter Employability oder guter Citizenship vorausgesetzt werden. Gerechtigkeit als «civic strengths that underlie healthy community life» (Peterson & Seligman, 2004, S. 30) oder citizenship als «working well as a member of a group or team» (ebd.) bestimmen inhaltlich nicht, was eine gute Gesellschaft ist oder worin gute Kooperation in einem Team besteht.

Damit kommen gesellschaftliche Figurationen als Ressource für normative Orientierung in den Blick. Figurationen sind Individuen in ihren Formen des Zusammenlebens, in ihren gegenseitigen Orientierungen und Ausrichtungen. «Familien, Dörfer, Städte, Klassen, Industriesysteme, Stämme, Stadtstaaten, Feudalreiche, Nationalstaaten: dies alles sind Elias zufolge Verflechtungs-, also Beziehungserscheinungen, und werden von ihm als Figurationen bezeichnet» (Albert, 2013, S. 196). Was der soziologische Begriff der Figuration nicht enthält und damit nicht zu verstehen erlaubt, sind begründet werthafte Orientierungen in diesen Verflechtungs- und Beziehungserscheinungen.

Als solcher Anker für Orientierung werden in der Regel Werte vorgeschlagen. Doch Werte sind subjektive Haltungen, die genau eine solche kritisch geprüfte Orientierung nicht leisten können. Der Wertebegriff wurde im neunzehnten Jahrhundert als Ersatz für die normativ orientierenden Konzepte wie Moral, moralische Regeln, moralische Gebote und Verbote oder Tugenden eingeführt (Schnädelbach, 1983, Kap. 6). Wert ist, was von einer Person, Gruppe oder Gesellschaft positiv bewertet wird. Damit hat man sich im Interesse einer normativen Neutralität von der Bewertung der Werte abgehoben. Dies ist vielleicht das bis heute prägendste Erbe des Historismus.[7]

Worin eine solch normativ nicht neutralisierte Orientierung besteht, kann das Beispiel der mittelalterlichen Kunst vermitteln. Dilthey (1968, S. 57) hat die normative Orientierung der christlichen Kunst in brillanter Weise herausgearbeitet:

Der religiöse Gestaltenkreis der älteren christlichen Kunst hat seinen Mittelpunkt in dem leidenden Christus. An ihn schliessen sich Märtyrer, Heilige und Maria. Jede dieser Gestalten ist als Kultbild der Architektonik der Kirchen eingeordnet. Diese ist der Ausdruck des Bezuges zwischen der im eigentlichen Heiligtum der Kirche erscheinenden transzendenten Welt und dem Raum für die Gläubigen, welche sich ihr nähern wollen. Das Kultbild ist also der Ausdruck dieses Überirdischen, wie es sich in der Messe täglich opfert. So ist der sich opfernde, leidende Christus alsdann der die Kirche beherrschende, triumphierende, der ursprüngliche Hauptgegenstand des Kultus. Dies fordert, dass alle Züge des Leidens, der Vernichtung des Sinnlichen an dem gekreuzigten Körper, das Blut seiner Wunden ohne jede Rücksicht auf den künstlerischen Geschmack zum Ausdruck kommt.

Der Gehalt des christlichen Glaubens gibt der Kunst normative Orientierung. Die Architektonik der Kirche repräsentiert die christliche Ontologie und hat die Funktion, für die Gläubigen eine Verbindung zu dieser zu schaffen. Die Passion Christi bildet das zentrale Ereignis für den christlichen Glauben in seiner mittelalterlichen Ausformung. Der leidende Christus wird damit zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung im Gehalt des Leidens.

Eine solche theologische Überformung kann natürlich in der Moderne nicht mehr als universell gültige Orientierung dienen. Solche eine Gesellschaft einigenden Gründe für normative Orientierung existieren in liberalen Gesellschaften nicht mehr. Wir könnten uns mit dieser Diagnose der Situa­tion der Moderne arrangieren und müssten dann konzedieren, dass es keine Orientierung für eine kritische Selbstreflexion gibt. Es gibt aber den Mittelweg, die Selbstreflexion im Rahmen von Praxen zu verorten. Alasdair MacIntyre (2007, S. 187ff.) hat einen Begriff der Praxis entwickelt, der normative Orientierung enthält und diese kritisch entwickeln lässt, und er schreibt den Tugenden eine herausragende Funktion in Praxen zu.

By a «practice» I am going to mean any coherent and complex form of socially established cooperative human activity through which goods internal to that form of activity are realized in the course of trying to achieve those standards of excellence which are appropriate to, and partially constitutive of, that form of activity, with the result that human powers to achieve excellence, and human conceptions of the ends and goods involved, are systematically extended. (MacIntyre, 2007, S. 187)

Eine Praxis ist eine Figuration, weil es sich bei einer Praxis um eine komplexe Form gesellschaftlicher Kooperation handelt. Praxen sind auch darin Figurationen, dass sie sich (kritisch) weiterentwickeln lassen. Der Begriff der Praxis geht aber über den Begriff der Figuration hinaus, insofern eine Praxis intrinsische Güter enthält, die durch die Aktivität der Akteurinnen und Akteure realisiert und weiterentwickelt werden. Die Güter von Praxen sind intrinsisch, weil die Praxis selbst ein Gut ist und die Güter, die Praxen realisieren, in sich gut sind und keinem weiteren Zweck dienen. Ob es Praxen in diesem Sinne mit so bestimmten intrinsischen Gütern gibt, ist eine empirische Frage. Ich behaupte die folgenden Beispiele als anthropologisch oder zumindest für moderne Gesellschaften universelle Praxen in diesem Sinne:

sorgen für (care)

spielen

feiern

künstlerisch tätig sein

Musse üben

Freundschaft pflegen

eine Beziehung führen

reisen

führen (von Gruppen, Teams)

arbeiten

beruflich tätig sein

studieren

forschen

 

Aufgrund der hier in Frage stehenden Hochschulausbildung plausibilisiere ich den MacIntyre’schen Praxischarakter am Beispiel des Studierens. Zu studieren beschränkt sich nicht auf das Absolvieren eines an einer Hochschule institutionalisierten Curriculums. Dem Studieren geht eine Studienwahl voraus, wofür Begabungen, persönliche Interessen, eine wenn auch oft nur in Umrissen angestrebte berufliche Tätigkeit und ein mit dem Studienabschluss und der antizipierten beruflichen Tätigkeit verbundener sozialer Status orientierend sind. Das Realisieren von Begabungen, das Verfolgen von geprüften Interessen sind Güter, die Teil des Studierens sind, und damit für die Praxis des Studierens intrinsische Güter. Der gesellschaftliche Status des Studienabschlusses und der antizipierten beruflichen Tätigkeit sind für das Studieren extrinsische Güter. Eine Praxis muss aber nicht ausschliesslich intrinsische Güter verfolgen. Studieren besteht als Praxis im engeren Sinne in der Aneignung der Gehalte und Methoden einer wissenschaftlichen Disziplin. Diese Gehalte und Methoden stellen intrinsische Güter dar. Denn eine wissenschaftliche Disziplin verfolgt das methodische Verstehen und Erklären ihres jeweiligen Gegenstandes und dieser Gegenstand hat eine für den Menschen ausgezeichnete Bedeutung, wenn er Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin ist.[8]

Typisch für Praxen ist weiter, dass sie Tätigkeiten sind, die eine Fertigkeit beinhalten, die sich nicht auf eine standardisierbare Technik zur Erreichung eines Zieles reduzieren lässt, sondern deren Perfektionierung erlaubt. MacIntyre (2007) verwendet hierfür den Begriff der Exzellenz.

Die Funktion von Tugenden in Praxen bestimmt MacIntyre (2007, S. 191) wie folgt:

A virtue is an acquired human quality the possession and exercise of which tends to enable us to achieve those goods which are internal to practices and the lack of which effectively prevents us from achieving any such goods.

Am Beispiel der Praxis des Studierens erläutert und unter Verwendung der von Petersons und Seligmans kategorisierten Tugenden (vgl. weiter oben) beinhaltet Studieren offensichtlich die Ausbildung der Tugend der Weisheit mit den Aspekten von Kreativität, Neugier, Freude am Lernen und Offenheit. Studieren benötigt und entwickelt die Tugend des Mutes, weil das Genügen der Begabungen für das jeweilige Studium nicht im Voraus mit Sicherheit beurteilt werden kann, sondern in der Entwicklung der im Studium notwendigen Begabungen sich erweisen wird. Und auch die geprüften Interessen für die Inhalte des Studiums können sich erst im Studium als echte Interessen erweisen und werden ebenso durch das Studium weiterentwickelt und vertieft. Studieren erfolgt in der Gemeinschaft der Studierenden und Lehrenden, weshalb die Tugend der Menschlichkeit oder Humanität (in der Klassifikation von Peterson und Seligman, vgl. oben) entwickelt wird. Ebenso sind in einem Studium Fragen der Gerechtigkeit gegenwärtig und Mässigung ist eine zentrale Tugend in einem Studium, ohne dies hier genauer auszuführen.

Reflexion zur Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen, so der Vorschlag, besteht in der Reflexion von menschlichen Praxen im hier ausgeführten Sinne. Die Reflexion von Praxen enthält die Reflexion des tugendhaften Handelns. Die Tugenden als unterschiedlich ausgeprägte Persönlichkeitseigenschaften der Studierenden sind der unmittelbare Gegenstand der Persönlichkeitsentwicklung. Die in Praxen enthaltenen Güter bedürfen der expliziten Reflexion und Identifikation und dienen als Gegenstand der kritischen Beurteilung. Diese Fähigkeit ist die Entwicklung der Tugend der Phronesis. Sie ist die Fähigkeit zu bestimmen, was wie und wann zu tun ist (Aristoteles, NE 1142b28–29), damit Handeln gemäss der Tugend zum richtigen Zeitpunkt, gegenüber den richtigen Personen, zum geeigneten Zweck und in der richtigen Form erfolgt (NE 1106b21–23). Die genaue Analyse der Phronesis erlaubt es, Entscheidungen in Praxen zu reflektieren und für künftige Entscheidungen zu entwickeln. Eine solche Analyse für didaktische Zwecke ist noch ausstehend.

Ein didaktisch ausgearbeitetes Reflexionsmodell der Phronesis kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht präsentiert werden. Es besteht Forschungsbedarf hinsichtlich der Identifikation der für die Reflexion in einer Hochschulausbildung relevanten Praxen und der Analyse dieser Praxen selbst. Die Analyse der Praxen sollte insbesondere die intrinsischen Güter einer Praxis herausarbeiten und die in der Praxis geübten Tugenden spezifizieren, wie ich dies für das Beispiel des Studierens umrissen habe. Schliesslich kommt der Phronesis oder praktischen Klugheit eine herausragende Bedeutung zu. Für die Analyse des Konzepts der Phronesis bestehen Ansätze (Kristjánsson et al., 2020; Kristjánsson & Pollard, 2021; Kristjánsson, 2021). Die Praxen der Lehre und Forschung zeichnen sich hierbei als Reflexionsaufgabe für die Hochschule ab, weil Studieren an Hochschulen natürlich aufs Engste mit der Lehre und Forschung verbunden sind; wie ist jedoch nicht immer und zumindest kaum ausdrücklich klar. Damit erweist sich die anthropologische Bedeutung von Reflexion als kritische Selbstreflexion und es bestätigt sich, dass wir nicht für die (Hoch-)Schule, sondern für das Leben lernen (und lehren und forschen).

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(Berufs-)Biografische Selbstreflexion als transformatorischer Bildungsprozess in der akademischen Ausbildung pädagogischer Fachpersonen

Noëlle Behringer, Robert Langnickel und Pierre-Carl Link

Abstract

Professionalisierung kann als individueller Bildungsprozess verstanden werden, über den eine eigenständige berufliche Identität begründet und entwickelt wird. Nicht nur die Berufswahl, sondern auch die Ausübung des Berufs ereignet sich in Abhängigkeit unserer biografischen Erfahrungen. In pädagogischen Settings kommt dieser Umstand insbesondere deshalb zum Tragen, weil sich Fachpersonen mit ihrer ganzen Person in eine Beziehung zu den jungen Menschen begeben, in der biografische Erfahrungen einen wichtigen Resonanzboden für professionelles Handeln und den Habitus bilden. In Anlehnung an Kollers Verständnis von transformatorischen Bildungsprozessen wird aus einer psychodynamischen Perspektive heraus berufsbiografische Selbstreflexion als Strategie zur Persönlichkeitsentwicklung in der Hochschulausbildung ausgearbeitet. Damit wird vor allem ein Beitrag zum Verstehen von hochschulischen Reflexionsprozessen und einer Tiefenstruktur der Subjektbildung respektive Professionalisierung des Habitus und seiner Bildung vorgelegt, der auch unbewusste Prozesse berücksichtigt.

1Hinführung

Professionalisierung kann unter mindestens zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Zum einen in einem starken Sinne als ein dynamischer Prozess der Institutionalisierung hin zu einer Profession (Lempert, 1998) und zum anderen als individueller Bildungsprozess des Subjekts, über den eine eigenständige berufliche Identität begründet und entwickelt wird (Kraimer, 1994). Dieser Bildungsprozess in der hochschulischen Professionalisierungsphase pädagogischer Fachpersonen wird unter Bezug auf Koller (2018) als transformatorisch verstanden, genauer sind Bildungsprozesse eine «Transformation unbewusster Konstellationen» (Koller, 2015, S. 79). Diese individuelle Professionalisierungsperspektive fokussiert auf Biografie und Reflexivität, die «wiederum zur Persönlichkeitsentwicklung bei[trägt]» (Albers, 2019, S. 13). Biografiearbeit im Rahmen von Professionalisierungsstrategien meint in der Lesart von Helsper (2021) eine (berufs-)biografische Herausbildung von Wissensbeständen, Orientierungen, Motiven und Praxen als individuelle Voraussetzung für die Ermöglichung von Professionalität in bestehenden institutionellen Rahmungen.

Brake (2006), der die Hochschule als personenbezogene Sozialisationshilfe versteht, geht davon aus, dass neben dem Erwerb von Handlungskompetenz auf Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen und berufsspezifischen Methoden insbesondere die Ausbildung einer Reflexionskompetenz als Teil von Persönlichkeitsentwicklung ein zentrales Studienziel ist. Einen zentralen Bezugspunkt von akademischen (Aus-)Bildungsprozessen an Hochschulen muss daher, so die These, das Eröffnen von gruppalen Sprechräumen zur Reflexion (un-)bewusster biografischer Dynamiken darstellen. In diesen Räumen kann Persönlichkeitsbildung im Sinne der emanzipatorischen Befreiung von selbst erzeugten und soziokulturell bedingten psychischen Abhängigkeiten stattfinden (Warsitz, 2006).

Der Beitrag diskutiert diese These unter disziplinären, professionsbezogenen sowie emanzipationsdiskursiven Aspekten. Er geht der Frage nach, welche Bedeutung biografischer Selbstreflexion in der akademischen Ausbildung pädagogischer Fachpersonen zukommt und wie diese didaktisch umgesetzt werden kann.

2Biografische Selbstreflexion als Teil der Persönlichkeitsentwicklung