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In der Pflege betagter Menschen werden Pflegende teilweise mit Bewohnerinnen und Bewohnern konfrontiert, die Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Praxisbezogen und leicht verständlich zeigt das Buch Möglichkeiten auf, wie diesen unkompliziert und rasch geholfen werden kann. Das bringt Entlastung für die Betroffenen und deren Umfeld. Das aus zwölf Schwerpunkten bestehende Konzept wird während der Pflege und dem alltäglichen Umgang mit betagten Menschen umgesetzt. Dabei werden weniger die Verhaltensauffälligkeiten beachtet, sondern mehr die Bedürfnisse, die sich hinter diesen verstecken. Das Konzept wurde in der Pflege betagter Menschen entwickelt und hat sich in der Praxis vielfach bewährt.
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Seitenzahl: 173
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Die Autorin
Theres Bausch-Walther ist Krankenschwester für psychiatrische Pflege und arbeitete als Stationsleiterin in der Pflege betagter Menschen. Sie erteilte Kurse und Praxisbegleitungen zum Thema »Betagte Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten«. Sie lebt in der Schweiz.
Theres Bausch-Walther mit Bewohnerin
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Piktogramme
Fallbeispiel
Merke/Wichtig
Definition
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1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033800-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033801-2
epub: ISBN 978-3-17-033802-9
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Wenn ich es nicht selber erlebt hätte, würde ich es nicht glauben. Ich war all die Jahre immer wieder überrascht, dass oft ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten bei betagten Menschen während der alltäglichen Pflege wirklich rasch und unkompliziert aufgefangen werden können.
Nach einer längeren Pause in der ich ausschließlich Hausfrau und Mutter war, stieg ich wieder in den Beruf als Krankenschwester psychiatrischer Krankenpflege ein. Ich wollte eigentlich nur zum Wiedereinstieg mit betagten Menschen arbeiten, entdeckte aber bald, wie interessant der Umgang mit diesen Menschen sein kann. Ich nahm die Herausforderung gerne an, bei Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten einen hilfreichen Weg zu finden, damit das für sie und ihre Umgebung belastende Verhalten aufgefangen werden kann.
Besonders in einem psychiatrischen Krankenheim, in dem ich die Stationsleitung übernahm, wurden mein Team und ich sehr gefordert. Zunehmend wurden in unsere Alters-Psychiatrische Abteilung auch Bewohnerinnen und Bewohner vorübergehend zur Krisenintervention verlegt. Damit die langfristig in der Abteilung wohnenden Menschen nicht durch die Patienten, welche in einer kritischen Phase vorübergehend bei uns waren, beeinträchtigt wurden, waren wir Pflegende darauf angewiesen, rasch greifende individuelle Umgangsformen mit den einzelnen Personen zu finden.
Wir konnten beobachten, dass sich bestimmte Verhaltensmuster wiederholen. Mit regelmäßiger, gezielt empathischer Pflege und empathischem Umgang, konnte belastendes Verhalten rasch und ohne vermehrten Zeitaufwand im Vergleich zu der herkömmlichen Pflege aufgefangen werden. Das war wichtig, denn für die Kriseninterventionen stand uns kein erweiterter Zeitrahmen zur Verfügung. So entstand ein praxisnahes Pflegekonzept, das sich mit der Zeit zunehmend weiterentwickelte und vielfach bewährt hat.
Später erteilte ich über viele Jahre institutionsinterne Kurse und Praxisbegleitungen zum Thema: »Betagte Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten«. Häufig führte ich dabei die Pflege von verhaltensauffälligen Bewohnerinnen oder Bewohnern selber aus, sodass drei bis vier Pflegende im Hintergrund ganz direkt beobachten konnten, wie ich die Empathische Pflege umsetzte.
Das konnte ich nur so anbieten, weil mein Konzept wirklich rasch und unkompliziert positive Veränderungen bei den betroffenen betagten Menschen erbringt.
Bei der heutigen demografischen Altersentwicklung wird erwartet, dass die Zahl pflegebedürftiger, auch dementer Menschen enorm zunehmen wird. Darunter sind auch Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten. Wir brauchen ein Konzept, wie es in diesem Buch vorgestellt wird.
Rüti ZH, Schweiz im April 2018
Theres Bausch-Walther
1 Einleitung
1.1 Beispiel aus der Praxis
1.2 Grundsätzliches und Begriffe
2 Ausgangslage
2.1 Verluste
2.2 Vergangenes und Gegenwärtiges
2.3 Bedürfnisse
2.4 Lassen Bewohnerinnen es zu
3 Empathie
4 Die 12 Schwerpunkte der Emp-Pflege
4.1 Empathischer Kontakt
4.1.1 Augenkontakt
4.2 Wahrnehmen der Stimmung
4.2.1 Die Bewohnerin fühlt sich angesprochen
4.3 Pflege zu Zweit
4.4 Führung übernehmen
4.5 Sich verbünden
4.6 Mehrdeutige Antworten
4.7 Anerkennen, Nachfragen
4.7.1 Anerkennen, Nachfragen bei desorientierten Menschen
4.8 Einladen statt anleiten
4.9 Auf Äußerungen eingehen
4.9.1 Auf Äußerungen eingehen bei desorientierten Menschen
4.10 Drei-Sekunden-Verzögerung
4.11 Konzentrierte Zuwendung
4.11.1 Beiläufige Blickkontakte
4.11.2 Beiläufige Blickkontakte im alltäglichen Leben
4.12 Alleinsein überbrücken
4.13 Zusammenfassung der 12 Schwerpunkte
5 Die passenden Schwerpunkte finden
5.1 Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe
5.2 Mehr als erwartet
6 Grenzen der Emp-Pflege
7 Wenn die passenden Schwerpunkte nicht gefunden werden
8 Sie haben Experten unter sich
9 Den Willen betagter, auch dementer Menschen respektieren
10 Medikamente optimal einsetzen
11 Bildung eines Emp-Teams
12 Anmerkungen
13 Beglaubigte Berichte
Stichwortverzeichnis
Dank
Empathie (tiefes Einfühlen) ist die Grundlage des Konzeptes Empathische Pflege, das den Ausführungen dieses Buches zugrunde liegt. Um es vorweg zu nehmen: es gelingt wohl niemandem, ununterbrochen empathisch zu sein. Wenn es in der Pflege und im alltäglichen Umgang mit betagten Menschen immer wieder gelingt, gezielt empathisch vorzugehen, kann sich rasch eine befriedigende Pflegesituation für die betroffene Bewohnerin, den betroffenen Bewohner und für die Pflegeperson ergeben.
Die Erläuterung meines Konzepts Empathische Pflege möchte ich mit einem einfachen Beispiel beginnen. Es werden noch viele Beispiele folgen.
Frau Bopp1 ist dement in fortgeschrittenem Stadium, in ihre eigene Welt versunken und vollumfänglich auf die Hilfe der Pflegenden angewiesen. Bei der Pflege versteht sie oft nicht, was mit ihr passiert, verkrampft sich und jammert weinerlich.
Eine Pflegeperson, welche mit dem hier vorliegenden Konzept vertraut ist, wird hinzugezogen. Sie nimmt den verlorenen Blick von Frau Bopp wahr und tritt von vorne ins Blickfeld, sucht Augenkontakt und spricht fragend den Namen von Frau Bopp aus. (Warum der Name fragend ausgesprochen werden sollte, wird später erläutert; Kap. 4.1, Empathischer Kontakt.) Frau Bopp reagiert nicht und blickt weiterhin ins Leere. Die Pflegeperson wiederholt das Vorgehen und berührt dabei Frau Bopp am Oberarm. Die Bewohnerin wendet den Kopf ein wenig, es entsteht aber immer noch kein Augenkontakt. Noch einmal spricht die Pflegende fragend den Namen von Frau Bopp aus und berührt sie erneut am Oberarm. Jetzt erwidert diese den Blick.
Diese sorgfältige und gezielte Kontaktnahme hat weniger als eine Minute gedauert. Für die demente Frau macht es aber einen riesigen Unterschied, ob sie mindestens ansatzweise verstehen kann, dass da jemand ist, der etwas von ihr möchte. Ohne diesen Kontakt ist sie von einer Pflegehandlung überrumpelt.
Die Pflegeperson redet ruhig mit Frau Bopp und beginnt mit der Pflege. Dabei bleibt sie so oft wie möglich im Augenkontakt. Sie erwartet nicht, dass die Bewohnerin ihre Worte versteht. Die ruhige Stimme und vor allem der häufige Augenkontakt ermöglichen es aber, dass der Kontakt zwischen den beiden mindestens teilweise aufrechterhalten bleibt. Frau Bopp ist so weniger in ihrer Isolation versunken und fühlt sich dadurch auch weniger überrascht von den Pflegehandlungen. Die Pflegende arbeitet zügig (nicht hektisch), denn Zögern würde die Bewohnerin nur verunsichern. Die Momente, um erneut Augenkontakt herzustellen, nimmt sich die Pflegeperson jedoch wiederholt.
Beim Drehen verkrampft sich Frau Bopp in der Regel stark und jammert laut. Darum vergewissert sich die Pflegeperson, dass der Augenkontakt in diesem Moment wirklich vorhanden ist, zählt »1 – 2 – 3« und dreht die Bewohnerin. Das Zählen wirkt von der Stimme her wie eine Aufforderung: Vorsicht, es geschieht etwas. Damit kann die mögliche Sorge von Frau Bopp, beim Drehen gestoßen zu werden, teilweise aufgefangen werden.
Frau Bopp verkrampft sich jetzt doch. Ihre (nicht verständlichen) Worte klingen weinerlich, aber ihre Reaktion auf das Drehen ist nicht so ausgeprägt wie sonst. Die Pflegende streichelt sie kurz am Oberarm und beruhigt sie: »Frau Bopp, ich bin bei Ihnen«. Es ist die ruhige Stimme, welche dabei wichtig ist, nicht der Inhalt der Worte. Dann verrichtet sie zügig die Pflege von Rücken und Gesäß. Das Drehen ist oft einer der schwierigsten Momente in der Pflege von desorientierten Menschen. Als Frau Bopp wieder auf dem Rücken liegt, nimmt die Pflegeperson darum erneut Augenkontakt mit der Betroffenen auf, wie am Anfang beschrieben. Auch bei der Pflege der Beine sucht sie Augenkontakt. Es ist ja möglich, die Beine einzucremen und dabei ins Gesicht der Bewohnerin zu schauen.
Frau Bopp hat sich bei dieser Pflege zunehmend entspannt und einige Male gelächelt; ein großer Unterschied zu dem sonst verkrampften, jammernden Verhalten. Das ist natürlich auch für die Pflegende befriedigend.
Das Suchen des Augenkontaktes, die gezielten Berührungen zwischendurch und die ruhige Art der Pflege können den Eindruck erwecken, dass die Pflege in dieser Art besonders viel Zeit in Anspruch nimmt. Dem ist nicht so. Die Bewohnerin hat sich wesentlich weniger verkrampft. Das erspart auch Zeit. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass dieses Pflegen keine zusätzliche Zeit in Anspruch nahm.
Diesem ersten Beispiel werden noch viele folgen, mit jeweils unterschiedlichen, zum Teil schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten.
• Begriffe, die für dieses Konzept entwickelt wurden und im vorliegenden Buch verwendet werden, sind jeweils kursiv gedruckt, ebenso wie besonders wichtige Aussagen.
• Das Konzept wird in diesem Buch: Empathische Pflege nach Bausch Theres genannt und wird abgekürzt mit: Emp-Pflege nach bat, oft nur Emp-Pflege.
• Pflegeperson kürze ich wie üblich mit PP ab.
Es sind mehrheitlich Frauen, die in Institutionen für betagte Menschen wohnen und sie werden auch mehrheitlich von Frauen gepflegt und betreut. Darum habe ich beim Schreiben die weibliche Form gewählt. Selbstverständlich sind auch männliche Personen damit gemeint.
In dieser Dokumentation sind zahlreiche Beispiele aus der Praxis beschrieben. Einige Berichte (in der zweiten Hälfte des Buches) habe ich von den entsprechenden Institutionen beglaubigen lassen. Sie sind gekennzeichnet mit: Beglaubigte Berichte. Die Institutionen, in welchen diese Ereignisse stattgefunden haben, sind am Schluss des Buches aufgelistet (Kap. 13).
Die Daten sind so abgeändert, dass die Personen nicht erkannt werden können. Die Pflegesituationen und die Maßnahmen der Empathischen Pflege sind aber unverändert aus dem Pflegealltag beschrieben.
Alle betagten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie in den Genuss der Emp-Pflege kommen. Verhaltensauffällige und verwirrte Menschen sind besonders auf ein solches Konzept angewiesen.
Die in diesem Buch vorgestellten 12 Schwerpunkte der Emp-Pflege sind zum Teil sehr einfach, und es mag zuerst unwahrscheinlich klingen, dass damit Verhaltensauffälligkeiten wirklich aufgefangen werden können. Die beglaubigten Berichte in diesem Buch dürften jedoch überzeugen. Ausschlaggebend sind die empathische (einfühlende) Haltung und dass die passenden Schwerpunkte gefunden werden.
Es ist für betagte Menschen (auch für geistig sehr abgebaute) entscheidend wichtig, dass die Pflegenden deren Gefühle wie Angst, Verunsicherung, Wertlosigkeit, Wut usw. wahrnehmen. In Praxisbegleitungen habe ich immer wieder miterlebt, dass vor allem bei der Körperpflege diese belastenden Gefühle zum Tragen kommen.
Nicht so bei der Empathischen Pflege nach bat. Der alltägliche Umgang und die Körperpflege werden in der Emp-Pflege als ideale Möglichkeit genutzt, belastende Gefühle aufzufangen und der betreffenden Person im Laufe der Pflege Werte zu vermitteln, wie Selbstwertgefühl, Sicherheit, sinnvolles Dasein usw. Ich wiederhole, es mag unwahrscheinlich erscheinen, dass vor allem der alltägliche Umgang und die Körperpflege dazu genutzt werden können, Verhaltensauffälligkeiten rasch und unkompliziert aufzufangen. Dieses Buch wird diese Möglichkeiten jedoch aufzeigen.
Für betagte Bewohnerinnen mit Verhaltensauffälligkeiten ist es wichtig, dass die Emp-Pflege regelmäßig (nicht zwingend täglich, jedoch fünf Mal in der Woche) gezielt angewendet wird.
Es hat sich bewährt, wenn in einer Abteilung ein Emp-Team von drei bis vier einfühlenden und belastbaren Pflegenden gebildet wird. Diese übernehmen abwechslungsweise die Pflege von bestimmten verhaltensauffälligen Bewohnerinnen.
Siehe auch Bildung eines Emp-Teams (Kap. 11).
Das Konzept wird während der alltäglichen Pflege und dem alltäglichen Umgang umgesetzt. Die Erfahrung zeigt, dass mit keinem vermehrten Zeitaufwand im Vergleich zu der herkömmlichen Pflege gerechnet werden muss.
Die Zeitfrage wird in dieser Dokumentation oft erwähnt aus der Überzeugung heraus, dass sich ein Pflegekonzept vor allem dann durchsetzen kann, wenn es keinen vermehrten Zeitaufwand voraussetzt.
1 Name geändert
Bewohnerinnen, die in einer Institution für betagte Menschen leben, haben viele Verluste hinter sich. Der Beruf musste aufgegeben werden, Hobbys wie Wandern und Reisen wurden immer weniger möglich. Die schwere Erkrankung oder der Tod von Verwandten und Freunden musste miterlebt werden. Schließlich musste das eigene Zuhause aufgegeben werden. Die eventuelle Trennung von einem Haustier hinterlässt ebenfalls schmerzliche Lücken.
Der Rücken meldet sich schon bei geringen Belastungen oder die schmerzenden Gelenke machen immer mehr zu schaffen.
So viele Verluste! Aber das wohl Schlimmste kommt oft noch. Am meisten Angst macht es betagten Menschen, wenn sie realisieren, dass sie immer mehr vergessen, die einfachsten Gegenstände dauernd suchen müssen und nichts mehr reibungslos klappt. Diese Menschen realisieren, dass sie die Kontrolle über sich selber verlieren.
Frau Gehrig kommt in ein Alters- und Pflegeheim im mittleren Stadium ihrer Demenz. Teilweise ist sie noch orientiert, oft lebt sie aber in ihrer eigenen Welt. Durch genaues Hinhören konnte eine Situation aus ihrer Sicht evaluiert werden:
Frau Gehrig erwacht aus tiefem Schlaf. Sie überlegt (bzw. ihre nur zum Teil verständlichen Worte und Gesten ergeben Folgendes): »Warum ist es so hell, ich lasse doch immer die Rollläden herunter? … Und wo sind denn meine Vorhänge? Diese sind ja gelb!«
Suchend schaut sie im Zimmer umher. »Das ist der Gipfel, da liegt ein fremder Mensch in meinem Zimmer. So eine Frechheit!« Erschrocken schüttelt sie den Kopf. Dann liegt sie einen Moment lang ruhig da, beginnt aber bald wieder zu reden.
»Ach so, ich bin ja nicht zu Hause, ich bin …??? … Ja, wo bin ich eigentlich??? … Bin ich im Krankenhaus oder bin ich zur Erholung hier??? … Aber es geht mir ja schon besser. Heute gehe ich nach Hause. … Ich rufe Brigitte (die Tochter) an.« Frau Gehrig greift mit der Hand neben das Bett, tastet suchend umher.
»Wo ist denn die Kommode mit dem Telefon, sie war doch immer neben dem Bett? … Alles ist durcheinander … Wenigstens lege ich den Schlüssel bereit, damit ich ihn dann gleich zur Hand habe.« Sie sucht unter dem Kissen und unter der Bettdecke, findet aber nichts. »Nein, wo ist jetzt der Schlüssel? Es ist zum Verzweifeln!« Erneut schüttelt sie seufzend den Kopf.
Es kann hilfreich sein, eine Bewohnerin einige Minuten lang zu beobachten, um ihr gezielt helfen zu können. Mit wenig Übung gelingt es aber nach einigen Augenblicken, die Stimmung einer Bewohnerin wahrzunehmen und dementsprechend auf sie zuzugehen, wie später in diesem Buch beschrieben wird.
Es ist nicht verwunderlich, wenn Menschen, die sich so fühlen wie Frau Gehrig im Beispiel oben, oft aufgebracht sind. Vielleicht schimpfen sie viel, um den Frust loszuwerden oder beschuldigen andere, ihr Kleid gestohlen zu haben, das sie so liebten, das aber schon lange nicht mehr vorhanden ist.
Menschen in dieser Phase sind auf einen verständnisvollen, empathischen Umgang angewiesen. Die 12 Schwerpunkte, welche in diesem Buch beschrieben sind, werden das unterstützen.
Ich gehe davon aus, dass alle Menschen ähnliche Grundbedürfnisse haben, nämlich:
• Wertschätzung
• Ernst-genommen-Werden
• Selbstwertgefühl
• Selbstbestimmung
• Sicherheit
• sinnvolles Dasein
Es gibt viele Gründe, warum Menschen Mankos in einigen dieser Bedürfnisse aufweisen. Sehr oft hat das mit Umständen, die sich in ihren Leben ergeben haben, zu tun. Auch reagieren verschiedene Menschen auf dieselben Umstände sehr unterschiedlich.
Es ist oft nicht möglich und aus meiner Sicht auch nicht sehr wesentlich, bei hochbetagten Menschen die Gründe von Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen. Viel wichtiger scheint mir das Verständnis der Betreuenden, dass sich hinter der Verhaltensauffälligkeit ein bestimmtes Bedürfnis versteckt. Der Unterschied zu früheren Lebensabschnitten ist, dass hochbetagte Menschen (besonders mit beginnender Demenz) kaum mehr die Möglichkeit haben, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und der Reaktion der Mitmenschen zu erkennen.
Dafür sind sie offener, es anzunehmen, wenn Mitmenschen (z. B. Pflegende) auf ihre Bedürfnisse eingehen, welche sich hinter ihren Verhaltensauffälligkeiten verbergen.
In einer Praxisbegleitung lerne ich an einem Tag zwei sehr verwirrte Frauen kennen. Beide reden vorwiegend in aneinandergehängten Silben, die keinen erkennbaren Zusammenhang ergeben (Neuwortbildung). Beide wehren sich massiv verbal und tätlich gegen die Pflege.
In der Emp-Pflege bestimmt nicht die Verhaltensweise einer pflegebedürftigen Person (in diesem Beispiel die tätliche Abwehr) das Vorgehen in der Pflege, sondern die Bedürfnisse, die sich hinter diesem Verhalten verbergen.
Bei der ersten Frau zeigt die Körpersprache Unsicherheit und Verkrampfung. Im Tonfall sind klagende und weinerliche Laute zu hören. Einzelne Worte, die verstanden werden können, bestätigen diese Beobachtung: »Ich weiss nicht … wo ist … nein, das …« usw.
Bei der Pflege scheint diese Frau nicht zu verstehen, was mit ihr passiert, was sie sehr verunsichert. Sie braucht Sicherheit und Bestätigung. Das scheinen ihre momentanen Bedürfnisse zu sein.
Bei der zweiten Person, welche die gleichen Verhaltensauffälligkeiten zeigt wie die erste Bewohnerin, kann aus der Körpersprache Abwehr und aus dem Tonfall Empörung und Ärger wahrgenommen werden. Sie scheint nicht zu erkennen, dass sie Hilfe braucht und findet es eine Frechheit, dass etwas an ihr gemacht wird, was ihre Privatsache ist. Sie braucht Wertschätzung und möchte ernst genommen werden.
Das gleiche Verhalten gründet also auf ganz verschiedenen Bedürfnissen.
Fordernde Menschen, denen es die Pflegeperson (in der Folge PP) kaum recht machen kann, haben oft das tiefe Bedürfnis, ernst genommen zu werden und Wertschätzung zu erfahren. Mit ihren Forderungen, die an Schikane grenzen können, verhindern sie häufig genau das, was sie brauchen würden.
Erfahren diese Menschen, dass jemand wirklich mit Empathie auf ihre Bedürfnisse eingeht (die sie zwar in sich tragen, aber gar nicht bewusst formulieren können), ist ihr unbewusstes Ziel erreicht.
Betagte Menschen können Verhaltensauffälligkeiten erstaunlich schnell ablegen, wenn sie Werte erfahren, die sie unbewusst suchen.
Ich kann sehr gut verstehen, wenn diese Aussage Stirnrunzeln auslöst.
Wie oft haben PP mir in Praxisbegleitungen berichtet, dass sie bei Frau X oder Herrn Y immer wieder versucht haben, auf deren vielfältigen Wünsche einzugehen. Die Betroffenen seien danach aber kein bisschen zufriedener gewesen. Meine Antwort war jeweils : »Angenommen, Sie erfüllen alle Wünsche, die solche Bewohnerinnen äußern, (was ja aus Zeitgründen kaum möglich ist), wäre die betroffene Person danach zufrieden?« Die Pflegenden sind sich mit mir einig, ein solches Verhalten würde diese Menschen nicht zufriedenstellen. Und doch ist es möglich, Bewohnerinnen mit sehr vielen Wünschen und Forderungen während der alltäglichen Pflege und dem alltäglichen Umgang, Zufriedenheit zu vermitteln und das ohne vermehrten Zeitaufwand.
Zur Veranschaulichung möchte ich die Pflege während einer Praxisbegleitung beschreiben, wie ich das bei den Erklärungen der verschiedenen Schwerpunkte in der Folge immer wieder tun werde.
Frau Leitner ist orientiert und teilweise gelähmt. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen und hat viele Sonderwünsche. Ich informiere sie, dass ich heute mit zwei weiteren PP bei ihrer Pflege im Hintergrund anwesend sein werde, dies wegen einer Weiterbildung. Damit ist Frau Leitner einverstanden. Wir im Hintergrund verhalten uns ruhig, nehmen keinen Blickkontakt zu der Bewohnerin auf und setzen uns, weil das diskreter wirkt, als wenn drei Personen im Raum stehen. So sind die Pflegende und die Bewohnerin möglichst ungestört.
Die PP ist freundlich und versucht, so gut es geht, auf die vielen Wünsche von Frau Leitner einzugehen. Es scheint aber für beide keine zufriedenstellende Situation zu sein. Die Bemühungen der Pflegenden scheinen in der Luft zu verpuffen.
Für die Oberkörperpflege wird Frau Leitner mobilisiert, was zu zweit gemacht wird. Hier kann ich mithelfen. Danach übernehme ich die weitere Pflege. Ich kann ruhig und wirklich empathisch auf die verschiedenen Wünsche der Bewohnerin eingehen, denn ich weiß, sollte ich an meine Grenzen stoßen, werde ich diese auch signalisieren.
Frau Leitner kann ein wenig in der Pflege mithelfen, trotzdem leite ich sie nicht an, das Gesicht selber zu waschen, sondern lasse ihr die Wahl. Erfahrungsgemäß gehe ich davon aus, dass Bewohnerinnen, wenn sie sich gut fühlen, von sich aus aktiver werden. Ich frage also: »Möchten Sie das Gesicht selber waschen?« Frau Leitner verneint und sagt auch gleich, wie sie es haben will: »Für das Gesicht soll der Waschlappen nur wenig nass sein.«
Ich kann diese Aussage bestätigen: »Sie mögen es nicht, wenn sie ganz nass sind im Gesicht.«
Frau Leitner meint empört: »Nein, wegen dem Tropfen.«
»Ach so«, antworte ich. Ich drücke den Waschlappen so aus, dass sie es sehen kann und frage, ob es so recht sei. Damit ist sie zufrieden, aber die nächste Forderung ist schon da:
»Im Gesicht diese Creme und nur ganz wenig.«
Ich möchte ihr zeigen, dass ich sie wirklich ernst nehme, gebe wenig Creme auf die Hand und frage, ob das so recht sei.
Frau Leitner: »Ja, aber nur Wangen und Stirn eincremen, nicht um die Augen.«