Pfuffel - Baby - Peng - Johannes Reichert - E-Book

Pfuffel - Baby - Peng E-Book

Johannes Reichert

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Beschreibung

Wir schrieben die 1980er. Der Oberschlunzgau war noch nicht richtig zubetoniert, die Polizei hieß immer noch Gendarmerie und unsere Dörfler waren speziell. Das machte die Gebirgsdynamik, das raue Klima zwischen Schatt- und Sonnseite, der Westwind und natürlich der Alkohol. Man alterte rasch, reifer wurde man selbstverständlich nicht. Und für so manchen Jungspund war ein Jahr Bitterbach wie ein Hundejahr. Die hier erzählten Geschichtchen zeichnen die Höhepunkte einer nachdenklich stimmenden Serie von Tiefpunkten nach. Sowas konnte nur bei uns passieren.

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INHALT

PFUFFEL

BABY

PENG

PFUFFEL

"Es ist ein Brauch von Alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör."

. . . . . Wilhelm Busch

Vortrag

Man muss jetzt nicht über Flugreisen diskutieren, die einen Tag drastisch dehnen oder verkürzen können. Es geht hier um den ganz normalen Tag. Ohne Flugzeug.

Also gut. Der Tag ist 24 Stunden lang. Zweimal im Leben ist das anders. Bei der Geburt und beim Tod. Subjektiv betrachtet.

Der Tag ist 24 Stunden lang, aber unterschiedlich breit. In seiner Breite liegen die Geschichten. Eine davon hatte ich im Bitterbach der späten Achtziger Jahre erlebt . . . . .

Entschluss

So ein sonniger Sommersonntag damals im Oberschlunzgau, Kaiserwetter in Königsblau. Mein Freund Mirlinger, der die letzten Jahre am Pannenstreifen des Lebens unterwegs war, hatte mir am Vorabend vom Leidensweg der kleinen Gabi berichtet. Überaus liebenswert sei sie. Feinfühlig, arm, gotterbärmlich arm und gerade an diesem Wochenende sechzehn Jahre alt geworden. Gabi wäre wie ein Kind für ihn, jung, blutjung und so bildhübsch. Eine schlimme Erkrankung hätte sie an den Rollstuhl gefesselt, den sie wohl nie mehr wieder verlassen würde. "Irgend a deppate Muskelgschicht", deutete er an. Ihre Beine wären ganz dünn, wenn man das "Kind" berühre, müsste man aufpassen, dass man ihm nichts bräche. Überhaupt dürfe man Gabi nur ganz zart berühren. Ein leiser Schauer durchfuhr ihn bei diesen Worten. Die Beine wären an den Rollstuhl fixiert, sonst würden sie herumbaumeln, herumschlenkern, Gott sei bei uns! Dabei wäre sie so sehr hübsch, ihr Gesichtchen wie das einer Putte, einem Blas-Engerl gleich!

Dies war der Moment, bei dem erste Zweifel in mir hochkamen.

Der Mirlinger konnte bereits auf einige Kilometer auf seinen abgewetzten Reifen verweisen. Er war um die Dreißig, richtig gut abgerockt, gezeichnet vom Alkohol, der ihn gnadenlos durch den Tag gängelte. Der kanisterweise abgetrunkene Fusel hatte schon ganze Arbeit geleistet und ihm eine veritable Wampe verpasst.

"I hob koane Probleme mitn Bier!", schrie er, wenn er keines hatte. Und als ich einmal nachfragte, warum er eigentlich ununterbrochen welches in sich hineinschütten würde, antwortete er verschmitzt: "Bier mocht koane Rotweinfleck!" Wenn aber einmal kein Alkohol zur Verfügung stand, war er unleidlich und grantig, bis er es geschafft hatte, irgendwie, und wenn er Kölnischwasser hätte saufen müssen. Bis es erneut glimmerte und der außer Tritt geratene Biorhythmus wiederhergestellt schien. Mirlinger war übers Jahr betrachtet bedeutend öfter voll, als der Mond über Bitterbach. Er war an den Alkohol gefesselt, wie die kleine Gabi an ihren Rollstuhl.

Sein Wesen schwankend wie der Gang, sein Äußeres nicht gerade appetitlich anzusehen. Ein schlimmes Ganzgesichtsekzem plagte ihn seit geraumer Weile, rot und schuppend, sodass man es sich zweimal überlegte, ob man ihm überhaupt die Hand schütteln sollte. Deshalb hielt er sich zumeist an Kellnerinnen, einfachheitshalber, weil die nicht davon konnten. Und sowieso war er die allermeiste Zeit voll und in der Nähe von windigen Tresenbekanntschaften.

Morgen würde er jedenfalls Klein Gabi besuchen und ob ich nicht mitkommen wolle. Weil ich so sensibel sei. Dass ich sensibel sei, schloss er wohl aus dem Umstand, dass ich ihm schon öfter einmal bei seinen schrulligen Vorträgen zugehört hatte, spätnachts, beim x-ten Bier.

Honi

Besondere Meriten hatte er sich rund um die Reden Erich Honeckers erworben, des legendären DDR-Budenzauberers. So konnte der Mirli ganze Passagen wortgetreu wiedergeben: "Ich schlage vor, das Glas zu erheben und auf den 40. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik zu trinken!", brüllte er und riss dabei das Bierglas in die Höh'. Seine rollenden Augen und die dazu passende Kommunistenschnarre waren Großes Kino. Kurz nach diesem legendären Sager musste die DDR damals baden gegangen sein in den späten Achtzigern, kann ich mich erinnern. Und kaum einer, der die Worte aus der röhrenden Kehle Mirlingers vernahm, konnte dem Ansinnen des Links-Faschisten widerstehen. Ich hatte schon Szenen erlebt, wo ganze Wirtshäuser zurückprosteten.

"Die DDR lebe hoch, hoch, hoch!", schwadronierte er. Mirli kannte kein Maß und überforderte sein Publikum regelmäßig. Die Honecker-Tiraden waren schier unerschöpflich und so konnte der erpresste Frohsinn der versammelten Gemeinde schon mal in Volkszorn umschlagen. Bitterbach hassliebte sein Unikum. Man hätte den Mirli auch als Physikwart des Dorfes bezeichnen können, dessen Amt es war, die Entropie der Bevölkerung zu maximieren. Entropie ist ja der natürliche Wahnsinn im Universum, der die Ordnung immer weiter ins Chaos stürzt. Und was im Kosmos ganz normal ist, sollte für dessen Ableger Bitterbach genauso gut sein.

Es lief wie bei einer verunglückten Erweckungs-Betstunde, bei der ausschließlich der Prediger den Zustand der Trance erreicht und nicht merkt, dass seine Schäfchen schon auf die Uhr schauen. Mirlinger war kein guter Seelsorger, wenn er einmal Erich war. So die Honi-Polonaisen aber zu verdrießlich wurden, folgte manchmal auch Handgeifliches. Das Volk trachtete den verlotterten Geist von "Reich und Schön in Bitterbach" zum Schweigen zu bringen und die Andacht vorzeitig zu beenden. Einmal fand ich ihn sogar gefesselt und geknebelt am Klo des Hotels Finder und musste ihn befreien, denn sein Hofstab grollte.

Shankar

Diese Abende endeten immer gleich. Meist an der Bar des Tanzkellers, die im Souterrain des Hotels untergebracht war. In fensterloser Dunkelheit harrte dort eine gelangweilte Kellnerin, bis wir endlich ausgetrunken hatten. Und Shankar, der sinistre indische Meister in sämtlichen Selbstverteidigungs- und Kampfsportarten. Er zertrümmerte gerne einmal im Hintergrund einen Ziegelstein oder zerriss dezent Telefonbücher. Das brauchte er für seine Tiefenentspannung. Er war der Erste im Keller, der den Mief vom Vortag aus der Tür ließ. Und er war auch der Letzte, der die Scherben der zerbrochenen Gläser und die Ziegelbrösel wegkehrte. Dann schloss er ab und der Tanzkeller versank wieder bis zum nächsten ungesunden Abend in nach Bier und Zigaretten müffelnder Dornröschenruhe.

Getanzt wurde höchst selten im "Finder", getrunken dafür umso mehr. Shankar wachte über das Wohlergehen der Kellnerinnen und knackste mit den Fingern. Nur sonntags nie, da hatte er frei und keiner im Dorf wusste, was er in seiner kargen Freizeit treiben würde, denn nie hatte ihn jemand außerhalb des Hotels angetroffen. Shankar war schon über ein Jahrzehnt im Oberschlunzgau und seine bloße Anwesenheit genügte, sodass Handgreiflichkeiten nicht ausuferten oder sich wenigstens vor den Mauern des Tanzkellers entschieden.

"Geh du cheim, Nirlinge, du schon getrunke zu vül, du schlafe Rausch auf!", brummte er und rollte mit den Augen. Shankar beobachtete das rastlose Treiben meines Freundes nun schon eine ganze Weile. Es erschien ihm wie "Samsara", das "Beständige Wandern" aus der indischen Heilslehre, das der geschundenen Seele kein "Nirvana" vergönnt, das den quecksilbrigen Geist nie ruhen lässt. Wenn auch hier in ein und derselben versoffenen Person, so doch Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Shankar meinte sogar einmal, dass er es für möglich hielte, wenn die umtriebige Mirlingerseele eines Tages in die Schnapsflasche fahren würde. Er selbst würde dieser dann den finalen Stoppel verpassen!

Mirli erwiderte das Augenrollen, erhob sich und wankte. "Wonn i no geh konn, trink i no wos und wonn i nimma geh konn, geh i hoam!" Philosophischer Scharfsinn zur fortgeschrittenen Stunde. Den selbst erfundenen Wank-Test wandte er immer dann an, wenn die Menge der abgetrunkenen Biere bereits erklecklich war und die Chancen auf weiteren Alkohol schlecht standen. Doch alle Kellnerinnen Bitterbachs kannten seinen Trick bereits und keine konnte mehr darüber lachen.

"No a Hoibe!", hoffte der Mirlinger. "Na, gonz sicher ned!", entgegnete die grantige Kellnerin mit entsprechender Handbewegung und zugehörigem Augenrollen von Shankar.

Casper

Mirlinger trottete ab, von mir gestützt. Er "begleitete" mich, denn unsere Nachhausewege verliefen bis zu meiner Wohnstatt ident. Weiter musste er dann allein, noch ein gutes Stück bis zu seinen Gemächern, die lange schon kein Gast mehr betreten hatte.

Es rankten sich wilde Gerüchte um die keimige Bleibe. Seit Jahren unaufgeräumt, schmutzig, versifft und vollgestopft mit Grusch der grindigsten Art, ging die Mär. Doch nie war jemand dort gewesen, außer dem Wohner selbst. Sieht man einmal von Casper, Melchior und Balthasar ab, den geliebten Silberfischchen samt Gefolge. Mirlinger, der der Lohnarbeit eines Musterzeichners (mit Perspektive alkoholbedigte Frührente) nachging, hatte in einem wachen Moment ein kunstvolles Werk geschaffen, einen Stammbaum, an dessen unterem Ende C+M+B zu lesen war. Mirlinger nahm die Zeichnung vom Abort, wo ihr natürlicher Platz der Dauerpräsentation war ab, rollte sie zusammen und zeigte sie im Hotel Finder her. Die Meinungen zu seiner Kulturleistung drifteten damals stark auseinander, kann ich mich erinnern. Vor allem der Paarungsakt, den der erstaunlich gebildete Tierfreund immer wieder als Vorbild für die Jugend hervorhob, stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Das Männchen "Lepisma Saccharina" spannt ja unter Aufbringung sämtlicher Raffinesse einen Faden und lockt sein Weibchen mit Getanze darunter hindurch. Dabei muss sich die Angebetete ducken, ein bisschen wie beim kreolischen Limbo. Vorher aber hat der Verführer insgeheim ein hübsches kleines Samenpaket darunter abgestellt, über das er nun das gefoppte Weibchen laufen lässt. "So soit ma des mochen, des warat klass, am besten glei do im Tonzkölla!", hatte der Mirlinger damals empfohlen. Eine Empfehlung, die im Raume verhallte.

Und die Sternsinger hatten eines kalten Dreikönigstages den verhängnisvollen Fehler begangen, die für unübertretbar gehaltene Schwelle der Mirlingerschen Räumlichkeiten ein paar Zentimeter zu überschreiten. Sie bliesen ob der abgestandenen Luft angewidert zum schnellstmöglichen Vortrag. Und da fiel es dem Tierhalter wie Schuppen aus dem Ekzem, dass das C+M+B-Geschmiere "Christus Mansionem Benedicat" bedeutetet und nicht seine lichtscheue Insektentrinität benennt. "Christus segne dieses Haus!", hatten die Könige gerufen und mit Kreide und nervigen Fingern an die Tür gekritzelt. In Wahrheit hatten sie natürlich "raus, so schnell wie möglich" gemeint. Mirlinger holte anstatt des üblichen Beitrags für die Kollekte noch ein dick gemästetes Exemplar seiner alternativen Könige aus dem Badezimmer und zeigte Casper Casper, auf einem Stück Klopapier hockend. Doch die ganze Truppe nahm von jetzt auf eben Reißaus, hinein in die kalte Rauhnacht.

Zurück zum zweiten Abschnitt Mirlingers beschwerlicher Heimreise.

"Bis Murgn oiso, ölf Uhr beim Dschuggeleschpress", lallte er. Er meinte die gute alte Schlunzga Bahn, von den Eingeborenen liebevoll "Dschungelexpress" genannt. Eine wunderbare Schmalspur-Schönheit, die den Oberschlunzgau rauf und runter keuchte. Der Mirlinger keuchte auch. Es war vier Uhr früh, elf würde knapp werden. Er war wohl auf einem der hinteren Ränge in der Liste der Gottesbeweise gelandet, so wie er jetzt davontorkelte. Und so ritt er in Ermangelung eines Sonnenuntergangs eben in den zart keimenden Aufgang auf der anderen Seite des Firmaments, ohnehin die bessere Richtung für seinen Nachhauseweg.

Warten

Es war also ein Sonntag, der seinen Namen verdient hatte, kein Wölkchen am feinen Oberschlunzhimmel. Um fünf vor elf war ich am Bahnhof. Den muss man sich allerdings in der Kleinbahn-Ausführung vorstellen.

Der Vorsteher blickte mich an. "Wann kommt der Express?", wollte ich wissen. - "Do hinten, siechst eam eh scho!" Tatsächlich, man konnte bereits die rot schimmernde Silhouette erkennen. Der Dschungelexpress war einfach nur schön und alle Oberschlunzgauer mit ihm. Die Schmalspurbahn galt als Wahrzeichen und schien der eigentliche Grund zu sein, warum der Schlunzgau nur von Trümml bis Zettergschaid gewertet werden konnte. Von Zettergschaid "abwärts" wurde er von den Oberschlunzgauern geographisch richtig als "Unterschlunzgau" bezeichnet, aber sie meinten es nicht nur geographisch.

Und wie auf Kommando pfiff er, der Kümmeler Ache entlangschlingernd, zahlreiche unbeschrankte Übertritte passierend, fröhlich und hell. Aber kein Mirlinger weit und breit. Kein Mirlinger.

Der gestrige Abend hatte auch bei mir Spuren hinterlassen. Das Aufstehen war mir gar nicht leicht gefallen und ich hatte auf ein Frühstück verzichtet. Vor dem Kaffeehaus überfiel mich dann doch noch der Hunger. Ich entschied mich für eine leckere Schaumrolle, denn es war Sonntag und der Bäcker schlief seinen Weekend-Plichtrausch aus.

Da stand ich also am Bahnsteig. Der Zug fuhr ein und der Mirlinger war nicht zu sehen. Es quietschte und rumpelte, es zischte und der Dschungelexpress stand da in seiner roten Pracht.

Nichts. Kaum Fahrgäste. Keiner, der ein- oder auszusteigen gedachte.

"Wos is jetzt?", wollte der Bahnhofsvorsteher wissen. - "Ich wart auf den Mirlinger!" - "Ah so! Oba der hot gestern sicher an furchtbaren Rausch ghobt, gestern wor Somstog!", meinte die Rotmütze schelmisch und fertigte den Zug ab. Ja ja, da lag er nicht so weit daneben, der Gute. Nur, dass es beim Mirli rauschtechnisch keine Rolle spielte, welcher Tag gestern war.

Trennkost

Der Zug war nur noch ein Pünktchen und der Mirlinger nahte im Schweinsgalopp.

"Ma-ha!", rief er, "Ma-haaaaaaa!"

Es war also ein Ma-ha-Tag. Ma-ha-Tage waren ganz normal bei meinem Freund. An so einem Tag sagte er ganz einfach sehr sehr oft Ma-ha. Manchmal schrie er es, manchmal wisperte er es. Aber nie verließ ein normales Ma-ha den Mirlinger. Wahrscheinlich, weil es ein normales Ma-ha gar nicht gab. Ma-ha kam wann es wollte und wie es wollte, stets aber eigentümlich und mit Timbre oder wenigstens zischend, quietschend, pfauchend. Ma-ha war ein bisschen wie unsere Schmalspurbahn. Heutzutage ginge Ma-ha locker als Tourette-Syndrom durch, damals war Ma-ha nur Ma-ha.

"Ma-ha, i hob des Fruahstucksgulasch vasoizen und jetzt so an Durscht ghobt, dass i schnöll no a Bier trinken hob miassn!"

Dazu muss man wissen, wie es um das Mirlingersche Kochverhalten bestellt war. Da er in unmittelbarer Nähe des Supermarktes wohnte, hatte er seine Ernährungsgewohnheiten der neuen Zeit angepasst. Alle paar Monate war Großeinkauf. Dies bedeutete, dass der Mirli zuerst einmal unzählige Bierdosen, zu vierundzwanzig Stück mit Plastik verschweißt, nachhause karrte. Er hatte zu diesem Zweck einen alten Leiterwagen restauriert und ihn sogar mit Holzlack angestrichen. Der Leiterwagen war randvoll mit Dosen und es hätte wirklich nichts mehr draufgepasst, auch nicht mit heftigstem Bemühen. Das gute alte Stück ächzte und knarrte und man musste Angst haben, dass es die Tour überhaupt übersteht. Wenn die Bierdosen dann verstaut waren, kehrte Mirlinger spornstreichs zum Supermarkt retour, wobei er die abschüssige Straße dazu nutzte, Angst und Schrecken zu verbreiten, indem er schon einmal aufritt oder sich wenigstens hinten draufstellte.

Es folgte der zweite Teil des Großeinkaufes. Mirlinger hatte vom Filialleiter des Marktes eine ersprießliche Sondergenehmigung erwirkt. Er durfte mit dem Leiterwagerl in den Verkaufsraum. Aber was hatte der Filialleiter schon groß für Möglichkeiten? Die Alternative wäre gewesen, dass der Mirlinger einen regulären Einkaufswagen beladen, zumindest kurzfristig entwendet und damit garantiert einen Unfall gebaut hätte. Und der wäre dann womöglich noch mit Regressansprüchen gegen den Supermarkt ausgegangen, denn vom Fahrer selbst war nicht viel zu holen. Nicht auszudenken! Nein nein, auf sein schön restauriertes Leiterwagerl passte der Mirlinger schon auf!

Im zweiten Teil des Großeinkaufes waren die Fertiggerichte dran, ebenfalls in der praktischen Dose feilgeboten. Gefüllte Paprika, Bohnen mit Speck, Linsen mit Speck, Reisfleisch, Ravioli in Tomatensauce und Schwammerlgulasch hießen die sechs Säulen der ausgewogenen Ernährung. Ganze Paletten davon mussten in den Karren, bis dieser zu quietschen begann. Zu den Speisen reichte der Mirli Salz, Pfeffer und sonst nichts. Wohl nicht aus gesundheitstechnischen Überlegungen, sondern weil kein anderes Produkt jahrelang haltbar war. So gab es jeden Tag eine leckere Mahlzeit, bei deren Zubereitung man nicht seine ganze Zeit am Herd vertrödelte. Mirlinger hing an der Dose, wie ein Giftler an der Nadel. Und nachdem er die leeren Konserven nur ausgesprochen ungern entsorgte, lag ihr welker Duft schwer im Haus.

Prinz

"Ma-ha, i hob vaschlofen. Der Sandmann woas, die Drecksau! Und hiatz noch dem Soizgulasch hob i scho wieda so an Durscht, geh ma doch in Prinz, der nachste Ekschpress foahrt eascht zMittog!"

Dazu muss man wissen, dass der "Prinz" natürlich nicht der Prinz, sondern der Gasthof "Zum Prinz" war, Epizentrum der Bierausschank, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes gelegen.

Mich beschlichen Bedenken. Fast eine Stunde Warten, das machte mindestens zwei Bier im Mirlingerschen Alkohol-Universum. Eines hatte er bereits getrunken. Der nächste Zug ging um zwölf. Mich würde er ebenfalls nötigen, mitzutrinken. Eigentlich wollte ich ja nüchtern bleiben, zumal der in petto stehende Ausflug zu Ehren Klein Gabis stattfinden sollte. Und die würde sich nur wenig über zwei sturzbetrunkene Kerle freuen. "Ma-ha, Ma-haaaaa!", schrie der Dosen-Baron und zerrte mich in den "Prinz".

Dort saßen ein paar tumbe Gesellen herum, rauchend und Bier trinkend. Im Oberschlunzgau fällt man nicht groß auf, wenn man an einem Sonntag Spätvormittag schon kräftig einen sitzen hat. Das Volk werkt im Allgemeinen hart und gönnt sich ein feuchtes Wochenende. Die Arbeiter hängen sich bereits Freitagnachmittag einen um, die Bauern spätestens Samstagabend und alle zusammen Sonntagvormittag.

"He, Mirlinger!", wurden wir begrüßt. Ich wurde einfach so mit einbezogen, ohne extra erwähnt zu werden. "Ma-ha!", gab er zurück.

Die Kellnerin hieß Christl. Die schöne Christl vom "Prinz". Für den Mirlinger aber, dessen Damen-Erfolgsquote bei mau stand, war sie eine unerreichbare Göttin, hinter der er bereits seit Jahren her war. Mutter Natur hatte die Angebetete mit einer Oberweite in der Gegend Potztausend ausgestattet, wie Laie und Fachmann einig festhielten. Unzählige Räusche waren meinem Freund bei der Betrachtung schon passiert. Sofort und ohne Umschweife wäre er zur niedrigen Minne geschritten, wenn die Christl es nur zugelassen hätte. Und es gab Abende, deren alkoholischer Verlauf seine selektive Wahrnehmung auf die Zahl "2" reduzierte.

Um Weihnachten herum hatte er ihr seine Mercedesstern-Sammlung überreicht. Quasi als Eintrittskarte in das von den Christl-Verehrern umkämpfte Boudoir. Jahrelang fuhr damals jeder deutsche Gast, der mit seinem Mercedes in den Oberschlunzgau angereist war, gedemütigt und ohne Stern wieder zurück. Ich glaube sogar, dass Daimler-Benz aufgrund der Vorkommnisse in unserer Alpenregion damals begonnen hatte, Fahrzeuge mit Sternen auszurüsten, die horizontal mit der Motorhaube verschweißt waren. Die waren diebstahlsicher. Der Schwund bei den provokant senkrecht in die Höhe protzenden Prestigeobjekten des Deutschen Wirtschaftswunders war einfach zu hoch gewesen.

Praktisch alle Bitterbacher hatten solche Trophäen der Fremdenverkehrsbetreuung zuhause herumliegen, Mirlinger aber war der wohlsortierteste von allen. Die Irrsterne steckten in einem kleinen Köfferchen. Das überreichte er Christl hübsch verpackt am Heiligen Abend. Weil sie Christl hieße, ähnlich dem gefeierten Jubilar und Religionsgründer. Christl bedankte sich lieb und entsorgte das bizarre Geschenk dann auch gleich wieder. Die Chancen Mirlingers, jemals ihre Kemenate in den oberen Stockwerken des Gasthofs betreten zu dürfen, waren damit gegen Null gesunken. "Geht heit wos? Und wos kochst ma muagn donn zum Fruastuck?", fragte er sie jetzt schnurstracks und schlitzohrig. - "Geh bitte, sei ned schon wieda so org!" - "Ma-ha, zwoa Bia!"

So war er, der Mirli, ohne viel drum herum. Mich hatte er erst gar nicht gefragt, da standen die Biere schon am Tisch.

"Bitteseeehr!", meinte die Christl und zeigte, was sie hatte. Links und Rechts waren die Gründe, warum der Gasthof stets so gut besucht war, wie das Dirndl. Mirlinger rollte mit den Augen, das hatte er sich von Shankar, dem Inder abgeschaut.